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Impressum

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©2017 Blaukreuz-Verlag Bern

Umschlagbild: Larissa Hage, Oberwil

Satz: diaphan gestaltung, Liebefeld

ISBN Epub: 978-3-85580-523-5

ISBN mobi (Kindle): 978-3-85580-524-2

ISBN Print: 978-3-85580-517-4

Inhalt

Prolog

Teil 1

Zu spät

Brandmal

Schwarze Spuren

Pläne

Ein Besuch

Was ist passiert?

Harmonie-Familie

In Trance

Meine kleine Schwester

Der schönste Ort

Jannis oder Kostas

Niemals!

Fehlanzeige

Gefängnis

In Teufels Küche

Was, wenn …?

Teil 2

Tí káneis

Mut der Verzweiflung

The Big Blue

Mamas Liebling

Glück gehabt

California Boy

Nichts Besseres

Blauäugig

Viel Spass noch

O Xénos

Verstehst du nicht?

Guter Geschmack

Wie doof ist das denn?

Magische Welt

Arme Nejla!

Er gehört dir!

What a beautiful name!

Offene Feindschaft

Das Robbenbaby

Ins Leere

Wo ist sie bloss?

Schwarz vor Augen

Es geht um Nejla

Der erste Schluck Wasser

Fast kitschig

Ich will doch nur …

Die erste Träne

Ganz und gar verrückt

Goldene Sprenkel

Es tut mir leid!

Keine Zeit

Ein gutes Gefühl

Damals

Wut im Bauch

Und was, wenn nicht?

Crêpes mit Schokoladensauce

Epilog

Danksagung

Prolog

Es ist weit nach Mitternacht, und ich sollte endlich schlafen gehen.

Aber ich komme nicht zur Ruhe. Zu vieles spukt durch meine Gedanken. Ich sitze am Tisch, vor mir mein Laptop. Lucie hat ihn mir heute geschenkt.

Man stelle sich vor: Zu meinem siebzehnten Geburtstag bekomme ich den ausrangierten Computer meiner drei Jahre jüngeren Schwester. Sie hat vor einem Monat das neue Modell bekommen. Dennoch: Mich juckt das nicht. Hauptsache, er funktioniert.

Andächtig öffne ich ein Dokument.

Die Idee alles aufzuschreiben, kam mir in dem Moment, als Lucie ihn mir feierlich überreichte.

Gedankenverloren greife ich nach dem Bleistift, der vor mir auf dem Tisch liegt, und schiebe ihn mir zwischen die Zähne. Ich schaue auf das Fenster vor mir. Da ist nichts als Dunkelheit und das Licht meiner Schreibtischlampe, das sich in der Scheibe spiegelt.

Zwei Jahre sind vergangen seit jenem Sommer, der wie ein ­Tsunami über mein Leben hinweggefegt ist. Ich fühlte mich in jenen Wochen, als wäre ich Zuschauerin in meinem eigenen Leben.

Auch jetzt scheint alles ein Traum zu sein. Dann wieder ist jede Einzelheit deutlich vor meinen Augen.

Wo wäre ich in diesem Moment, wenn all das nicht passiert wäre?

Niemand weiss das. Am allerwenigsten ich selbst.

Wo soll ich beginnen? Heute vor zwei Jahren?

An meinem fünfzehnten Geburtstag brach die Welt über mir zusammen.

Ich kaue an meinem Bleistift und runzle die Stirn.

Im Grunde begann alles schon viel früher.

Den Tag, an dem Tiffany und Caroline mich in die Zange nahmen, kann ich nicht vergessen.

Angeekelt spucke ich in ein Kleenex. Abgeblätterte Farbe klebt an meiner Zunge. Ich lege den aufgeweichten Stift auf den Tisch zurück und überlasse mich meiner Erinnerung.

Teil 1

Zu spät

Ich wälzte mich im Bett hin und her, stellte den schrillen Wecker auf Pause. Immer wieder. Bis es mir dämmerte, dass in diesem Moment ein paar Strassen weiter die Schulglocke zur ersten Stunde klingelte.

Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett, sammelte die Kleider vom Boden und fuhr mit gespreizten Fingern durch meinen zer­zausten Schopf. Mein Blick flog hektisch über das Durcheinander.

Verdammt, wo steckten meine Schulsachen von gestern?

Ich stürmte aus dem Zimmer und stolperte dabei über die dunkelblaue Plastiktüte.

