Greg James & Chris Smith

KID
NORMAL

So sehen Helden aus!

Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis

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Mit Illustrationen von Raimund Frey

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Greg James
ist Moderator auf BBC 1 und präsentiert u. a. die offiziellen britischen Charts. Er hat keine Superkräfte. In seiner Freizeit überlegt er sich gerne, wie es wäre, Hobbys zu haben. Denn inzwischen hat er alle seine Hobbys zum Beruf gemacht.

Chris Smith
ist preisgekrönter Journalist und Radiomoderator. In seinem früheren Leben legte er eine glanzvolle literarische Karriere hin und gewann 1981 den H.-E.-Bates-Kurzgeschichtenwettbewerb (in der Kategorie »unter zehn Jahre«). Auch Chris besitzt keine Superkräfte. Er tut aber gerne so, als könnte seine Katze Mabel fliegen, indem er sie hochnimmt und mit ihr herumrennt. KID NORMAL ist das erste gemeinsame Buch der beiden, das international große Aufmerksamkeit bekam und in sechzehn Sprachen übersetzt wurde.

Raimund Frey,
geboren 1982 in Isny im Allgäu, hat schon seit frühester Kindheit mit großer Begeisterung den Malstift geschwungen und alles vollgekritzelt, was ihm unter die Finger kam. Nach der Schule verschlug es ihn nach Mainz, wo er Kommunikationsdesign an der FH für Gestaltung studierte. Nach dem Diplomabschluss machte er sich selbstständig und arbeitet heute als Freelancer, u. a. im Bereich Buchillustration, Storyboardzeichnungen, Comic und Fantasy.

Für L. J.
Chris

Für alle Kid Normals dieser Welt
Sagt immer Ja zum Abenteuer

Greg

1. Auflage 2018
© Greg Milward and Chris Smith 2017
This translation of Kid Normal is published by
arrangement with Bloomsbury Publishing Plc.
Seite 99 – Parodie auf Der König der Löwen – Der König der
Löwen® is a registered trademark of Disney Enterprises, Inc.
The Lion King characters copyright © 1994 the Walt Disney Company
Seite 100 – Parodie auf Die Eiskönigin – Völlig unverfroren – Die Eiskönigin –
Völlig unverfroren®
is a registered trade mark of Disney Enterprises Inc. Princess
Elsa and other Disney Frozen characters © 2013 the Walt Disney Company
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis
Covergestaltung und Innenillustrationen: Raimund Frey
ISBN 978-3-401-80804-8

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1

Das neue Haus

Murph konnte sich nicht daran erinnern, jemals etwas so sehr gehasst zu haben wie dieses Haus. Eine leichte Brise, wie sie oft am Anfang einer Geschichte vorkommt, zerzauste seine strubbeligen braunen Haare, als er das Haus betrachtete. Mit der ganzen Denkkraft eines Elfjährigen versuchte er herauszufinden, warum er sich schon beim Anblick dieses Hauses so unglaublich mies fühlte.

Was ihn an dem neuen Haus so störte, war … dass es so schrecklich neu war. Früher hatte Murph in einem viel älteren Haus gewohnt, mit einer interessanten Holztreppe, die zu einem interessanten, verstaubten Dachboden voller interessanter Kisten führte, dazu ein Garten mit interessanten Kletterbäumen, wo man interessante Baumhäuser bauen konnte. Es war die Art von Haus gewesen, in dem man Abenteuer erleben konnte – obwohl Murph zugeben musste, dass er dort nie auch nur ein Abenteuer erlebt hatte. Aber zumindest hatte die Möglichkeit bestanden.

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Jetzt waren diese Abenteuer in weite Ferne gerückt. Vor vier Jahren war Murph mit seiner Mutter und seinem Bruder aus dem alten Haus ausgezogen. Der Beruf seiner Mutter hatte die ganze Familie in eine andere Stadt geführt. Das war schlimm genug gewesen. Aber ein Jahr später waren sie erneut umgezogen. Dann noch einmal. Und noch einmal. Inzwischen hatte Murph ein Drittel seines Lebens weit weg von dem geliebten alten Gebäude verbracht. Und jetzt starrte er schon wieder auf ein neues Haus und wünschte sich, jemand würde es in die Luft jagen oder in Brand setzen. Sein Wunsch würde schon sehr bald in Erfüllung gehen. Aber das konnte Murph zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Selbst wenn er geahnt hätte, dass das neue Haus in wenigen Monaten nur noch eine schwelende Brandruine sein würde, hätte ihn das in diesem Moment kaum aufgemuntert. Unter dem nieselnden bräunlich trüben Abendhimmel, der perfekt zu seiner Stimmung passte, wuchtete Murph Umzugskartons in das Haus, das ihm selbst wie ein großer Karton vorkam, und stellte sie in der Diele ab. In dem leeren Hauseingang hallte jedes Geräusch unnatürlich laut und die blassgrünen Wände hatten den Farbton von Katzenkotze.

Murphs neues Zimmer war in einem nicht weniger scheußlichen Grün gestrichen, bei dem er an eine verschrumpelte Avocado denken musste. Gäbe es einen Wettbewerb für das grottenhässlichste, trostloseste neue Zimmer aller Zeiten, wäre es der heiße Favorit – und das sollte etwas heißen bei der starken Konkurrenz, die es im Rennen um den ersten Platz gab. Bis auf eine Matratze auf dem Fußboden und eine weiße Kommode war das Zimmer vollkommen leer. Bei Tageslicht boten die kahlen Fenster Aussicht auf einen ölverschmutzten Kanal hinter dem Haus und eine Backsteinmauer gegenüber. Murph war froh, dass es schon dunkel war.

Mit einem Seufzer öffnete er den Reißverschluss seiner Reisetasche und machte sich ans Auspacken. Lustlos stopfte er seine Jeans und T-Shirts in die Schubladen der Kommode. Ganz unten in der Tasche befanden sich vier besondere Kleidungsstücke. Murph legte sie nicht zu den anderen Sachen, sondern breitete sie auf der nackten Matratze aus. Er setzte sich im Schneidersitz auf den Fußboden und betrachtete sie.

