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E. W. Heine

New York liegt im
Neandertal

Die abenteuerliche Geschichte
des Menschen von der Höhle bis zum
virtuellen Raum

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.
Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2018 TERRA MATER BOOKS bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

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Gesetzt aus der Minion Pro, Times

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries
Zeichnungen: E. W. Heine

ISBN 978-3-99055-000-7

eISBN 978-3-99055-506-4

Inhalt

Die Menschenschnecke

Die Höhle

Die Pyramide

Die Pagode

Der Heilige Weg

Der Tempel

Der Triumphbogen

Die Gottesburg

Die Kathedrale

Die Moschee

Die Grashütte

Der Palazzo

Das Theater

Das Grandhotel

Die Synagoge

Die Reichskanzlei

Der Termitenhügel

Der virtuelle Raum

Die Menschenschnecke

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Der höhere Mensch ist
ein bauendes Tier
.
Oswald Spengler

Keine Aussage über
die Vergangenheit ist so unmittelbar
wie die Bauten einer Epoche.
Der Mensch formt seine Umwelt so,
wie er sich selbst in ihr erlebt.
Das findet seine elementarste Darstellung
in der Art, wie er baut.
Warum baut eine bestimmte Zeit
so und nicht anders?
Versucht man, ihr Raumerlebnis
nachzuempfinden, so gelangt man
zu Erkenntnissen, die weit über
dem Wert der schriftlichen
Überlieferung liegen.

Die Geschichte der Menschheit ist der fantasiereichste Roman, der je erdacht worden ist. Wie bescheiden wirken die Lügengeschichten des Baron von Münchhausen neben diesem abenteuerlichen Gesellschaftsklatsch aus raffiniertem Propagandaschwindel, Druckfehlerteufeln, sensationslüsternen Verzerrungen, nationalem Pathos, verdrängten Schuldkomplexen, aus Vergessenem, falsch Verstandenem, frei Erfundenem und schamlos Gefälschtem. Aber, so könnten Sie jetzt einwenden, und was ist mit der schriftlichen Überlieferung, mit den Augenzeugenberichten aus jener Zeit? Sie sind doch zweifellos vorhanden.

Wer jemals in einem Polizeibericht die widersprüchlichen Zeugenaussagen über einen Verkehrsunfall gelesen hat, der wird zugeben müssen, dass auch auf die schriftliche Überlieferung der Augenzeugen kein Verlass ist.

Aber was ist mit den Gesetzen, den Friedensverträgen, den königlichen und päpstlichen Erlassen, deren Originale wir mit Siegel und Stempel besitzen? Ist auch auf diese Urkunden kein Verlass?

Nein, auch sie reden falsch Zeugnis wider ihre Zeit.

Von den Urkunden der Merowinger (500 bis 750) sind mehr als die Hälfte Fälschungen.

Von den überlieferten 270 Urkunden Karl des Großen sind über 100 unecht. Alle Papsterlasse vor dem Jahr 385 wurden nachträglich gefälscht. Die »Konstantinische Schenkung«, wonach Kaiser Konstantin bei seinem Umzug von Rom nach Byzanz im Jahre 330 Rom und das Abendland an Papst Silvester verschenkt haben soll, ist eine Fälschung, 400 Jahre später von römischen Geistlichen begangen. Die Geschichte keiner europäischen Stadt ist frei davon. Die Aufzählung der uns bekannten historischen Urkundenfälschungen würden die Seiten dieses Buches füllen. Kirchenfürsten, Bischöfe, Kloster und Päpste haben gewissenlos die Wahrheit verfälscht. Sie taten es zum Ruhme Gottes und zum Vorteil der allein seligmachenden Kirche, und das stand moralisch höher als die Wahrheit.

Aber nicht nur die alten Religionen manipulierten die Vergangenheit. Auch in der gegenwärtigen marxistisch-leninistischen Ethik hat die Propaganda absoluten Vorrang vor der Wahrheit. Die Historiker des realen Sozialismus mussten die Geschichte bereits innerhalb eines Jahrhunderts mehrmals umschreiben. Wer sich mit der Materie befasst, ist immer wieder verblüfft und entsetzt, mit welcher Dreistigkeit hier Geschichtsfälschung betrieben wird.

Durch einseitige christliche Propaganda wurde ein so ehrenwerter Mann wie Tiberius zum blutrünstigen Scheusal, und aus den wirklich blutigen Raubzügen der Kreuzritter wurden fromme Pilgerfahrten zum Grabe Christi.

Andere Ereignisse wurden unbewusst verfälscht. Das Blutbad von Verden, bei dem Karl der Große um die 4 500 Anhänger seines Rivalen Widukind erschlagen haben soll, fand in Wahrheit nur im Tintenfass eines Mönches statt, der die lateinischen Partizipien decollati und delocati verwechselte. Ersteres heißt »hingerichtet«, und Letzteres »umgesiedelt«.

Die Beispiele ließen sich seitenlang fortführen. Nein, es ist kein Verlass auf die schriftliche historische Überlieferung.

Wie aber erfährt man die Wahrheit über eine zurückliegende Epoche?

Bleiben wir bei unserem Beispiel mit dem richterlichen Prozess. Bei der Wahrheitsfindung wiegt hier das Corpus Delicti, das Beweisstück des Tatbestandes, mit Recht mehr als alle individuellen Zeugenaussagen. Menschliche Eindrücke lassen sich widerlegen, nicht so die Fingerabdrücke auf der Tatwaffe.

