Utina Kiani
Marokko
Alltagskultur, Fettnäpfchen und Reisetipps
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Marhbabik heiβt Willkommen
Mosaik aus Marokko
Fahrschule für unterwegs
Die perfekte Reisezeit für Meknes: Am besten wenn der Mohn blüht
Oase Figuig, oder: Was den Bauern auf die Palme bringt
Viel Zeit - zwischen übermogen und vorgestern
Von königlichen Städten und verlorenen Orten
Verschiedene Welten: Im Westen und Osten Marokkos
Ein Land, viele Sprachen
Ifrane: Minarett vor Kulisse Schweizer Berge
Land der Mauern und Fassaden
Frauen(t)räume und Männerthemen: Von Liebe, Heirat und Kindern
Familienbande und Freundeskreise
So schmeckt Marokko und marokkanische Gastlichkeit
Über Amlou und die Magie des Arganöls
Mitbringsel aus Marokko: Vom Einkaufen und Handeln
Feiern und Fasten
Sauberkeit und Schönheit
Bettler und Baraka
Initiative gegen Armut
Geschichten vom marokkanischen Traum
Melilla und Ceuta - ein Stück Spanien in Afrika
Rezepte: So schmeckt Marokko für zu Hause
Anhang
Impressum neobooks
‚Marhbabik‘ heißt willkommen - willkommen in Marokko!
Für Gelassenheit suchende, abenteuerlustige oder kulturinteressierte Europäer ist Marokko unbestreitbar verlockend, liegt es doch gewissermaβen komfortabel vor der Haustür und bietet dabei trotzdem so viel faszinierend Fremdes: Arabische Medinas und royale Städte mit beeindruckender Architektur im ganzen Land, zwei Küsten mit warmen Sandstränden im Norden, imposante Atlasberge im Zentrum, Wüste mit trutzigen Kasbahs und Oasen im Süden, vor allem aber ein vages Versprechen von Zauber und Exotik. Es ist eine andere Welt, ein Sehnsuchtsort; ganz nah und doch auch weit weg: Gut drei Flugstunden nur sind es von Frankfurt nach Casablanca und zwischen Tarifa und Tanger, an der engsten Stelle zwischen Europa und Afrika, gerade einmal läppische 14 km.
Von der anderen Seite aus gesehen jedoch ist es eine schiere Unendlichkeit, schwer überwindbar und doch der Traum fast aller, vor allem junger Marokkaner, von einem besseren Leben auf der anderen, der europäischen Seite.
Arabische Geographen nannten das Land im Norden Afrikas, das sich in ihren Augen wie eine Insel vom Rest der arabischen Welt abhob, einst 'Djeziraat el Maghreb', so etwas wie Insel der untergehenden Sonne und auch heute noch umschreibt der arabische Name Marokkos 'Al Mamlakat al Maghribija', was man nüchtern mit Westreich, poetischer mit Königreich des Sonnenuntergangs übersetzen könnte, nicht nur die geografische Lage, sondern auch die sinnliche Anziehungskraft des Landes. Heute haben wir von Ländern, die wir nicht wirklich kennen, meist zwei Bilder im Kopf: Für Marokko ist das eine sicherlich so eine Art Tausend-und-eine-Nacht-Romantik, orientalisch-fremdartig, sinnlich-verheißungsvoll; bei Lichte betrachtet auch kitschig, unwirklich, sagt uns unser Verstand, doch sehr verlockend, so unser Gefühl. Man denkt sofort an Marrakesch, eine Stadt, deren Namen allein schon wie ein Zauber klingt und auf die auch der Name des Landes Marokko zurückgeht, als in alten Zeiten Europäer mit diesem Namen der damaligen Hauptstadt, schlicht das ganze Land benannten. Die Geräusche, die Farbenpracht, die Suks, die Straßenverkäufer, Kameltreiber und Bettler, kurzum die 'Stimmen von Marrakesch', wie sie Elias Cannetti (1968) so malerisch beschrieben hatte, weckten später und wecken wohl noch immer in vielen eine Sehnsucht nach einer anderen, gelasseneren Art des Seins. „Trinke einen süßen Minztee. Köstlich. Die Verwandlung des Lichts und der Farbe in den zwanzig Minuten des Sonnenuntergangs sind unglaublich“, so erlebt Ernst Schnabel (1979) auf seiner Geo-Reise den Moment, als die Sonne über Marrkechs berühmtem Platz, dem Jemma-el-Fna, verschwindet. Und es stimmt, es ist schon wunderbar, dort das Sein zu genießen, den Duft des Tees, die Farben, das Licht; auch heute noch. Selbst wenn der Charme des berühmten Platzes längst schon dem Ansturm der Touristen und den allzu drängenden Angeboten der Verkäufer und Gaukler zum Opfer gefallen ist und im Laufe der Zeit auch einiges von seiner Vielfalt eingebüβt hat, bleibt das bunte Treiben dort ein Magnet für Touristen und Einheimische. In Marrakesch haben aus aller Welt schon Blumenkinder und Aussteiger ihr Glück, Künstler ihre Inspiration und die Schönen und Reichen märchenhaften Luxus gesucht und sicher oft auch gefunden. Das ist wohl das eine Bild von Marokko in unserem Kopf.