Es waren vier graue T-Shirts, die er an den letzten Schultagen in seinen vier Schulen getragen hatte.

Das erste war von oben bis unten mit Filzstift vollgeschrieben. An der Schule war es üblich gewesen, einem Schüler zum Abschied einen Gruß mit auf den Weg zu geben.

Wir werden dich vermissen, Kumpel! Grüße, Max

Lass was von dir hören, Superstar! Sam

Geh nicht weg, Mächtiger Murph! Lucas

Es gab noch weitere Botschaften und Unterschriften, der graue Stoff war komplett mit bunten Buchstaben bekritzelt.

Geh nicht fort!

Aber Murph hatte fortgehen müssen und schuld daran waren seine Mum und ihr Job. Er hatte sich fest vorgenommen, den Kontakt zu seinen Freunden nicht abreißen zu lassen, aber in den darauffolgenden Monaten war er total beschäftigt gewesen. Denn er hatte ja neue Freunde finden müssen, weil die alten jetzt so weit weg waren.

Murph nahm das zweite T-Shirt in die Hand und las die Namen der neuen Freunde. Es waren nicht ganz so viele wie auf dem ersten, aber die Abschiedsworte waren trotzdem sehr nett.

Kaum zu glauben, dass du nach nur einem Jahr weggehst! Alles Liebe, Pia

Murph! Du wirst uns fehlen. Komm bald wieder, Kumpel. Tom

Auf dem dritten T-Shirt standen nur wenige Namen, mit Kugelschreiber in letzter Sekunde hingekritzelt, damit Murph wenigstens eine kleine Erinnerung hatte.

Auf dem vierten T-Shirt stand nichts.

Murph faltete sie zusammen und verstaute sie in der untersten Schublade der weißen Kommode.

Im vergangenen Jahr hatte er keine Freundschaften geschlossen. Er war davon ausgegangen, dass seine Mum eines Tages beim Abendessen erneut einen Umzug ankündigen würde. Und er hatte recht behalten. Für Murph waren andere Menschen wie Figuren einer Fernsehserie. Es hatte keinen Sinn, sich zu sehr auf sie einzulassen, da man immer damit rechnen musste, dass jemand die Fernbedienung schnappte und das Programm wechselte.

Wenn du schon einmal umgezogen bist, weißt du, dass man am ersten Abend im neuen Haus unbedingt Fast Food bestellen muss. Es ist ein wichtiges Ritual. Wie jede andere Familie, die gerade einen Umzug hinter sich hat, setzten Murph, sein Bruder Andy und seine Mum sich an jenem Abend zum Essen hin … und hatten das merkwürdige Gefühl, sich im Haus eines Fremden zu befinden, in dem schleunigst jemand die Heizung aufdrehen sollte.

Sie aßen direkt aus den Alubehältern, weil Murphs Mum den Umzugskarton mit den Tellern nicht finden konnte. Murph wusste, in welcher Kiste das Geschirr war, aber er hatte gerade alle Hände voll damit zu tun, seinen großen Bruder davon abzuhalten, die Krabben-Cracker zu stibitzen. »Das sind meine, du Riesenaffe!«, beschwerte er sich, als Andy wie ein gieriger Krake seine fettigen Finger ausstreckte, um sich eine weitere Portion zu genehmigen.

»Du schaffst doch eh niemals die ganze Packung, Schlumpfgesicht!«, entgegnete der sechzehnjährige Riesenaffe.

»Doch, schaffe ich«, protestierte Murph. Dabei suchten einige Krümel in hohem Bogen aus seinem Mund das Weite. Die Brösel sahen aus wie der Funkenschweif einer fantastischen Feuerwerksrakete … mit Krabbengeschmack. »Und nenn mich nicht Schlumpfgesicht. Du weißt genau, dass ich das nicht leiden kann.«

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»Tut mir leid, Schlumpfgesicht«, sagte Andy triumphierend, der sich mal wieder für besonders schlau hielt.

»Hört auf, ihr zwei.« Ihre Mutter seufzte. »Andy, nenn deinen Bruder nicht Schlumpfgesicht. Und du, Schlumpfgesicht, gib was von deinen Crackern ab.«

»MUM!«, rief Schlumpfges…, ähm, Murph. Seine Mutter und sein Bruder kicherten und er stimmte widerstrebend in ihr Lachen ein. »Ihr habt euch gegen mich verschworen! Als wäre es nicht schon schlimm genug, ins Niemandsland verschleppt zu werden, um dort in einer Schuhschachtel zu wohnen. Ich bin aber kein Schuh.«

Seine Mutter strich tröstend über seine Wange. »Ich weiß, dass du kein Schuh bist. Und ich weiß auch, dass du nicht umziehen wolltest.« Sie legte den Kopf in den Nacken, um die Tränen wegzublinzeln, so wie Mütter das eben manchmal tun. Mum wollte genauso wenig hierherziehen wie ich, dachte Murph.

»Es dauert immer eine Weile, bis man sich eingewöhnt hat«, meinte ihre Mum. »Wartet ab, Jungs. Ihr werdet viel Spaß haben, das verspreche ich euch. Wir werden tolle Sachen machen. Es wird …« Sie hielt inne und suchte nach einem passenden Wort. »Es wird einfach … super.« Und obwohl Murph es zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, traf sie damit den Nagel auf den Kopf.

2

Ein Missverständnis

Es gab vieles, was Murph und seine Familie in der neuen Stadt noch erkunden mussten. Vor allem hatten sie immer noch keine Antwort auf die wichtigste Frage: Wo würde Murph zur Schule gehen? Seine Mutter hatte bereits vor dem Umzug versucht, einen Platz für ihn zu finden, aber alle Schulen waren voll. Je weiter der August voranschritt, desto verzweifelter wurden ihre Bemühungen.

