Vorwort
Nach Kathmandu
Die Maoisten
Zwei Tage in Thudam
Topke Gola
Eine Nacht in einer Schlucht
Es ist vorbei
Dank
von Barbara Frischmuth
Jamaica Kincaid ist eine außergewöhnliche Schriftstellerin mit karibischen Wurzeln und einem Garten in Vermont (USA), wo sie seit vielen Jahren lebt. Ich fasse das alles in einen Satz, weil man nicht mehr über sie zu wissen braucht, um sich für dieses Buch zu interessieren.
Die Blumen des Himalaya ist eine Darstellung (ich vermeide absichtlich das Wort »Beschreibung«) dessen, was sie während einer etwa zehntägigen Reise durch Nepal in Begleitung von drei Pflanzenjägern (einer Frau und zwei Männern) gesehen, und mehr noch, empfunden hat.
Kincaid war schon einmal mit Daniel J. Hinkley, der die Nepal-Reise organisiert hat, in Südwestchina gewesen, wo Hinkley ebenfalls Samen für seinen professionell betriebenen Staudenhandel gesammelt hatte. Die Reise durch Ost-Nepal führte nun, wie auf der beiliegenden Karte nachvollziehbar, von Kathmandu bis zur Grenze von Tibet und auf anderen Wegen, ich sollte besser sagen Pfaden, wieder zurück, wobei es bis in Seehöhen von 3000 bis 5000 Metern ging.
Das Ganze fand Anfang der Nullerjahre statt, nachdem der König von Nepal das Parlament aufgelöst hatte und maoistische Guerillas vor allem den Osten des Lands unsicher machten. Die Begegnung mit ihnen war also vorherzusehen und fand auch einige Male statt, wobei Kincaid und ihre Freunde glimpflich davonkamen. Der große Schrecken kam erst post festum, als sie alle wieder zu Hause waren und erfuhren, dass der Flughafen, in dem sie tagelang campiert und auf ein Flugzeug gewartet hatten, das sie ausfliegen sollte, von den Guerillatruppen überfallen worden war. Dabei hat es Tote gegeben.
Was dieses Buch sicher nicht ist, ist eine fachliche Abhandlung über die Flora Nepals auf seinen unterschied-lichen Höhenlagen, obgleich die Pflanzen, deren Samen ihnen allen so wichtig waren, immer wieder genannt wurden. Doch wenn man ihnen tatsächlich begegnete, wollte man sie lieber abgeblüht und samentragend sehen. Dieses Buch ist vielmehr eine Charakterstudie von Menschen, zu deren Leidenschaft es gehört, der Samen von ausgefallenen Pflanzen habhaft zu werden, nach Möglichkeit auch noch derer von allen Erscheinungsformen ihrer Art, sei es für den eigenen Staudengarten (wie Kincaid, die sich nur für jene Pflanzen interessiert, die in ihrem Garten in Vermont überleben würden) oder sei es für eigene Nachzuchtversuche beziehungsweise den professionellen Samenhandel. Dass sie dafür die mögliche Gefährdung ihres Lebens auf sich nehmen, zeugt von der Ernsthaftigkeit ihres Begehrens, das – laut Kincaid – bei den Pflanzenjägern ein Gefühl der Selbstermächtigung, als wären sie göttergleich, auslöst, so als hätten sie die jeweilige Pflanze selbst entworfen (erfunden) und niemand, der den blauen Scheinmohn (Codonopsis grandis) als Schmuckpflanze in seinen Garten setzt, könne es ihnen gleichtun.
Was aber dieses Buch jenseits aller pflanzlichen Raritäten am Fuße des Himalayas wie zum Beispiel blauer Scheinmohn, Nepal-Lilie (Cardiocrinum giganteum) oder panaschierte Einbeere (Paris variegata) so einprägsam macht, ist die Sprache von Kincaid, die sich als poesie noir durch alle Spalten, selbst durch die Haarrisse, der erlebten Entfremdung zwängt und einem gerade durch ihr ständiges Nachfragen das Geühl gibt, man hätte sich die vielen täglichen Kilometer bergauf oder bergab mit den eigenen Füßen ergangen, um dann kurz vor dem Dunkelwerden in einem Schlafsack unter überhängenden Felsen der physischen und psychischen Erschöpfung nachzugeben.