Auf dem Jemma-el-Fna, ‚der Versammlung der Toten‘, haben aber auch schon viele Menschen ihr Leben gelassen. In alten Zeiten war der Platz von den Sultanen als zentraler Platz für Hinrichtungen und zum Zurschaustellen der abgetrennten Köpfe genutzt worden. In unserer Zeit sind dort vierzehn Menschen Opfer eines Anschlags geworden, der ausgerechnet im Argana, dem berühmtesten Café auf dem Platz verübt wurde, auf dessen Balkon Einheimische wie Touristen gern ihren süβen Minztee schlürfen und das bunte Treiben auf dem Platz verfolgen. Aber ist nicht selbst bei irgendwelchen ausgeübten oder vereitelten Anschlägen in Europa, von denen wir in den Nachrichten hören, immer auch ein Marokkaner mit im Spiel? Man muss sich vor Marokkanern in Acht nehmen, sagte vor langer Zeit schon meine Vermieterin in Frankreich; das sind alles Diebe und Frauenunterdrücker sowieso. Und wurden die Nachbarn bei ihrem letzten Urlaub in Marokko mit ihrem schlecht vernähten Puff, den es im schwedischen Möbelhaus für weniger als das halbe Geld gab, nicht gnadenlos über den Tisch gezogen? Marokko, so das zweite Bild in unserern Köpfen, steht auch für Terrorismus und Islamismus, zumindest jedoch für Kriminalität, Gaunerei und Betrug und es macht, so gesehen, ein wenig Angst.
Beides ist Marokko natürlich so nicht; andererseits enthalten Bilder im Kopf oft auch einen Funken Wahrheit. Marokko erscheint jedenfalls voll von Gegensätzen und Widerspüchen: Es ist ein kaltes Land mit heißer Sonne, ein armes Land mit großem Reichtum, ein gastfreundliches Land hinter hohen Mauern. Es ist modern und rückwärtsgewandt, arabisch, afrikanisch und europäisch und dabei irgendwie immer auch auf der Suche nach sich selbst. Im Reiseführer heißt so etwas gern 'Land der Extreme', aber selbst Marokkaner fragen sich angesichts all dieser Widersprüche schon manchmal, ein wenig ironisch zwar, aber doch auch ernst gemeint: „Wie kann man Marokkaner sein?“ und dies durchaus nicht nur im Buchtitel des marokkanischen Autors Abdesselam Cheddadi (2009).
Eine Antwort darauf, wie man überhaupt Marokkaner sein kann, soll und kann natürlich ausgerechnet hier auch nicht gefunden werden. So gesehen scheint aber auch schon ein Ratgeber für ein besseres Verstehen des Landes und einen pflegeleichten Umgang mit Marokkanern, eine Art Reise-Knigge für Marokko als Anleitung für richtiges Verhalten in allen Fällen, ein aussichtsloses Unterfangen zu sein, das eigentlich nicht gelingen kann. Andererseits tut Orientierung not, gerade angesichts der Widersprüchlichkeiten. Ein Fettnäpfchen ist da nämlich sonst schnell gefunden. Höchste Zeit also dennoch ein paar Erfahrungen und Tipps aus den nun mehr als fünfzehn Jahren, die ich hier in Marokko verbracht habe, aufzuschreiben. Dies geschieht mit großer Zuneigung für das Land, bisweilen auch mit einem leichten Augenzwinkern und alles dank der Einsichten und Ansichten, die ich durch meine marokkanische Familie, als auch durch die Studenten, mit denen ich hier arbeiten durfte, gewonnen habe. Dem großen Vorbild aller Ratgeber durchaus ähnlich, kann ich vorab schon einmal sagen, dass man mit Freundlichkeit, Respekt und Fingerspitzengefühl, aber auch mit Wissen und Verständnis sicher am weitesten kommt und eine wirklich schöne Zeit in Marokko verbringen kann.