Abend für Abend saß Murphs Mum an ihrem Laptop und chattete mit anderen Eltern, um von ihnen Tipps zu bekommen. Sie ging sogar so weit, einfach wildfremde Mütter und Väter anzusprechen und zu fragen, welche Schule ihre Kinder besuchten und ob sie zufällig jemanden kannten, der demnächst auswandern wollte. Murph fand das unglaublich peinlich. Andy hingegen, der fünf Jahre älter war und die Zusage fürs örtliche College schon in der Tasche hatte, fand das unglaublich lustig. »Du könntest dich zu Hause selbst unterrichten«, ärgerte er Murph. »Wir besorgen dir ein paar Bücher und du stellst dir einen Wecker, damit du weißt, wann Pause ist.«

Murph fand den Vorschlag nicht besonders witzig, und als der August in den September überging und für Andy das College begann, war ihm erst recht nicht mehr zum Lachen zumute. »Tut mir leid, Brüderchen, aber keine einzige Schule will dich aufnehmen«, meinte Andy und zerzauste dabei Murphs Haare.

Die Woche hatte schon schlimm angefangen. Murph war schicksalsergeben hinter seiner Mum hergetrottet, während sie von Gesprächstermin zu Gesprächstermin eilte und eine Schule nach der anderen abklapperte. Neugierige Gesichter musterten ihn, als er hinter ihr her an vollen Klassenzimmern vorbeischlurfte und in den Büros der Direktoren verschwand. Dort saß er, wie vereinbart, still auf seinem Platz und bemühte sich, möglichst klug auszusehen. Doch stets erhielten seine Mum und er die gleiche Antwort: Sie würden leider Geduld haben müssen.

Dann, ein paar trostlose Tage später, Murphs Kopf stand bereits kurz vor der Kernschmelze, kam er gerade mit seiner Mum vom Einkaufen nach Hause. Die Straßen der Stadt waren menschenleer. Um diese Zeit saßen die meisten Leute zu Hause beim Abendessen. Plötzlich tauchten aus einer dunklen Seitenstraße eine Frau und ein Junge auf, der nur wenig älter war als Murph. Wie der Zufall es wollte, hörten Murph und seine Mum, wie die Frau just in diesem Moment fragte: »Na, wie war’s heute in der Schule?«

Murphs Mum, die inzwischen das Gehör einer Fledermaus entwickelt hatte und jedes Wort aufschnappte, das auch nur im Entferntesten mit Unterricht zu tun hatte, nahm Murph energisch an die Hand und beschleunigte ihre Schritte.

»Muuuum, lass mich los!«, beschwerte sich Murph. Aber ein Blick in ihr Gesicht genügte und er wusste: Widerstand war zwecklos. Wenn seine Mum sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie sich durch nichts davon abbringen.

Im Laufschritt überquerten sie die Straße, denn die Frau und der Junge stiegen bereits in ein Auto. Einen Moment lang fürchtete Murph, seine Mutter könnte sich mit ausgebreiteten Armen auf die Kühlerhaube werfen, um die Fremden am Wegfahren zu hindern. Aber das tat sie nicht. Stattdessen bog sie in die Straße, aus der die beiden gekommen waren, und zog Murph hinter sich her wie einen schlaffen, leicht ramponierten Winddrachen.

Hatte die Straße schon aus der Ferne einen düsteren Eindruck gemacht, so wirkte sie aus der Nähe erst recht finster. Vor den ungepflegten Reihenhäusern parkten einzelne Autos, deren Vorgärten so verwildert waren, dass die dazugehörigen Müllcontainer im Vergleich dazu richtig hübsch aussahen.

Auf halber Höhe der Straße befand sich eine große Schule. Dass es sich um eine Schule handelte, erkannte man nicht nur an dem Gitterzaun und den typischen Gebäudeflügeln mit Klassenzimmern, sondern auch an diesem Schild:

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Vor dem Schild stand ein Mann. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und war gerade dabei, das Eingangstor zu verschließen.

Murph konnte hören, wie seine Mutter entschlossen mit den Zähnen knirschte, während sie schnurstracks auf den Fremden zuging.

»Versuch, ordentlich auszusehen«, zischte sie so energisch, dass Murph eingeschüchtert sein T-Shirt glatt strich. Dann veränderte sich ihr Tonfall. »Entschuldigen Sie bitte!«, flötete sie so vornehm, wie es selbst eine piekfeine Herzogin nicht besser hinbekommen hätte.

Der Mann drehte sich langsam um.

Murphs Mum hatte bereits ein weiteres »Entschuldigen Sie bitte!« auf den Lippen, doch heraus kam nur ein heiseres Krächzen.

Denn der Mann sah nicht so aus, wie man sich einen normalen Lehrer vorstellte. Er hatte sehr dunkle, sehr glänzende Haare, die mit Gel geglättet und zu einer großen Locke auf der Stirn frisiert waren. Die schon etwas abgewetzte Tweed-Jacke mit Ellbogenschonern platzte oberhalb der Ellenbogen beinahe aus allen Nähten, da er sehr muskulöse Oberarme hatte. Sein kräftiges Kinn war wie aus Holz geschnitzt und hinter der Brille mit dem breiten schwarzen Gestell funkelten tiefblaue Augen.

»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«, fragte der seltsame Lehrer.

»Das ist eine Schule, oder?«, fragte Murphs Mum, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte.

Der Mann schien zuerst Nein sagen zu wollen, aber dann glitt sein Blick zu dem Schild über seinem Kopf.

»Jaaaaa«, erwiderte er gedehnt. Es klang nicht sehr einladend.