Kincaid beherrscht die Kunst, unerwartete Details in erwartbaren Situationen aufzuspüren, die sich, weder schwarz noch weiß, in den verschiedensten Farben und Nuancen präsentieren und damit sich verfestigende Meinungen gleich wieder ins Wanken bringen.
Auch was Jamaica Kincaid zum Phänomen Garten zu sagen weiß, ist Philosophie und Literatur zugleich. Ihre Ausdrucksweise scheint von Antagonismen getrieben zu sein, von ihrer Angst vor so vielem wie zum Beispiel Blutegeln oder einer bestimmten Art von Fledermäusen, vor abschüssigem Gelände, von dem sie im Schlaf abrutschen, oder Steinen, die auf sie fallen könnten, und, nicht zu vergessen, vor den maoistischen Guerillas. All diesen Ängsten entgegnet sie mit ihrer Lust, sich zu isolieren (ganz allein auf der Welt) und alles als fremd zu empfinden, ohne es ihren Befürchtungen zu gestatten, ihr die Liebe zu den Dingen in weiter Ferne zu nehmen, auch wenn sie diese gar nicht besitzen möchte.
In Die Blumen des Himalaya steht so vieles, worüber nachzudenken sich lohnt. Nicht zuletzt über das Verhältnis zwischen Natur und Mensch, das einem durch ihre Beobachtungen derer, die in diesem Land leben und in ihm verwurzelt sind, wie nebenbei bewusst wird, ohne dass sie das Wort Natur bemühen müsste.
Und wenn Jamaica Kincaid gegen Schluss, während sie einen letzten Blick in die Runde wirft, befürchtet, dass es nicht lange dauern würde, bis sie bezweifelte, je an diesem Ort gewesen zu sein, kann ich nur sagen, dass ich noch sehr lange nicht bezweifeln werde, mit ihr an all diesen Plätzen gewesen zu sein. Zumindest in meiner Vorstellung.
Ob ich nicht ein Buch schreiben wolle, ein kleines über irgendeinen Ort auf dieser Welt, und dorthin reisen wolle, um etwas zu tun, was ich gerne tat, wurde ich im Jahr 2000 gefragt. Sofort war klar: Ich will in den südwestlichen Teil Chinas, durch seine Flora wandern und Pflanzen samen sammeln, aus denen eines Tages blühende Sträucher und Bäume und krautige Stauden in meinem Garten wachsen könnten. Zwei Jahre zuvor, 1998, war ich schon einmal da. Ich hatte den herausragenden amerikanischen Botaniker, meinen Freund Daniel Hinkley und mehrere seiner Botaniker-Kollegen bei einer Pflanzenund Samenjagd durch die Provinzen Yunnan und Sichuan begleitet. Die Reise nahm ihren Anfang in Kunming, einer Stadt, die so heiß ist, dass ich schon mit den Pflanzen des Gartens in meiner karibischen Heimat gerechnet hatte. Und ich freute mich auf die mögliche Entdeckung einer tropischen Version von Liriodendron tulipifera, eines Tulpenbaums, bekannt durch William Bartrams Reisen. Aber daraus wurde nichts. Wir sind aufs Land und in die Berge bis auf 4267 Meter Höhe. Ich sammelte Samen von Primel-, Schwertlilien-, Wacholder-, Rosen-, Pfingstrosen-, Spiersträucher-, Zwergmispeln- und Schnee ball-Arten, von denen einige nun in meinem Garten wachsen.
Während dieses Abenteuers taten sich viele Schwierigkeiten auf – aber letztlich waren es immer Luxus-Probleme. Etwa konnte und mochte ich mich nicht mit den Umgangsformen meiner Gastgeber bei Tisch anfreunden. So bin ich der Meinung, dass da, wo gegessen wird, sei es die Küche oder das Esszimmer, in einiger Entfernung sein sollte von dort, wo der Verdauungsprozess sein Ende nimmt.
Kein einziges Mal war mein Leben wirklich in Gefahr, nicht einmal, als ich in einem Bus auf einer Straße nahe des über die Ufer tretenden Jangtse unterwegs war.
Am schwierigsten war oft die innere Entfernung von meinem »anderen« Leben, die berühmt-berüchtigte Entfremdung, das Interessante, träumerisch Irritierende an der großen Distanz zu allem Bekannten.
