Von Fluchtgeschichten und zerplatzten Träumen
Beppo Beyerl, Claudia Edermayer, Harald A. Friedl, Cornelia Grobner, Simone Gsell, Marie-Thérèse Kerschbaumer, Martha Kogler, Charlotte Nickl, Elisabeth Penzias, Roswitha Perfahl, Hedda Pflagner, Peter Raffalt, Mohammad Ibrahim Rahimi, Gerhard Ruiss, Veronika Seyr
© 2018 UKI - Unterstützungskomitee zur Integration von MigrantInnen
In Kooperation mit der Interessengemeinschaft IG Autorinnen Autoren
Herausgeber: UKI - Unterstützungskomitee zur Integration von MigrantInnen in Kooperation mit der Interessengemeinschaft IG Autorinnen Autoren
Umschlaggestaltung: UKI
Lektorat: Maga. Eva Schröder
Rechte an den einzelnen Beiträgen bei den Autorinnen und Autoren
Rechte an der Zusammenstellung bei UKI
Wien, April 2018
Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel
ISBN 978-3-99070-681-7 (Paperback)
ISBN 978-3-99070-682-4 (Hardcover)
ISBN 978-3-99070-683-1 (e-book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Wir haben dieses Buch herausgebracht, nicht, weil wir ein großartiges literarisches Werk schaffen wollten, sondern, weil wir mit diesem Buch einmal mehr ein Zeichen setzen möchten.
Wir verstehen uns als Sprachrohr für Menschen, die eine Stimme in unserem Land brauchen. Wir betrachten es als unsere Aufgabe durch unser Tun auf bewegende Lebensgeschichten aufmerksam zu machen, Empathie zu wecken, einen Beitrag zu Gleichbehandlung und Integration zu leisten.
Ohne die großartige Unterstützung durch die IG Autorinnen Autoren, ohne die Unterstützung der Autorinnen und Autoren und schließlich ohne die Unterstützung der KollegInnen im Verein, hätten wir unser Vorhaben nicht in dieser Art und Weise umsetzen können.
Wir danken für die eindrucksvollen Geschichten, das großartige soziale Engagement der Autorinnen und Autoren, für die fachliche Begleitung durch Herrn Gerhard Ruiss.
Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass Solidarität und Engagement für eine gerechtere Gesellschaft noch nicht unmodern geworden sind. Wir danken dafür, dass es Menschen gibt, die ihre Zeit und ihre Geschichten diesem Anliegen widmen.
Dr. Manochehr Shahabi
UKI Geschäftsführung
UKI – Unterstützungskomitee zur Integration von MigrantInnen
Wer wir sind
Das UKI ist ein überparteilicher, gemeinnütziger Verein, der 1993 zum Zweck einer präziseren Arbeitsteilung aus dem „Unterstützungskomitee für politisch verfolgte AusländerInnen“, heute „Asyl in Not“ hervorgegangen ist und die soziale, sprachliche und berufliche Integration von MigrantInnen als erklärtes Ziel hat.
Was wir tun
Das UKI schafft durch geförderte arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, politisches und soziales Bewusstsein. Wir schaffen Zugang zu Bildung für MigrantInnen/AsylwerberInnen . indem wir in unseren Maßnahmen wohl die wichtigste Säule der Integration nämlich Bildung und Beschäftigung kombinieren.
Wer uns fördert
Wir bedanken uns bei dem Sozialministeriumsservice, bei dem Bundesamt für Wissenschaft und Forschung, Abteilung für Bildung und außerschulische Jugendbetreuung, beim Bundesministerium für Bildung und Frauen und beim Arbeitsmarktservice Niederösterreich für Fördermittel und Unterstützung.
Gerhard Ruiss
Ich heiße nicht mehr, ich habe nicht
Keine einzige Geschichte dieses Buchs ist nur eine Geschichte von Heute oder von jemandem allein, bei jeder finden sich sofort Verbindungen zu geschichtlichen Ereignissen und zu anderen Menschen, die vor Krieg, Terror, Verfolgung und Versklavung geflohen sind. Jede Fluchtgeschichte ist der anderen irgendwie ähnlich und doch ist keine der anderen gleich. Nicht, weil es um Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern zu verschiedenen Zeiten geht, sondern weil jede Flucht individuelle Gründe hat, eine falsche Zugehörigkeit, ein falsches Interesse, die falsche Kleidung, die falsche Herkunft, ein falsches Wort, und weil es vor allem immer ganz konkrete Menschen sind, für die sich kein anderer Ausweg mehr abzeichnet.
