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Israel Zangwill

Das große Geheimnis der Bow Street

Kriminalroman

Israel Zangwill

Das große Geheimnis der Bow Street

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung und Fußnoten: Jürgen Schulze
1. Auflage, ISBN 978-3-962814-89-2

null-papier.de/620

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Dan­ke

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Erstes Kapitel

Als Lon­don an je­nem denk­wür­di­gen De­zem­ber­mor­gen die Au­gen öff­ne­te, sah es sich von ei­nem grau­en, kal­ten Ne­bel er­füllt. Es gibt Tage, an de­nen der Ne­bel den Koh­len­staub in ge­ball­ten Wol­ken über der City sam­melt und sie mit un­durch­dring­li­chem Dunst ver­düs­tert, wäh­rend die Vor­städ­te nur von leich­ten Schlei­ern um­hüllt sind, so­dass es ei­nem sehr gut pas­sie­ren kann, dass man, wenn man mit dem Früh­zug zur City fährt, aus der Däm­me­rung wie­der in das Dun­kel ge­rät. Aber heu­te la­ger­te über Bow und Ham­mers­mith der­sel­be di­cke, bleischwe­re, gel­be Dunst, der et­was Geis­ter­haf­tes hat und Un­heil zu ver­kün­den scheint.

Mrs. Drab­dump, die Glower Street Nr. 2 in Bow wohn­te, war eine der we­ni­gen, die sich von dem Lon­do­ner Ne­bel nicht nie­der­drücken ließ. Sie be­gann ihr Ta­ge­werk so gries­grä­mig, wie sie dies stets zu tun pfleg­te. Als sie den Rol­la­den ih­res Schlaf­zim­mers auf­ge­zo­gen und die Win­ter­land­schaft sich vor ihr ent­hüllt hat­te, als sie ge­se­hen, wie die düs­te­ren Ne­bel­schwa­den sich ihr ent­ge­gen­wälz­ten, wuss­te sie, dass die­ser Ne­bel we­nigs­tens einen Tag blei­ben wür­de und dass in die­sem Quar­tal dann na­tür­lich die Gas­rech­nung auch wie­der be­deu­tend hö­her sein wür­de. Sie wuss­te auch, wes­halb sie jetzt stets so viel für Gas aus­ge­ben muss­te. Es kam da­her, dass sie mit ih­rem neu­en »mö­blier­ten Herrn«, ei­nem Mr. Ar­thur Con­stant, da­hin über­ein­ge­kom­men war, dass er wö­chent­lich nur einen Schil­ling für den Gas­ver­brauch zah­len muss­te an­statt ei­nes ver­hält­nis­mä­ßi­gen An­teils an der je­wei­li­gen Rech­nung des Hau­ses.

Mrs. Drab­dump zün­de­te das Kü­chen­feu­er an, kunst­ge­recht, denn sie kann­te die Ei­gen­tüm­lich­keit der Koh­len und den Ei­gen­sinn des Hol­zes, das, wenn man nicht ein schar­fes Auge dar­auf hielt, elend rauch­te, statt knis­ternd zu bren­nen. Ihre Kunst hat­te wie ge­wöhn­lich den schöns­ten Er­folg, und Mrs. Drab­dump er­hob sich zu­frie­den von den Kni­en, wie eine Par­sen­pries­te­rin, die ih­rer Gott­heit das Mor­gen­op­fer dar­ge­bracht hat. Dann er­schrak sie plötz­lich und ver­lor bei­na­he das Gleich­ge­wicht. Ihr Auge war auf die Zei­ger der auf dem Ka­min ste­hen­den Uhr ge­fal­len: sie zeig­ten ein Vier­tel vor sie­ben. Ge­wöhn­lich brann­te Mrs. Drab­dumps Feu­er re­gel­mä­ßig um ein Vier­tel nach sechs. Was war mit der Uhr los?

Mrs. Drab­dump dach­te mit Un­mut dar­an, dass es am Ende nö­tig sein wür­de, sie mal von dem be­nach­bar­ten Uhr­ma­cher nach­se­hen zu las­sen. Der wür­de sie dann si­cher wo­chen­lang be­hal­ten und end­lich, äu­ßer­lich re­pa­riert, in­ner­lich nun wirk­lich ver­letzt, zu­rück­brin­gen, »um sein Ge­schäft zu ha­ben«. Die­ser Ge­dan­ke ver­schwand so rasch, wie er ge­kom­men, als sie jetzt von der St.-Duns­tan-Kir­che die Uhr drei Vier­tel schla­gen hör­te. Aber da er­schrak sie noch viel mehr, denn nun ver­stand sie, warum sie ein so mü­des, selt­sa­mes Ge­fühl be­herrsch­te; sie hat­te ver­schla­fen.