Caesar berichtet in seinem Tagebuch über den gallischen Krieg, dass die Elche in Germanien keine Kniegelenke hätten und sich daher nicht niederlegen könnten. Sie würden sich in der Nacht gegen Schlafbäume lehnen, die man bloß anzusägen bräuchte, um die Tiere einzufangen. Einmal zu Fall gebracht, kämen sie ohne fremde Hilfe nicht mehr auf die Beine. Da wir wissen, wie Elche aussehen, wissen wir auch, dass die Aussage von Gaius Julius Caesar falsch ist (wie oft mag er noch die Unwahrheit gesagt haben). Das Corpus Delicti Elch hat die Glaubwürdigkeit des großen Feldherrn widerlegt.

Überall auf der Erde findet man versteinerte Muscheln und Schneckenhäuser. Ihre Bewohner sind vor vielen Hunderttausend Jahren ausgestorben. Keines Menschen Auge hat sie jemals gesehen, denn sie haben lange vor unserer Zeit gelebt, und trotzdem wissen wir so viel von diesen ach so vergänglichen Weichtieren, als wenn sie noch lebendig wären. Am bekanntesten sind die spiralig gewundenen Schalenhäuser der Ammoniten. Obwohl diese Kopffüßler vor 100 Millionen Jahren ausgestorben sind, kennen wir mehr als 1 000 verschiedene Arten so genau, dass wir sie als sicher bestimmbare Leitfossilien für das Erdmittelalter vom Silur bis zur Kreidezeit verwenden können.

Diese sichere Kenntnis verdanken wir einzig und allein ihren Häusern. Und so wie das Schneckenhaus ein naturgetreuer Abguss der lebendigen Schnecke ist, so sind auch unsere Bauten lebendige Abdrücke ihrer Erbauer, versteinerte Gedanken und Empfindungen. Keine Aussage über einen bestimmten Zeitabschnitt ist so unmittelbar wie die Sprache der Bauten. Sie vermitteln uns Kenntnisse, die durch nichts zu überbieten sind. Die klassische Baugeschichte, wie sie an unseren Universitäten gelehrt wird, fragt: »Wie wurde das Gebäude einer bestimmten Zeit errichtet, in welchem Stil und zu welchem Zweck?«

Stellt man jedoch die Frage: »Warum ist dieses Bauwerk so gestaltet worden, welches Raumgefühl gab ihm seine architektonische Form?«, und versucht man, die in Stein festgehaltenen schöpferischen Kräfte nachzuerleben, so gelangt man zu Erkenntnissen, die weit über dem Aussagewert der schriftlichen historischen Überlieferungen liegen.

Kunstwerke sind Spiegelbilder der Menschen und ihrer Zeit. Das Lebenswerk eines Künstlers ist zugleich auch seine innerste Biografie. Das gilt auch für die Menschheit als Ganzes.

Die Kunstgeschichte ist die wahrhaftigste Biografie des Menschengeschlechts.

Der Mensch gestaltet seine Umwelt so, wie er sich selbst in ihr erlebt. Das findet seine elementarste Darstellung in der Art, wie er baut. Für die ältere Vergangenheit hat das Haus als Privathaus noch keine Bedeutung, wie auch der Privatmann als Einzelperson noch keine Rolle spielt. Der Mensch erlebt sich als Teil einer Gemeinschaft. Tempel, Dom, Palast und Rathaus sind Ausdruck von Gruppenerlebnissen. Der Einzelne ist nur in dem Maß existent, wie er teilhat an der übergeordneten Gemeinschaft des Stammes, der Kirche oder der Zunft.

Keine andere schöpferische Disziplin ist so eng mit dem Raum und der Zeit verbunden wie die Architektur. Als Einzige formt sie neue reale Räume, die der Mensch betreten kann. Der Zeitfaktor für Bauten ist ein ganz anderer als für Musik, Malerei oder Dichtung. Die Entstehung ist nicht an die Lebenszeit eines Künstlers gebunden. Von ihm erfolgt oft nur der schöpferische Impuls. Bisweilen bauen mehrere Generationen an einem Werk, wie bei den ägyptischen Tempeln oder gotischen Kathedralen. Aber selbst innerhalb einer Generation wird das Bauwerk von vielen schöpferischen Geistern geformt. Damit wird es wie kein anderes Kunstwerk zum Spiegelbild seiner Epoche.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das vom Ablauf der Zeit und damit von der Vergänglichkeit Kenntnis nimmt. Alle Zivilisation ist ein Kampf gegen die Zeit. Die Kunst des Schreibens – die bedeutendste menschliche Erfindung aller Zeiten – war vor allem ein Sieg über die Zeit. Mithilfe der Schrift sprechen Sokrates und Jesus über Jahrhunderte deutlicher zu uns als unsere Mitmenschen. Die großen Werke der Menschheit erlangten Unsterblichkeit.

Mit der Erfindung der Fotografie und der Schallplatte, und damit des Tonfilms, wurde die Vergangenheit direkt, ohne den Umweg über die abstrahierende Schrift, so zugänglich wie die Gegenwart. Tote sprechen und bewegen sich unter uns. Greise begegnen ihrer Jugend.

Architekturen sind Abbilder und Schallplatten ihrer Epoche, gebannte Vergänglichkeit, Siegessäulen über die allmächtige Zeit.

Camus hat einmal gesagt: »Von einem bestimmten Alter ab ist jedermann für sein Gesicht verantwortlich.« Er meint, dass die Fassaden unserer Köpfe von unserem Charakter geprägt werden, von dem, was wir wirklich sind. Das gilt auch für die Fassaden unserer Bauten. Sie werden vom Charakter ihrer Epoche geformt. In Dichtung und Wahrheit erzählt Goethe, er habe viele Stunde vor dem Straßburger Münster verbracht und die künstlerische Konzeption des Bauwerks so in sich aufgenommen, dass seine Fantasie begonnen habe, fehlende Teile zu höherer Ordnung zu ergänzen. Zu seiner Verwunderung stellte er nach Jahren anhand alter Pläne fest, dass die Baumeister des Münsters die endgültige Ausführung auch wirklich so geplant hatten.

