Cover

Christiane Sautter

Liebe dich selbst –
Gott tut es auch

Hilfen auf dem Weg zur Selbstannahme

image

Inhalt

Über die Autorin

Einführung

Kapitel 1

Mich so lieben, wie Gott mich liebt

Fragen zur Reflexion

Liebevoller Vater oder strafender Richter?

Fragen zur Reflexion

Der Unterschied zwischen Narzissmus und christlicher Selbstliebe

Warum es uns so schwerfällt, uns bedingungslos zu lieben

Fragen zur Reflexion

Zusammenfassung

Kapitel 2

Bestandsaufnahme: Wer bin ich?

Genetische Veranlagung oder Lernerfahrung?

Wie wir lernen

Fragen zur Reflexion

Die entscheidende Grundlage – die ersten beiden Lebensjahre

Die Zeit im Mutterleib und die Geburt

Fragen zur Reflexion

Die ersten Bausteine unseres Beziehungslebens

Fragen zur Reflexion

Was wir aus dem machen, was wir gelernt haben

Der kurze Weg zum Glück

Rücksturz in alte Ängste

Wie wir unser Leben ordnen

Fragen zur Reflexion

Wie die Urteile meiner Eltern und Lehrer mein Selbstbild prägen

Was wir unbewusst dazu beitragen, damit genau das passiert, was wir erwarten

Wenn Eltern in ihren Kindern sehen, was sie sehen wollen

»Das kannst du nicht!« – Prägende Erlebnisse in der Schule

Fragen zur Reflexion

Der Unterschied zwischen Hochmut und Selbstbewusstsein

Fragen zur Reflexion

Meine vielen Facetten

Fragen zur Reflexion

Zusammenfassung

Kapitel 3

Die Angst vor dem Schlechten in mir

Fragen zur Reflexion

Die wilden Hunde zähmen

Schritt 1: Das Gefühl wahrnehmen und benennen

Schritt 2: Die Emotion entladen

Fragen zur Reflexion

Wenn immer jemand schuld sein muss

Das Sündenbockprinzip

Fragen zur Reflexion

Schlechtes Gewissen oder negatives Introjekt?

Fragen zur Reflexion

Zusammenfassung

Kapitel 4

Wenn ich mich nicht verstehe, wer dann?

Fragen zur Reflexion

Der Umgang mit den »inneren Kindern«

Woran wir innere Kinder erkennen

Fragen zur Reflexion

Nicht nur innere Kinder, sondern auch innere Eltern!

Fragen zur Reflexion

Verständnis und Trost für das innere Kind

Der Nutzen kindlichen Verhaltens

Alte Verletzungen heilen

Fragen zur Reflexion

Warum mein Partner mein inneres Kind nicht retten kann

Wenn du mich liebst, erfüllst du meine Wünsche!

Wenn du mich liebst, musst du wissen, was ich brauche!

Alles hängt an mir!

Fragen zur Reflexion

Zusammenfassung

Kapitel 5

Mich selbst lieben heißt auch, gut zu leben

Fragen zur Reflexion

Ich kann nur ernten, was ich gesät habe

Die Säge schärfen

Zeit für das Wesentliche

Fragen zur Reflexion

Im Flow leben – Warum sinnvolles Tun immer Freude bereitet

1. Schritt: Achtsamer Umgang mit mir

2. Schritt: Welchen Sinn hat mein Tun?

3. Schritt: Störfaktoren beseitigen

Was tun, wenn ich mal gar keine Lust habe?

Fragen zur Reflexion

Der gnadenlose Kampf um Selbstoptimierung – zu viel des Guten

Die Ersatzreligion

Nur ich bin wichtig! Oder?

Die Illusion vom ewigen Glück

Fragen zur Reflexion

Zusammenfassung

Kapitel 6

Mein Leben mit Gott

Von Sicherheiten, Höhen und Tiefen

In Frieden mit Gott – in Frieden mit mir

Fragen zur Reflexion

Anmerkungen

Über die Autorin

Christiane Sautter ist ausgebildete Familientherapeutin, Kindertherapeutin und Supervisorin (DGSF), sowie Heilpraktikerin für Psychotherapie (HPG). Mit ihrem Mann hat sie eine Gemeinschaftspraxis für systemische Therapie. Sie ist Autorin zahlreicher Fachbücher.

Einführung

Als Jesus von den Pharisäern nach dem wichtigsten Gebot befragt wurde, sagte er sinngemäß: »Liebe Gott, den Herrn, über alles, und deinen Nächsten wie dich selbst« (Matthäus 22,36–40). Zu lieben – und das beinhaltet auch die Liebe zu uns selbst – ist demnach die wichtigste Aufgabe im Leben eines Christen.

In diesem Buch möchte ich Sie Schritt für Schritt mit dem Zustand der Selbstliebe vertraut machen. Da ich seit über zwanzig Jahren als Seelentherapeutin arbeite, habe ich einige Hundert Klientinnen und Klienten in diesem Prozess begleitet. Ich stütze mich dabei sowohl auf die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Psychologie und der systemischen Psychotherapie als auch auf die Bibel. Darin finde ich keinen Widerspruch. Wenn etwas wahr ist, zeigt sich die Wahrheit auf allen Ebenen der Erkenntnis.