Dieses Buch zeigt die Kehrseite einer Politik, die für sich in Anspruch nimmt, die „Balkanroute geschlossen“ oder „die Flüchtlingswelle“ gestoppt zu haben, es ist ein Buch über Menschen, die all das, das zuvor für sie von Bedeutung war, verloren geben oder zurücklassen mussten und dafür im Tausch bekommen haben, vorläufig oder dauerhaft in Sicherheit zu sein. Es ist ein Buch über „Gerettete“, denen es gelungen ist, Kriege, Terror oder andere Bedrohungen hinter sich zu lassen und dem Erstickungstod in einem LKW oder Ertrinken im Meer zu entgehen. Es ist ein Buch über diejenigen, die es „geschafft“ haben, bei uns anzukommen, mit der Hoffnung auf ein Leben ohne Feindschaft und Feindseligkeiten. Davon erzählen ihre Geschichten. Es sind Erzählungen über den Verlust früherer Existenzen, vom Kampf ums Überleben und von der Hoffnung auf ein neues, ein anderes, ein besseres Dasein, ein Aufschrei gegen Ignoranz und Selbstgefälligkeit und eine Einladung zur Begegnung mit Menschen, die vor dem Nichts stehen und die aus diesem Nichts alles zu machen versuchen.
Die Besonderheit dieser Erzählungen ist, sie handeln von den Leben Betroffener, die – bis auf eine Ausnahme – unter Pseudonymen berichten oder überhaupt anonym bleiben wollen. Festgehalten wurden ihre Erzählungen von österreichischen Autorinnen und Autoren, die sich zum Sprachrohr für die in diesem Buch versammelten nach Österreich Geflüchteten und ihre Fluchtgeschichten gemacht haben.
Das Buch fällt in eine Zeit, in der sich die Haltung gegenüber Flüchtlingen angeblich gewandelt hat. Ob das tatsächlich so ist, lässt sich nur anhand von konkreten Erfahrungen überprüfen, nicht von Stimmungen, die erzeugt werden. Aber selbst, wenn es so wäre, die Fluchtgründe haben sich nicht geändert. Es war so gut wie allen mit ihren Fluchtgeschichten in diesem Buch zu Wort kommenden Beteiligten von vornherein klar, dass ihre Flucht ein tödliches Ende nehmen hätte können und dass sie ihr gesamtes vorhandenes Kapital für die Hilfe von Schleppern verbrauchen und für keinen Neuanfang woanders zur Verfügung haben würden. Und klar war auch, dass die Rückkehr ausgeschlossen werden muss und ein Wiedersehen mit den zurückbleibenden Familienmitgliedern und Freunden, für viele Jahre oder für immer.
Die Geschichten in diesem Buch räumen mit dem Mythos auf, wüssten Flüchtlinge, was ihnen bevorsteht und was auf sie wartet, sie würden ihre Flucht nicht auf sich nehmen. Sie nehmen sie auf sich, weil es in den allermeisten Fällen die einzige und letzte Chance auf ihr Überleben ist. Genauso machen sie deutlich, dass ein Abwarten auf rasche Besserung ohne Erfolgsaussichten ist. Kriege dauern Jahre, Diktaturen bestehen Jahrzehnte, historische und aktuelle Beispiele dafür gibt es zur Genüge.
Es sind keine Einzelschicksale, denen man in diesem Buch begegnet, es sind Schicksale, die die Erzählerinnen und Erzähler mit vielen anderen teilen, für die sie exemplarisch stehen, nicht in einer vergangenen Zeit, im Hier und Heute, nicht in lebhaften Vorstellungen, im realen Geschehen, nicht irgendwo auf dieser Welt, an unseren Grenzen und mitten unter uns.
Jedes dieser Schicksale wäre es wert, aufgezeichnet zu werden, ein paar davon festzuhalten, ist mit Hilfe der handelnden Personen und Autorinnen und Autoren dieses Buchs in beeindruckender Weise gelungen.