»Wunderbar! Wir sind neu in der Stadt und ich suche verzweifelt nach einer Schule für meinen Sohn«, plapperte Murphs Mum drauflos. Sie legte den Arm um Murph. »Ich …«

»Tut mir schrecklich leid, Ma’am«, schnitt der Mann ihr das Wort ab. »Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Wir … wir nehmen keine Schüler auf, die nur …«, er schien nach den richtigen Worten zu suchen, »wir nehmen im Moment überhaupt keine Schüler auf, tut mir leid.«

Einen Moment lang sagte keiner ein Wort. Murph rechnete damit, dass seine Mutter sich geschlagen geben würde. Aber das tat sie nicht. Sie trat einen Schritt auf den Lehrer zu und klammerte sich an seinen muskulösen Oberarm. Sie brauchte beide Hände, um ihn zu umfassen.

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»Bitte«, hauchte sie. »Bitte, lassen Sie es sich noch einmal durch den Kopf gehen. Murph ist ein ganz außergewöhnlicher Junge. Diese wunderbare Schule wäre genau das Richtige für ihn.«

»Tut mir leid«, sagte der Mann erneut und löste sich sanft aus ihrem Griff. »Einen schönen Abend noch.« Er machte Anstalten zu gehen.

»Mein Junge hat so viel Potenzial!«, rief Murphs Mum ihm hinterher. »Bei Ihnen könnte er, ähm … mit Ihrer Hilfe könnte er in ungeahnte Höhen fliegen!«

Der Mann blieb abrupt stehen und drehte sich um.

»Fliegen?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Ja, fliegen. Ich bin überzeugt, dass er an der richtigen Schule … alles erreichen könnte«, beendete Murphs Mum den Satz lahm.

»Sie sind erst kürzlich hierhergezogen? Und Ihr Sohn ist außergewöhnlich, sagen Sie?«, fragte der Mann leise.

Murphs Mum nickte vehement.

»Zeigt er denn schon erste Anzeichen?«, wollte der Mann wissen. Diesmal sprach er sogar noch leiser und schaute sich zuvor in alle Richtungen um.

»Oh ja, er macht große Fortschritte«, versicherte Murphs Mum. Sie senkte ebenfalls die Stimme. »Er wird sie nicht enttäuschen.«

»Das heißt, er ist bereits geflogen?«, wisperte der Mann.

Die Fragerei wurde immer merkwürdiger, und das nicht nur, weil die beiden jetzt im Flüsterton sprachen. Murph wünschte, die Erde würde sich unter ihm auftun und ihn verschlingen. Seine Mutter stellte ihn als totalen Überflieger dar. Das war eine haarsträubende Übertreibung! Niemand wusste das besser als Murph, denn er kannte ja seine eigenen Noten.

Seine Mutter schien bereits den sicheren Sieg zu wittern. »Oh ja«, bekräftigte sie. »Ja, das ist er.«

»Mr Drench, würden Sie bitte einen Augenblick zu uns kommen?«, rief der Lehrer mit gedämpfter Stimme, woraufhin ein schmächtiger Mann, den Murph bisher übersehen hatte, herbeigeeilt kam. Er war kleiner und dünner als der Lehrer und seine wachen Augen huschten hinter seiner Brille aufmerksam hin und her.

»Das ist mein Sideki…, ähm, ich meine natürlich mein Assistent, Mr Drench«, stellte der Lehrer ihn vor. »Er wird sich um alles Weitere kümmern.« Der Lehrer streckte Murph die Hand hin. Als Murph sie ergriff, fühlte es sich an, als würden seine Finger langsam zwischen zwei Traktorrädern zerquetscht. »Wir sehen uns am Montag. Ich freue mich schon darauf, dich fliegen zu sehen.« Der Lehrer wirbelte herum, als wollte er mit flatterndem Umhang davoneilen, hielt jedoch noch einmal inne und sagte: »Es versteht sich von selbst, dass du, ähm, niemandem etwas von unserer Schule erzählst, nicht wahr?«

»Warum? Ist das etwa eine Geheimschule?«, fragte Murphs Mum und kicherte über ihren eigenen Witz.

Die beiden Männer sahen sich verwirrt an, dann stimmte der Muskelmann in das Lachen ein. »Haha, natürlich wissen Sie Bescheid«, meinte er nervös. »Mein Hinweis war vollkommen überflüssig. Wie dumm von mir.«

Der kleinere Mann blickte erstaunt zwischen den beiden hin und her, während sie dastanden und laut glucksten. Murph lächelte verlegen und wünschte, er wäre unsichtbar.

Seine Mum und der seltsame Lehrer lachten so lange, dass es langsam peinlich wurde. Dann trat eine verlegene Stille ein.

»Die Schule ist also tatsächlich geheim?«, fragte Murphs Mum unsicher lächelnd.

»Selbstverständlich«, erwiderte der Lehrer. Er drehte sich schwungvoll um und rief im Weggehen: »Also dann, bis Montag!«

Murph und seine Mum tauschten amüsierte Blicke. Mit einem Achselzucken wandte sich Murphs Mutter Mr Drench zu, der bereits die Aufnahmeformulare aus seiner Tasche hervorgeholt hatte.

3

Megapeinlicher Mamamoment

Murph hatte ein flattriges Gefühl im Bauch.
Es hatte am Samstagvormittag angefangen und war zum Abend hin immer stärker geworden. Als er am nächsten Morgen erwachte, zappelte ein wilder Haufen Baby-Aale in seinen Eingeweiden herum. Am Sonntagabend konnte er vor lauter Nervosität und Sorge nicht mehr stillsitzen, daher ging er in den winzigen Garten des neuen Hauses und lief dort auf und ab.

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Sein Bruder war keine große Hilfe. Als er von der Geheimschule erfuhr, kringelte er sich vor Lachen.

»Oooh, steigst du jetzt an einem unsichtbaren Bahnsteig in eine magische Dampfeisenbahn?«, spottete er und verfolgte Murph, der die Treppe hinaufflüchtete. »Musst du dir in einem Spezialgeschäft einen Zauberstab kaufen?«

»Halt die Klappe!«, zischte Murph mit zusammengebissenen Zähnen. Er schlug seinem Bruder die Tür vor der Nase zu und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen.