Da ich nichts weitergebe, was ich nicht selbst ausprobiert habe, kenne ich den Weg der Selbstliebe auch aus eigener Erfahrung. Deshalb finden Sie im Buch einige Beispiele aus meinem Leben. Die Therapiegespräche mit Klientinnen und Klienten, mit denen ich meine Vorgehensweise in einigen Kapiteln verdeutliche, habe ich erfunden. Ich unterliege natürlich der Schweigepflicht und deshalb muss niemand, der zu mir kommt, Angst haben, sich als Beispiel in einem meiner Bücher wiederzufinden. Da sich Menschen besonders in Krisensituationen sehr ähnlich verhalten, hätten die Gespräche jedoch auch in der Realität genau so stattfinden können.

Dieses Buch vermittelt nicht nur Informationen. Wenn Sie mögen, lade ich Sie dazu ein, die vorgestellten Gedanken und Überlegungen Schritt für Schritt nachzuvollziehen. Reflektieren Sie die Vorschläge, beantworten Sie die Fragen am Ende jedes Kapitels und überprüfen Sie, ob Sie für sich darin einen Wert erkennen können. Befolgen Sie dabei unbedingt den Rat des Paulus, den er in seinem Brief an die Thessalonicher gab und der sicher nicht nur für die Beurteilung prophetischer Reden gilt: »Prüft alles, was gesagt wird, und behaltet das Gute« (1. Thessalonicher 5, 21).

So kann dieses Buch Ihr ganz persönliches Exemplar werden. Natürlich kann es keine Psychotherapie ersetzen. Wenn Sie wissen, dass Sie traumatisiert sind, würde ich Ihnen davon abraten, die Übungen im Kapitel »Verständnis und Trost für das innere Kind« alleine durchzuführen. Die anderen Übungen können Sie gerne machen. Vertrauen Sie in jedem Fall Ihrem Bauchgefühl!

Ich kann Ihnen auch nicht versprechen, dass all Ihre Probleme gelöst sein werden, auch wenn Sie hart an sich arbeiten. Selbstliebe ist ein Prozess, der zuweilen länger dauert, als man möchte. Doch Gott überfordert uns nicht! Er sorgt dafür, dass wir uns bei der Verarbeitung unserer Erfahrungen nicht überfordern.

Und ich kann Sie beruhigen. Christliche Selbstliebe hat nichts mit Egoismus oder Begeisterung über die eigenen Errungenschaften zu tun. Sie werden nach der Lektüre dieses Buches nicht Ihr größter Fan sein. Wenn ich das Gefühl der Begeisterung mit einem Spaßbad vergleiche, ist die Selbstliebe ein stiller, tiefer, klarer See.

Das Buch kann Sie in jedem Fall darin unterstützen, sich selbst besser kennen- und lieben zu lernen. Dazu wünsche ich Ihnen Gottes Segen!

Kapitel 1

Mich so lieben, wie Gott mich liebt

Welch vermessene Forderung! Als ob es uns Menschen möglich wäre, uns auch nur ansatzweise mit Gottes Liebesfähigkeit zu vergleichen. Doch wir wären keine Christen, wenn wir nicht wenigstens versuchen würden, seinem Beispiel nachzueifern, so gut wir es eben vermögen. Das Christentum ist schließlich die Religion der Liebe! Dass die Liebe wichtiger ist als alle anderen Fähigkeiten, erfahren wir aus dem Brief des Paulus an die Korinther: Selbst wenn wir mit Engelszungen reden könnten, unser Glaube Berge versetzen würde und wir all unsere Habe den Armen gäben – all das würde uns nichts nützen, hätten wir die Liebe nicht (vgl. 1. Korinther 13,1-3).

Lassen Sie uns einen Augenblick darüber nachdenken, was wir unter dem Begriff »Liebe« verstehen. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass Liebe ein sehr persönliches Gefühl ist. Wenn ich Sie fragen würde, warum Sie Ihren Mann, Ihre Frau, Ihre Kinder, Ihre Eltern oder Ihr Haustier lieben, würde ich wahrscheinlich kaum zwei Antworten erhalten, die genau gleich lauten. Es gibt jedoch Versuche, den Begriff »Liebe« einheitlich zu definieren. Im Duden lesen wir: »starkes Gefühl des Hingezogenseins; starke, im Gefühl begründete Zuneigung zu einem Menschen« oder auch: »auf starker körperlicher, geistiger, seelischer Anziehung beruhende Bindung an einen bestimmten Menschen, verbunden mit dem Wunsch nach Zusammensein, Hingabe«. Der Begriff bezeichnet aber auch »besonderes Interesse, Leidenschaft, Passion«, die »gefühlsbetonte Beziehung zu einer Sache, Idee« wie zum Beispiel die Liebe zur Kunst oder zum Meer. Sich zu lieben bedeutet laut Duden aber auch, »sexuell miteinander zu verkehren«.

Eine wissenschaftliche Studie, bei der einige Hundert Teilnehmer befragt wurden, was sie unter dem Begriff »Liebe« verstehen, stellte fest, dass der Ausdruck unserer Liebe davon abhängt, wen oder was wir lieben.1 Derjenige, der gutes Essen liebt, fühlt anders als ein Liebhaber der Musik. Jemand, der für den Schutz der Tiere brennt, hat andere Gefühle als derjenige, der sich für Fußball entschieden hat, obwohl jeder das Wort »Liebe« benutzt, um sein Gefühl zu charakterisieren. Die Studie erhob tatsächlich 93 verschiedene Formen der Liebe! Nur über die Existenz romantischer, mütterlicher und kindlicher Liebe waren sich die meisten Teilnehmer einig.