Über den Autor:
Gerhard Ruiss ist am 29.5.1951 in Ziersdorf geboren. Er ist ein österreichischer Autor und Musiker. Er ist Vorstandsmitglied der IG Autorinnen Autoren, seit 1982 deren Geschäftsführer. Diverse Lehrtätigkeiten und sonstige Funktionen u.a. Mitglied der ARGE kulturelle Vielfalt der UNESCO Kommission. Er ist Lehrbeauftragter für Germanistik und im Kulturmanagement.
meinen freunden
ich bin des unterwegs-seins müde
ich möchte bleiben können irgendwo
im niemandsland vielleicht
vielleicht im niemandsland
ihr blickt dem
vogel nach
und eure augen
weisen stumm
die berge
die schneegans ruft
und eure brut
ruht gut
mein niemands land
wo ist mein niemandsland
und immer unterwegs
von mir zu mir
ihr schickt
delphine aus
und eure augen
weisen stumm
das meer
die schneegans ruft
habt eure brut
in hut
wie bin ich müde müd
und unterwegs
und bleiben nirgends
als im niemandsland vielleicht
vielleicht im niemandsland
Über die Autorin:
Dr. Marie- Thérèse Kerschbaumer wurde 1936 in Frankreich geboren; sie verbrachte ihre Kindheit in Costa Rica, später in Tirol. Sie ist promovierte Romanistin, freie Schriftstellerin und Übersetzerin; lebt in Wien. Sie schreibt Gedichte, Romane, Essays, Theaterstücke, Hör- und TV Spiele.
Zitiertes Gedicht aus:
Marie-Thérèse Kerschbaumer: grenzgänger.
In: Marie-Thérèse Kerschbaumer: Gedichte.
Kriterion Verlag, Bukarest 1970, S. 46-47.
Ich habe mich nie besonders für Religion oder gar Politik interessiert. Aber seit in der Nachbarstadt Bomben gefallen sind, hängt bei uns die ganze Familie nur mehr am TV. Vater meint, ich soll endlich meinen Kopf bedecken – damit ich mich schütze. Über das spreche ich mit meinen Freundinnen, aber wir haben uns bis jetzt nicht dazu durchringen können. Über eins spreche ich aber nur mit meiner älteren Schwester Zarifa: Dass ich einen verheirateten Mann liebe. Und fast bereue ich es, ihr davon erzählt zu haben, denn sie fragt jetzt immer nur, wann ich mir endlich einen anderen suche.
Youssef arbeitet im Krankenhaus. Er ist Chirurg. Voriges Jahr, als Mama die Hüftoperation hatte, lernte ich ihn kennen. Ein tiefer Blick ergab den anderen und schon war's um uns geschehen. Nachdem wir uns erfolglos gegen unsere leidenschaftlichen Gefühle gewehrt hatten, spielte sich der Rest in verschiedenen Hotelzimmern ab. Bis heute. Zwanzig Jahre Ehe hat er hinter sich. Vier Kinder. Er ist nicht der Typ, der sich leichtfertig mit anderen Frauen abgibt. Glaube ich jedenfalls. Gerade warte ich auf seinen Anruf. In einem Restaurant wollen wir heute unser einjähriges Jubiläum feiern. Da kommt Zarifa ins Zimmer.
Sie schaut mich entnervt an: „Merkst du eigentlich, was da rundherum vor sich geht, Sahra, du verliebte Träumerin?“ Irgendetwas an ihrer Stimme lässt mich aufhorchen. Ohne mich zu fragen, schaltet sie den Fernseher ein. Das Gerät hat wie immer schlechten Empfang und rauscht. Zarifa setzt sich auf den Teppich und zündet sich nervös eine Zigarette an. Ich sehe, dass ihre Finger zittern. Sie bringen Nachrichten vom IS und der undurchsichtigen politischen Situation in unserem Land – jeder ist hier gegen jeden. Es hat sich seit Monaten nichts geändert daran. Und dann sagen sie es: Die Terrormilizen sind in unsere kleine Stadt eingedrungen. Sie durchstreifen das Zentrum und alle Bezirke, wo sie völlig willkürlich Leute, die ihnen entgegenkommen, niederschießen.
„Wir haben geschlafen, während der IS seinen Staat gegründet hat. Unsere Regierung hat versagt!“, schreit Zarifa aufgebracht. Ihr hysterisches Gekreische verursacht wirklich Kopfschmerzen. Ich blicke auf die Uhr. Youssef hat noch immer nicht angerufen, das ist für ihn ungewöhnlich. „Letzte Woche ist Achmad verschwunden. Sie reden davon, dass er sich dem IS angeschlossen hat!“, Zarifa blickt mich vorwurfsvoll an. Kümmern dich eigentlich noch andere Menschen, Sahra?