Es scheint so, als habe der Mensch die Gabe, sich intuitiv in bestimmte einfache Ordnungen hineinzudenken.

Ohne diese Fähigkeit wäre er niemals in den Besitz der Heilpflanzen gelangt. Es ist Unsinn anzunehmen, dass ein Neandertaler sich durch Wald und Wiesen hindurchgefressen und auf diese experimentelle Weise Heilkräutererfahrung gesammelt hätte.

Viele Pflanzen wirken nur, wenn die ihrer Heilwirkung zugeordnete Erkrankung vorliegt. So regt das Schöllkraut den Gallenfluss an und entspannt den Gallengang bei kolikartigen Krämpfen. Nur ein Narr kann behaupten, dass ein von Gallenkolik gemarterter Urmensch losgezogen wäre und das Schöllkraut entdeckt hätte. Bei diesem Experiment wären Hunderte von Pflanzen vertilgt worden, deren Einnahme erfolglos, schädlich oder sogar tödlich gewesen wäre.

Novalis behauptete, dass alles sichtbare Äußere ein in Geheimniszustand erhobenes Inneres sei, das seine eigene Sprache spräche. Dieses Buch unternimmt den Versuch, die zeitlose Sprache der Bauten verständlich zu machen. Selbstverständlich erhebt es nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind provokatorische Gedanken und Notizen eines Architekten, also nicht eines promovierten Historikers. Aber hätte man vor 100 Jahren die Ausleuchtung der Häuser ausschließlich den Fachleuten überlassen, nämlich den Kerzenmachern, gäbe es bis heute kein elektrisches Licht.

Die Tatsache, dass wir sexuelle Freuden mit unserem Körper erleben, gibt der Medizin kein Recht, sich als Sachverwalter der Liebe aufzuspielen. Jene medizinischen Aufklärungsbücher gehören zu den ekelhaftesten Verirrungen unserer Zeit. Anatomische Unterleibsschnitte und auseinandergeklappte Gebärmütter wirken nicht zielführend, sondern abstoßend.

Sowohl die medizinische als auch die historische Sachlichkeit muss sezieren und ordnen, da Wissenschaft organisiertes Wissen ist. Aber man sollte nicht die lebendige Wirklichkeit vernachlässigen. Das politische Geschehen ist ein relativ unwesentlicher Teil der Geschichte. Es ist immer eine Folge geistiger Prozesse und nur selten ihre Ursache. Bismarck und Kaiser Wilhelm waren bestimmt interessante Persönlichkeiten, aber es ereignete sich weitaus Wichtigeres zu ihrer Zeit. Die Geschichte der Menschheit ist der spannendste Roman, der je geschrieben wurde, aber er liest sich in den meisten Geschichtsbüchern wie ein Kursbuch der Eisenbahn.

Rilke schrieb in Reiseerlebnisse in der Toskana: »Geschichte ist immer Kulturgeschichte. Ein kulturgeschichtliches Buch, aber welches zum Genuss anleiten wollte, dürfte nur einen einzigen Rat enthalten: Schau! Wer eine bestimmte Kultur in sich trägt, muss mit dieser Anleitung auskommen. Er wird vielleicht nicht erraten, ob ein Werk aus der Früh- oder Spätzeit einer Epoche stammt, aber er wird eine Fülle von Willen, Macht und Wahrheit erkennen und durch diese unmittelbare Offenbarung besser, größer und dankbarer werden.«

Die Gliederung dieses Buches erfolgt nicht in Stilen und Epochen, sondern in Bauten, die für ihren Zeitabschnitt charakteristisch sind. Es ist Unsinn, so kurzlebige Baustile wie die Gotik oder das Barock mit Ägypten oder China zu vergleichen. Obwohl es in Griechenland so verschiedene Stilepochen wie die dorische und die korinthische gab und so entgegengesetzte Lebensformen wie Sparta und Athen, sprechen wir von der großen, einheitlichen Kultur des klassischen Griechenlands.

Die Tatsache, dass es in Europa so verschiedene Stile wie die Romanik und die Renaissance gab und so unterschiedliche politische Systeme wie den Kommunismus und den Kapitalismus, wird unsere Urenkel nicht daran hindern, 2 000 Jahre Europa genauso in einen Topf zu werfen. Dann werden nur noch unsere Bauten von uns Zeugnis ablegen. Solange sie noch stehen, nehmen wir teil an der lebendigen Geschichte. Unsere Zeit wird erst dann zur Sage, wenn der letzte Bau, den wir errichtet haben, zerfallen ist.

Für die Menschen der Gegenwart ist das Haus ein Besitzgegenstand wie ein Auto oder eine Aktie. Man mietet oder kauft es, man benutzt und veräußert es ohne eine innere Bindung.

Von Menschen, die vorgefertigte Hauseinheiten aus der Fabrik geliefert bekommen und denen der Wohnungsmarkt Unterkunft zuweist, kann man nichts anderes erwarten. Aber das war nicht immer so.

Wir leben in einer Zeit mit inflationistischer Tendenz gegenüber allen ideellen Werten. Religiöses Empfinden, Gruppenehre und Vaterlandsliebe, einstmals gewaltige Triebfedern des politischen und kulturellen Geschehens, sind bedeutungslos geworden. Ehe und Familie als Lebensaufgaben werden mehr und mehr zu vorübergehenden Bindungen, die man eingeht und löst wie Mietverträge.