Die menschliche Liebe hat jedoch in den meisten Fällen einen gemeinsamen Nenner. Das, was wir lieben, gibt uns etwas: Freude oder Spaß, ein gutes Gefühl, Entspannung, aber auch Leidenschaft. Selbst wenn man unter einer Liebe leidet, wird das Festhalten des Geliebten häufig dem Loslassen vorgezogen. Jeder, der einmal unglücklich verliebt war, kann das bestätigen.

Warum tun wir das? Eine andere wissenschaftliche Studie2 fand heraus, dass wir eine innere Bilanz erstellen, ohne es zu bemerken: Unsere Liebe währt so lange, wie das Haben größer ist als das Soll. Das heißt, dass der Gewinn, den wir aus diesem Gefühl beziehen, größer ist als der Einsatz, den wir um der Liebe willen bringen. Wenn die Bedingungen, die eine ausgeglichene Bilanz sicherstellen, nicht erfüllt werden – wenn der Lieblingsfußballklub schon wieder verloren, der Lieblingskoch des Lieblingsrestaurants das Lieblingsessen schon wieder versalzen oder die Lieblingsautorin kein Lieblingsbuch geschrieben hat –, kann man sich überlegen, ob sich dieser Einsatz immer noch lohnt oder ob man sich nicht nach einem besseren Objekt umsehen sollte. Dass sich diese Bilanz auch auf persönliche Beziehungen bezieht, weiß ich aus unzähligen Paarberatungen. Viele Probleme entstehen, weil der Ehemann oder die Ehefrau die Erwartungen des anderen nicht erfüllt. Die wenigsten denken über die meist unausgesprochenen Bedingungen nach, die sie an diejenigen stellen, die sie lieben:

• »Ich liebe dich, meine Frau, weil du schön bist. Pass auf, dass du nicht zunimmst!«

• »Ich liebe dich, mein Mann, weil du mich auf Händen trägst. Wenn du damit aufhörst, haben andere Mütter auch nette Söhne.«

Glauben Sie nicht, dass ich übertreibe! Viele Frauen und Männer versuchen, ihre Partner oder Partnerinnen zu verändern, um die Bilanz in ihrem Sinne auszugleichen! Viele Eltern verstecken die hohen Erwartungen an ihre Kinder hinter sogenannten »Realitäten« wie zum Beispiel: »Nur wenn du Abitur machst, hast du im Leben eine Chance!« Weigern sich die Betroffenen, die Bedingungen zu erfüllen, werden sie nicht selten mit dem Entzug der Liebe bestraft.

Das Kennzeichen menschlicher Liebe ist meiner Meinung nach, dass sie an Bedingungen geknüpft wird.

Was ist dagegen das Kennzeichen göttlicher Liebe? Wie wir in der Bibel lesen können, hat sich Gottes Umgang mit uns Menschen geändert. Im Alten Testament steht geschrieben, dass er die Menschheit durch die Sintflut fast vollkommen auslöschte, weil sie nur Böses plante und tat. Danach versprach er, solche Maßnahmen in Zukunft nie wieder anzuwenden (vgl. 1. Mose 8,21–22).

Dem Volk Israel gab Gott – außer den Zehn Geboten – einen ganzen Katalog an Regeln und Vorschriften, die wir im dritten Buch Mose nachlesen können. Wenn das Volk diese Regeln missachtete – und wir wissen, dass das sehr oft geschah –, wurde es so lange hart bestraft, bis es wieder tat, was Gott von ihm wollte.

Ich habe keine Ahnung, warum Gott sein Verhalten gegenüber uns Menschen noch einmal grundlegend änderte. Er ließ Gnade walten, schickte seinen Sohn auf die Erde und erließ uns durch Jesus unsere Schuld. Wenn wir an ihn glauben, sind wir gerettet. In seiner unendlichen Liebe nahm er uns als seine Kinder an.

Das wichtigste Kennzeichen göttlicher Liebe ist meiner

Überzeugung nach, dass sie keine Bedingungen stellt.

Es ist also nicht eine der 93 menschlichen Formen der Liebe, sondern die göttliche bedingungslose Liebe, die im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht und der wir nacheifern wollen.

Wie in der Einführung bereits erwähnt, hat Jesus uns geboten, dass wir Gott, den Herrn, über alles lieben sollen und unseren Nächsten wie uns selbst (vgl. Matthäus 22,36–40). Welchen Raum nimmt diese Anweisung in unserem Leben ein?

Liebe Gott, den Herrn, über alles …

Gott zu lieben sollte selbstverständlich sein, es fällt aber vielen gar nicht so leicht. Auch wenn wir ihn »Vater« nennen, ist er für uns nicht ohne Weiteres fassbar. Doch glücklicherweise schickte er seinen Sohn auf die Erde. Jesus ist die Brücke zwischen Gott und den Menschen, einer von uns und doch Gottes Sohn. Er und der Vater sind eins. Wenn wir Jesus lieben, lieben wir den Vater. In unserer Liebe zu Jesus begegnen wir Gott.

Liebe deinen Nächsten …

Auch dieses Gebot ist den meisten Christen seit Kindertagen vertraut. Ich erinnere mich genau daran, wie ich als Kind staunend lauschte, dass Jesus Kranke heilte und Tote erweckte! Und wenn mehr Gäste kamen, als eingeladen waren, sorgte er sogar dafür, dass sich die Nahrung wundersam vermehrte. Diese Geschichten beeindruckten mich während meiner Kindheit sehr.