„Der Achmed? Das Pickelgesicht mit dem Spatzenhirn? Ist doch klar, dass der sie nicht alle beisammen hat! Du wolltest eh nichts mit ihm anfangen oder bist du traurig, dass er weg ist?“, stichle ich. „Dir ist doch klar, was der tun wird, wenn er erstmal ein Gewehr in die Hände bekommt?“ Zarifa schaut mich an, als ob sie mit einer Schwachsinnigen sprechen würde. Dann richtet sie den Zeigefinger auf mich: „Peng, Peng, Peng“, wird er machen. Solle er doch! Mich regt vielmehr auf, das Youssef nicht und nicht anruft.
Der Fernsehsprecher sagt wieder etwas in sehr emotionalem Ton und fuchtelt dabei mit den Händen herum. Aber es gibt schon wieder eine Störung. Ich stehe wütend auf und schalte das Gerät aus. Stille breitet sich im Zimmer aus. Es ist später Nachmittag und die Sonne steht tief am Horizont.
„Findest du es nicht ungewöhnlich?“, fragt meine Schwester.
„Was?“
„Dass es so ruhig draußen ist.“
Normalerweise erreicht das Treiben in unserer Kleinstadt am Spätnachmittag seinen Höhepunkt. Da ist die Hitze des Tages vorbei und alle Leute sind auf der Straße: Hausfrauen eilen zum Einkauf, Händler öffnen ihre Geschäfte, Bauern bieten Früchte an. Und jetzt bin ich wirklich alarmiert: Die Gebetsstunde ist vorbei und der Muezzin hat nicht gesungen!
Von einem gemeinsamen Impuls getrieben, gehen meine Schwester und ich zum Fenster, ziehen den Vorhang ein wenig beiseite und lugen durch den Spalt- wie Mädchen in alter Zeit, wenn unten ihr Geliebter vorbeiging, dem sie eine scheue Kusshand und einen sinnlichen Blick zuwarfen.
Und dann sehen wir es beide: Schwarze Schatten ducken sich lautlos um die Häuser unseres Marktplatzes. Sie tragen Waffen. Es werden mehr und mehr. Völlig lautlos sammeln sie sich schließlich in der Mitte. Wir halten den Atem an.
Auf einmal zerreißt ein Schrei die Stille. Eine Frau wird an ihren Haaren herangeschleift. Die schwarzen Männer bilden eine Gasse, um sie und ihre Peiniger durchzulassen. Zarifa und ich tauschen einen entsetzten Blick. Das ist Hannah, unsere Nachbarin, die anscheinend gerade vom Einkaufen kam. Ihre Waren, Krautköpfe, rollen verloren am Boden herum.
„Eine Frau ohne Kopftuch allein auf der Straße ist verboten!“, schreit einer der Terroristen. Sie stoßen Hannah auf die Knie und einer zückt ein langes Messer. Wir können es nicht ertragen mit anzusehen, was jetzt kommen wird und treten vom Fenster zurück. Dabei zittern wir am ganzen Leib.
In diesem Moment läutet mein Handy. Es ist Youssef.
„Schatz, ich kann mich nur kurz melden. Sie sind ins Krankenhaus eingedrungen und haben alles zerstört! Wir konnten nichts tun, außer unser Leben zu retten. Ich werde mit meiner Familie so schnell wie möglich ins Ausland fliehen und ich rate euch, das auch zu tun! Pass auf dich auf mein Herz, ich liebe dich!"
„Youssef!“, schreie ich verzweifelt, doch dann ist die Leitung schon tot.
Als wir am nächsten Morgen mit den Eltern, vielen Koffern und vielen anderen Menschen die Flucht ins Ungewisse antreten, überqueren wir auch den Marktplatz. An unsere Füße heftet sich Wüstenstaub, vermischt mit dem klebrigen Blut der gestrigen Hinrichtung.
Auch dieses Blut nehmen wir aus der Heimat mit.
Über die Autorin:
Mag. Charlotte Nickl ist hauptberuflich in der Erwachsenenbildung tätig, sie absolvierte unter anderem ein Studium in kreativem Schreiben. Sie veröffentlicht Geschichten und ist als Moderatorin für ein online-Forum tätig.
„Mein größter Wunsch ist es, dass es keine Pässe und Grenzen mehr gibt und dass man sich aussuchen kann, wo man leben möchte.“ Dascha, 29 (Name geändert)
„Hallo Ausländer, wie geht’s?“, begrüßten die Freunde meinen Vater.