Die stärkste ideelle Abwertung aber hat das Haus erfahren. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bewohnten Bauern, Bürger und Adelige über Generationen das Haus ihrer Familie. Abraham sagte nicht: »ich und meine Sippe«, sondern: »ich und mein Haus«. Unsere Großmutter kam nicht aus einer guten Familie, sondern aus gutem Hause. Familie und Haus waren eine untrennbare Einheit. Wenn man vom Untergang des Hauses Usher oder vom Aufstieg des Hauses Habsburg sprach, so meinte man beides. Elternhaus, House of Parliament, Königshaus waren hohe ideelle Begriffe und nicht Immobilien aus der Welt der Grundstücks- und Wohnungsmakler. »Herr segne dieses Haus« schnitzten die Bauern in die Giebel ihrer Gehöfte, wenn sie für Sippe, Gesinde und Vieh um den Segen des Herrn baten. Haus und Hof zu verlassen, bedeutete nicht nur Obdachlosigkeit, sondern auch Entwurzelung und Schande.

Die Häuser der Bürger und des Adels waren steinerne Zeugen der Größe und des Wohlstands ihrer Bewohner. Von Ramses bis Stalin haben die Herrscher der Erde versucht, ihre Macht in gigantischen Bauwerken zu dokumentieren. Die Gottkönige Ägyptens nannten sich Pharao, das heißt »großes Haus«. »Ein feste Burg ist unser Gott«, dichtete Luther, und Gott selber maß dem Turmbau zu Babel solche Bedeutung zu, dass er ihn eine himmelstürmende Hybris schalt und seine Erbauer bestrafte. In der nordischen Mythologie ist das Schicksal der Götter mit der Errichtung eines Bauwerks eng verknüpft. Alle Tragik der Nibelungen, Anfang und Ende der gesamten Schöpfung werden durch den Bau der Götterburg Walhall ausgelöst.

Seit Anbeginn der Geschichte zerstörte man nach der kriegerischen Niederlage das Haus seines Gegners. Erst dann war der Sieg endgültig. Auch unsere Kriege haben unsere Häuser verwüstet, aber niemand käme auf den Gedanken, einem besiegten Feind das Haus niederzureißen, oder doch? Warum hatten die Amerikaner nach ihrem Einmarsch in Deutschland es so eilig, Hitlers Berghof bis auf die Grundmauern abzutragen? Fürchteten sie, dass der Geist des Toten in seinem Gehäuse weiterleben würde?

Als die Stadt Siena im 14. Jahrhundert die Arbeiten an ihrem Dom aus finanzieller Not einstellen musste, empfanden das die Bürger als nationale Schande. Wer außer ein paar Spezialisten und ein paar Wahlrednern interessiert sich heute noch für öffentliche Bauvorhaben?

Als die Türken Istanbul eroberten und die Hagia Sophia zur Moschee erklärten, ging ein Aufschrei durch die christliche Welt. Als Hitler den Braunschweiger Dom, eine der schönsten romanischen Kirchen Norddeutschlands, zur nationalsozialistischen Weihestätte erklärte, interessierte das nur noch den Klerus und ein paar Bauarbeiter.

Die Liebe mit dem Ziel der Arterhaltung ist eine der stärksten Antriebskräfte der beseelten Natur. Stärker noch ist die Angst. Zu diesen Urtrieben gesellt sich beim Menschen ein dritter: der Trieb, den Raum zu gestalten, zu bauen und zu wohnen. Dieser Instinkt gehört so untrennbar zu uns wie die Fähigkeit des abstrakten Denkens. Unser Drang, den Raum zu gestalten, geht so weit, dass wir selbst da, wo es keinen Raum gibt – im Raumlosen – vom Raum sprechen. Wie anders wäre der absurde Begriff Weltraum zu erklären? Wir sprechen von einem Zeitraum von soundsoviel Tagen oder Jahren. Die Zeit kann nur eine Strecke sein. Sie ist eindimensional, ganz gleich, ob sie einen Anfang oder ein Ende hat oder ob sie unendlich wie eine Gerade ist.

Ein Zeitraum ist so ein unlogisches Monster wie eine räumliche Fläche. Wir bezeichnen unrealistische Wunschträume als Luftschlösser und bauen selbst unseren Toten und unsichtbaren Göttern Häuser. Wir sperren Tiere in Ställe und züchten Pflanzen in Gewächshäusern. Wir leben und schlafen, arbeiten und genießen, gebären und sterben in der Welt unserer Häuser, ja, viele von uns opfern den größten Teil ihres Lebens für den Erwerb oder die Miete eines Hauses, nur um darin ihre verbliebene Zeit verleben zu dürfen. Ist es tragischer Wahnsinn oder geniale Größe?

Niemand von uns, die wir gemeinsam in dem Glashaus unserer schneckenhaften Schicksalsbestimmung sitzen, vermag das zu sagen.

Die Höhle

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Die ganze Welt ist eine Höhle.
Augustinus

Die Eiszeiten dauerten
Hunderttausende von Jahren.
In der Höhle brannte das Feuer.
In vieltausendfacher
Geschlechterfolge wurde uns
das Höhlenbewusstsein
so unauslöschlich eingeprägt,
dass wir wie Schnecken
nicht mehr ohne Behausung
zu leben vermögen.
Mensch und Haus sind
eine unzertrennliche
Einheit.