Als ich also gefragt wurde, was ich irgendwo in der Welt tun wollte, hatte ich sogleich diese Reise vor zwei Jahren in den Südwesten Chinas im Sinn. Ich rief Dan Hinkley an und sagte: »Komm, fahren wir wieder nach China!« Als Gärtner, Botaniker und gerade flügge werdender Gartenarchitekt fährt Dan ein- oder zweimal im Jahr an einen entlegenen Ort und sammelt Samen. Er braucht das, um die intellektuelle Neugier des Pflanzenfreunds und Botanikers zu stillen, zieht daraus aber auch einen unternehmerischen Nutzen. Als ich ihm das südwestliche China für ein Pflanzensammelabenteuer vorschlug, meinte er: »Warum nicht gleich was wirklich Aufregendes, warum nicht Nepal? Wir gehen auf einen Treck, und suchen nach Scheinmohn (Meconopsis)? «
Schon im Oktober 1995 war Dan zum ersten Mal auf einer Samensammel-Expedition in Nepal, in den Wäldern von Milke Danda in der Region Jaljale Himal. Milke Danda, Jaljale Himal! Wie schön sich diese Wörter auf Papier zu einem Ganzen fügen!
1998, als ich Dan und seine Botaniker-Gefährten begleitet hatte, war mir eine Faszination noch neu: nämlich, dass allein die Erwähnung eines Ortes, das sachte Artikulieren seines Namens zu tiefem Sehnen führen konnte, zu dem intensiven Wunsch, wieder dort oder zumindest in der Nähe zu sein.
Dans erster Besuch in Nepal hatte ihn nicht losgelassen. Er wollte wieder dort hin. Vielleicht vernahm ich auch ebendiese besondere, starke Sehnsucht in seiner Stimme, als er die Reise vorschlug. Ich weiß es nicht mehr genau. Aber so wurde es Nepal.
Die Abreise war für Oktober 2001 geplant. Ab Frühjahr trainierte ich jeden Tag. Dan hatte gewarnt, dass die Reise anstrengend werden würde, unvorstellbar schwer, und dass ich meinen Körper auf die physischen Herausforderungen, die da kommen würden, vorbereiten musste. So bin ich Kilometer um Kilometer gelaufen, habe gezielt mit Gewichten trainiert, um die Muskeln in den Beinen zu stärken. Man hat mir empfohlen, mit einem Rucksack voller Steine herumzulaufen, um den Oberkörper zu kräftigen. Ich hab’s gemacht.
Dan erwähnte noch, dass ich ein neues Paar Wander-schuhe bräuchte, und dass ich sie einlaufen müsste. Also habe ich sie die ganze Zeit getragen – im Garten, zum Einkaufen, sogar wenn ich zu einem Abendessen ausging. Alles lief gut bis gegen Ende August: Da fiel mir ein, dass mir mein Reisebüro meinen Pass, mit dem darin eingeprägten Visum des Royal Nepalese-Generalkonsulats in New York, nicht zurückgeschickt hatte. Alles Nachfragen im Reisebüro half nicht. Der Pass mit dem eingestempelten Visum des nepalesischen Konsulats in New York war weg.
Ich beantragte einen neuen Pass und erhielt ihn inner-halb von wenigen Tagen; ich beantragte ein Visum und erhielt innerhalb von wenigen Tagen das Ein- und Ausreisevisum für Nepal. Ich ließ mich impfen gegen Krankheiten, bei denen ich nicht wusste, ob ein Gegenmittel existierte (Tollwut), und gegen Krankheiten, deren Existenz mir bis dahin unbekannt war, wie etwa die Japanische Enzephalitis. Ich war also ganz und gar reisebereit. Aber dann stellte sich ein Existenz-verändernder Zustand ein, genannt »die Ereignisse vom 11. September«. Ich bin letztlich sehr dankbar für diese typisch amerikanische Fähigkeit, vieles auf Abkürzungen zu reduzieren, denn wenn ich nun die Ereignisse vom 11. September schreibe, muss ich keine richtige Erklärung, keine detaillierte Erläuterung darüber abgeben, warum ich diese Reise erst ein Jahr später antrat.