»Hoffentlich versteckst du keine Eule dadrin!«, hörte er seinen Bruder von draußen rufen, als es ihm endlich gelungen war, die Tür zu verriegeln, und er sich erschöpft aufs Bett fallen ließ.

Andy hatte sich das ganze Wochenende über ihn lustig gemacht. Aber jetzt war Montag. Murphs Mutter hatte ihn so früh aus dem Bett geholt, dass er auf dem Weg in die Küche überlegte, ob er vor dem Frühstück nicht schon ein paar Würmer für den frühen Vogel fangen sollte. Andy fuhr mit dem Bus ins College, weshalb er länger im Bett bleiben und Radio hören durfte.

Murphs müder Magen war nicht in der Stimmung für Toast und seine müden Haare hatten keine Lust aufs Bürsten, aber es nützte alles nichts. Zu einer Uhrzeit, in der die meisten von uns im Halbschlaf zur Toilette schlurfen, tapste Murph bereits zum Auto.

Murph war nämlich einer der Schüler, die praktisch mitten in der Nacht an der Schule abgesetzt werden. Seine Mum arbeitete im Krankenhaus. Ihre Schicht fing um neun Uhr an, aber davor musste sie erst noch quer durch die ganze Stadt fahren. So war es schon immer gewesen, Murph kannte es gar nicht anders. Seit Jahren fingen seine Tage damit an, dass er allein in der Schule herumgeisterte wie ein wissbegieriges Gespenst.

Mittlerweile sah Murph sogar ganz gerne dabei zu, wie das Schulgetriebe in die Gänge kam, lange bevor die Schüler eintrafen. Er beobachtete, wie die Milch angeliefert wurde, plauderte mit den Reinigungsfrauen und verfolgte, wie die Lehrer, mehr oder weniger gut vorbereitet, in der Schule eintrafen. Es war wie hinter den Kulissen eines Theaters, bevor der Vorhang hochging, nur dass hier niemand in der Pause Eiscreme verkaufte.

Ein Eis um elf Uhr morgens wäre ganz nach Murphs Geschmack gewesen.

Aber wir schweifen ab.

»Raus mit dir«, sagte seine Mum aufmunternd, als sie vor der Schule hielten. Sie beugte sich über ihn und öffnete die Beifahrertür. »Kopf hoch!«

Murph blickte sie resigniert an, schulterte seinen Rucksack und stieg aus.

Seine Mutter fuhr sofort los. An der Ecke hupte sie noch einmal zum Abschied – ein megapeinlicher Mamamoment, wie er im Buche steht.

Hier eine Liste von Peinlichkeiten, die Mütter einfach nicht lassen können:

– dir in Gegenwart von anderen einen Abschiedskuss geben

– dich in Hörweite deiner Mitschüler beim Kosenamen rufen (Murphs Kosename war Schnuckiputz. Als seine Mum ihn an seiner vorletzten Schule in aller Öffentlichkeit so genannt hatte, war Murph danach beinahe froh gewesen, dass sie wegzogen.)

– dich vor deinen Freunden tadeln, dass du nicht immer so angeben sollst

– dich vor deinen Kumpels fragen, ob du eine Freundin/einen Freund hast

– dich fragen, ob du eine Freundin/einen Freund hast, wenn ausgerechnet das Mädchen/der Junge zuhört, die oder den du gerne als Freundin/Freund hättest

– ungeniert in aller Öffentlichkeit singen

– einen Finger ablecken und damit über dein schmutziges Gesicht wischen

– dich fragen, ob du ein Taschentuch dabeihast, als wärst du ein viktorianisches Straßenkind

Nach dem längsten Hupen aller Zeiten sah Murph ihr hinterher, das Gesicht halb zu einem Abschiedslächeln und halb zu einer »Hör auf zu hupen«-Grimasse verzogen, und winkte noch einmal. Dann rückte er seinen Rucksack zurecht und startete in einen Tag, der sich als der wohl seltsamste seines bisherigen Lebens herausstellen sollte.

Obwohl die Schultore offen standen, war weit und breit niemand zu sehen. Murph überquerte den Hof und ging zum Haupteingang. »Hallo?«, rief er mit Ich-bin-neu-hier-Stimme, bekam jedoch keine Antwort.

Direkt hinter der Eingangstür stand ein zerkratzter Holztisch mit einem uralten Computer. Murph setzte sich auf den unbequemen Plastikstuhl neben dem Tisch und wartete.

In Murphs vorheriger Schule hatte vor dem Läuten der Schulglocke hektisches Treiben geherrscht: plaudernde Eltern, herumtollende Kinder, in Doppelreihen geparkte Autos oder auf dem Zickzackstreifen abgestellte Fahrzeuge, deren Fahrer von energischen Schülerlotsen zurechtgewiesen wurden. Hier ging es sehr viel ruhiger zu. Murph sah, wie die Schüler nacheinander eintrudelten und gemächlich durch das Tor hereinkamen. Ein Vater in einem schnittigen schwarzen Auto setzte seine Tochter direkt vor dem Eingang ab. Zwei ältere Jungs schlenderten lässig an Murph vorbei. Nachdem sie um die Ecke gebogen waren, gab es plötzlich einen lauten Knall und Murph überlegte, ob sie wohl heimlich einen Feuerwerkskörper ins Gebäude geschmuggelt hatten.

»Dein Cape ist echt nicht übel, Howard!«, hörte er einen von ihnen sagen, dann lachten beide.

Murph fragte sich, was an der Bemerkung so lustig gewesen war. Keiner von beiden trug ein Cape.

Zu diesem Zeitpunkt fiel Murph nichts Ungewöhnliches auf, außer dass alle zielstrebig und still in der Schule ankamen. Hier schien es auch ohne Schülerlotsen sehr gesittet zuzugehen.