Das erste Buch Mose berichtet nichts über die erste Behausung Adams und Evas. Doch schon in der ersten Generation heißt es: »Und Kain erkannte sein Weib, die ward schwanger und gebar den Henoch. Und er baute eine Stadt, die nannte er nach seines Sohnes Namen Henoch.«

Die biblische Geschichte des Menschen beginnt nicht mit einem Haus, sondern gleich mit einer Stadt, mit vielen Häusern. Das ist typisch, denn das Haus ist nicht nur Schutz vor unfreundlichem Wetter und wilden Tieren, es trennt und schützt den Menschen vor dem Menschen. Der Erbauer jener ersten Stadt wusste es selbst am besten, denn er hatte seinen Bruder Abel erschlagen. So lebten sie wie die Schnecken von Anfang an getrennt in eigenen Häusern aus Angst vor dem eigenen Bruder und nicht in Gemeinschaft in einem großen Haus. Sagen Sie jetzt nicht, das wäre technisch noch nicht möglich gewesen, so ein großes Haus zu konstruieren. Blättern Sie nur etwas weiter im ersten Buch Mose, und Sie werden nicht nur sehen, dass es geht, sondern Sie werden sogar belehrt, wie man es machen muss: »Da sprach Gott zu Noah: Mach dir einen Kasten von Tannenholz. Und mache ihn also: Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen die Breite und dreißig Ellen die Höhe. Ein Fenster sollst du daran machen, oben an, eine Elle groß. Die Tür sollst du mitten in seine Seite setzen, und es soll drei Stockwerke haben, eines unten, das andere in der Mitte, das andere in der Höhe.«

Die Genesis hat kaum begonnen. Wir befinden uns auf der dritten Seite der Heiligen Schrift, und alles ist schon vorhanden: das Haus, die Stadt, sogar ein Bauplan für ein mehrgeschossiges Gebäude von 50 000 Kubikmeter umbautem Raum. Der Architekt ist kein geringerer als Gott persönlich.

Wenn wir unseren Wissenschaftlern glauben dürfen, gibt es menschenähnliche Wesen seit 20 Millionen Jahren.

Was wir über diese Zeit wissen, ist eine Sammlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Gelehrten, die sich mit dem Menschen der Vorzeit befassen, sind Paläontologen, Evolutionstheoretiker, Mediziner, Zoologen und Anthropologen.

Niemand interessiert sich für die Geschichte des eiszeitlichen Menschen. Hatte er noch keine? Er lebte und starb, erlebte Freude und Schmerzen, Liebe und Hunger. Er jagte, verfertigte praktische Werkzeuge und schuf ausdrucksvolle Kunstgegenstände. Er verehrte eine Gottheit und glaubte an die Unsterblichkeit, wie gefundene Grabbeigaben bezeugen. Aber er gehörte noch nicht der Geschichte an. Die Entdeckung des Neandertals war kein historisches Ereignis, sondern eine zoologische, medizinische Angelegenheit, weshalb man auch einen der berühmtesten Ärzte seiner Zeit, nämlich Virchow, mit der Klärung des Fundes beauftragte.

Wann aber wird der Mensch zur historischen Gestalt? Wann wird er überhaupt zum Menschen?

Der aufrechte Gang und das Gehirnvolumen sind noch keine Kriterien. Auch Pinguine und Kängurus bewegen sich aufrecht, und die Intelligenz steht in keinem proportionalen Verhältnis zur Größe der Hirnschale. Der Gebrauch von Werkzeugen unterscheidet den Menschen nicht vom Tier. Affen benützen Schlagstöcke als Waffen und hartschalige Früchte als Wurfgeschosse. Selbst in der handlosen Vogelwelt gibt es Spezies, die mithilfe eines Dornes Larven aus ihren Verstecken spießen.

Als sicherstes Kriterium des Menschen gilt im Allgemeinen der Gebrauch des Feuers. So nennen wir denn auch einen der ältesten Menschentypen Australopithecus Prometheus, was so viel wie »feuerkundiger Südmenschenaffe« heißt. Man schätzt sein Alter auf mehr als zwei Millionen Jahre. Er benutzte neben dem Feuer steinerne Gerätschaften und wohnte in Höhlen.

Menschliches Leben bewegt sich nur in engen, vorgegebenen Grenzen. Unter 28 Grad erlischt das Leben, bei 42,6 Grad gerinnt Eiweiß und führt zum Tod. Wärme ist lebensspendend wie lebensbedrohend. Die Lebensfähigkeit von Säugern und Warmblütern ist demnach auf enge Temperaturschwankungen begrenzt. Voraussetzung für ihre Überlebensfähigkeit ist die Aufrechterhaltung einer bestimmten Körpertemperatur bei unterschiedlichen klimatischen Bedingungen. Diese Fähigkeit beruht auf einer komplizierten Steuerung des Nervensystems und der Hormone. Diese Eingrenzung erscheint auf den ersten Blick als Nachteil. In Wahrheit gibt sie den Warmblütern das größte Maß an Freiheit. Die Lebendigkeit der Kaltblüter hängt sklavisch vom Wetter ab. Ihr Leben erstarrt mit fallender Temperatur. Nur die Warmblüter verfügen über die gleiche Lebensintensität zu allen Jahreszeiten in jedem Klima. Aus diesem Grund haben Säugetiere und Vögel als einzige Landlebewesen die polaren Gebiete erfolgreich bevölkert. Der Mensch vermochte nur zu überleben, indem er sich in Felle hüllte und in Höhlen hauste.

Der Mensch als schutzloseste aller Kreaturen war durch das raue Klima der Eiszeit gezwungen, sich eine beständige Behausung zu suchen. Selbst wenn die Felle erlegter Tiere genügend Schutz geboten hätten, um den nackten Eiszeit-Zeitgenossen vor dem Erfrieren zu bewahren, so hätten die sturmartigen Winde, die von den Eisflächen her bliesen, jedes Feuer im Keim erstickt. In den warmen Zwischeneiszeiten aber hätten die tropischen Regenfälle, die sich mit kurzen Unterbrechungen über Jahrtausende hinzogen, ebenfalls jede Feuerhaltung verhindert. Da zudem das Entzünden des Feuers mithilfe von Feuerstein mühsam war, wird man versucht haben, das Feuer zu bewahren. Man muss sich vor Augen halten, dass die Höhlenzeit mehr als eine halbe Million Jahre dauerte und sich dem Menschen in einer vieltausendfachen Geschlechterfolge tief einprägte und ihn formte. Erst vor diesem Hintergrund werden wir den bis zum Abnormen gesteigerten Hauswahn des historischen Menschen begreifen, der nur wie eine Schnecke nicht mehr zu leben vermag. In diesen 500 000 Jahren wurde uns das Höhlenbewusstsein biologisch so tief einprogrammiert, dass es ein Teil unserer Existenz ist wie die Angst oder der Geschlechtstrieb.