Foto: Marokkaner, Graffiti in Marrakesch
Zellige sind kleine Mosaiksteine, unscheinbare, glasierte Terrakotta-Stücke in einfachen geometrischen Formen und wenigen Farben, die zusammengesetzt eines jener faszinierenden Mosaikbilder ergeben, wie man sie in Marokko in allen Städten, an Brunnen, Wänden und Böden finden kann. In den Palästen und schmucken Riads in Fes, Meknes und Marrakesch, aber auch in der groβen Moschee Hassan II. in Casablanca präsentieren sie sich ihrer künstlerischen Hochform, quasi als Inbegriff maurischer Architektur und Baukunst. Ein Stern mit acht, sechzehn, achtundvierzig und mehr Ecken dient ihnen als Ausgangsmuster. Es ergibt eine Welt der Sterne, unendlich, schön. Reisende aus aller Welt haben sich schon in ihre geniale Einfachheit verloren und Mathematiker in ihre komplexe Geometrie. Die miteinander verbundenen Muster können in Unendlichkeit fortgedacht werden, sie sind also immer Teil eines alles überragenden Ganzen. Dabei sind die Zellige-Mosaiken einerseits in all ihren Teilen absolut perfekt, erlangen andererseits aber erst durch leichte Unebenheiten ihre unbeschreibliche Kraft und Lebendigkeit. Diese Welt der Sterne ist alles in allem vielleicht die beste Wahl, sich dem Land Marokko zu nähern, denn sie nimmt bei all ihrer Perfektion und Schönheit doch auch schon die Widersprüchlichkeiten in sich auf. Denn die wunderbar glänzenden Keramikteile für das Gesamtmosaik werden nach wir vor in mühevoller Handarbeit gefertigt und bringen doch auch viel Staub und wenig Lohn mit sich.
Vorab gebrannt und emailiert werden Zellige aus einem Kachelstück gebrochen und dabei bleibt die Genauigkeit und Geschwindigkeit dieser Arbeit angesichts des kargen Werkzeugs für mich ein absolutes Faszinosum. Unglaubliche dreihundert Zellige sollen geübte Hände dabei pro Tag schaffen können. Es ist uralte Erfahrung, lange Übung, oft noch immer vom Vater auf den Sohn weitergegeben und es braucht sicher etliche Jahre, Jahrzehnte bis zur Meisterschaft. Der Name dieses Meisters, der daraus dann auch das Mosaik legt, tritt aber praktisch nie in Erscheinung. Es geht um die Schönheit des Werkes und dessen Vewurzelung in der Tradition und nicht um die Person des Künstlers und dessen Eitelkeit. Das schöne Spiel mit Sternen und Mustern ist aber nicht nur hohe Kunst. Es ist auch Verzierung des Alltags und findet sich praktisch überall, auf schnöden Fabrikflieβen, auf einfachen Tellern oder auf hennabemalten Händen.
Eine Art Mosaik soll auch auch diese kurze ‚causerie sur le Maroc‘, diese 'Plauderei über Marokko' sein: Bunte Fragmente persönlicher Wahrnehmungen und scheinbar unscheinbare Erzählungen über das Land und seine Bewohner mögen sich zu einem ganzheitlichen Marokkobild zusammenfügen und sollen dabei gleichzeitig Linien der Orientierung und eine Ahnung von der Komplexität dahinter bieten. Vor allem aber soll das von mir hier gezeichnete Bild offen und endlos bleiben und durch Ihre eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen als Reisegast in diesem Land weitergeführt werden. Denn Marokko erfahren und besser verstehen, ist unbedingt eine groβe Bereicherung. Da, wo ich herkomme, wird noch immer allwöchentlich das Trottoir gefegt, die Hecken haben Fassonschnitt und die Busse kommen exakt nach Plan. Alles ist aufgeräumt, sauber, bestens organisiert und allemal überschaubar. Wie wunderbar wild dagegen wuchert hier die Bougainvillia, wie herrlich weit ist das Land und wie heiter und entspannt durcheinander ist Marokko im Vergleich dazu. Manchmal aber eben auch karg und anstrengend chaotisch. Alles ist irgendwie in Bewegung, nichts ist sicher, die Buszeiten nicht, die Paragraphen nicht und die Stromversorgung auch nicht. Viele Dinge verlieren hier ihre gewohnte Selbstverständlichkeit und Betrachtungsweise, können so aber auch einmal von einer ganz anderen Seite gesehen werden. Legt man die Angst als auch die Exotik beiseite, kann man in Marokko meines Erachtens eine ziemliche Erdung, einen Blick für Wesentliches und einiges an Zufriedenheit und Dankbarkeit mitbekommen.
