Der optische Telegraf
Bedeuten und Verstehen
Übersetzt aus dem Schwedischen
von Barbara M. Karlson
Titel der Originalausgabe:
»Optiska Telegrafen. Att mena och förstå«
© 2018 by Lars Gustafsson
Published by arrangement with
agentur literatur Gudrun Hebel, Germany
Der schwedische Originaltext
wurde abschließend
von Lars Gustafssons Sohn,
Joen Gustafsson,
überarbeitet.
Wir danken dem
Swedish Arts Council
für seine Beteiligung an den
Kosten der Übersetzung
dieses Werks.
Erste Auflage
© 2018 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Barbara M. Karlson
Lektorat: Alexander Weidel
Korrektorat: Ilona Buth
www.secession-verlag.com
Gestaltung und Satz:
Erik Spiekermann, Berlin
Herstellung:
Renate Stefan, Berlin
Druck und buchbinderische Verarbeitung:
Friedrich Pustet, Regensburg
Papier Innenteil: 100g Fly 05
Papier Vor- und Nachsatz: 115g Fly 05
Papier Überzug: f-color Natur, Hanf
Gesetzt aus Walbaum, Theinhardt & FF Minimum
Printed in Germany
ISBN 978-3-906910-38-3
eISBN 978-3-906910-39-0
1 EIN ÜBERTRAGUNGSMITTEL
2 DER ZU GROSSE ANZUG
3 DIE BEDEUTUNG DES SINNLOSEN
4 IM GRENZLAND
5 JEDE BEDEUTUNG IST KONTEXTGEBUNDEN
6 OBJET TROUVÉ UND METAPHER
7 WERT UND BEDEUTUNG
8 MÖGLICHE WELTEN – ALTERNATIVE ERZÄHLUNGEN
9 DIE NEGATION UND IHR SCHATTEN
10 TRAUM UND TRAUMERZÄHLUNG
11 GESTIK
12 FRAGMENT
13 IMAGINÄRE SEMANTIK
14 LÜGEN – EIN EXKLUSIVER SPRECHAKT
15 DIE SPRACHE UND IHR SCHATTEN
16 ANDERE STIMMEN, ANDERE RÄUME
Leser altmodischer Abenteuerromane erinnern sich sicher an die wunderbare Episode aus dem Buch Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas, als der Graf Edmond Dantès, ein ehemaliger politischer Strafgefangener, auf listige Weise Rache an jenem Mann nimmt, dem er seinen langen Aufenthalt im fürchterlichen Gefängnis der Festung Château d’If zu verdanken hat. Der Mann, der gemeint ist, hat eine außerordentlich erfolgreiche Karriere an der Pariser Börse gemacht, und die raffinierte Rache des Grafen besteht darin, ein fingiertes Telegramm zu übermitteln, das der Empfänger für wahr hält. Der Graf ruiniert seinen Feind, indem er ihn glauben lässt, Don Carlos wäre nicht mehr Gefangener in Bourges und in Spanien wäre die Revolution ausgebrochen. Daraufhin verkauft Baron Danglars alle seine spanischen Staatsanleihen, was ihn letztlich in den Ruin treibt. Der Graf ist also einer der ersten ›Hacker‹ der Technikgeschichte.
Wie macht er das? Er besucht einen der Telegrafisten der optischen Telegrafenlinie zwischen Paris und Marseille und bietet diesem anspruchslosen Diener der damals hypermodernen Kommunikation ein Honorar an, dem dieser nicht widerstehen kann.
Der Betrieb optischer Telegrafen basierte auf Signalstationen mit Winkelmasten (Semaphore), mit denen man die Buchstaben des Alphabets wiedergeben konnte. Sie gingen in England schon 1796 in Betrieb. Die Übermittlungszeit zwischen London und Portsmouth betrug nicht mehr als 15 Minuten – die Nachricht hatte sozusagen annähernd die gleiche Geschwindigkeit, die ein Flugzeug mit Hubkolbenmotor für die gleiche Strecke gebraucht hätte.