Fast alles, was wir über jene Menschen wissen, verdanken wir der Tatsache, dass sie in Höhlen wohnten. Die Höhle liefert uns Kenntnisse, die über das Wissen der Anthropologie und Paläontologie hinausgehen. Wir bezeichnen diesen neuen Menschen als Homo sapiens, als durchgeistigt und weise. Ist das nicht vielleicht ein vermessenes Wunschdenken derer, die die biblische Schöpfungsgeschichte zu wörtlich nehmen? Wir sollten nicht vergessen, dass der Mensch auch heute noch mindestens so viel Halbaffe wie Halbgott ist und dass wir unter allen Säugetieren nicht nur das proportional windungsreichste Großhirn unser Eigen nennen, sondern auch den proportional größten Penis.

Ob unsere Vorfahren den Titel Homo sapiens zu Recht trugen, ist mehr als zweifelhaft. Besser wäre die Bezeichnung Homo domesticus, »der Hausmensch« oder »der Wohnling« gewesen. Hausmensch erinnert an Haustier. Unsere Haustiere tragen diesen Namen nur deshalb, weil ihnen der Mensch seine stärkste und typischste Verhaltensweise aufzwang, um sie noch intensiver an seine Behausung binden zu können und nicht jagend herumstreifen zu müssen. Das Tier hatte seinem ureigensten Bedürfnis nach niemals den Drang, domestiziert zu werden. Der Mensch musste erst über eine jahrtausendelange Entwicklung die starken Instinkte des wilden Tieres verdrängen, beseitigt hat er sie nie – um das Tier an seine eigene häusliche Existenz binden zu können.

Wie kommt es, dass wir die Knochenreste von Menschen, die vor vielen Jahrtausenden gelebt haben, in solchen Mengen finden, während wir vergleichsweise nichts über den Ort der Hermannsschlacht wissen, die erst in geschichtlicher Zeit stattfand und bei der Tausende von Gefallenen das Schlachtfeld bedeckt haben müssen?

Alles verdanken wir den Höhlen und dem Trieb der Menschen zu wohnen. Gab es denn genügend Höhlen für den Höhlenmenschen? Es gab sie. In allen Karstgebieten der Erde ist ihre Zahl so reich, dass heute immer noch neue entdeckt werden. Allein im Staat Kentucky kennt man 60 000 Höhlen. Bekannt in unseren Breiten sind die eiszeitlichen Wohnhöhlen der schwäbischen Alb. Die größte Höhle Europas ist das Hölloch im Muotathal in der Schweiz, von der bisher 65 Kilometer vermessen worden sind. Die größte Höhle der Welt liegt in Amerika und ist mehr als 200 Kilometer lang. Daneben gab es viele kleinere, die wie die Höhlen des Neandertals häufig der modernen Bautätigkeit zum Opfer fielen oder deren reiche Fundstellen von Kuriositätensammlern ausgeräumt wurden.

Vor 60 000 Jahren verschwand der Neandertaler. Er wurde von einer jüngeren Rasse verdrängt und starb aus. Am Anfang dieser neuen Menschen steht der Aurignacmensch, der wie der Neandertaler seinen Namen von einem unbedeutenden Ort bekam. Aus ihm entwickelte sich der Mensch der Gegenwart.

Der entscheidende Schritt vom Tiersein zum Menschsein wurde getan, als unsere tierischen Vorfahren sich im Schutz der Höhle das Feuer dienstbar machten. Ein irdisches Geschöpf erlangte Macht über das schrecklichste und geheimnisvollste aller Naturelemente. Der Mensch schwang sich empor auf die Stufe der blitzeschleudernden Gottheit. Prometheus war geboren. Die Behausung bot dem Homo domesticus Unabhängigkeit und Freiheit von den Naturgewalten. Er schuf sich seine eigene Welt, in der es nicht regnete, stürmte und schneite, in der ihn weder Sonnenglut noch Frost bedrohten und die ihn vor Feinden und wilden Tieren schützte, einen Hort, in dem das heilige Feuer, das Zeichen seiner Überlegenheit über die anderen Geschöpfe der Natur, brannte. Das Feuer wurde zum Symbol der Häuslichkeit. Wenn wir heute sagen »eigener Herd ist Goldes wert«, so meinen wir, es geht nichts über die eigene Behausung.

500 000 Jahre lang hat der Mensch so gewohnt, ohne zu bauen. Zum schöpferischen Kulturträger wird der Höhlenbewohner in dem Augenblick, in dem er beginnt, seine Umwelt selbst zu gestalten, indem er baut. Das ist die Geburtsstunde unserer Kulturgeschichte und damit unserer historischen Zeit.

Wir Insassen von Wohnmaschinen und Inhaber von Reihenhauseinheiten, für die die Behausung eine Kapitalanlage wie ein Goldbarren oder ein Prestigegegenstand wie ein Auto ist, haben vergessen, dass das Haus ein Teil unseres innersten Wesens ist, unser Ursprung und Schicksal. Haus und Menschsein sind eine untrennbare Einheit. Durch die Behausung wurden wir zu Menschen, und durch das Bauen zu Kulturträgern der historischen Geschichte. Wir mögen schwarz oder weiß sein, dem Abendland oder dem Morgenland angehören, Chinesisch oder Englisch sprechen, das Haus verbindet uns alle, die Toten, die Lebenden und die Zukünftigen.