Im darauffolgenden Frühling, im Jahr 2002, nahm ich mein Trainingsprogramm wieder auf. Ich trainierte so viel, dass ich gegen Ende Juni nur noch humpelte. Der rechte Fuß machte Probleme. Auf dem Röntgenbild war nichts zu erkennen, aber der Fuß tat sehr weh.
Dann beschlossen mein damals dreizehnjähriger Sohn Harold und ich kurzerhand, dass er mit auf die Reise käme. Aber schon Ende August sahen wir ein, dass das nicht klappte. Dan schrieb mir eine E-Mail, in der er nach Passnummern und anderen Dokumenten für die weitere Organisation fragte. In diesem Moment fiel es Harold wie Schuppen von den Augen: Nein, er würde nicht mitgehen – als ob die ganze Idee vollkommen lächerlich gewesen wäre.
Später sollte es viele Gelegenheiten geben, bei denen ich mich freute, dass seine Entscheidung so ausfiel. Ich schrieb Dan: »Es tut mir so leid. Harold kommt nicht mit, aber das hast du wahrscheinlich schon geahnt. Tickets und Dokumente nur für mich. Wir teilen uns ein Zelt. Übrigens: Hast du von dem Flugzeugabsturz gehört? Und von dem Bus, der wegen der Fluten von der Straße abgekommen ist, alles in Nepal? Das ist gestern passiert. Liebe Grüße an dich und Bob.«
Um diese Zeit herum beschlossen Dans Freunde, ein Botaniker-Ehepaar aus Wales, uns zu begleiten. Ich war schon immer neidisch auf die vielen Reisen zum Samensammeln nach Vietnam, Korea, Japan und China, die sie zusammen unternommen hatten. Sie hießen Bleddyn und Sue Wynn-Jones, und jedes Mal, wenn ich hörte, wie Dan sagte, dass er und Bleddyn und Sue etwas gesammelt hatten, platzte ich vor Neid. Ich möchte immer dort sein, wo es Samen zu sammeln gibt, immer an Orten, an denen ein Garten entsteht. Ich freute mich, dass sie dabei waren, und als Dan in einer seiner E-Mails schrieb: »Das wird ein Abenteuer«, vergaß ich für einen kurzen Augenblick alle Mühsal während der Vorbereitungen. Dieser Bericht über eine Wanderung, die ich unternommen habe, wäh-rend ich Samen von blühenden Pflanzen an den Ausläu-fern des Himalaya zupfte, mag wohl von meiner Leiden-schaft für den Garten rühren, von meinem Interesse von Kindesbeinen an für Botanik und Geografie. Es hat wohl auch damit zu tun, dass ich das Alleinsein genieße, dass mir die Vorstellung, der einzige Mensch in einer zu entdeckenden Welt zu sein, gefällt, dass mir das Empfinden des Andersseins vertraut ist, dass ich wohl Angst habe, aber nicht zulasse, dass sie mir im Weg steht, dass ich Sehnsucht nach Dingen habe, aber nicht den Drang sie zu besitzen.
Ich verließ mein Haus in den Bergen von Vermont im Morgengrauen, an einem Tag Anfang Oktober. Nichts war fehl am Platz. Ich bemerkte, dass die Blätter mit der Herbstfärbung spät dran waren. Aber wenn ich in meine botanischen Protokolle der letzten Jahre schaue, zeigt sich, dass ich das jedes Jahr denke. Es war warm für einen frühen Morgen Anfang Oktober, aber es ist oft warm am frühen Morgen Anfang Oktober. Und dennoch, während ich von meinem Haus wegging, hatte ich das seltsame Gefühl, dass ich das alles zum letzten Mal so sehen würde, dass beim nächsten Hinsehen, alles, was ich an diesem Morgen sah, die Berge (jene, die ich von meinem Haus aus sehen kann, vor allem der Mount Anthony), die Bäume, die Häuser, die Menschen in ihren Autos, die Straße selbst, nicht mehr so aussehen würde, dass die Erfahrung, die mir bevorstand, vieles in meinem Leben für eine lange Zeit danach beeinflussen würde, wenn nicht für immer.