Erleichtert stiess ich den Atem aus. Keine Zeit mehr darüber nachzudenken, dass ich sie nicht einmal herausgenommen, geschweige denn angeschaut hatte.

Wir hätten für heute einen Aufsatz schreiben müssen: Meine Sommerferien stehen bevor. – So ein Schwachsinn! Erstens waren es noch ganze sechs Wochen bis dahin. Zweitens war das etwas für die ganz Kleinen. Die Schüler aus der Primarklasse fanden es vielleicht spannend sich auszumalen, wie sie die Sommerferien verbringen würden. Und ja, Tiffany, die fand das bestimmt ebenso toll. Sie reiste mit ihrer Familie jedes Jahr an einen coolen Ort, mit dem sie vor der Klasse angeben konnte.

Dieser Aufsatz.

Ich hatte mir vorgenommen, wenigstens ein paar Sätze zu Papier zu bringen.

Die Huber hatte mich schon mehrmals verwarnt. Gerade gestern hatte sie mich wieder zur Seite genommen, mich mit diesem strengen Blick fixiert. Ihrem Blick, der so gar nicht zu ihrem runden Schweinchengesicht passte. Ich durfte nicht nochmal ohne Aufgaben zur Schule kommen, ich durfte mich auf keinen Fall mehr verspäten, sonst …

Sie hatte den Satz nicht beendet.

Im Wohnzimmer schlief Angie, meine Mutter, auf dem zerschlissenen Sofa. Ihr Arm hing herab und sie schnarchte, den Mund leicht geöffnet. Im Halbdunkel stieg ich über die am Boden zerstreuten Videofilme und zwei halbvolle Kaffeetassen und machte den Fernseher aus.

Bevor ich das Haus verliess, warf ich einen raschen Blick in den kleinen metallgerahmten Spiegel, der im Korridor an der Wand hing. Der Lidstrich von gestern war noch da, wo er sein sollte. Auch die Mascara schien nicht verschmiert. Ich griff nach dem Plastiksack, ohne nachzusehen, was wirklich drin war und hastete die beiden Treppen hinunter.

Dann stieg ich auf mein Fahrrad, und da fiel es mir wieder ein: Der Reifen war fast platt. Scheisse! Auch das noch. Hoffentlich war es nur der Scherz irgendeines Schwachkopfs von der Schule und kein richtiges Loch.

Ausser Marcus, unseren – pardon – Lucies Vater, kannte ich niemanden, der es reparieren würde. Aber ihn wollte ich auf keinen Fall darum bitten. Ich hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesehen. Genauer gesagt seit dem Tag, an dem ich Angie und Gromama belauscht hatte. Sie glaubten vermutlich, ich wäre nicht da. Oder sie dachten, ich höre sie nicht, weil ich zu Hause meistens mit Kopfhörern rumlief. Vielleicht hatten sie in dem Moment auch einfach meine Existenz vergessen. Obwohl sie im Grunde von mir sprachen.

Sie stritten lautstark über etwas, das nicht für meine Ohren bestimmt war.

Aber das war eine andere Geschichte.

Wenn ich jetzt zu Fuss gehen musste …

Kurz entschlossen stieg ich auf und fuhr los, so schnell es mit dem beinah platten Reifen möglich war. Es rumpelte grauenhaft. Ich folgte unserer Strasse hinunter, dann alles geradeaus, bis ich nach links in eine von Pappeln gesäumte Allee abbog. An deren Ende lag das hässliche Betongebäude. Seit einem Jahr hatten wir da Unterricht, denn unser altes Schulhaus wurde renoviert.

Ich war früher auf der anderen Seite des Rheins zur Schule gegangen, mitten in der Altstadt. Das Gebäude hatte den feuchtkalten Geruch von alten Häusern verbreitet, den ich so liebte. Es machte mir nichts aus, jeden Tag mit Bus und Tram zu fahren. Im Gegenteil. Ich war froh darum, weil ich so über Mittag meistens nicht nach Hause kommen konnte.

Und dann wurden wir letztes Jahr hierher verlegt, weil in ganz Basel nur gerade dieses Gebäude zur Verfügung stand. Mir behagte das gar nicht. Es war, als wäre die ganze Klasse mitsamt der Lehrerschaft in mein Revier eingebrochen, in meine Welt, die ich mit niemandem teilen wollte, von der nie jemand erfahren sollte.