„Taliban“, riefen ihm die weniger Freundlichen entgegen. Dieses Wort tat meinem Vater besonders weh. Immerhin hatte er in Afghanistan an der Seite der Russen gegen die Taliban gekämpft.
Als der Krieg 1986 begann, flüchtete er zuerst nach Russland und zog dann in die Ukraine. Dort lernte er meine Mutter, eine Russin, kennen. Ich kam vor 29 Jahren als ihr erstes Kind zur Welt, zehn Jahre später folgte meine Schwester. In unserem Viertel herrschten hohe Arbeitslosigkeit und Armut. Die Leute dort waren engstirnig, kannten nur ihre Nachbarn und interessierten sich nicht für die Welt. Wer keine Arbeit fand, lenkte sich mit Drogen und Alkohol ab. Die Süchtigen nahmen alles, solange es billig war. Reichte das Geld nicht, stahlen sie oder stellten selbst Drogen her. Viele meiner Schulkameraden und Nachbarn starben bereits in jungen Jahren.
Für meine Eltern, die inzwischen geschieden waren, war meine Ausbildung sehr wichtig. Ich studierte Lebensmitteltechnik, schrieb daneben Drehbücher für Kabaretts im Fernsehen und arbeitete als Köchin und Kellnerin.
Nachdem 2014 die Revolution gegen Janukowytsch1 begonnen hatte, wurde das Leben in der Ukraine unerträglich. Die Menschen kämpften gegeneinander, Familien wurden gespalten. Auch mein Cousin brach als Anhänger Russlands den Kontakt zu uns ab. Ich war auf keiner Seite, denn überall herrschte die gleiche Korruption, der gleiche Hass. Wir waren nur Marionetten im Machtkampf der Politiker. Die Situation wurde für uns von Tag zu Tag gefährlicher. Eines Abends kam mein Vater zu uns. Er hatte beschlossen, mit seiner zweiten, hochschwangeren Frau zu fliehen und bot meiner Schwester und mir an, mitzukommen. Nachdem er einen Schlepper gefunden hatte, verkaufte er sein Lokal. Wieviel er dem Mann gegeben hatte, weiß ich bis heute nicht. Aber es müssen mehrere tausend Euro gewesen sein.
Am Tag unserer Flucht mussten wir unsere Pässe, Urkunden, Diplome und Handys abgeben. Viele Stunden lang waren wir in einem Kastenwagen ohne Fenster eingesperrt. Wir saßen eng aneinander gedrängt im hinteren Teil des Autos und mussten ganz still sein. Es war heiß und ich hatte schreckliche Angst, erwischt zu werden. Ich wollte einfach nur fort, woanders leben. Die Fahrt dauerte lange – wie lange, weiß ich nicht. Nach vielen Stunden hielt er endlich an. Als wir ausstiegen, war es finster. Im Licht der Scheinwerfer sah ich, dass wir uns mitten in einem Nadelwald befanden, vom Rest der Landschaft war nichts zu erkennen. Ich war froh, als ich mir endlich die Beine vertreten konnte. Aber ich hatte keine Angst – es war kein schlechter Ort. Der Fahrer brachte uns zu einem leer stehenden Haus. Dort warteten wir auf die Weiterfahrt. Nach einer Weile erschien ein LKW. Wir zwängten uns in den hinteren Teil der Kabine und kauerten dort die restliche Fahrt. In der Nähe von Linz hielt der Fahrer an und gab uns unsere Unterlagen und Handys zurück. Alle sagen, dass Schlepper böse sind, aber für uns stimmte das nicht! Vom Parkplatz aus rief mein Vater seinen Bruder an, der ebenfalls aus Afghanistan stammt und seit 20 Jahren in Linz wohnt. Er holte uns ab und fuhr uns zum Aufnahmezentrum Thalheim. Da dort kein Platz war, brachte man uns nach Traiskirchen. Dort kam auch mein Halbbruder zur Welt.
Nach einem Monat durften wir endlich nach Linz zurückkehren. Seit Juli 2014 lebe ich als Asylwerberin in Österreich. Ich lernte in dieser Zeit Deutsch und habe einen italienischen Freund. Da ich Ukrainisch, Russisch, Pashto (Anm.: afghanische Sprache) und Englisch spreche bzw. die slawischen Sprachen verstehe, helfe ich der Caritas als Dolmetscherin. Ich halte Kochkurse im Verein Arcobaleno2 ab und unterstütze Kinder von Flüchtlingen und Asylwerbern beim Lernen.