Kranke heilen oder Tote aufwecken konnte ich nicht, doch ich kannte Kinder, die Hunger litten! Nur wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in dem armen Bergarbeiterstädtchen Dortmund-Mengede viele Menschen, die nicht genug zum Leben hatten. Also sammelte ich die armen Kinder um mich, die in einem baufälligen Haus an der Ecke wohnten, und brachte sie zu meiner Mutter, damit sie ihnen zu essen gab, ungeachtet der Tatsache, dass diese nicht über die Gabe der Vermehrung von Nahrung verfügte. Leicht verzweifelt bat mich meine Mutter, der das Haushaltsgeld für die vielen zusätzlichen hungrigen Mäulchen nicht mehr reichte, die tätige Nächstenliebe einzustellen. Aber einigen Kindern hatte ich wenigstens eine kurze Zeit helfen können.

Da mir die Speisung der Hungrigen versagt blieb, überlegte ich mir, was ich stattdessen tun könnte. Da wir gerade Sankt Martin feierten, betrachtete ich – zugegebenermaßen sehr traurig – meinen roten Lieblingsmantel und überlegte mir, auf welche Weise ich ihn zerteilen könnte. Das Kleidungsstück der Länge nach zu zerschneiden, erschien mir wenig sinnvoll: Mit nur einem Ärmel wäre einem anderen Kind nicht wirklich geholfen. Abends sollte jedoch der große Laternenumzug stattfinden, bei dem die Geschichte des heiligen Martin auf dem Marktplatz szenisch dargestellt wurde. Ich beschloss, bei der Teilung des Mantels genau aufzupassen und meinen Mantel dann genauso zu zerschneiden.

Am Abend des 11. Novembers 1961 – ich war fünf Jahre alt – versammelten wir uns mit vielen Eltern und Kindern vor der Kirche, um von dort mit unseren Laternen zum Marktplatz zu laufen. Auf der dort errichteten Bühne saß schon schlotternd vor Kälte der Bettler. Der Heilige kam hoch zu Ross und lenkte sein Tier hinauf zu dem armen Mann. Jetzt kam der große Augenblick! Sankt Martin riss sich – nein, keinen Mantel! – einen Umhang von den Schultern, zog das Schwert aus der Scheide und zertrennte ihn der Länge nach. Ich seufzte vor Erleichterung. Es ging also um einen Umhang, und einen solchen besaß ich nicht! Mein roter Mantel war gerettet.

Die Nächstenliebe ist eines der Kennzeichen gelebten christlichen Glaubens und hat somit eine lange Tradition. Christen engagieren sich auf der ganzen Welt für ihre Mitmenschen. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter lehrte uns Jesus, alle Menschen gleich zu behandeln, ohne Ansehen der Religion, der Volkszugehörigkeit oder der Hautfarbe – bedingungslos. In der Flüchtlingskrise ab 2015 standen viele Christen in Deutschland bereit, um den Aufruf unserer Kanzlerin »Wir schaffen das« umzusetzen, unabhängig von der eigenen politischen Ausrichtung. Dem Menschen in seiner Not beizustehen, war vielen von uns selbstverständlich. Von Jesus wissen wir: Was wir dem Geringsten unserer Brüder tun, haben wir für ihn getan!

Gott zu lieben und zu versuchen, den Nächsten so gut wie möglich zu unterstützen – mit diesen beiden Geboten Jesu würden viele Christen ihr religiöses Selbstverständnis umfassend beschreiben. Fast könnte man vergessen, dass noch etwas fehlt.

… wie dich selbst.

Dieses Gebot, das Jesus uns genauso aufträgt wie die Gottes- und die Nächstenliebe, umfasst die Liebe zu uns selbst. Viele Christen erliegen jedoch der Versuchung, Selbstliebe gegen Selbstkritik auszutauschen. Wir haben ein besseres Gewissen, wenn wir unsere Fehler betonen und die Selbstliebe auf einen späteren Zeitpunkt vertagen. Irgendwann, so denken viele, haben wir uns genügend oft kritisiert. Wenn wir streng mit uns ins Gericht gehen und unsere Sünden bekennen, hoffen wir, dass wir irgendwann unsere Schwächen überwunden haben, und dann, so glauben wir, können wir immer noch damit beginnen, uns selbst zu lieben.

Jesus hatte jedoch einen triftigen Grund dafür, das mosaische Gebot der Selbstliebe (vgl. 3. Mose 19,18) aufzugreifen und ihm damit Bedeutung für die Christenheit zu verleihen. Als allwissender Psychologe war ihm klar, dass wir nur das nach außen tragen können, was in uns ist. Wir können Gott und unseren Nächsten tatsächlich nur dann bedingungslos lieben, wenn uns das bei uns selbst gelingt, und zwar so, wie es im ersten Brief an die Korinther beschrieben ist: langmütig und freundlich (vgl. 1. Korinther 13,4). Diese Liebe ist nicht einfach nur ein Gefühl, das kommen und gehen kann, abhängig von Launen oder Befindlichkeiten, denn sie urteilt und bewertet nicht. Bedingungslose Selbstliebe ist keine Emotion, sondern ein Zustand des Seins! Aus dieser Quelle sprudelt Liebe, mit der Sie nicht nur sich selbst erfrischen können, sondern auch Ihren Nächsten. Und je größer Ihre Liebesfähigkeit wird, umso selbstverständlicher wird Ihre Liebe zu Gott.