Ich warf einen Blick auf die Uhr, die wie ein Wächter über dem angrenzenden Basketballplatz thronte. Es war hoffnungslos! Ich war eine volle Viertelstunde zu spät. Selbst wenn Schweinchengesicht wie sonst meistens später gekommen war: Jetzt war sie bestimmt längst in der Klasse.

Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre gegangen. Bloss nicht in das Schulhaus.

Langsam stieg ich die beiden Treppen zum Klassenzimmer hoch. Es hatte keinen Sinn mehr, mich zu beeilen. Ich straffte meine Schultern und klopfte kurz, bevor ich die Tür öffnete. Die Huber würdigte mich keines Blickes, als ich eintrat. Und das verhiess nichts Gutes. Es war schlimmer als eine ihrer scharfen Bemerkungen.

Ich murmelte eine Entschuldigung, die niemand verstand, und schaute weder rechts noch links, während ich zu meinem Platz ganz hinten schlich. Die Klasse folgte mir mit den Augen. Einige begannen zu tuscheln, andere kicherten. Wie ich sie alle hasste!

Brandmal

In der letzten Schulstunde hatten wir den Follaci. Er war einer unserer coolen Lehrer, um die vierzig, immer lässig gekleidet, mit auffällig dunklem Haar. Es war offensichtlich, dass er es färbte, aber das störte niemanden. Mit seiner legeren Art kam er sowohl bei den Jungs als auch bei den Mädchen an.

Follaci hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ich in seinem Fach gut war, also hatte er wohl beschlossen, mich zu mögen. Wir hatten heute die Aufgabe, mit Acrylfarben zu malen. Frei «aus der Seele heraus», wie Follaci es ausdrückte. Ich tauchte den Pinsel in die Farben, vermischte sie, strich mechanisch über das Blatt. Was wohl Schweinchengesicht im Schilde führte? Als sie uns nach den zwei Stunden Geschichte und einer Stunde Deutsch in die Pause entlassen hatte, hatte ich ihren forschenden Blick auf mir gespürt. Wieder hatte sie kein Wort gesagt.

Die Farben vermengten sich.

Tiffany schlenderte wie zufällig an meinem Tisch vorbei. In der Hand hielt sie ihr buntes Werk. Sie blieb aufreizend lange neben mir stehen und betrachtete mein Bild, das inzwischen ein einziger braunschwarzer Klecks war.

«Na, Nejla?», sagte sie mit spöttischem Lächeln. Blitzschnell schnappte sie sich mein Blatt und hielt es hoch, mit spitzen Fingern und angeekeltem Gesicht. Triumphierend schaute sie in die Runde.

«Schaut euch dieses Meisterwerk an!», sagte sie laut und liess es eine Sekunde später los, so dass es am Tisch vorbei zu Boden segelte. Ohne ein weiteres Wort ging sie nach vorne, um Follaci ihr Bild zu zeigen.

Ich bückte mich und hob das Blatt auf. Ich fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen. Das würde ich ihr heimzahlen! Vor der ganzen Klasse hatte sich mich angemacht. Wieder einmal. Und ich war wie gelähmt, wusste nicht, was ich antworten sollte. Wieder einmal. Ich zitterte vor Wut.

Endlich ertönte die erlösende Schulglocke. Die Klasse drängelte hinaus, aber Tiffany schien keine Eile zu haben. Sie kam ganz nah an mir vorbei, Caroline im Schlepptau.

«Worauf wartest du?», fragte sie mit süsser Stimme und kräuselte ihre Lippen. Ihr Anhängsel grinste hämisch dazu.

Tiffany war erst seit einem Jahr in unserer Klasse, aber schon nach kurzer Zeit war sie der Star geworden. Alle bewunderten sie. Sie war gross, schlank, hatte langes, blondes Haar. Und reiche Eltern. Perfektes Styling. Immer die angesagtesten Klamotten. Caroline war nach kurzer Zeit zu ihrem Schatten geworden. Sie und die meisten anderen aus der Klasse würden alles tun, um sich bei ihr beliebt zu machen.

Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Irgendetwas an ihrer Stimme, an ihrem Blick, war anders heute. Vielleicht war es auch nur ein Hirngespinst von mir. Aber sicher war sicher. Ich würde hier drin warten, bis alle längst nach Hause gegangen waren.