Das deutsche Äquivalent, die Linie Berlin–Koblenz, in Betrieb zwischen 1832 und 1849, bestand aus zweiundsechzig Stationen, von denen eine, Nummer 4, gelegen auf dem Telegrafenhügel in Potsdam, noch heute bewundert werden kann. Die gesamte Strecke Berlin–Koblenz belief sich auf 550 Kilometer, und bei schönem Wetter und guten Lichtverhältnissen dauerte die Synchronisierung der Signale zwischen Berlin und Koblenz hin und zurück nicht länger als 2 Minuten. Der Zeitunterschied zwischen zwei »gleichzeitigen« Stationen belief sich also bei optimalen Verhältnissen auf eine Minute. Was von Potsdams optischer Telegrafenstation übrig ist, auch ›Kleiner Refraktor‹ genannt, liegt unmittelbar neben dem weitläufigen Areal des Observatoriums aus der Zeit Wilhelm I. Albert Einstein, der einige Jahre Direktor des Astrophysikalischen Instituts war, wurde dadurch möglicherweise dazu inspiriert, dass Gleichzeitigkeit von zwei Ereignissen ein durchlässiger Begriff ist. Die Synchronisierung zweier Uhren benötigt Zeit.1
Die optischen Telegrafen verbreiteten sich schnell im Laufe des 19. Jahrhunderts. Abraham Niclas Edelcrantz (1754–1821), eines der unbekanntesten Mitglieder der Schwedischen Akademie, lancierte im Jahre 1794 sein Klappensystem mit einer Telegrafenlinie zwischen Stockholm und Drottningholm. Durch dieses System von Edelcrantz konnte man 1024 unterschiedliche Signale erzeugen, und diese waren deutlich leichter abzulesen als beispielsweise die des Franzosen Claude Chappe.
Sogar der junge August Strindberg arbeitete eine kurze Zeit am Telegrafenturm auf dem Hügel von Mosebacke in Stockholm. Auch in der Neuen Welt wurden optische Telegrafenlinien errichtet. Das Versäumnis der Südstaaten-Truppen, den Telegraph Hill zu besetzen, hatte katastrophale Folgen für den Ausgang der Schlacht von Gettysburg. Während des Napoleonkriegs wunderte sich Wellington über die Schnelligkeit und Effektivität des optischen Systems der portugiesischen Armee, die der Mathematiker Francisco António Ciera entwickelt hatte. In Russland wurde 1824 eine optische Telegrafenlinie zwischen Sankt Petersburg und dem Ladogasee im damaligen Großherzogtum Finnland eingerichtet.
Das Personal einer optischen Telegrafenstation bestand aus mindestens zwei, häufiger drei Personen: einem Beobachter, der mit einem Fernglas die eine oder andere der nächstgelegenen Stationen ablas, und ein oder zwei Telegrafen, die die Winkelelemente bedienten.
Die Richtung der Nachricht war wichtig, Kollisionen mussten vermieden werden. Und manchen Nachrichten musste Priorität eingeräumt werden. Es ist kaum möglich, sich ein öffentlicheres System der Informationsweiterleitung zwischen zwei Orten vorzustellen. Deshalb wurde Verschlüsselung bald ein wichtiges Verfahren, besonders natürlich im militärischen Kontext.
Die Zeichensysteme durchliefen historisch gesehen eine beachtliche Entwicklung und Veränderung während der Zeit ihres Betriebs: von den 1790er Jahren bis circa 1850. Claude Chappe (1763–1805) gehörte zusammen mit Edelcrantz zu den frühesten Erfindern. Von Chappes System ist nur sehr wenig bewahrt, von Edelcrantz bedeutend mehr. Das Edelcrantz’sche System basierte auf Eisentafeln anstelle der Semaphore der Vorgänger, und ein rekonstruiertes Exemplar kann im Ladugårdsgärdet in Stockholm besichtigt werden.