Ernst­lich ver­stimmt, setz­te sie rasch den Was­ser­kes­sel über das hell fla­ckern­de Feu­er; es fiel ihr näm­lich ein, dass Mr. Con­stant ge­be­ten hat­te, ihn eine drei­vier­tel Stun­de frü­her als sonst zu we­cken und ihm schon um sie­ben Uhr das Früh­stück zu brin­gen, da er schon früh in ei­ner Ver­samm­lung un­zu­frie­de­ner Tram­bahn­be­am­ter spre­chen müs­se. Mit dem Lich­te in der Hand lief sie rasch die Trep­pe hin­auf. Er wohn­te oben. Das gan­ze obe­re Stock­werk war Mr. Con­stants Reich; es be­stand näm­lich nur aus zwei nicht mit­ein­an­der ver­bun­de­nen Zim­mern. Mrs. Drab­dump klopf­te an die Tür der ihm als Schlaf­zim­mer die­nen­den Stu­be und rief: »Sie­ben Uhr, Herr, Sie wer­den zu spät kom­men, wenn Sie nicht so­fort auf­ste­hen.« Sein ge­wöhn­li­ches schläf­ri­ges »Schon gut«, wo­mit er ih­ren Mor­gen­gruß zu er­wi­dern pfleg­te, ant­wor­te­te ihr nicht, aber nach­dem sie ih­ren Mor­gen­gruß mehr­mals wie­der­holt, war­te­te sie sei­ne Ant­wort nicht ab, son­dern ging in die Kü­che zu­rück, um sich mit der Vor­be­rei­tung von Mr. Con­stants Früh­stück zu be­schäf­ti­gen.

Sie wuss­te, dass Ar­thur Con­stant nicht taub blieb, wenn die Pf­licht – an die er durch sie ge­mahnt wur­de – ihn rief. Er hat­te einen sehr leich­ten Schlaf, und wahr­schein­lich tön­te ihm schon das ihn zu der Ver­samm­lung ru­fen­de Läu­ten der Tram­bah­nen in die Ohren. Wa­rum Mr. Ar­thur Con­stant, B. A.1 – ein Herr, der wei­ße fei­ne Hän­de hat­te und blen­den­de Wä­sche trug – sich dazu her­a­bließ, sich mit Tram­bahn­kut­schern zu be­fas­sen, wäh­rend sei­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung ihn doch si­cher nicht in Be­zie­hun­gen zu Drosch­ken und Wa­gen­füh­rern brach­te, das hat­te Mrs. Drab­dump nie be­grei­fen kön­nen. Wahr­schein­lich be­ab­sich­tig­te er, sich in »Bow« für das Par­la­ment wäh­len zu las­sen; al­ler­dings wäre es dann di­plo­ma­ti­scher ge­we­sen, sich eine Wir­tin zu su­chen, de­ren Mann noch leb­te und die da­durch stimm­be­rech­tigt war. Eben­so un­pas­send er­schi­en es ihr, dass er durch­aus dar­auf be­stand, selbst sei­ne Stie­fel put­zen zu wol­len, ob­wohl er dar­in kein Meis­ter war, und dass er in je­der Wei­se wie ein ein­fa­cher Ar­bei­ter Bows le­ben woll­te. Nur dass die Ar­bei­ter nicht so ver­schwen­de­risch mit dem Was­ser um­gin­gen und so vie­le Bä­der, fri­sches Trink­was­ser und rei­ne Wä­sche be­an­spruch­ten wie er. Auch be­ka­men sie nicht so gute Din­ge zu es­sen, wie Mrs. Drab­dump für ihn be­rei­te­te, wo­bei sie ihm weis­mach­te, dass es ge­wöhn­li­ches Ar­bei­ter­es­sen sei. Sie konn­te es nicht er­tra­gen, dass er un­ter­halb sei­nes Stan­des le­ben soll­te. Ar­thur Con­stant war ge­hor­sam und aß al­les, was sei­ne Wir­tin ihm vor­setz­te, und glaub­te al­les, was sie sag­te. Es ist ja für Hei­li­ge nicht so leicht, klar zu se­hen, in der Pra­xis ver­ne­belt der Hei­li­gen­schein oft das Auge!