Sorgfältig stellte ich sämtliche Stühle hoch. Heute würde geputzt, wie immer am Mittwoch. Follaci beobachtete mich: «Willst du nicht nach Hause gehen? Hier ist nun alles in Ordnung.» Er zog die Augenbrauen fragend hoch. «Oder nicht?»

Lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen als ihm zu gestehen, dass ich Angst hatte. Ich musste mich wohl oder übel auf den Weg machen. Als ich gleich darauf aus dem Schulhaus trat, blendete mich einen Moment die Sonne. Ich blieb stehen und schaute mich vorsichtig um. Der Schulhof war unübersichtlich, es gab nicht viel Platz zwischen den herumstehenden Mulden und Absperrungen. Überall wurde renoviert, das Schulhaus nebenan war total ausgeräumt worden. Und in einem Jahr war dieses hier auch dran. Aber bis dahin wären wir eh’ nicht mehr da. Und ich schon gar nicht. Ich würde keinen Tag länger als nötig zur Schule gehen!

Ich überquerte den Vorplatz und ging vorsichtig durch den schmalen Korridor zwischen den Absperrungen bis zur Strasse. Nichts regte sich, und es waren keine Stimmen zu hören. Ich atmete hörbar aus. Ich hatte mir alles nur eingebildet.

Fehlanzeige!

Kaum trat ich auf den Gehsteig, tauchten sie wie aus dem Nichts auf und versperrten mir grinsend den Weg.

«Hast du Feuer, Nejla?», fragte Caroline. Dabei streckte sie mir ihre Zigarette entgegen.

«Nein, leider nicht», murmelte ich und hasste mich sofort für den unterwürfigen Ton in meiner Stimme. Ich wollte bloss weg von hier, so schnell wie möglich. Mein Fahrrad lehnte nur ein paar Meter weiter an der Bretterwand, welche die Strasse vom Schulhof trennte. Ich bemühte mich krampfhaft, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen und machte einen Schritt darauf zu.

«Warum so eilig? Bleib doch noch ein wenig, wir könnten uns unterhalten.» Sie folgte meinem Blick. Als sie den platten Reifen sah, prustete sie los.

«Ach so, deshalb so spät», sagte sie gedehnt. «Wär’ es nicht mal Zeit für ein Neues? Ach nein sorry, ich hab’s vergessen. Du hast ja nicht mal Kohle, um dein Fahrrad zu reparieren.»

Jetzt baute sich auch Caroline vor mir auf: «Hast noch aufgeräumt, was? Hast dich eingeschmeichelt beim Follaci? Ist ja auch der Einzige, der dich noch nicht aufgegeben hat, was?»

Ich zuckte die Achseln und machte noch zwei Schritte. Nun hatte ich das Fahrrad erreicht. Ich umklammerte die Lenkstange. Sie stellten sich wie eine Mauer vor mich.

«Lasst ihr mich durch?» Verdammt, das hatte jetzt wie eine Bitte geklungen.

Meine Wut schwoll an. Es fehlte nicht mehr viel und ich würde mein Fahrrad in sie hinein stossen. Ohne Rücksicht auf die Folgen.

Erst jetzt entdeckte ich die vier Jungs, die interessiert zuschauten. Sie standen etwas weiter weg, halb verdeckt im Schatten der Bäume, welche die Strasse säumten. Es waren ausgerechnet die angesagtesten Jungs aus unserer und der Parallelklasse. Einer davon, Liam, war erst kürzlich in unsere Klasse gekommen. Er hatte mit seiner Familie ein paar Jahre in Boston gelebt. Er war gross, blond, gutaussehend. Das fanden zumindest sämtliche Mädchen des Schulhauses – ausser mir. Ich hatte ihn von Anfang an nicht gemocht. Er sah aus, als wäre er direkt aus einer Modezeitschrift entstiegen. Mir waren solche Typen zuwider. Und er dachte wohl genauso von mir, nur umgekehrt. Mit meinem schwarzen Look, meinen Piercings, mit meinem gefärbten Haar war ich ihm ein Dorn im Auge. Es passte, dass gerade er sich die Szene mit hämischem Blick anschaute.