Aber je näher die erste Unterrichtsstunde rückte, desto seltsamer wurde alles. Zuerst wunderte Murph sich nur, aber irgendwann fragte er sich: »Was zum Kuckuck geht hier vor?«

Er wartete noch immer darauf, dass jemand kam und ihm sagte, was er tun sollte. Gelangweilt starrte er durchs Fenster in den grauen, regnerischen Tag hinaus. Plötzlich sah er, wie eine quietschgelbe Gestalt unter einem Regenschirm aus den tief hängenden Wolken herabschwebte und blitzschnell hinter einem Schulgebäude verschwand.

Murph traute seinen Augen nicht. War er übermüdet? Hatte er Halluzinationen? Verlor er langsam den Verstand?

Vielleicht war es ein riesengroßer Kanarienvogel, dachte er.

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Gleich darauf verwarf er diesen Gedanken wieder. Es gab keine Riesenkanarienvögel (was eigentlich sehr schade war). Es musste eine andere logische Erklärung geben. Murph beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und herauszufinden, worum es sich bei dem zitronenfarbigen Ding handelte.

Er stand auf und rannte in die Richtung, in die der Riesenvogel geflogen war – oder besser gesagt, der Nicht-Riesenvogel. Denn seit wann haben Vögel Regenschirme? Murph bog nach links ab, dort hatte er das unbekannte Flugobjekt zuletzt gesehen. Der Weg führte zu den Sportplätzen.

An einem Seiteneingang der Schule, vor einer Tür mit der Aufschrift Umkleide, stand eine gelbe Gestalt und schüttelte sich Regentropfen von den Ärmeln. Dann machte sie den Regenschirm mehrmals hintereinander kurz auf und zu – du weißt schon, diese typische Bewegung eben, die man macht, damit er schneller trocken wird.

Wir brauchen dringend ein Wort dafür. Zur Auswahl stehen ploffen, blubben und pflumpfen. Am besten gefällt uns pflumpfen – dir hoffentlich auch.

Die Gestalt pflumpfte also ihren Regenschirm.

Als Murph angerannt kam, verschwand die Gestalt gerade im Umkleideraum und er schlüpfte durch die Tür, bevor sie ins Schloss fiel. Doch statt sich unauffällig anzuschleichen, schlitterte er über den nassen Boden, rutschte wie ein Rhinozeros auf Schlittschuhen durch den Raum und krachte gegen eine feuchte gelbe Mauer.

Als er sich wieder aufrappelte, stellte Murph erleichtert, aber auch ein kleines bisschen enttäuscht fest, dass es sich bei der Gestalt, die den gelben Regenschirm gepflumpft hatte, nicht um einen Riesenkanarienvogel, sondern um ein total normales Mädchen mit Brille handelte.

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»Tut mir leid! Hallo! Ähm, bist du geflogen … Entschuldigung, Kanarien… Stiefel… Riesenvogel … es regnet …«

Murph geriet in Panik. Er wusste nicht, wie er mit Mädchen umgehen sollte, schon gar nicht, wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes in sein Leben geschwebt kamen.

»Hallo, Tollpatsch«, erwiderte das Mädchen unbeeindruckt. Sie nahm die Brille ab und polierte die Gläser mit dem Zipfel ihres leuchtend gelben Wollschals, was sonst eigentlich nur Erwachsene tun. »Ich heiße Mary. Und wer bist du?«

Dass ein Mädchen tatsächlich mit ihm sprach, verblüffte Murph so sehr, dass er für einen Augenblick seinen Namen vergaß.

»Mar… Murph.«

»Okay, Mar-Murph, nett, dich kennenzulernen. Bist du neu hier?«

Das war der Moment für eine Weltklasse-Antwort, um den ersten Eindruck wiedergutzumachen.

»Ja«, antwortete Murph belämmert.

»Okay, hilf mir mal aus der Jacke und ich zeige dir, wo die Klassenzimmer sind«, sagte Mary.

Es war erneut die Gelegenheit für Murph, mit einer witzigen Bemerkung zu punkten.

»Okay«, murmelte er und sammelte brav die Sachen des Regenschirmkanarienmädchens ein, während ungefähr siebenundzwanzig drängende Fragen in seinem Kopf herumschwirrten.

Auf dem Weg durch die Schule nahm Murph seinen ganzen Mut zusammen. Er beschloss, mit der wichtigsten Frage anzufangen. »Ähm, Mary … bist du zur Schule … ich meine … bist du durch die Luft hierhergeflogen?«

»Jep«, antwortete Mary, als wäre es das Normalste auf der Welt. »Aber das bleibt unter uns, okay? Ich darf das eigentlich nicht. Aber so geht es am schnellsten und ich war spät dran.«

»Okay. Cool. War nur neugierig«, erwiderte Murph betont locker, obwohl er sich zusammenreißen musste, um nicht völlig auszuflippen. »Also …«, wagte er sich weiter vor. »Heißt du Mary wegen Mary Poppins?«

»Mary wer?«, fragte Mary verwirrt.

»Ach nichts. Ich dachte nur, na ja, wegen der Sache mit dem Regenschirm und so …«, stotterte Murph.

»Verstehe ich nicht, was meinst du?«, fragte Mary und runzelte die Stirn. Ihre hochgezogenen blonden Augenbrauen stiegen über den Brillenrand wie zwei Sonnen über den Horizont. »So, da sind wir. Komm einfach mit. Das ist Mr Flashs Klassenzimmer.«

»Mr … Flash?«, konnte Murph gerade noch fragen, da schubste sie ihn schon durch die Tür.

4

CT

Murph war froh, ein halbwegs normales Klassenzimmer vor sich zu sehen. Vorne standen zwei Lehrer, während die Schüler lärmend ihre Plätze einnahmen und ihre Schulrucksäcke abstellten. Einen der beiden Lehrer kannte Murph bereits. Es war der Mann mit dem kantigen Kinn, dem Murph am Schultor begegnet war. Er begrüßte Murph mit einem herzlichen »Ah, guten Morgen, da ist ja unser Neuling!« und kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, als hätte er eine Berühmtheit vor sich.