Über die Autorin & die Entstehung des Textes:
Claudia Edermayer, geboren 1969 in Linz, OÖ, seit 1996 Märchenerzählerin. 2001 Gründung des 1. Linzer Märchencafés, Autorin von Theaterstücken und Märchen; Sie wollte die Geschichte einer weiblichen Geflüchteten erzählen. Beim Verein Arcobaleno in Linz begegnete sie Dascha, die sich mit Lebensfreude aktiv in den Verein einbringt und nicht in einer Opferrolle verharrt.
Ich wollte nur meine Familie ernähren.
Am 22.11.1983 bin ich in Bagdad zur Welt gekommen. Dort wuchs ich behütet und glücklich im Kreise meiner Familie auf und verlebte eine wunderbare Kindheit. Ich liebte es, wenn meine Großeltern Geschichten erzählten, ich spielte mit meinen Geschwistern, half meinem Vater bei der Arbeit und ging gerne zur Schule. Später studierte ich Biologie. Ich verliebte mich in eine wunderbare Frau, wir heirateten und zogen an einen Ort außerhalb von Bagdad, wo wir beide sehr glücklich lebten. Oft besuchten wir meine Eltern in der Stadt oder trafen uns mit Freunden, wir machten Ausflüge, gingen ins Kino oder essen.
Zwei Jahre nachdem wir aufs Land gezogen waren, wurde mir Arbeit in einer amerikanischen Firma angeboten. Das war sehr verlockend, der Job gefiel mir und die Bezahlung noch mehr. Meine Frau war schwanger und ich stolz, eine gute Arbeit gefunden zu haben. Also sagte ich zu. Kurz darauf erhielt ich vom Betrieb die notwendigen Papiere und ich trat meinen ersten Arbeitstag an.
Zwei Kriege hatte Amerika gegen den Irak geführt. Tausende Menschen sind dabei ums Leben gekommen, etliche Dörfer und Städte wurden zerstört. Deshalb ist Amerika für viele in unserem Land ein Feindbild. Eine Gruppe militanter Vertreter des Islam schüren dieses Feindbild und suchen Konflikte, wo sie können.
Mitglieder dieser militanten Gruppe hatten erfahren, dass ich für eine amerikanische Firma tätig war.
Ich arbeitete. Meine Frau ruhte sich zu Hause aus, sie war bereits im neunten Monat mit Zwillingen schwanger. Ein Briefumschlag lag im Eingang. Irgendjemand hatte ihn unter unserer Haustüre durchgeschoben. Weder Adresse noch Absender standen drauf. Meine Frau öffnete ihn, entnahm ihm einen Brief und überflog ihn. Unweigerlich griff sie zum Telefon. Mein Handy klingelte. Mit zitternder Stimme las sie mir den Inhalt vor.
„Verräter! Jeder, der für Amerika arbeitet, ist gegen den Irak!
Jeder der gegen den Irak ist, ist ein Verräter!
Tod den Verrätern!“
Ich wusste, was das zu bedeuten hatte. Weder spaßten diese Menschen, noch zögerten sie. Sie töteten, wen sie sich vorgenommen hatten zu töten. Mir wurde bewusst, dass wir ab sofort in unserem Dorf kein friedliches Leben mehr führen konnten. Ich musste handeln und zwar schnell.
„Pack alles ein, was du brauchst!“, drängte ich am Telefon. „Ich bin gleich bei dir. Wir fahren zu deinen Eltern. Dort sind wir fürs erste sicher.“
Meine Frau war sehr beunruhigt. Wir wussten beide, dass dieser Brief kein schlechter Scherz war und auch keine leere Drohung. Diese Leute handeln erbarmungslos.
Ich sagte niemandem Bescheid, ließ alles stehen und liegen und fuhr, so schnell ich konnte, nach Hause. Meine Frau war aufgeregt und verängstigt. Ich umarmte und tröstete sie. Sie zitterte. Schnell packten wir alles Notwendige in den Wagen. Ihr Bauch war dick und rund und sie konnte sich mit den beiden Babys darin nur langsam bewegen. Tragen konnte sie nur die leichten Sachen. Ich bat sie, sich ins Auto zu setzen, tragen könnte doch ich. Dann fuhren wir los. Hinaus aus unserem Dorf Richtung Autobahn. Es gab keine richtige Straße dorthin, nur eine breite Piste aus Sand und Steinen. Die Gegend war trocken und dürr. Fast eine Wüste.