Aber nun sah ich noch etwas und das brachte mich vollends aus dem Gleichgewicht: Da war Marco. Er war halb versteckt hinter den anderen, und als er jetzt meinen Blick sah, schaute er beschämt in eine andere Richtung. Ausgerechnet er. Er war der Einzige im ganzen Schulhaus, der mich immer irgendwie unterstützt hatte. Wenn von irgendwoher eine Bemerkung über meine schwarzen Klamotten zu hören war und er gerade in der Nähe war, hatte er mir schon mehr als einmal zugezwinkert oder einfach nur den Angreifer stirnrunzelnd angeschaut. Mehr hatte er sich nie getraut, aber für mich war es genug. Er war selbst ein Aussenseiter, klein und dicklich, mit seiner runden Brille, gab er das klassische Bild eines unbeliebten Strebers ab. Dabei war er einfach nur ein Tüftler, ein Genie, der Mathe und Physik liebte. Nun stand er da, mit den anderen Jungs, und schaute zu, wie die beiden mich fertigmachten.

Caroline folgte meinem Blick. Die Jungs grölten und reckten die Daumen hoch. Wenigstens hier machte Marco nicht mit. Erst jetzt hatte auch Tiffany sie entdeckt, grinste ihnen zu und warf ihre langen blonden Haare zurück.

Den Moment nutzte ich aus. Ich stieg auf mein Fahrrad und schob es gleichzeitig etwas zurück, damit ich losfahren konnte. Aber die beiden waren schneller und hielten mich an der Lenkstange zurück. Sie lachten. «Hey, wo willst du denn hin?»

Ich hätte mich ohrfeigen können. Warum bekam ich bei den beiden immer weiche Knie?

Tiffany baute sich vor mir auf, während Caroline weiter das Fahrrad festhielt. «Du kleines Trauergör», zischte Tiffany. Dann weiteten sich ihre Augen. «Hast du etwa Angst? Ach nee, so was aber auch. Was soll ich nun mit dir anfangen?»

Plötzlich hörte ich einen Laut und im nächsten Moment spürte ich, wie etwas Nasses an meiner Wange hinunterrann. Ich brauchte eine Sekunde, bis mir bewusst wurde, dass Caroline mich angespuckt hatte. Der Ekel überschwemmte mein Gehirn und schaltete es aus. Ich sah nur noch rot. Ich liess das Rad abrupt los, hechtete auf sie zu und stiess mit dem Ellenbogen in ihre Brust, sodass sie nach hinten taumelte. Gleichzeitig fiel mein Fahrrad scheppernd zu Boden.

Jemand packte meine Arme, riss sie grob nach hinten und hielt sie mit eisernem Griff fest. Ganz nah an meinem Ohr ging sein Atem, der widerlich nach Kebab und Knoblauch roch. Das musste Kevin sein. Ein Blick zu den Jungs bestätigte meinen Verdacht. Sie waren inzwischen näher gekommen und lehnten keine drei Meter von uns an der Bretterwand. Kevin war nicht mehr bei ihnen und auch Marco war verschwunden. Suchend blickte ich mich um und entdeckte ihn auf der anderen Strassenseite, von wo er dem Geschehen zuschaute. Es war ihm anzusehen, dass er verabscheute, was sie taten. Und doch bewegte er sich nicht. Wie erstarrt stand er da.

«Los, gib’s ihr», sagte da Tiffany.

Caroline stellte sich mit wutblitzenden Augen vor mich hin. Sie holte aus und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. «Das ist für vorhin», bellte sie. Gleich darauf verpasste sie mir noch eine. «Und das ist für dein Kotzgesicht und deine miese Laune.»

Mit ihrem spitzen Schuh stiess sie mir ins Schienbein. «Und das ist, damit du lernst, wie man sich Tiffany und mir gegenüber benimmt.» Ihr Gesicht war hochrot geworden und aus ihrem Pferdeschwanz hatten sich helle Strähnchen gelöst. Sie war immer noch ausser sich. Sie holte zu einem weiteren Schlag aus.

«Okay, das reicht», machte da Tiffany und hielt Caroline am Arm zurück. «Lass mich», zischte Caroline. Sie war vor Wut bleich geworden. Sie brachte ihr Gesicht ganz nahe an meines, spitzte ihre Lippen und spuckte mich nochmals an. Der Sabber blieb in meinem Haar hängen.

Tiffany nickte Kevin zu. «Lassen wir sie gehen.»

Kevin lockerte den Griff und ich riss mich los. Mein Gesicht glühte und meine Wangen brannten immer noch von ihren Schlägen. Ich sah alles wie durch einen Schleier. Vergeblich versuchte ich, die Tränen wegzublinzeln und bückte mich nach meinem Rad. Der Lenker war verdreht und ich musste das Vorderrad zwischen meine Beine klemmen, um ihn in die richtige Position bringen. Die Blicke der anderen brannten in meinem Rücken.