Mary war beeindruckt. »Woher kennst du Mr Souperman?«, fragte sie Murph.

»Mr … Superwas?«

Mary warf Murph wieder so einen Blick zu. Darin war sie echt gut. »Mann, du hast wirklich keinen Schimmer, was? Mr Souperman ist der Schulleiter. Ich halte dir einen Platz frei«, versprach sie und schon war sie weg.

Murph beschlich der Verdacht, dass Mary ihn unter ihre Fittiche nahm. Und das, obwohl sie nicht mal Flügel hatte.

Murph sah den Rektor an und versuchte dabei, nicht allzu verwirrt auszusehen. »Guten Morgen, Mr, ähm, Souperman.«

»Na, alles startklar fürs Fliegen?«, fragte der Schulleiter munter und schaute ihn freundlich an.

Murph nickte höflich, aber als er ein zweites Mal nicken wollte, kam ihm plötzlich ein verstörender Gedanke. Bestürzt blickte er zu Mary. Was genau meinte er mit Fliegen …?

Aber er kam mit seinen Überlegungen nicht weit, denn Mr Souperman riss ihn abrupt aus seinen Gedanken.

»Nun gut«, meinte der Schulleiter und eilte zur Tür. »Alles Weitere überlasse ich Mr Flash.«

Mr Flash?, schoss es Murph durch den Kopf, dann schlurfte er durchs Klassenzimmer und setzte sich neben Mary. Klingt wie ein Putzmittel fürs Bad und nicht wie der Name von einem Lehrer.

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Wie der Schulleiter schien auch Mr Flash viel Zeit im Fitnessstudio zu verbringen, um nicht zu sagen: jede freie Minute. Seine Oberarme wölbten sich unter seinem Hemd, als hätte jemand die Ärmel mit dicken Bratenstücken ausgestopft. Seine Glatze glänzte wie poliert. Unter dem herabhängenden rotbraunen Schnurrbart war Mr Flashs Mund kaum zu sehen. Er trug eine Armeehose in Tarnfarben, die in hohen schwarzen Stiefeln steckte.

In der Klasse herrschte das typische Chaos vor Unterrichtsbeginn. Mr Flash hob entschlossen das Kinn und blickte in die Runde.

»RUUUUUUUHHHEEE!«, polterte er. Das Geraschel und Geplapper verebbte, bis alle ihn schweigend anblickte. Sein linker Oberarmmuskel schien ein Eigenleben zu führen, denn er fing plötzlich wie von selbst an zu zucken. Mr Flash drehte sich zur Tafel und begann gleichzeitig zu schreiben und zu reden.

»Für den Neuen in der Klasse …« – die Kreide quietschte, als würde er eine Wüstenrennmaus zerquetschen – »… mein Name ist Mr Flash. Willkommen« – quietsch, quietsch – »zu deiner ersten Unterrichtsstunde.«

Die Liste der Dinge, die Murph an seiner neuen Schule nicht kapierte, nahm kein Ende. Schon wieder konnte er einen Punkt hinzufügen: Es gab hier tatsächlich noch altmodische Tafeln wie im zwanzigsten Jahrhundert.

Und Murphs Liste sollte noch sehr viel länger werden.

* * *

In der Zwischenzeit

»Jede gute Geschichte«, verkündete Nektar, »braucht einen Bösewicht.« Er bemühte sich, möglichst fies zu lachen, aber es kam nur ein schrilles Quieken heraus, das er schnell mit einem Husten überspielte.

Nektar war ganz in Gelb und Schwarz gekleidet. Seine Stiefel waren hellgelb und seine Hose tiefschwarz. Über einem gelben Gürtel trug er ein schwarzes Oberteil und eine gelbe Weste. Sein Kopf verschwand fast vollständig unter einem großen schwarzen Helm mit vorstehenden gelben Augen und zwei zitternden Fühlern obendrauf. Falls du es noch nicht kapiert hast: Er wollte mit seinem Outfit etwas ganz Bestimmtes verkörpern.

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Nektar war in mieser Stimmung. Das sind Wespen meistens.

Aber dazu später. Wir werden ihn im Auge behalten, okay? Den großen Kerl, der halb Wespe ist.

Doch zurück zu Murph …

* * *

Murph saß nun schon vierzig Minuten an seinem Platz in der letzten Reihe und verfolgte Mr Flashs Unterricht. Inzwischen fragte er sich, ob sein Hirn herausoperiert worden war und ein kleines Kätzchen zehn Minuten lang damit gespielt hatte, ehe es jemand behutsam wieder in seinen Kopf eingepflanzt hatte.

Mit offenem Mund und gerunzelter Stirn (zerfurcht wie ein frisch gepflügter Acker, träfe es besser), versuchte er zu begreifen, was sich vor seinen Augen abspielte.

An seinen bisherigen Schulen waren Fächer wie Englisch, Mathe oder Sport unterrichtet worden. Mr Flashs Fach hingegen hieß »CT« und Murph kam einfach nicht dahinter, was die Abkürzung bedeuten sollte. Zuerst hatte er an so etwas wie Computer-Technologie gedacht, was ja auch naheliegend war, aber mit Computern hatte das hier nichts zu tun. Je merkwürdiger der Unterricht wurde, desto wilder wurden seine Spekulationen. CT konnte praktisch alles bedeuten – Chaos-Treffen, Clown-Tanzen, Chinchilla-Trommeln?

Murph kam zu dem Schluss, dass es sich um ein ziemlich schräges Rollenspiel handeln musste und dass er nur deshalb nichts kapierte, weil er den Beginn des Schuljahrs verpasst hatte. Allerdings hatte er an anderen Schulen schon häufiger verspätet angefangen und bisher war es ihm immer gelungen, sich an den neuen Unterricht zu gewöhnen oder Aufsätze über Erlebnisse in den Osterferien zu schreiben. Aber jetzt kam er sich vor, als wäre er über Ostern im Weltraum gewesen und nicht zur Erde zurückgekehrt, sondern aus Versehen auf einem fremden Planeten gelandet.