Doch Gott will uns ganz und nicht nur unsere Schokoladenseite. Wie es gelingen kann, nicht nur die Seiten an uns zu lieben, mit denen wir einverstanden sind, sondern auch die anderen, die wir an uns nicht mögen, ist Thema dieses Buches. Bevor wir diesen Weg miteinander gehen, müssen wir jedoch ein paar Voraussetzungen klären, damit die Liebe zu uns selbst nicht auf Sand, sondern auf eine stabile Grundlage – auf Fels – gebaut wird (vgl. Matthäus 7,24-27).

Fragen zur Reflexion

• Wie verstehen Sie den Begriff »Liebe«?

• Schreiben Sie eine Anekdote aus Ihrer Kindheit auf, die zeigt, wie tief die Nächstenliebe in Ihrem Leben verwurzelt ist.

Liebevoller Vater oder strafender Richter?

Die Bibel ist das Buch, durch das Gott zu uns spricht. In ihr finden wir die Richtlinien christlichen Lebens. Doch die Bibel macht es uns nicht immer leicht, uns zu orientieren, denn manche Aussagen scheinen sich zu widersprechen. Keine Sorge! Ich maße mir hier keine Bibelkritik an. Ich greife nur zwei Aussagen heraus, die sich unmittelbar auf unser Thema auswirken: Ist Gott ein liebevoller Vater oder ist er ein strafender Richter? Die Beantwortung dieser Frage spielt eine große Rolle, wenn man danach strebt, sich selbst so zu lieben, wie Gott es tut!

Einerseits ist es für Christen eine Tatsache, dass Gott in seiner bedingungslosen Liebe für uns Menschen seinen Sohn auf die Erde schickte, um uns zu retten. Das Christentum verkündet eine frohe Botschaft! Gott hat in seiner Gnade bestimmt, dass es ausreicht, wenn wir an ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen (vgl. Johannes 5,24). Andererseits lesen wir an vielen anderen Stellen, dass wir uns beim Jüngsten Gericht zu verantworten haben, da Gott von jedem von uns Rechenschaft für unser Tun fordert (z. B. 2. Korinther 5,9-10) und uns nach unseren Taten richten wird. Das wirft Fragen auf:

• Kann ein liebevoller Vater gleichzeitig ein unbarmherzig strafender Richter sein, der uns schlimmstenfalls in die Hölle schickt?

• Müssen wir, obwohl wir an Gott glauben, trotzdem Angst vor der Verdammnis haben, weil wir nicht alle seine Gebote befolgt haben?

Dieser Widerspruch mag theologisch durch die Zwei-Reiche-Lehre3 erklärt werden, die besagt, dass das Reich Gottes und das Reich der Menschen gleichzeitig bestehen. Obwohl wir im Reich Gottes erlöst sind, unterstehen wir im Reich der Menschen der jeweiligen Obrigkeit und können uns deshalb schuldig machen (vgl. Matthäus 22,21). Dass wir uns für diese Schuld einst vor dem Richterstuhl Gottes verantworten müssen, erleichtert mich persönlich jedoch nicht wirklich. Wieso werde ich von einem liebevollen Vater für ein Verhalten bestraft, das ich nicht aus eigenem Antrieb, sondern aus Gehorsam gegenüber dem menschlichen Gesetz gezeigt habe? Nicht jeder hat das Zeug zum Märtyrer!

Viele meiner Klientinnen und Klienten leiden unter so großer Angst vor dem göttlichen Gericht, dass sie Gott nicht so lieben können, wie sie sich das wünschen. Obwohl sie wissen, dass vor Gott nichts verborgen bleibt, versuchen sie trotzdem, ihre Angst vor ihm zu verstecken. Dies steigert ihre Angst, denn je mehr sie sich verstecken, umso schwerer fällt es ihnen, Gott von ganzem Herzen zu lieben – ein Grund mehr, von ihm bestraft zu werden, und das macht dann noch mehr Angst.

So ging es auch meiner Klientin Beate. Sie wusste, dass sie Gottes Gebote nicht so erfüllte, wie sie es von sich selbst erwartete. Je größer ihre Schuldgefühle und ihre Angst vor der Verdammnis wurden, desto mehr entfernte sie sich von Gott. Dafür fühlte sie sich umso schuldiger und geriet dadurch in einen quälenden Teufelskreis.

Teufelskreise verschlimmern jede Situation, weil es für denjenigen, der sich darin gefangen sieht, keine Lösung gibt. Ein Teufelskreis besteht ja nicht aus zwei Alternativen, von denen wir die eine wählen und die andere verwerfen könnten. Beim Teufelskreis verschlimmern beide Optionen unsere Lage: Wir können es nicht richtig machen! Das wiederum löst Hilflosigkeit und Angst aus, Frustration und Ärger. Wie kann man sich aus dieser Zwickmühle befreien? Glücklicherweise ist das Phänomen von einigen Psychologen4, aber auch von meinem Mann und mir5 untersucht worden. Und so nehme ich Sie jetzt mit auf einen kleinen Ausflug in die Kommunikationswissenschaften.