Der Tee, der in Mr. Con­stants Tee­topf be­rei­tet wer­den soll­te, war nicht etwa von der ge­wöhn­li­chen, or­di­nären Mi­schung, den sie für sich und Mr. Mort­la­ke ver­wen­de­te; wäh­rend sie das Früh­stück be­rei­te­te, muss­te sie plötz­lich an ih­ren zwei­ten Miets­herrn den­ken. Die­ser arme Mr. Mort­la­ke war um vier Uhr schon auf­ge­stan­den und hat­te sich ohne je­des Früh­stück in die neb­li­ge, düs­te­re Win­ter­nacht ge­wagt. Nun, sie hoff­te nur, dass sein Ei­fer be­lohnt und dass er gute Rei­se­spe­sen her­aus­schla­gen wer­de, was er, wie an­de­re mit ihm ri­va­li­sie­ren­de Ar­bei­ter­füh­rer be­haup­te­ten, meis­tens tat. Sie gönn­te ihm sei­nen Ver­dienst gern, und es ging sie ja auch wei­ter nichts an, wenn er, als er ihr Mr. Con­stant als Mie­ter für ihre leer­ste­hen­den Zim­mer zu­führ­te, noch viel­leicht einen an­de­ren Zweck da­mit ver­band als den, sei­ner Wir­tin ge­fäl­lig zu sein. Je­den­falls hat­te er ihr einen großen Dienst da­durch er­wie­sen, ob­gleich der Mie­ter, den er ihr zu­führ­te, in man­chen Stücken selt­sam ge­nug war. Auch, dass Mr. Mort­la­ke ein Spre­cher der ar­bei­ten­den Klas­se war, be­küm­mer­te sie nicht. Tom Mort­la­kes ei­gent­li­cher Be­ruf war der ei­nes Schrift­set­zers ge­we­sen; sei­ne Tä­tig­keit als Ar­bei­ter­füh­rer brach­te ihm aber eine bes­se­re Stel­lung und hö­he­ren Lohn ein. Tom Mort­la­ke, der Held von hun­dert Streiks, des­sen Name in großen Buch­sta­ben auf den An­schlag­säu­len ge­druckt war, war ganz ge­wiss eine ge­wich­ti­ge­re Per­sön­lich­keit als Tom Mort­la­ke, der be­schei­de­ne Schrift­set­zer. In­des­sen be­stand sei­ne Ar­beit doch nicht nur dar­aus, Re­den zu hal­ten, Bier zu trin­ken und Ke­gel zu schie­ben; Mrs. Drab­dump wuss­te, dass sei­ne letz­te Ex­pe­di­ti­on kei­ne be­nei­dens­wer­te war.

Auf ih­rem Wege zur Kü­che klopf­te sie im Vor­über­ge­hen an sei­ne Tür, er­hielt aber kei­ne Ant­wort. Die Haus­tür war nur ein paar Schrit­te seit­wärts, und ein Blick auf sie zer­stör­te ihre Hoff­nung, dass Tom viel­leicht sei­ne Rei­se auf­ge­ge­ben hat­te. Die Ket­te war nicht mehr vor­ge­legt, der Rie­gel zu­rück­ge­zo­gen, und die Tür war ein­fach mit dem Haus­schlüs­sel ab­ge­schlos­sen. Mrs. Drab­dump emp­fand ein ge­wis­ses Un­be­ha­gen, aber um ihr Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren zu las­sen, muss man sa­gen, dass sie nicht über­ängst­lich war oder, wie die meis­ten gu­ten Haus­frau­en, im­mer vor Ver­bre­chen, die nie kom­men, ge­zit­tert hät­te. Nicht ge­ra­de ge­gen­über, aber doch nur ein paar Tü­ren wei­ter auf der an­de­ren Sei­te der Stra­ße wohn­te der be­rühm­te De­tek­tiv Grod­man, und die­se Tat­sa­che gab Mrs. Drab­dump ein wohl­tu­en­des Ge­fühl der Si­cher­heit; sie be­trach­te­te sich ge­wis­ser­ma­ßen un­ter sei­nem Schut­ze ste­hend. Dass ir­gend­ein zwei­deu­ti­ger Mensch be­wusst in den Bann­kreis die­ses be­rühm­ten Spür­hun­des tre­ten soll­te, er­schi­en ihr mehr als zwei­fel­haft. Grod­man hat­te sich al­ler­dings of­fi­zi­ell vom Ge­schäft zu­rück­ge­zo­gen und war nun ein schla­fen­der Wach­hund; aber die Spitz­bu­ben wa­ren ver­nünf­tig ge­nug, ihn nicht zu we­cken.