Foto: Bereicherung Marokko: geheimnisvoll, heiter, anders
Wenn man in Deutschland mit dem Auto aus einer Ortschaft fährt, kommt oft schon in Sichtweite der Ortschild vom nächsten Dorf. Alles ist gewissermaβen übersichtlich und kompakt, irgendwie aber auch beengt. Was für ein weites Land dagegen ist Marokko! Die Entfernungen sind groß, die Landschaft weit und offen und bei Fahrten über das Land kann man in der Steppe bisweilen sogar noch auf Nomaden mit ihren Zelte treffen.
Foto: Nomaden in der Halfagras-Steppe
Mit dem Auto unterwegs zu sein ist da natürlich praktisch. Man muss auch nicht unbedingt gleich von Paris nach Dakar oder von Hückeswagen nach Erfoud rasen, denn einen Mietwagen zu leihen ist auch in Marokko gar kein Problem. Neben den großen internationalen Autovermietern an Flughäfen und in den Touristenzentren findet man in vielen Städten an jeder zweiten Hausecke ein Auto zu mieten. Die Firmen haben da meist kleine Schilder mit ausgesprochen phantasievollen Namen wie 'Fouddy Car' oder 'Azur Car - Location de voiture' und ihr Inventar beschränkt sich im Großen und Ganzen oft auf das Familienauto des Firmeninhabers. Günstig ist das trotzdem nicht unbedingt und auch auf Abenteuer sollte man da gefasst sein, aber auch deshalb kommt man als Tourist ja vielleicht nach Marokko. Wenn Sie vorab das Gefährt in Augenschein nehmen und auf seine Fahrtüchtigkeit prüfen, sollten Sie auch nicht vergessen, die Hupe zu kontrollieren, denn die ist hierzulande mindestens so wichtig wie die Bremse. Natürlich kann man sich auch sorglos in einem alten Mercedes chauffieren lassen, indem man einfach in eines der vielen Überlandtaxis steigt. Das hat auβerdem den unbedingten Vorteil, dass man dabei schnell ins Gespräch kommt, aber man sollte vielleicht für zwei Fahrgäste bezahlen, sonst wird der Kontakt auch schnell zu eng und die Reise zur Tortur. Denn auf dem Beifahrersitz sitzen nämlich normalerweise zwei Fahrgäste, hinten quetscht man sich zu viert und ringt bisweilen um Luft, denn Abfahrt ist in der Regel erst, wenn auch alle Plätze besetzt sind.
Bevor Sie sich dann vielleicht doch für einen Leihwagen entscheiden und mutig losfahren, sollten Sie sich noch etwas mit den Besonderheiten der Straße und vor allem mit der hiesigen Fahrweise vertraut machen, kurzum: verstehen, wie ein durchschnittlicher marokkanischer Autofahrer so denkt und lenkt. Zur Ermutigung vorab: Das Straßennetz ist eigentlich erstaunlich gut ausgebaut, Straßenschilder sind immer zweisprachig, arabisch und französich, und Marokkaner fahren gern, sagen wir einmal, temperamentsvoll und flott, ständig abgebremst lediglich durch die zahlreichen Straßensperren der Polizeikontrollen, die es an praktisch allen Ein- und Ausfahrten der Städte und auch an wichtigen Kreuzungen auf Landstraβen zu beachten gilt. Auch bei Nachtfahrten sollten Sie darauf immer gefasst sein, denn wer hat schon vier Ersatzräder im Kofferraum?
Einen Blick in die nationale Unfallstatistik erspare ich Ihnen hier und spreche lieber über praktischere Dinge. Die Erfahrung lehrt, dass die wichtigste Verkehrsregel offenbar lautet: Vorfahrt habe immer ich! Manchmal muss man für dieses Privileg aber schon ein wenig Einsatz bringen und rechts überholen, schnell die Gegenfahrbahn benutzen oder beim Abbiegen kurzerhand eine dritte oder vierte Spur eröffnen; kurzum: Improvisation ist gefragt, schließlich geht es um die Eroberung der Pole-Postion. Augen zu und durch heißt offenbar die Devise, aber auch Achtung! An einer Kreuzung oder in den Straßen um die Medina wimmelt es manchmal wie in einem Bienenstock: Hupende Autos von allen Seiten, ungeduldige Taxifahrer, am Seitenspiegel vorbeischrammende Mopeds und klapprige Fahrräder von vorne, schwer bepackte Eselkarren mittendrin und ein Heer von scheinbar blinden oder zumindest völlig unbekümmerten Spaziergängern überall dazwischen. Es sieht chaotisch aus, alles wummert und vibriert scheinbar wild durcheinander, trotzdem gibt es wohl auch hier eine Art innere Ordnung, eine unausgesprochene Absprache, die das scheinbare Durcheinander erstaunlich oft ohne irgendeinen Zwischenfall auflösen lässt.