Das System ist wie ein binärer Code aufgebaut, und an jedem Mastsystem waren zehn Tafeln befestigt, jede einzelne mit zwei möglichen Einstellungen – entweder sichtbar oder unsichtbar. So ergaben sich 1024 unterschiedliche Signale, und das schwedische Alphabet erscheint somit als eine echte Teilmenge dieser kombinatorischen Möglichkeiten.
Ein Grund dafür, dass das Edelcrantz’sche System in den meisten Ländern durch die preußischen Winkelmasten ersetzt wurde – auf der Abbildung ein Beispiel vom Telegrafenhügel auf dem heutigen Wissenschaftscampus in Potsdam –, war der, dass längliche Zeichenelemente erfahrungsgemäß besser voneinander zu unterscheiden waren als die Edelcrantz’schen Rechtecke, besonders bei schlechten Sichtverhältnissen.
Ein komplettes Alphabet, inklusive der Umlaute des Deutschen, sah in der offiziellen ›Signalanleitung‹ so aus:
Während die elektronischen Telegrafensysteme, die nach und nach die optischen ablösten, im Prinzip die Lichtgeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen erreichen konnten, pflanzten sich die Nachrichten der optischen Telegrafen in Zeit und Raum auf eine Weise fort, die eher an die neurologische Signalgebung erinnert: Der Informationsgehalt wird aufgefangen und von einer Zelle zur nächsten weitergeleitet. Das begrenzte die Geschwindigkeit, aber die Zeit, die ein Zeitsignal zwischen Berlin und Koblenz hin und zurück benötigte, nämlich 2 Minuten, sagt etwas über die manuelle Geschicklichkeit aus, die die Telegrafisten auf dem Höhepunkt des Systems entwickelt hatten.
Wie schon gesagt, jede Synchronisierung benötigt Zeit, und die Minuten der preußischen Synchronisierung unterscheiden sich prinzipiell nicht von den 60 000 Jahren, die es braucht, um eine irdische Uhr mit einer 30 000 Lichtjahre entfernten Uhr auf einem geeigneten Tisch eines geeigneten Planeten zu synchronisieren.
Es existiert keine Gleichzeitigkeit. Es existiert nur eine durch den jeweiligen Beobachter bestimmte Gleichzeitigkeit. Das Universum ist kein Aquarium, in dem alle Verläufe gleichzeitig überschaubar wären.
Deshalb stellt unsere biologische Auffassung der Zeit im Grunde ein systematisch irreführendes System dar. Die Vergänglichkeit des Augenblicks kann nicht restlos im topologischen System ›Vorher – Nachher‹ beschrieben werden. McTaggart sah darin ein Paradox.2
Eine andere logisch interessante Eigenschaft, die die optischen Informationssysteme zum Beispiel mit der Formelsprache der Chemie teilen, ist die, dass das Zeichensystem eine viel größere Anzahl von Molekülzusammensetzungen anbietet, als die Natur in Form des Ionengleichgewichts überhaupt zulässt. Die Labanotation für Ballett-Tänze gestattet Bewegungen und Positionen, die physisch gar nicht ausführbar sind, und die Notenschrift erlaubt, Arien zu notieren, die kein Sopran je singen könnte. Das Edelcrantz’sche System erlaubt 1024 Signale, also viel mehr, als ein normales phonetisches Alphabet erfordert.3 Das System eröffnet, wie jedes Zeichensystem, die Möglichkeit, Nonsens hervorzubringen. Falls jemand diese Ressourcen dafür in Anspruch nehmen wollte.
1In der besonderen Welt der Relativitätstheorie existiert Gleichzeitigkeit nur in dieser instrumentalen Bedeutung, jedoch keine absolute Gleichzeitigkeit. Wir kommen noch auf den interessanten Spezialfall zu sprechen, wenn zwei Ereignisse sich auf dem Nullpunkt ihrer jeweiligen Lichtkegel befinden: »nowhere«.
2McTaggart, John M. E. 1921. On the Nature of Reality (posth. 1927).
3Das preußische System: 4 Semaphore, die jeweils 4 Positionen einnehmen können: 4+4=8!=40320 Zeichenmöglichkeiten.