Nur Menschen, die noch wohnen, ohne zu bauen, haben nicht Teil an dieser Gemeinschaft, weshalb Buschmänner und Pygmäen bis in die Gegenwart, ähnlich dem Neandertaler, Objekte der Evolutionstheorie, Geografie und Anthropologie sind, lebende Fossilen in einer Welt, die sich anschickt, demnächst den Mond zu bebauen.

Die Pyramide

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Euer Altertum hat keine Geschichte und
Eure Geschichte kein Altertum
.
Plato

Der bekannteste Bau Ägyptens
ist in seinem Wesen so unägyptisch,
dass er unmöglich aus dieser Zeit stammen kann.
So errichtet man keine Gebäude,
sondern feinmechanische Apparaturen
von höchster Präzision.
Die Pyramiden stehen nicht am Anfang
unserer Kulturgeschichte.
Sie sind keine Ouvertüre,
sondern ein Finale für eine
vorsintflutliche Kultur,
die wir nicht mehr
kennen.

Jedes organische Ding auf dieser Erde wächst und reift. Das gilt auch für den Menschen und seine Kulturgeschichte. Das uns bekannte Ägypten scheint da eine Ausnahme zu machen. Es hat sich nicht aus primitiven Anfängen stetig und folgerichtig entwickelt, sondern beginnt wie ein Paukenschlag mit einer Hochkultur ohnegleichen.

Die Geschichte unserer Technik lehrt uns, dass es eine fortschreitende Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten gibt, von der Dampfmaschine zum Düsenmotor, vom Fesselballon zur Weltraumrakete, von der Blockhütte zum Wolkenkratzer. Die alten Pyramiden Ägyptens sind aber zugleich die gewaltigsten und technisch vollkommensten Bauten. Die Entwicklungstendenz scheint rückläufig und nicht fortschreitend. Es ist so, als zerfiele das Wissen einer mächtigen Urkultur allmählich. Alle Ägyptologen sind sich darin einig, dass es niemals ein konservativeres Volk gegeben hat. »Wie ein Greis lebt der Ägypter beständig in der Vergangenheit, immer steht er unter der Hypnose eines grauen Altertums, seine ganze Geschichte besteht aus Restauration. Abgeschafft hat der Ägypter überhaupt nie etwas.« (Friedell)

Ihre ganze Kulturgeschichte ist ein Bewahren des Althergebrachten. Vielleicht war die Kultur, aus der sie hervorgegangen sind und die dann spurlos versank, so gewaltig, dass die Völker, die ihr Erbe antraten, sie um jeden Preis zu bewahren versuchen.

Unser Wissen über das Alter der Cheopspyramide beruht im Wesentlichen auf der Überlieferung des Manetho. Diese Annahme steht auf wackligen Füßen.

Lyon Sprague de Camp schreibt: »Einige Leute verneinen zwar Cheops als Erbauer dieses Werkes, aber ein Zweifel ist nicht ausgeschlossen. Es existieren einige Steine aus dem Inneren der Pyramide, die den Namen Khufu (Cheops) tragen«. Aber vielleicht war jene Pyramide schon zu Khufus Zeiten jahrtausendealt und der Pharao ließ sie lediglich öffnen und in Besitz nehmen. Können wir aus der Tatsache, dass der Name Khufus in der Pyramide eingemeißelt ist, schließen, dass er sie gebaut hat? Der Höhlenbewohner, der ein Tier an die Wand malte, nahm es in seinen Besitz. Es gehörte ihm, bevor er es erlegte. Der Medizinmann der Kikuyu in Kenia schreibt den Namen seiner Klienten in den Sand und sagt: »Du bist jetzt in meinem Dienst und wirst tun, was ich dir sage. Du gehörst mir.«

Die Ägypter glaubten an die magische Macht des Wortes wie kaum ein anderes Volk. Das Unglück durfte nicht beim Namen genannt werden. Unser Ausspruch »den Teufel nicht an die Wand malen« entstammt dieser Geisteshaltung. Der Ägypter umschrieb schlimme Geschehnisse oder ließ die Namen tödlicher Krankheiten oder gefährlicher Tiere unerwähnt. So nannte er das Krokodil »Kraut des Sees«. Ein Gegner war erst dann besiegt, wenn man seinen Namen aus allen Inschriften löschte. Erst dann war er wirklich tot. Ein Gegenstand gehörte einem Ägypter auch über den Tod hinaus, wenn er seinen Namen trug. Nach Überlieferung aus der alten Zeit haben die Pharaonen oft ihre Namen auf Tafeln einsetzen lassen oder die Porträtstandbilder früherer Herrscher als die ihrigen ausgegeben.

Man sagt, die Pyramiden seien errichtet worden, um den toten Herrscher vor Grabräubern zu schützen. Diese Erklärung ist zu einfach. Warum hat man diesen einbruchsicheren Leichentresor so errichtet, dass ein von Nord nach Süd durch die Spitze der Pyramide geführter Schnitt sich mit der Ebene des idealen Meridians deckt, der über die meisten Kontinente und die wenigsten Meere geht? Nur eine Zeit wie die unsere vermochte ein Bauwerk wie die Pyramide so banal zu deuten. Auch die Kathedrale von Chartres ist nicht errichtet worden, damit die Hostien nicht nass geregnet werden, der Zeustempel von Olympia wurde nicht erbaut, damit niemand die Statuen des Phidias klaut.