Mrs. Drab­dump ver­mu­te­te also nicht ir­gend­ei­ne Ge­fahr, be­son­ders da ein zwei­ter Blick auf die Haus­tür ihr zeig­te, dass Mort­la­ke dar­an ge­dacht hat­te, die Schlei­fe, die den Rie­gel des Schlos­ses hielt, vor­sich­tig los­zu­ma­chen. Sie dach­te mit In­ter­es­se an den Ar­bei­ter­füh­rer, der jetzt auf dem Wege nach der Werft von De­von­port war. Nicht dass er selbst mit ihr über sei­ne Rei­se au­ßer­halb der Stadt ge­spro­chen hät­te, aber sie wuss­te, dass in De­von­port eine Werft war, weil Jes­sie Dy­mont – Toms Ge­lieb­te – ihr ein­mal zu­fäl­lig er­zählt hat­te, dass ihre Tan­te dort in der Nähe woh­ne. Des­halb glaub­te sie, dass Tom den Werft­ar­bei­tern zu Hil­fe eil­te, die, dem Bei­spie­le ih­rer Lon­do­ner Brü­der fol­gend, in den Aus­stand ge­tre­ten wa­ren.

Man brauch­te Mrs. Drab­dump sol­che Din­ge nicht erst zu er­zäh­len, sie er­kann­te sie ganz von selbst. Sie mach­te sich also dar­an, Mr. Con­stant eine fei­ne Tas­se Tee zu be­rei­ten, und grü­bel­te da­bei dar­über nach, warum wohl heut­zu­ta­ge das Volk im­mer so un­zu­frie­den war. Als sie dann den Tee, ge­rös­te­te Brot­schnit­ten und fri­sche Eier in Herrn Con­stants Wohn­zim­mer, das ne­ben dem Schlaf­zim­mer lag, brach­te, war sie sehr er­staunt, Mr. Con­stant noch nicht dar­in zu fin­den. Sie steck­te das Gas an und deck­te den Tisch. Dann ging sie auf den Vor­platz zu­rück und klopf­te noch ein­mal ener­gisch an die Tür des Schlaf­zim­mers, sag­te ihm, wie viel Uhr es sei, aber al­les blieb still, nur der Klang ih­rer eig­nen Stim­me tön­te selt­sam durch das Haus. »Der arme Herr«, mur­mel­te sie, »ge­wiss hat er die­se Nacht wie­der so arge Zahn­schmer­zen ge­habt und hat kei­nen Schlaf ge­fun­den, viel­leicht ist er erst jetzt ein­ge­schlum­mert. Scha­de, dass er um die­ser Leu­te von der Tram­bahn wil­len ge­weckt wer­den muss! Ich will ihn ru­hig so lan­ge wie sonst schla­fen las­sen.« Sie trug die Tee­kan­ne wie­der hin­un­ter und be­dau­er­te nur, dass die schö­nen weich­ge­koch­ten Eier kalt wür­den.

Um halb acht klopf­te sie wie­der. Aber Mr. Con­stant schlief im­mer noch.

Um acht Uhr kam die Post mit meh­re­ren Brie­fen für ihn und ein paar Mi­nu­ten spä­ter ein Te­le­gramm. Nun rüt­tel­te Mrs. Drab­dump an sei­ner Tür und schob das Te­le­gramm un­ten hin­durch. Ihr Herz klopf­te jetzt hef­tig, ihr war, als grif­fe eine kal­te, har­te Faust da­nach. Sie stieg wie­der hin­un­ter und ging, ohne zu wis­sen, warum, in Mr. Mort­la­kes Zim­mer. Sie sah, dass der Be­woh­ner nicht or­dent­lich zu Bett ge­gan­gen war und wahr­schein­lich aus Angst, den Zug zu ver­pas­sen, wohl nur in den Klei­dern sich ein paar Stun­den dar­auf ge­legt hat­te. Sie hat­te ja kei­nen Au­gen­blick er­war­tet, ihn in dem Zim­mer zu fin­den; aber das Be­wusst­sein, ganz al­lein mit Con­stant im Hau­se zu sein, hat­te plötz­lich et­was Be­ängs­ti­gen­des für sie; es war, als pres­se die Faust, die ihr Herz er­fasst, es fes­ter und fes­ter zu­sam­men.