Wir haben also gesehen, dass Zeichensysteme (beispielsweise aus allen überhaupt ausführbaren Semaphor-Einstellungen des optischen Telegrafen des preußischen Systems) im Prinzip für ein viel größeres Alphabet verwendbar sind als ursprünglich gedacht.
Und natürlich könnten auch innerhalb des normalen Alphabets mehr Zeichenfolgen eingefügt werden, als für eine bereits existierende, lautbasierte Sprache notwendig wäre. Die Vielfalt des Zeichensystems eröffnet Freiräume auf verschiedenen Ebenen.
Üblicherweise nähert man sich in der Logik bedeutungstheoretischen Fragen, indem man versucht festzustellen, welche Bedingungen hinreichend erfüllt sein müssen, um einen sinnvollen gesprochenen oder geschriebenen, sprachlichen oder mathematischen Satz zu bilden.
Das verführt uns zu einer Abkürzung. Statt zu fragen, wie ein sinnvoller Satz oder die Zeichensequenz entsteht, fragen wir: Wie entsteht Nonsens? Nun zeigt sich, dass die Frage nicht ganz so einfach ist, wie es zunächst scheint.
Der Wiener Kreis und seine Nachfolger – der logische Positivismus in Cambridge und all seine intellektuellen Ausläufer – hatten eine sehr enge Auffassung davon, was Bedeutung ist, und ließen größere Teile dessen, was wir normalerweise unter sprachlicher Kommunikation verstehen, ungeklärt. Eine Aussage war dann und nur dann sinnvoll, wenn sie verifizierbar oder falsifizierbar ist, d. h. wenn ihre Negation gleichfalls sinnvoll ist. Sinnvolle Aussagen traten also ausschließlich paarweise auf, wobei ein, und nur ein Teil dieses Paares wahr oder falsch sein konnte.
Wie deren Nachfolger, die Oxford-Schule, die schließlich in die sogenannte Speech Act Theory (Sprechakttheorie) mündete, zeigte, schloss dies gesamte Galaxien dessen aus, was wir normalerweise als sinnvolle Sprachäußerungen empfinden. Was machen wir mit der großen Gruppe von performativen Äußerungen: Versprechen, Befehle, Fragen, Benennungen, Beschwörungen, Segnungen, Gebete, Urteile? Wie lautet die Negation von ›Ich verspreche, am Montag zu bezahlen‹?
Ist es: ›Ich verspreche nicht, am Montag zu bezahlen‹? Oder: ›Ich verspreche, am Montag nicht zu bezahlen‹?
Und wie sieht es mit dem gesamten Instrumentarium aus, das zur traditionellen Werkzeugkiste der Poesie gehört? Was machen wir zum Beispiel mit Metaphern? Was ist die Negation von: ›Dezember. Schweden ist ein an Land gezogenes, abgetakeltes Schiff‹? Ist es: ›Es ist nicht der Fall, dass Schweden ein an Land gezogenes, abgetakeltes Schiff im Dezember ist‹? Oder: ›Im Dezember ist Schweden kein an Land gezogenes, abgetakeltes Schiff‹?4
Wie stellt man eine Metapher in Frage? In einem späteren Zusammenhang werden wir noch auf die Bedeutung poetischer Sätze zurückkommen.
Der positivistische Bedeutungsbegriff ist also offenbar zu begrenzt, um alles zu umfassen, was mit Sprache möglich ist.
Es wäre ja seltsam zu behaupten, dass Äußerungen wie ›Dezember. Schweden ist ein an Land gezogenes, abgetakeltes Schiff‹ unverständlich sind. Dass sie also nicht zur Kommunikation taugen. Nicht nur metaphorische Aussagen wären bedeutungslos, wenn wir uns an das Verifizierungskriterium halten würden, sondern auch Äußerungen, die zu ganz normalen und notwendigen Sprechakten gehören: Ich nenne Dich Tom. Bitte Schuhe abputzen! Achtung, bissiger Hund! Ich liebe Dich. Ich hasse Dich. Das Gericht verurteilt Sie zu einer Bewährungsstrafe.
ceteris paribus