Erst als ich einen Monat später zurückkehrte, fiel mir auf, wie ruhig und klar die Bäche und Flüsse sind in der Nähe von dort, wo ich lebe; wie ruhig sie sich entlangschlängeln, als wären ihre Wege alt und langweilig, ihr Ursprung ganz in der Nähe und nicht tief verborgen an einer noch unbekannten Stelle unter der Erdoberfläche. Erst dann stellte ich auch fest, wie glatt die Seiten der Berge waren, ohne gekräuselte Kämme; wie sie in der Höhe fast einheitlich schienen, sanfte Hänge, weiche Gipfel, alt und gut erforscht. Und der Himmel über alldem? Erst als ich wieder nach Hause zurückkehrte, stellte ich fest, dass der Himmel über mir mich nie geängstigt hatte. Meist war er klar, tagsüber von einem traurigen blassen Blau, und nachts zeigte er sich in einem ins Grau gehenden Schwarz. Dass ich bei meiner Rückkehr dem Wasser, dem Land und dem Himmel besondere Beachtung schenkte, hatte mit meinen Wanderungen in den Ausläufern des Himalaya zu tun. Die Welt zu Hause, die Welt, die ich kannte, wurde zu »meiner« Welt. Dort – im Himalaya – hatte ich nur den offenen Himmel über mir. Und die weiten und offenen Räume wirkten auch aus weiter Distanz so, als seien sie von einer gewaltigen Himmelskuppel beschützt. Und der Eindruck der schier unendlichen Weite ließ sich auch von den Bergen des Himalaya nicht einengen.
Ich verließ mein Haus an einem Morgen Anfang Oktober und fuhr zum vier Stunden entfernten Flughafen. In meinen Gedanken hielt ich daran fest – obwohl lächerlich, aber dann wieder nicht –, dass ich alles zum letzten Mal sehen würde. Auf merkwürdige Weise stellte es sich retrospektiv als wahr heraus. Denn alles, was mir vertraut war, schien bei meiner Wiederkehr verändert. Natürlich war alles wie immer. Nur konnte ich es nicht mehr so sehen wie früher.
Ich verließ mein Zuhause und fuhr zu einem New Yorker Flughafen. Ich kam dort mitten am Tag an. Der Flughafen wirkte verlassen, unbelebt, steril, wie in einem Rausch. Aber ich hatte kein entsprechendes Mittel eingenommen, nicht, dass ich gewusst hätte. Ich stieg mit schwerem Herzen in das Flugzeug. Mein dreizehnjähriger Sohn hatte nicht gewollt, dass ich verreise. Beim Abschied liefen ihm Tränen über die Wangen; vor meiner Abreise hatte er Vertraute gebeten, bei mir für ihn ein gutes Wort einzulegen, mir zu sagen, wie sehr er wegen meiner bevorstehenden langen Reise an einen weit entfernten Ort litt. Ich liebe meine Kinder mehr als mich selbst, und doch setzte ich mich in ein Flugzeug nach Hongkong, um anschließend nach Nepal zu gelangen.
Auf dem Weg nach Kathmandu verbrachte ich weniger als vierundzwanzig Stunden in Hongkong. Bei diesem Kurzaufenthalt fühlte ich mich wie ein Sedimentteilchen in einer Flasche, die kräftig geschüttelt wird. Oh, dieser Wirbel! Ich war weder hier noch dort noch irgendwo. Ich war wieder am Flughafen. Der Anschlussflug war acht Stunden verspätet. Ich wurde in einen Teil des Flughafens geschickt, wo Menschen warteten, die andere Reiseziele hatten. Ich kenne moderne Flughäfen von vielen Stunden des Wartens auf Anschlussflüge. Auf einem modernen Flughafen wird man plötzlich mit Menschen konfrontiert, die sehr anders sind als man selbst; auch wenn alle ähnlich angezogen sind, haben sie sehr unterschiedliche Vorstellungen von Regeln und Abläufen. Ich bin daran gewöhnt. Dennoch fühlte ich mich am Flughafen in Hongkong seltsam: allein, einsam, angespannt, glücklich, ängstlich, verzweifelt – alles gleichzeitig. Dieser Zustand kulminierte, als ich ins Flugzeug der Royal Air Nepal stieg, und man mir sagte, dass die Zeitzonen nicht in Stunden wie im Rest der Welt, sondern in Viertelstunden vor- beziehungsweise zurückgezählt werden. Wie verwirrend, wie magisch! Oder aber wie richtig. Dennoch wird mir all das nur in der Rückschau bewusst, während ich an meinem Schreibtisch in Vermont sitze und darüber nachdenke. Wir flogen im Dunkel der Nacht nach Kathmandu. Wie ein Kind fragte ich, ob wir wohl in Sicherheit seien, denn insgeheim malte ich mir aus, wie wir versehentlich gegen einen Berg fliegen. Aber wir landeten sicher, und ich gab einem Mann vierzig Dollar, damit er meinen Koffer von der Gepäckausgabe zum Taxi trug. Alle waren über diese Summe erstaunt. Aber ich war so dankbar, noch ganz und ich selbst zu sein, was auch immer das ist. Ich hätte noch mehr bezahlt, nur um an diesem fremden Ort behaupten zu können: »Hey, ich bin ich.« Ich ging ins Bett und schlief tief ein und durch, in einem unvergessli-chen Hotel namens Norbu Linka. Unvergesslich, weil es meine einzige Nacht in Kathmandu war.