Beginnen wir mit der einfachen Variante des Teufelskreises, dem Ambivalenzkonflikt. Diese Form des Konflikts zeigt sich darin, dass es mindestens zwei Alternativen gibt, zwischen denen wir uns entscheiden müssen, wobei beide Varianten genauso viele Vorteile wie Nachteile haben. Auch wenn wir die Alternativen sorgfältig prüfen und gegeneinander abwägen, verursacht die Entscheidung für die eine Seite gleichzeitig einen schmerzhaften Verlust auf der anderen Seite. Am schwersten tun wir uns, wenn es uns wirklich wichtig ist, die »richtige« Entscheidung zu treffen, wenn wir einen Irrtum also unbedingt ausschließen wollen. Solche Entscheidungen können die Menschen betreffen, die wir lieben, oder die Arbeit, durch die wir uns ernähren. Und wenn wir unseren Glauben ernst nehmen, dann ist es uns natürlich äußerst wichtig, Gottes Wort richtig zu verstehen und dementsprechend zu handeln.

Dass es schwerfallen kann, sich zwischen zwei Alternativen zu entscheiden, ist leicht nachzuvollziehen. Doch manchmal passiert es, dass wir jemandem zuhören und vor derselben Entscheidung stehen, ohne dass uns das jedoch bewusst wird. Wir merken nur, dass sich irgendetwas merkwürdig anfühlt. Um Ihnen zu verdeutlichen, was ich damit meine, schildere ich eine typische Situation aus meiner Praxis:

Regina sitzt vor mir und beklagt sich bitter über ihren Ehemann. Er ist Alkoholiker, und wenn er betrunken ist, wird er gewalttätig und hat sie schon mehrfach verprügelt. Sie erzählt eine schlimme Geschichte, doch warum lächelt sie dabei? Und warum klingt ihre Stimme freundlich und verbindlich? Wenn ich ihr Lächeln und die Klangfarbe ihrer Stimme ernst nehme, scheinen ihre Probleme gar nicht so schlimm zu sein. Höre ich auf ihre Worte, sorge ich mich um ihr Leben. Und jetzt muss ich mich entscheiden: Reagiere ich auf ihre verbalen Signale – ihre Worte – oder auf die Botschaften ihres Körpers? Die Worte signalisieren Gefahr, die Körpersprache sagt genau das Gegenteil: »Keine Sorge, alles in Ordnung!« Es ist keineswegs egal, welche der beiden Alternativen ich wähle.

Als Therapeutin ist mir bewusst, dass wir oft nicht wissen, welche Botschaften unser Körper sendet, während wir sprechen. Viele dieser Signale können wir nicht beeinflussen, wie zum Beispiel das Rotwerden. Wir können aber auch blass werden, wenn wir uns erschrecken. In den meisten Fällen äußert sich der Körper passend: Wenn wir etwas Trauriges erzählen, spiegelt unser Gesicht diese Traurigkeit.

Wir kommunizieren eindeutig,

wenn unsere Körpersprache das, was wir sagen,

ebenfalls zum Ausdruck bringt.

Manchmal passiert es jedoch, dass die nonverbalen Signale – die Körpersprache – den verbalen Signalen – den Worten – widersprechen. Auf einen einfachen Nenner gebracht, sagt man damit gleichzeitig Ja und Nein. Der Zuhörer gerät damit in einen Ambivalenzkonflikt: Entscheidet er sich für das Ja, kann er das Nein nicht ernst nehmen; wählt er das Nein, muss er das Ja ausblenden. Damit befindet er sich in einer kommunikativen Zwickmühle. In der Fachsprache nennt man diesen Teufelskreis Doppelbotschaft oder Doublebind.

Wir kommunizieren doppeldeutig,

wenn die Körpersprache den Worten widerspricht.

Für welche Variante entscheiden wir uns? Reagieren wir auf das Lächeln oder auf die klagenden Worte?

Die Antwort gibt uns die Wissenschaft: Das menschliche Gehirn wertet zuerst die visuellen Signale aus und danach erst die auditiven.6 Das Lächeln wird also zuerst registriert und bestimmt darüber, wie die Worte verstanden werden sollen. Lächeln ist ein freundliches Signal. Damit scheint klar zu sein, dass Reginas Problem nicht so schlimm sein kann.

Meist wissen die Betroffenen nicht, dass sie zwei Botschaften senden, die einander widersprechen. Als ich Regina fragte, ob ihr bewusst sei, dass sie bei ihrem Bericht gelächelt habe, schüttelte sie erstaunt den Kopf. Dass sie mit ihrer Körpersprache ihren Klagen widersprochen hatte, war ihr nicht bewusst gewesen.

Doppelbotschaften entstehen jedoch nicht nur bei Gesprächen. Obwohl viele glauben, dass sich das Wort »Kommunikation« nur auf den verbalen Austausch bezieht, bedeutet der Begriff laut Duden »zwischenmenschlicher Verkehr«. Alles, was Menschen miteinander tun oder nicht tun – Sie wissen vermutlich, wie wirksam man sich anschweigen kann! –, gehört dazu. Dies veranlasste den Kommunikationsforscher Paul Watzlawick zu seinem berühmten Satz: »Man kann nicht nicht kommunizieren.«7 Da es unmöglich ist, sich nicht zu verhalten, kommunizieren wir also ständig.