Sie öff­ne­te die Haus­tür und sah ner­vös die Stra­ße auf und nie­der. Es war halb neun. Die klei­ne, enge Stra­ße lag still und kalt in dem grau­en Ne­bel, durch den die an je­dem Ende bren­nen­den Stra­ßen­la­ter­nen nur matt leuch­te­ten. Im Au­gen­blick war kein Mensch zu se­hen, ob­wohl aus den meis­ten Schorn­stei­nen der Rauch auf­stieg, um sich mit dem Ne­bel zu ver­ei­nen. Im Haus des ge­gen­über woh­nen­den De­tek­tivs wa­ren die Ja­lou­si­en noch her­un­ter­ge­las­sen und die Lä­den ge­schlos­sen. Aber der ihr so wohl be­kann­te nüch­ter­ne An­blick der Stra­ße be­ru­hig­te sie. In der rau­en Luft muss­te sie hus­ten; sie schlug die Tür zu und kehr­te in ihre Kü­che zu­rück, um neu­en Tee für Mr. Con­stant zu ma­chen, der nun doch end­lich er­wa­chen muss­te. Aber das Tee­brett zit­ter­te in ih­rer Hand. Sie wuss­te nicht, ob es ihr ent­fal­len war oder ob sie es ir­gend­wo­hin ge­setzt hat­te, je­den­falls wa­ren ihre Hän­de leer, als sie einen Au­gen­blick spä­ter an die Tür des Schlaf­zim­mers schlug. Nicht das lei­ses­te Geräusch war drin­nen ver­nehm­bar. In ei­ner sie jäh über­fal­len­den tol­len Angst schlug sie ge­gen die Tür, dann drück­te sie die Klin­ke nie­der; die Tür war von in­nen ver­schlos­sen. Die­ser Wi­der­stand gab ihr das Be­wusst­sein zu­rück, sie er­schrak dar­über, dass sie im Be­griff ge­we­sen war, un­er­laub­ter­wei­se in Mr. Con­stants Schlaf­zim­mer ein­zu­drin­gen. Aber ein un­be­stimm­tes Grau­en er­füll­te sie. Sie glaub­te ganz ge­wiss, dass sie al­lein mit ei­ner Lei­che im Hau­se sei. Bei­na­he ohn­mäch­tig sank sie zu­sam­men, dann er­mann­te sie sich, stürz­te, ohne zu­rück­zu­se­hen, die Trep­pe hin­ab, rann­te zur Haus­tür hin­aus, über die Stra­ße auf Mr. Grod­mans Haus zu, des­sen Tür­klop­fer sie er­griff und hef­tig in Be­we­gung setz­te. Im sel­ben Au­gen­blick schon öff­ne­te sich ein Fens­ter der obe­ren Eta­ge – das klei­ne Häu­schen war wie das ih­ri­ge ge­baut –, und Grod­mans vol­les ro­tes Ge­sicht blick­te, von ei­ner Nacht­müt­ze um­rahmt, durch den Ne­bel auf sie her­ab. Ob­gleich das Ge­sicht des Ex­de­tek­tivs durch­aus kei­nen freund­li­chen, son­dern viel­mehr einen är­ger­li­chen, ge­reiz­ten Aus­druck hat­te, fühl­te sie doch eine große Er­leich­te­rung.

»Was in Teu­fels Na­men ist denn los?« rief er her­ab. Nun, da er sich zur Ruhe ge­setzt hat­te, war Grod­man kein Früh­auf­ste­her mehr. Er konn­te sich das jetzt leis­ten, denn das Häu­schen, in dem er wohn­te, war sein Ei­gen­tum: und ver­schie­de­ne an­de­re Häu­ser in der Stra­ße ge­hör­ten ihm eben­falls. Es war im­mer gut, wenn ein Haus­be­sit­zer in Bow auch in sei­nem Ei­gen­tum wohn­te und ein schar­fes Auge über al­les hat­te, was da vor­ging. Vi­el­leicht trug der Wunsch, sei­ne jet­zi­ge Grö­ße un­ter den Ge­nos­sen sei­ner Ju­gend zu ge­nie­ßen, et­was mit dazu bei, dass er sich hier nie­der­ge­las­sen hat­te, denn er war in Bow ge­bo­ren und groß ge­wor­den, hier war er als Jun­ge zu­erst von der Lo­kal­po­li­zei be­schäf­tigt wor­den und hat­te sich jede Wo­che ein paar Schil­lin­ge als Ama­teur­de­tek­tiv ne­ben­bei zu ver­die­nen ge­wusst.

Grod­man war Jung­ge­sel­le. Vi­el­leicht war in dem himm­li­schen Hei­rats­bü­ro eine Frau für ihn re­ser­viert – aber auf die­ser Welt hat­te er sie noch nicht zu ent­de­cken ver­mocht. Es war der ein­zi­ge Mis­ser­folg, den er in sei­ner Lauf­bahn als De­tek­tiv zu be­kla­gen hat­te. Er war ein Mensch, der sich selbst ge­nüg­te und einen Gas­ofen dem häus­li­chen Her­de vor­zog. Er hat­te eine Auf­war­te­frau, die mor­gens um zehn Uhr in sei­nem Hau­se er­schi­en und es abends um zehn Uhr ver­ließ und die sei­nen Jung­ge­sel­len­haus­halt ver­sorg­te.

»Ich bit­te Sie, so­fort mit mir zu kom­men«, keuch­te Mrs. Drab­dump, »Mr. Con­stant ist ein Un­glück zu­ge­sto­ßen.«

»Was! Ich hof­fe doch, dass die Po­li­zei ihn heu­te Mor­gen bei der Ver­samm­lung nicht fest­ge­nom­men hat?«

»Nein, nein! Er ist gar nicht da­hin ge­gan­gen. Er ist tot.«

»Tot?« Mr. Grod­mans Ge­sicht wur­de sehr ernst.

»Ja, er­mor­det!«

»Was?« rief der Ex­de­tek­tiv. »Wie? Wann? Wo? Wer?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann nicht zu ihm ins Zim­mer ge­lan­gen. Ich habe ver­ge­bens an sei­ne Tür ge­trom­melt. Er ant­wor­tet nicht.«

Grod­mans Ge­sicht er­hei­ter­te sich et­was. »Sie tö­rich­te Frau! Ist das al­les? Ich wer­de mir den Kopf er­käl­ten. Es ist bit­ter kalt. Er ist ges­tern Abend hun­de­mü­de nach Hau­se ge­kom­men: Um­zü­ge – drei Re­den – Kin­der­gar­ten – eine Vor­le­sung. Das ist sein Stil!« So war auch Grod­mans Stil, er war kein Wort­ver­schwen­der.

»Nein«, sag­te Mrs. Drab­dump fei­er­lich, »er ist wirk­lich tot.«

»Ganz recht. Ge­hen Sie nach Hau­se. Alar­mie­ren Sie nicht un­nö­ti­ger­wei­se die Nach­bar­schaft. War­ten Sie auf mich. Ich wer­de in höchs­tens fünf Mi­nu­ten bei Ih­nen sein.« Grod­man nahm die­se Kü­chen­kas­san­dra nicht ernst. Wahr­schein­lich kann­te er die Frau. Sei­ne klei­nen, wie schwar­ze Per­len schim­mern­den Au­gen leuch­te­ten bei­na­he amü­siert, als er den Blick von Mrs. Drab­dump ab­wand­te und den Fens­ter­flü­gel kra­chend zu­warf. Die arme Frau lief über die Stra­ße zu­rück in ihr Haus, wag­te je­doch nicht, die Tür hin­ter sich zu schlie­ßen. Es wäre ihr vor­ge­kom­men, als sol­le sie sich mit ei­nem To­ten ein­schlie­ßen. Sie war­te­te im Haus­flur. Nach ei­ner ihr un­end­lich lang er­schei­nen­den Zeit – in Wirk­lich­keit schon nach sie­ben Mi­nu­ten – er­schi­en Grod­man, wie ge­wöhn­lich ge­klei­det, nur dass sein Haar und sein Ko­te­let­ten­bart noch nicht ge­ord­net und ge­kämmt wa­ren. An die­sen Bart hat­te er sich noch nicht ganz ge­wöhnt, denn er hat­te ihn erst kürz­lich wach­sen las­sen. So­lan­ge er in ak­ti­vem Dienst ge­stan­den, trug Grod­man ein glat­tra­sier­tes Ge­sicht, wie alle Mit­glie­der sei­ner Pro­fes­si­on – denn kein Schau­spie­ler muss die Kunst, sich plötz­lich ver­wan­deln zu kön­nen, so ver­ste­hen wie ein De­tek­tiv. Mrs. Drab­dump schloss die Haus­tür hin­ter ihm und wies ihn die Trep­pe hin­auf, wo­bei sie halb aus Angst und halb aus Höf­lich­keit ihm den Vor­tritt ließ. Grod­man ging hin­auf, sei­ne Au­gen leuch­te­ten im­mer noch vor Ver­gnü­gen. Oben an­ge­kom­men, klopf­te er so­fort an die Tür und rief: »Neun Uhr, Mr. Con­stant, neun Uhr.« Dann horch­te er auf einen Laut von in­nen, aber al­les blieb still. Sein Ge­sicht wur­de sehr ernst. Er war­te­te dann eine Wei­le, klopf­te dann wie­der, rief noch lau­ter. Er ver­such­te, die Tür zu öff­nen, sie war von in­nen ver­schlos­sen. Er ver­such­te durch das Schlüs­sel­loch zu se­hen, es war ver­stopft. Er rüt­tel­te an der Tür, aber sie schi­en nicht nur ver­schlos­sen, son­dern auch ver­rie­gelt zu sein. Ei­nen Au­gen­blick stand er ernst und wie in Nach­den­ken ver­lo­ren da, denn er hat­te den Mann gern und ach­te­te ihn.

»Oh«, flüs­ter­te die blas­se Frau, »und wenn Sie noch so laut klop­fen, Sie wer­den ihn nicht er­we­cken.«

Der graue Ne­bel, der mit ih­nen durch die ge­öff­ne­te Haus­tür ge­drun­gen war und im Trep­pen­haus schweb­te, er­füll­te die Luft mit ei­nem kal­ten, feuch­ten Dunst.

»Ver­rie­gelt und ab­ge­schlos­sen«, mur­mel­te Grod­man, noch mal an der Tür rüt­telnd.

»Bre­chen Sie die Tür auf«, hauch­te die Frau, die an al­len Glie­dern zit­ter­te und die Au­gen mit den Hän­den ver­hüll­te, als ob sie das Schreck­li­che nicht se­hen woll­te. Ohne noch ein Wort zu spre­chen, stemm­te Grod­man die Schul­ter ge­gen die Tür und dräng­te mit sei­ner gan­zen Kraft da­ge­gen. Er war sei­ner­zeit Ath­let ge­we­sen und war im­mer noch ganz un­ge­wöhn­lich stark. Die Tür krach­te, sie gab lang­sam nach, das das Schloss um­ge­ben­de Holz split­ter­te; die Bret­ter beug­ten sich nach in­nen, der obe­re Rie­gel gab nach: Die Tür flog kra­chend auf. Grod­man stürz­te in das Zim­mer.

»Mein Gott!« rief er. Die Frau kreisch­te. Der An­blick war schreck­lich …

Ein paar Stun­den spä­ter rie­fen die Zei­tungs­jun­gen mit lau­ter Stim­me: »Ex­trablatt, furcht­ba­rer Selbst­mord in Bow.« Und die­je­ni­gen, die zu arm wa­ren, sich das Blatt zu kau­fen, la­sen an den An­schlag­säu­len: »Ein Phil­an­throp hat sich die Keh­le durch­ge­schnit­ten.«


  1. Ba­che­lor of Arts – Bak­ka­lau­reus der Kunst.  <<<

Zweites Kapitel

Aber die Zei­tun­gen wa­ren doch zu vor­ei­lig ge­we­sen. Der Ge­richts­hof glaub­te nicht, dass ein Selbst­mord vor­lie­ge, und die spä­te­ren Aus­ga­ben der Zei­tun­gen spra­chen von dem ge­heim­nis­vol­len Mord in Bow. Es wur­den ver­schie­de­ne Per­so­nen ver­haf­tet. Die meis­ten die­ser Leu­te wa­ren Va­ga­bun­den, die sich viel­leicht an­de­re Ge­set­zes­über­tre­tun­gen hat­ten zu­schul­den kom­men las­sen, wo­bei die Po­li­zei sie nicht er­wi­scht hat­te. Ein ganz ver­wirrt aus­se­hen­der Herr stell­te sich selbst, aber die Po­li­zei er­kann­te so­gleich, dass sie es mit ei­nem Geis­tes­kran­ken zu tun hat­te, und gab ihn in die Ob­hut sei­ner Freun­de und Wäch­ter zu­rück. Die Zahl der Kan­di­da­ten für Ne­w­ga­te war er­staun­lich.

Die vol­le Be­deu­tung die­ser Tra­gö­die, der ein jun­ges, ed­les Le­ben zum Op­fer ge­fal­len war, war dem Pub­li­kum kaum be­kannt ge­wor­den, als das all­ge­mei­ne In­ter­es­se schon durch einen neu­en Zwi­schen­fall in An­spruch ge­nom­men wur­de. Tom Mort­la­ke war un­ter dem Ver­dacht, an dem Mord sei­nes Mi­tein­woh­ners be­tei­ligt ge­we­sen zu sein, am sel­ben Tage in Li­ver­pool ver­haf­tet wor­den. Die­se Nach­richt fiel wie ein Blitz aus hei­term Him­mel in eine Ge­gend, wo der Name Tom Mort­la­ke viel galt und sein Wort in ho­hem An­se­hen stand. Dass die­ser be­gab­te Par­tei­füh­rer, der bei kei­ner Ge­le­gen­heit da­vor zu­rück­ge­schreckt war, die Ar­bei­ter über die be­ste­hen­de Ge­sell­schaft auf­zu­klä­ren, Blut ver­gos­sen ha­ben soll­te, schi­en zu rät­sel­haft, umso mehr, da das ver­gos­se­ne Blut nicht etwa »blau« war, son­dern ei­nem jun­gen, lie­bens­wür­di­gen Idea­lis­ten aus der Mit­tel­klas­se an­ge­hör­te, der nun buch­stäb­lich sein Le­ben für die gute Sa­che hin­ge­ge­ben hat­te. In­des­sen leg­te sich die Auf­re­gung über die­sen Zwi­schen­fall sehr bald, da man er­fuhr, dass Tom bei­na­he un­mit­tel­bar nach sei­ner Ver­haf­tung wie­der frei­ge­las­sen wor­den sei und nur als Zeu­ge zu der dem­nächst statt­fin­den­den ge­richt­li­chen Ver­hand­lung ge­la­den war. Dem Re­por­ter der Li­ver­poo­ler Zei­tung, der ihn an dem­sel­ben Nach­mit­tag in­ter­view­te, er­zähl­te er, dass er die­se Ver­haf­tung nur der Feind­schaft und dem bö­sen Wil­len der Po­li­zei zu­schrei­be, die ihn we­gen sei­nes Ein­sat­zes für die Ar­bei­ter gar zu gern un­schäd­lich ma­chen wol­le. Er war nach Li­ver­pool ge­kom­men, um nach ei­nem Freund zu for­schen, über des­sen Ver­bleib er sehr be­un­ru­higt war. Er er­kun­dig­te sich ge­ra­de an der Werft nach der Ab­fahrts­zeit ver­schie­de­ner Oze­an­damp­fer, die nach Ame­ri­ka ab­ge­hen soll­ten, als die dort sta­tio­nier­ten De­tek­ti­ve ihn laut hö­he­ren Be­fehls als ver­däch­tig er­schei­nen­de Per­sön­lich­keit ver­haf­te­ten. »Aber«, sag­te Tom, »sie wuss­ten recht gut, wer ich bin, und kann­ten mei­ne Phy­sio­gno­mie ganz ge­nau, da in je­der Zei­tungs­bu­de Por­träts und Ka­ri­ka­tu­ren von mir zu fin­den sind. Nach­dem ich ih­nen ge­sagt, wer ich bin, wa­ren sie je­doch an­stän­dig ge­nug, mich ge­hen zu las­sen. Ich neh­me an, dass sie dach­ten, sie hät­ten mich nun ge­hö­rig ein­ge­schüch­tert. Ja, ich gebe es zu, es ist ein selt­sa­mes Zu­sam­men­tref­fen von Um­stän­den, die mich schein­bar ver­däch­tig ma­chen, et­was mit dem Tode die­ses ar­men Jun­gen, der mich tief be­trübt, zu tun zu ha­ben; ob­gleich sie, wenn sie es ge­wusst hät­ten, dass ich di­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­