Hätte es nicht bessere Möglichkeiten gegeben, einen toten Herrscher vor Räubern zu schützen, anstatt ihn in einem so auffälligen, weit sichtbaren Monument zu bestatten? Würde ein heutiger Architekt den Auftrag bekommen, die Pyramide als einbruchsicheres Grabmal zu bauen, so würde er vermutlich das Bauwerk allseitig massiv gestalten und von oben einen senkrechten Schacht offen lassen, in den der Sarkophag des Pharao herabgelassen würde. Hätte man den 147 Meter hohen Schacht mit Tonnen schwerer Granitblöcke aus Assuan gefüllt, so wäre die Pyramide heute noch unberührt. Stattdessen sind seitlich schräg hinaufführende Gänge gebaut worden, die mit viel Aufwand überwölbt wurden mussten, damit sie nicht einstürzten. So errichtet man nicht ein Grab, sondern ein Gebäude, das man immer wieder betreten will.

Die Pyramide ist ihrem Wesen nach ganz unägyptisch, denn sie ist im Gegensatz zum Tempel nicht richtungsorientiert oder wegbezogen. Diese Bezogenheit musste erst durch die Tempelanlagen hergestellt werden, die am Fuß der Pyramide viel später erbaut wurden. Auch in ihrer äußeren Bauweise ist die Pyramide unägyptisch, denn die ursprüngliche Bauweise am Nil war der Holzbau. Alle Tempelanlagen unter Einschluss des Pylons, der alles überragenden Stirnseite, sind in Stein übersetzte Holzkonstruktionen. Das gilt nicht für die Pyramide.

Die bedeutendste alte Pyramide ist die des Pharaos Khufu, den Herodot Cheops nennt und der vermutlich ganz anders hieß. Die Cheopspyramide war ursprünglich 147 Meter hoch und wurde im Laufe der Zeit von den muselmanischen Herrschern Ägyptens um neun Meter abgetragen, da man ihre Steinverkleidung abtrug und zum Bau von Moscheen und Häusern in Kairo verwendete. Ihre Grundfläche misst 234 Meter im Quadrat. Das ist eine Fläche, auf der der Petersdom und die Hagia Sophia, die Kathedrale von Mailand und Florenz und der Kölner und Aachner Dom nebeneinander Platz finden könnten. Noch gewaltiger ist die Masse des Bauwerks. Es wurde aus etwa 2 300 000 Steinblöcken errichtet, von denen jeder zwei bis zweieinhalb Tonnen wiegt. Um zu begreifen, welche Arbeitsleistung notwendig war, muss man sich vor Augen halten, dass das Steinmaterial in einem 15 Kilometer entfernten Steinbruch auf der anderen Seite des Nils gebrochen wurde. Der Turakalkstein der Außenhaut stammte von noch weiter her, und die Granitsteine für die Vorkammer und den Königsraum waren aus der 1 000 Kilometer entfernten Gegend von Assuan herangeschafft worden. Jene Granitblöcke waren sieben Meter lang und wogen bis zu 50 Tonnen. Wie diese Riesensteine bearbeitet, transportiert und fast 100 Meter hochgezogen worden sind, bleibt ein Rätsel. Wir wissen nicht, in welchem Zeitraum die Pyramide vollendet wurde. Die Schätzungen über die Zahl der Arbeiter sind sehr unterschiedlich. Es dürften Tausende gewesen sein, um täglich zehn Blöcke aus dem Steinbruch zu stemmen, zu behauen, abzuschleppen, über den Nil zu schaffen, weiter über das Land zu transportieren und zu verbauen. Nach Herodot waren es 100 000. Diese Rekordarbeiter hätten mehrere Generationen gebraucht, um den Bau aus über zwei Millionen Steinblöcken zu errichten. In dieser Zeit hätten eine ganze Reihe von Pharaonen regiert, die gewiss mehr an der Errichtung ihrer eigenen Pyramide interessiert gewesen wären. Abgesehen davon ist es ein Rätsel, wie jene Arbeiterheere versorgt wurden. Denn Ägypten hat zwar eine Länge, die der Entfernung von Frankfurt von Rom entspricht, war aber an Fläche kleiner als Belgien, weil das fruchtbare Land zu beiden Seiten des Nils bis auf das Delta nur schmal war.

Wie wurden die mächtigen Steinblöcke transportiert? Pferd und Wagen wurden erst zur Zeit der 17. Dynastie, etwa um 1600 v. Chr. eingeführt. Die Annahme, man hätte jene Blöcke auf Gleitrollen aus Holz fortbewegt, kann kaum glaubhaft sein. Das Experiment mit der Gleitrolle funktioniert nur auf ebenen Straßen, jedoch nicht im weichen Wüstensand oder auf unebenem, felsigem Untergrund. Herodot berichtet, dass man sich in Ägypten nur zu Fuß oder in der Sänfte fortbewegen kann. »Das Land ist von Kanälen zerschnitten, die es in großer Zahl gibt und die in allen Richtungen verlaufen.« Holz für Tausende von Gleitrollen gab es nicht, denn Bäume waren so rar, dass sie nur mit besonderer Genehmigung gefällt werden durften. Es war streng verboten, sie zu transportieren oder zu verheizen.

Die technisch ungelösten Probleme ließen sich noch seitenweise fortführen. Sie werden immer unlösbarer, je mehr man ins Detail geht.

Jene, die des Rätsels Lösung in der gleichzeitigen Beschäftigung von 100 000 Sklaven sehen, erinnern an den Witz, dass die Chinesen eine Rakete zum Mond geschossen hätten, diesen aber nur knapp verfehlten, weil eine halbe Million Menschen eine Zehntelsekunde zu spät auf die Wippe gesprungen seien, mit der man die Rakete katapultiert hätte.