„Fahr nicht zu schnell“, bat mich meine Frau und legte schützend die Arme um ihren Bauch.
„In zwei Stunden sind wir bei deinen Eltern“, ermutigte ich sie, „dann wird alles gut. Und bald sind auch unsere Kinder da.“
Ich strich mit meiner Hand über die Wölbung ihres Bauches.
„Meine beiden Kinder“, dachte ich, „welch ein Glück.“
Im Rückspielgel sah ich eine Staubwolke. Ein Pick Up folgte uns. Er fuhr sehr schnell. Ich dachte mir nichts dabei. Erst als ich im Spiegel den vermummten Fahrer und zwei vermummte Männer auf der Ladefläche des Wagens sah, wurde mir klar, dass er uns nicht zufällig folgte. Ich drückte aufs Gas. Der Motor heulte auf.
Zum Glück besaß ich das stärkere Auto. Ich fuhr, so schnell es ging. Es ruckelte und holperte. Steine krachten gegen den Unterboden des Wagens. Nervös blickte ich in den Rückspielgel. Es bestand kein Zweifel: Der Wagen war hinter uns her. Die Männer trugen Gewehre. Ich fuhr leichte Schlangenlinien, um den anderen durch aufgewirbelte Staubwolken die Verfolgung zu erschweren. Plötzlich Schüsse. Einer der beiden Männer auf der Ladefläche zielte auf uns.
„Duck dich!“, rief ich. „Rutsch soweit es geht auf den Boden!“
Meine Frau kauerte sich hin. Ich presste meinen Fuß auf das Gaspedal und rutschte, so tief es ging, in den Sitz. Immer wieder hörte ich Schüsse. Hektisch irrten meine Blicke von der Frontscheibe zum Rückspiegel. Immer wieder Schüsse. Eine Kugel traf den Seitenspiegel. Meine Frau schrie. Sie zitterte. Tausende Gedankensplitter schwirrten gleichzeitig durch meinen Kopf.
„Was ist mit meiner Arbeit? Was mit unseren Eltern? Wie geht unser Leben weiter? Unser Haus? Unser Dorf? Werden wir je unseren Kindern davon erzählen...?“
Es war, als wären all diese Fragen gleichzeitig in einem Gedanken. Meine Frau weinte. Auch ich hatte große Angst, aber ich konnte es ihr nicht zeigen. Ich wollte für sie da sein.
Sie schrie.
„Mein Bauch, mein Bauch!“
Verzweifelt hielt sie ihn mit ihren Händen umfangen.
„Was, wenn jetzt das Benzin zu Ende geht?“
Dieser absurde Gedanke schoss mir in dem Moment durch den Kopf, als mit einem fürchterlichen Knall eine Gewehrkugel die Rückscheibe des Wagens durchschlug. Scherben. Splitter. Schreie.
„Du musst sie retten. Du trägst die Verantwortung für sie und unsere Kinder.“
Ich setzte mich aufrecht in meinen Sitz. Meine Angst war verschwunden. Eine nie erlebte Entschlossenheit ergriff mich. Es war ein Kampf um Leben und Tod. Ich krallte mich am Lenkrad fest und fuhr wie ein Wahninniger. Die Verfolger waren immer noch hinter uns. Aber sie verloren an Distanz. Der Abstand vergrößerte sich. Vielleicht dachten sie, sie hätten einen von uns getötet, vielleicht sollte es auch nur eine Warnung sein, vielleicht gaben sie auf, weil mein Auto schneller war.
Meine Frau schrie. Ich konnte sie nicht verstehen. Sie krümmte sich. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Meine Augen wanderten unablässig von ihr zum Rückspiegel, auf die Piste und wieder zurück zu ihr. Immer und immer wieder.
„Halte durch“, rief ich, „halte durch. Wir haben es gleich geschafft!“
Ich fragte, sie ob sie verletzt sei. Keine Antwort. Nur Schreie. -Schreie. Tränen. Verzweiflung. Schmerzen. Blut. Dann Stille. Zusammengesackt lag sie auf dem Beifahrersitz. Ihre Beine waren blutverschmiert.
„Sind wir tot?“