Am nächsten Morgen holte mich Dan ab. Ich musste mich für mein Trekkingvisum fotografieren lassen. Anschließend begleitete Dan mich in einen Laden, wo ich einen eleganten Wanderstock erstand. Der Stock war aus heimischem Holz gefertigt und hatte einen geschnitzten Hundekopf am Knauf, genau dort, wo man ihn mit der Hand ergreift. In einem weiteren Laden kauften wir Schokoriegel und Süßigkeiten. Dann gingen wir zur besten Buchhandlung der Welt – wenn man sich für Expeditionen interessiert – in Pilgrims Book House. Ich kaufte ein Buch, nur um ein Buch zu kaufen, über die Erstbesteigung des Kangchendzönga. Bis dahin hatte ich nicht einmal gewusst, dass es einen Berg namens Kangchendzönga gab. In meinen Gedanken war ich immer noch bei allem, was ich in Vermont zurückgelassen hatte: bei meinem dreizehnjährigen Sohn, der nicht wollte, dass seine Mutter so weit weg ist, bei den sanften Berggipfeln, den soliden Sanitäranlagen (Küche und Klo haben nichts miteinander zu tun).
Dan war schon einige Tage vor mir in Kathmandu angekommen und hatte mir eine E-Mail geschickt, in der er schrieb, dass es sehr heiß wäre und mich ermahnte, passende Kleidung mitzubringen. Viele Tage zuvor hatte er mir eine lange Liste von allem, was für unsere Wanderung in den Bergen gebraucht würde, geschickt. Diese E-Mail war zum Fürchten. Aber Angst nützt nicht. Also nahm ich die E-Mail zur Kenntnis, um sie gleich darauf zu ignorieren. Die Betreff-Zeile lautete: »Ich werde deine BHs waschen, wenn du dich um meine Unterwäsche kümmerst«, und weiter:
Hey Jams, ich bin auf dem Flughafen Sea-Tac – kein zurück mehr. Ich habe die Reise wieder und wieder durchgeplant und hoffe, ich habe nichts Wichtiges übersehen. Ich möchte dich nur noch an ein paar Dinge erinnern … Check, dass deine Wanderschuhe wasserdicht sind, und bringe zwei Paar mit – ich habe welche mit einem hohen und welche mit einem niedrigen Schaft mit. Die Schuhe werden irgendwann durch nässt sein, aber je mehr du sie imprägnierst, desto besser. Ich bearbeite sie gerne zweimal; stelle sie in die Sonne und lasse sie eintrocknen und mach das Ganze noch einmal. Ich nehme noch mehr Imprägnier-Mittel mit, aber fang schon mal gleich an.
Socken sind wichtig. Kauf dir Einlagen und Wander-socken. Die Einlagen helfen, die Feuchtigkeit abzuhalten, sowohl den Schweiß als auch die Nässe von außen, sonst hat man morgens beim Losgehen schon nasse Füße (es gibt nichts Schrecklicheres, als kalte, nasse, steife Wanderschuhe anzuziehen). Ich nehme Waschmittel mit, sodass wir gelegentlich ein wenig Wäsche waschen können. (Ich wasche deine BHs, wenn du dich um meine Unterwäsche kümmerst.) Ich nehme nur drei Unterhosen mit und: