Vorwort
Als wir Mönche von Münsterschwarzach von November 2016 bis November 2017 das 1200-jährige Bestehen der Abtei Münsterschwarzach feierten, gestaltete Pater Meinrad Dufner in unserer Abteikirche eine Ausstellung. Diese Ausstellung war weniger eine historisch-chronologische Darstellung der 1200-jährigen Geschichte unserer Abtei als vielmehr eine Aktualisierung und »Verheutigung« des christlichen Glaubens. Mit einbezogen war auch der Chorraum beziehungsweise die Altarwand. Dort hatte Pater Meinrad links neben der großen Figur des auferstandenen Christus eine lange Strickleiter von der Decke hinuntergelassen. Unschwer war diese als Himmelsleiter zu deuten. Das Besondere daran war ihre äußere Gestaltung und die Interpretation des Kunstwerkes. Sie war in eine goldene Rettungsfolie gewickelt, wie sie den meisten von uns aus den Erste-Hilfe-Kästen in PKWs bekannt ist. Schon vom Eingang der Kirche aus war diese goldene Leiter zu sehen, leuchtete den Besuchern entgegen und zog ihre Blicke auf sich. Nicht wenige hatten den Eindruck, dass diese Leiter dort ihren festen Platz hat, so sehr wurde sie als zum Raum passend und als zu unserer Glaubensgeschichte und Lebensgeschichte zugehörig betrachtet.
Die Himmelsleiter erinnert zunächst an die Erzählung über den Stammvater Israels – Jakob – im Alten Testament. Jakob hatte seinem Bruder Esau den Erstgeburtssegen des Vaters Isaak gestohlen. Esau wollte sich deshalb an Jakob rächen und dieser musste fliehen. In Haran schlug Jakob sein Nachtlager auf, legte sich auf einem Stein schlafen und hatte nun den Traum von der »Himmelsleiter«. In diesem Traum erblickte er eine Leiter, die von der Erde bis zum Himmel reichte und auf der die Engel Gottes auf- und niederstiegen. Von diesem Traum war Jakob so beeindruckt, dass er nach dem Aufwachen sagte:
»Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht.«
Genesis 28,16
Plötzlich hatte er Angst und meinte dann:
»Wie Ehrfurcht gebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels.«
Genesis 28,17
Den Stein, auf dem er geschlafen hat, salbt er mit Öl und stellt ihn auf. Sollte sein Gott sich ihm als einer erweisen, der ihn am Leben hält, seine Lebenssituation heil überstehen lässt, dann wollte er an diesen Ort zurückkehren und dem Herrn ein Haus bauen. Jakob versteht, dass der Ort, an dem er gerade ist, Ort der Gegenwart Gottes ist. Er ist an diesem irdischen Platz anwesend und nicht nur »oben« im Himmel.
Ich erinnere mich daran, als ich das erste Mal an einer Führung durch diese Ausstellung von Pater Meinrad teilnahm, dass mir diese noch einmal neu die Augen für meinen Glauben geöffnet hat. Das lag vor allem an dem, was mein Mitbruder erzählte. Er meinte, das Christentum sei eine Religion, deren wesentliches Merkmal es ist, dass der Mensch sich nicht ständig mühen muss, um zu Gott zu kommen, sich einen Zugang zu Gott zu erschließen, Leistungen zu erbringen, damit Gott ihn annimmt. Anders gesagt: Er muss sich nicht ständig den Kopf zerbrechen, wie er zu Gott aufsteigen kann beziehungsweise wie weit er auf der Himmelsleiter Gott schon entgegengeklettert ist. Das Christentum geht vielmehr von der Prämisse aus, dass die grundlegende Bewegung von Gott zum Menschen geht. Er ist, wenn man in dem Bild bleiben möchte, vom Himmel herabgestiegen und schon längst zum Menschen gekommen.
Das entscheidende Ereignis ist die Menschwerdung Gottes in Jesus. Christen glauben, dass in Jesus Gott selbst Mensch geworden ist. Er war den Menschen nahe, hat ihnen seine Liebe, seine Freundschaft geschenkt, hat sie geheilt und aufgerichtet. Den Menschen, denen Jesus begegnet ist, wurde durch diese Begegnung neue Zuversicht, Hoffnung und Kraft geschenkt. In ihm als Mensch hat Gott den Menschen gefunden. Gottes Sehnsucht ist es, unter den Menschen spürbar nahe und anwesend zu sein, weil er die Menschen liebt.
Das Gold der Rettungsfolie, die Pater Meinrad um die Leiter gewickelt hatte, hat nicht nur eine praktische Funktion, sondern auch eine symbolische. Als unendlich kostbares Edelmetall verweist es auf die kostbare Würde des Menschen, die er als Geschöpf Gottes für Gott hat: Für ihn ist der Mensch unendlich mehr wert als Gold.
Wer sich auf die Suche nach Gott machen möchte, dessen Aufgabe ist es gar nicht so sehr, ständig im »Suchmodus« zu laufen, sondern in der inneren Bereitschaft zu sein, von Gott gefunden zu werden und ihn mitten unter den Menschen zu finden.
Nicht wenige Generationen sind aber geprägt von einer christlichen Erziehung, die dem Menschen vermittelte, wie er zu sein hatte, was »man« also zu tun und zu lassen hatte als »guter« Christ, weil der liebe Gott einen eben nicht lieb hatte, wenn man bestimmte Dinge tat oder nicht tat. Bis heute ist bei vielen Christen daher noch immer die Vorstellung präsent, dass Jesus am Kreuz sterben musste, weil Gott ein Opfer brauchte, das ihn versöhnte. Die Sünde der Menschen – so die Vorstellung – hatte ihn erzürnt, beleidigt, verletzt, sodass dies notwendig geworden war.
Dagegen entstresst der Gedanke, dass Gott den Menschen gefunden hat und ihn auch heute noch immer wieder sucht. Dass der Mensch sich finden lassen darf. Dieser Gedanke macht frei.
Mit diesem Buch lade ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein, mit mir einen Weg zu gehen. Einen Weg, Gott (wieder) zu finden. Mitten in Ihrem Leben. Mitten in Ihrem Alltag.
Dieser Weg beginnt im ersten Teil bei biblischen Menschen und ihren Erfahrungen mit Gott – Schlüsselerfahrungen. Mit Jesus wird deutlich: Gott ist nicht nur beim Menschen und ihm nahegekommen, sondern im Menschen, er ist Mensch geworden und als solcher wurde er für andere erfahrbar. Im zweiten Teil führt der Weg deshalb weiter zur Entdeckung Gottes in mir und im anderen. Denn in Jesus zeigt sich: Wer Gott finden will, muss den Menschen suchen. Der Weg mündet dann im dritten Teil in die Herausforderungen für die Kirche, die sich daraus ergeben: Ist Gott mitten im Leben, mitten im Alltag, mitten in und bei den Menschen, dann muss genau dort auch Kirche sein. Sie muss zu den Menschen aufbrechen. Und bei ihnen sein. Das aber hat auch Konsequenzen für Gottesdienst, Ritual und Gestalt von Kirche heute. Es geht um die Frage: Verwaltet Kirche Tradition, Ritus, Formen oder lässt sie sich ein auf die Bedingungen des Lebens der Menschen heute? Erstarrt sie oder findet sie mit den lebendigen Menschen den lebendigen Gott?
Ich wünsche Ihnen eine spannende und überraschende Entdeckungsreise!