Angefangen hatte es damit, dass ein Junge mit roten Haaren und roten Wangen selbstbewusst vor die Klasse getreten war und die Hände in die Hüften gestemmt hatte. Mr Flashs wohlwollender Blick hatte Murph verraten, dass der Junge zu seinen Lieblingsschülern gehörte.

»Du bist dran, Timothy«, sagte Mr Flash mit einem strahlenden Lächeln. »Zeig uns deine Fortschritte.«

Daraufhin schien sich Timothy furchtbar anzustrengen – er sah aus, als müsste er dringend auf die Toilette, könnte aber nicht. Schweißperlen traten ihm auf die breite Stirn und seine Wangen färbten sich dunkelrot.

Mr Flash deutete auf einen altmodischen grauen Fernseher in der Zimmerecke.

»Konzentrier dich, Timothy«, knurrte er. »Richte deine Gedanken auf den Zielpunkt.«

Zielpunkt?, wiederholte Murph lautlos und drehte sich mit fragendem Blick zu Mary um. Er rechnete damit, dass sie genauso verdutzt sein würde wie er, doch sie zog nur lässig die Augenbrauen hoch und deutete mit einem Kopfnicken auf Timothy.

Murph wollte gerade wieder nach vorne schauen, als er plötzlich ein lautes Zischen hörte. Dann gab es einen grellen Lichtblitz. Auf der Rückseite des alten Fernsehers stieg eine dünne Rauchsäule auf und Timothy, dessen Kopf die Farbe von roter Bete angenommen hatte, sah ziemlich zufrieden mit sich aus.

»Na, das ist doch schon ein Anfang«, lobte ihn Mr Flash. »Gut gemacht. Zu Hause solltest du aber vorerst lieber die Fernbedienung benutzen. Wir wollen doch schließlich keinen weiteren Brief deiner Eltern, oder?« Einige von Timothys Freunden in der ersten Reihe fingen an zu kichern und einer schlug ihm auf die Schulter, wie um zu sagen: »Nicht schlecht, Kumpel.«

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Murph fragte sich, ob er vielleicht etwas nicht mitgekriegt hatte. Der rotgesichtige Junge hatte etwas mit dem Fernseher angestellt – die Frage war nur, was? Und wie? Und wieso kam er ungestraft davon? Murph hatte selbst einmal einen Schulfernseher beschädigt, als er einen Turnschuh nach seinem Freund geschleudert und total danebengeworfen hatte. Damals hatte niemand »gut gemacht« gesagt, im Gegenteil: Zur Strafe hatte er sämtliche Schulfernseher putzen müssen.

Aber es blieb keine Zeit, um darüber nachzudenken, denn Mr Flash hatte bereits jemand anderen nach vorne gerufen.

Diesmal war es eine Schülerin. Das Mädchen war Marys Sitznachbarin auf der anderen Seite. Ihre langen dunklen, an den Spitzen grün gefärbten Haare fielen ihr ins Gesicht. Der Pullover, den sie trug, hing wie ein Sack an ihr und ihre Jeans hatte ausgefranste Löcher.

Mr Flash klang nicht mehr ganz so enthusiastisch. »Guten Morgen, Nellie«, sagte er und in seiner Stimme schwang ein Hauch von Resignation mit.

Nellie sagte kein Wort. Sie stand mit gesenktem Blick vor der Klasse und scharrte mit den schmutzigen weißen Turnschuhen über den Boden.

»Erzähl uns von deinem Cape, Nellie«, bat Mr Flash.

Was für ein Cape?, dachte Murph. Sie hat doch gar keins an. Überhaupt sah sie aus, als wären ihre normalen Kleider gerade in der Wäsche.

Das Mädchen antwortete nicht. Murph glaubte zwar, ein leises Quieken aus ihrem Mund gehört zu haben, aber ganz sicher war er nicht, denn in diesem Moment donnerte es draußen. Ein plötzlicher Windstoß drückte eines der Fenster auf und wirbelte einen Stapel Blätter durch die Luft. Mr Flash ging zum Fenster und schloss es wieder.

»Sehr schön, Nellie, vielen Dank«, sagte er.

Der Lehrer bedankte sich bei ihr, obwohl sie nur auf ihre Schuhspitzen gestarrt und kein Wort von sich gegeben hatte? Hier ging es ja noch verrückter zu als an Murphs früherer Schule, wo Gavin Honeybun den alten Mopp seiner Mutter zum Anschauungsunterricht mitgebracht und so getan hatte, als hätte er ein Pferd dabei.

»Heute haben wir ein großartiges Cape von Timothy gesehen, ich denke, da sind wir uns alle einig«, stellte Mr Flash fest. »Er macht gute Fortschritte. Und Nellie … nun ja, sie hat sich Mühe gegeben, findet ihr nicht auch? Jetzt sind wir alle sehr gespannt auf unseren Neuzugang. Murph, nicht wahr?«

Murph setzte sich in Bewegung wie ein zuckelnder alter Traktor. Seine Beine brachten ihn in eine aufrechte Position, obwohl er ihnen nicht befohlen hatte aufzustehen. Bevor er wusste, wie ihm geschah, stand er vor der Klasse und blickte in erwartungsvolle Gesichter. Alle musterten ihn neugierig. Alle außer Nellie, die immer noch auf den Boden starrte.

»Pass auf, dass du nicht in die Ventilatoren gerätst«, warnte Mr Flash und deutete an die Decke, wo sich mehrere Plastikventilatoren langsam im Kreis drehten. »Wir wollen ja nicht, dass du zerstückelt wirst, oder?«

Er zwinkerte Murph zu.