Eine Doppelbotschaft kann dadurch entstehen, dass man etwas sagt und dann – bewusst oder unbewusst – genau das Gegenteil tut. Der Empfänger der Kommunikation weiß dann nicht, ob er sich nach den Worten oder den Handlungen des Senders richten soll. Dazu ein Beispiel aus meiner Tätigkeit als Coach:

Ein Angestellter eines Unternehmens beklagte sich über seinen Chef. Dieser äußere bei jedem Meeting, wie wichtig ihm das Feedback seines Mitarbeiters sei. Doch immer, wenn er versuche, dem Chef seine Beobachtungen mitzuteilen, habe der keine Zeit für ihn. In einem Einzelgespräch mit dem Chef brachte ich – auf Wunsch des Mitarbeiters – das Problem zur Sprache. Der Chef reagierte bestürzt und bestätigte die Beobachtung seines Mitarbeiters. Dann erzählte er mir, er habe in seiner Kindheit wenig Anerkennung erhalten. Das Feedback seiner Eltern sei immer negativ gewesen. Als Chef war ihm bewusst, wie wichtig die Rückmeldungen dieses Angestellten waren. Wie von Zauberhand sorgte seine unbewusst gewordene Angst vor drohender Abwertung jedoch gleichzeitig dafür, das von ihm bewusst gewünschte Feedback zu verhindern. Indem er versuchte, sowohl seiner Angst vor Ablehnung als auch seinem Wunsch nach Feedback gleichzeitig zu entsprechen, schuf er für den Angestellten eine Zwickmühle.

Menschen verfolgen mit dem, was sie tun, immer einen Zweck. Nicht selten übernimmt dabei das Unbewusste eine wichtige Funktion, denn es steuert die Körpersprache und sendet damit die Signale, die darüber bestimmen, wie die vom Bewusstsein gesendeten Worte von anderen verstanden werden sollen. Zum Unbewussten gehören nicht nur die Instinkte, die für das Überleben sorgen, sondern auch die Regeln, die in der Kindheit von den Eltern gelernt wurden und die befolgt werden, obwohl man sie schon lange vergessen hat. Weil diese Regeln nicht erinnert werden, kann man nicht darüber nachdenken, ob sie überhaupt noch wichtig sind. So beanspruchen sie dasselbe Gewicht wie die Grundsätze, die sich der Erwachsene bewusst erarbeitet hat. Obwohl sich die unbewusste Regel und das bewusste Ziel widersprechen, versucht der Erwachsene, beides gleichzeitig umzusetzen.

Doublebinds entstehen dadurch, dass man versucht,

zwei gleich wichtige, sich widersprechende Aufforderungen

gleichzeitig umzusetzen.

Dazu gebe ich Ihnen ein idealtypisches Beispiel aus der Praxis, das auf viele erschöpfte Klienten und Klientinnen zutrifft:

Ein Kind wächst in einer Familie auf, in der alle Mitglieder sehr viel arbeiten. Es erlebt, wie wichtig es ist, sich anzustrengen, damit man gute Leistungen erzielt. Am Beispiel seiner Eltern lernt es, dass es für Mitglieder dieser Familie selbstverständlich ist, erfolgreich zu sein. Deshalb tut das Kind alles, um dieser Erwartung zu entsprechen. Gleichzeitig sagen die Eltern diesem Kind aber immer wieder, dass es nicht gut genug ist. Viele Eltern tun das, weil sie glauben, ihr Kind damit zu noch besseren Leistungen anspornen zu können. Warum sollten sie eine gute Schulnote loben, wenn eine sehr gute Note auch möglich gewesen wäre? Das Kind hört einerseits: »Ich kann die Erwartungen nicht erfüllen.« Anderseits weiß es: »Ich gehöre nur dazu, wenn ich sie erfülle!« Auch hier besteht der kindliche Ausweg aus der Zwickmühle darin, beiden Aufforderungen gleichzeitig zu entsprechen. Ich erkenne dieses Muster daran, dass sich die Betroffenen anstrengen und sehr viel arbeiten, ohne mit ihren Leistungen jemals zufrieden zu sein. Meine Praxis suchen sie auf, weil der Arzt die Diagnose »Burn-out-Syndrom« gestellt hat.

Sie wissen also nun: Teufelskreise entstehen dadurch, dass man versucht, zwei sich widersprechende Aufforderungen gleichzeitig zu erfüllen. Was bedeutet das für unsere Frage, ob wir Gott als liebevollen Vater oder als strafenden Richter wahrnehmen? Auch diese beiden Möglichkeiten schließen sich meiner Meinung nach aus. Wenn ich Gott fürchte, weil ich damit rechnen muss, dass er mich verdammt, kann ich ihn nicht von Herzen lieben: Ich habe Angst vor ihm. Und wenn ich Gott liebe und mir seiner Liebe gewiss bin, kann ich gar nicht glauben, dass er mich in die Hölle schicken würde: Ein liebevoller Vater tut das nicht.

Viele Christen befolgen indes dieselbe Lösungsstrategie wie die Klienten in meiner Praxis: Sie versuchen, Gott gleichzeitig zu lieben und zu fürchten. Sie freuen sich, dass sie durch seine bedingungslose Liebe gerettet sind; gleichzeitig fühlen sie sich als unwürdige Sünder, denen es realistisch betrachtet nicht gelingen kann, alle Gebote zu halten. Sie werten sich notorisch ab und bekennen ihre Sünden, um den Richter milde zu stimmen (vgl. 1. Johannes 1,9). Die Furcht steht im Vordergrund, die Liebe kann sich nicht entfalten.

Wie kann man diesem Teufelskreis entkommen? Man kann einem Teufelskreis oder einer Zwickmühle einzig dadurch entkommen, indem man über die Kommunikation spricht. Nur so kann man herausfinden, welche Signale oder Informationen sich gegenseitig aufheben und welches Ziel damit angestrebt wird. Da dieses Ziel so nie erreicht werden kann, weil ja immer etwas dagegen spricht, kann man dann eine neue zielführende Strategie wählen.

Meine Klientin Regina erkannte an meinem Feedback, dass sie versucht hatte, ihren Mann durch ihr Lächeln friedlich zu stimmen. Dann ging ihr plötzlich ein Licht auf. Sie verstand, warum ihre Klagen bisher von niemandem ernst genommen wurden, auch nicht von ihrem Mann, und entschied sich für eine neue Strategie. Sie konfrontierte ihren Mann mit der Wahl, entweder eine Suchttherapie zu machen oder die Trennung zu akzeptieren.

Der Chef des Unternehmens verstand, dass seine unbewussten Ängste vor Abwertung das wichtige Feedback des Mitarbeiters verhindert hatten. Gleich nach dem Coaching-Gespräch bat er den Mitarbeiter zu sich, klärte den Sachverhalt mit ihm und hörte sich sein Feedback an.

Meine Burn-out-Klienten sind sehr erleichtert, wenn sie den Grund für ihre aufreibende Arbeitsmoral erkennen. Je besser es ihnen gelingt, die alten Regeln aufzugeben, umso mehr können sie sich für ihre Leistungen anerkennen. Je mehr sie mit sich und ihren Leistungen zufrieden sind, umso mehr erholen sie sich und fühlen sich oft nach kurzer Zeit wieder stark.

Wenden wir unsere Lösungsstrategie, die Gleichzeitigkeit aufzulösen, auf unser Gottesbild an. Welche Botschaft ist die wichtigste des christlichen Glaubens? Es ist die Botschaft der bedingungslosen Liebe Gottes zu uns Menschen. Als Beweis seiner Liebe hat er einen neuen Bund mit uns geschlossen – das Neue Testament –, und damit sind wir gerettet. Dies ist die Kernaussage des christlichen Glaubens. Sie ist sozusagen die Überschrift, der sich alle anderen Aussagen unterordnen, und als solche sollte sie im Zentrum unseres Glaubens stehen.

Warum fordert uns Gott dann immer wieder auf, unsere Sünden zu bekennen, wenn sie doch schon vergeben sind? Das Wort »Sünde« ist ein altes Wort. Unserer heutigen Zeit eher entsprechen würden die Worte »Schwäche« oder »Fehler«. Gott will nicht nur unsere Schokoladenseite, und deshalb fordert er uns auf, diese Fehler nicht zu verdrängen, sondern sie uns bewusst zu machen. Nur das, was bewusst ist, kann man verändern! Die Korrektur gelingt jedoch nicht dadurch, dass man sich selbst für seine Schwächen abwertet, genauso wenig wie ein Fleck auf dem Boden dadurch verschwindet, dass man sich über ihn ärgert. Wir müssen etwas anderes tun, und wir dürfen dieses andere in dem Bewusstsein tun, dass Gott uns liebt – trotz unserer Fehler. Wenn wir uns genauso bedingungslos lieben, wie Gott es tut, können wir unsere Defizite in Stärken verwandeln. Stellen Sie sich vor, dass Sie die Energie, die Sie bisher gefangen hält, für positive Ziele nutzen könnten! Außerdem empfehle ich Ihnen das, was ich auch meiner Klientin Beate empfahl: Bitten Sie Gott im Gebet um eine direkte Antwort!

Beate rief mich einige Tage nach unserer letzten Sitzung an und berichtete, die therapeutischen Gespräche hätten ihr den Mut gegeben, sich mit ihrer Angst vor Strafe nicht mehr vor Gott zu verstecken, sondern sich damit an Gott zu wenden. Voller Freude schilderte sie, dass sich ihre Ängste im Gebet aufgelöst hatten und sie sich wundersam getröstet fühlte. Sie hatte die bedingungslose Liebe Gottes selbst erfahren.

Fragen zur Reflexion

• Ist Gott für Sie ein strafender Richter oder ein liebevoller Vater?

• Kennen Sie Situationen aus Ihrem Alltagsleben, die den im Text beschriebenen Zwickmühlen ähnlich sind?

Der Unterschied zwischen Narzissmus und christlicher Selbstliebe

Ja, Sie haben recht! Es gibt nicht nur nette, rücksichtsvolle Menschen, sondern auch Egoisten, die allein ihr eigenes Wohl verfolgen und kein schlechtes Gewissen haben, andere für ihre Zwecke auszunutzen. Wir nennen sie Narzissten, nach dem griechischen Jüngling Narziss, von dem uns der griechische Dichter Ovid erzählt. Er ist der Sohn des Flussgottes Kephissos und der Wassernymphe Leiriope und so schön, dass Mädchen und Jungen gleichermaßen um seine Liebe werben. In seinem Hochmut weist er jedoch alle zurück. Als er zufällig sein Spiegelbild in einer Wasserquelle erblickt, verliebt er sich unsterblich in sich selbst. Gequält von dieser unstillbaren Liebe verhungert er schließlich vor seinem Ebenbild.

Narzissmus begegnet uns in verschiedenen Stufen; vollständig ausgeprägt gehört das Bild zu den Persönlichkeitsstörungen, die im Internationalen Diagnoseschlüssel für psychische Erkrankungen ICD 10 beschrieben werden. Was verstehen wir unter einer Persönlichkeitsstörung? Laut ICD 10