Wie in Trance stieg ich auf und fuhr rumpelnd davon. Ich konnte nur hoffen, dass sie mir nicht folgten. Sie wussten nur zu gut, wo ich wohnte. Es war die ärmlichste Strasse des Quartiers. Ein hässlicher Wohnblock neben dem anderen säumte die Strasse, viele der winzigen Balkone waren vollgestopft und chaotisch. Bei einigen Wohnungen blieben die Storen dauernd geschlossen. Eine davon war unsere.

Ich fuhr die Strasse hinunter und bog nach rechts ab. Kurz vor der zweiten Kreuzung hörte ich hinter mir eine bekannte Stimme: «Autsch! Das tut weh!»

Ich schaute zurück. Hannah lachte mir fröhlich ins Gesicht. Sie hatte einen hochroten Kopf vor Anstrengung. Ich entdeckte Mitleid in ihrem Blick. War sie mir etwa nachgefahren? Hatte sie alles mitbekommen? Das hatte mir gerade noch gefehlt!

Hannah, die Nette, die immer guter Laune war; Hannah, das Kind der Klasse; Hannah, die Streberin. Meist fiel sie in der Klasse nur auf, wenn sie wieder mal etwas wusste, wovon wir anderen keine Ahnung hatten. Vor allem in Mathe war sie unschlagbar. Hannah war trotz ihres Alters schon grösser als ich, und trug bestimmt zwei Kleidergrössen über meiner. Alles an ihr war ein wenig pummelig. Alles war so unschuldig an ihr. So uncool. Auch ihre Klamotten. Sie trug immer Jeans und ein nichtssagendes T-Shirt dazu.

Ihr haselnussbraunes Haar war das einzige wirklich Schöne an ihr. Denn obwohl es auch jetzt, wie so oft, zerzaust war, fiel es ihr in dicken Locken bis über ihre Schultern.

Sie deutete auf mein Fahrrad. «Du machst es kaputt, wenn du trotz Platten damit fährst, weisst du das nicht?»

«Und wenn schon», machte ich gleichgültig.

Dieses Mädchen hatte schon mehrmals versucht, mit mir ins Gespräch zu kommen. Ich musste sie unbedingt abschütteln.

«Hör mal, ich muss gehen», sagte ich so gelassen wie möglich. Dabei spürte ich die Spucke immer noch wie ein Brandmal auf meiner Wange. «Die warten zu Hause auf mich.» Das war eine deftige Lüge. Oder auch nicht, wenn man bedachte, dass meist ich diejenige war, die sich um das Mittagessen kümmerte.

Ich schlug mir an die Stirn. Das Brot! Beinahe hätte ich vergessen, dass ich noch welches besorgen musste!

«Lass mich in Ruhe. Ich hab’s eilig!», rief ich und fuhr Hannahs Warnung zum Trotz mit vollem Tempo davon.

Mist! Die Bäckerei hatte schon geschlossen. Es war nach halb eins. Nun, dann musste es eben ohne gehen.

Vielleicht fanden sich noch ein paar Nudeln zu Hause.

Schwarze Spuren

Den ganzen Nachmittag über blieb ich in meinem stickigen Zimmer. Das Fenster öffnete ich nur ein einziges Mal und schloss es gleich wieder, als feuchtheisse Luft hereinströmte. Auf meinen Knien lag der Zeichenblock, aber ich hatte keine Energie. Nicht mal dafür. Ich setzte die Kopfhörer auf und drehte die Lautstärke des alten iPods auf das Maximum. Die Auswahl an Songs war beschränkt. Ich hatte seit Monaten keine neue Musik draufgeladen. Nicht, nachdem Angie die Internetbox in ihre Teile zerlegt hatte.

Ich hatte meine Mutter eines Tages am Tisch sitzend vorgefunden, ein Wirrwarr aus Elektroteilen vor sich. Aufgeregt hatte sie an etwas herumgeschraubt und dabei vor sich hin gemurmelt. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was sie da tat. Ich schrie sie an und versuchte, ihr das Telefon zu entreissen. Sie wehrte sich mit einer Kraft, die ich ihr nicht zugetraut hätte.

«Unterstehe dich», zischte sie. Ihr Gesicht war wutverzerrt.

Erst jetzt konnte ich sehen, was sie da alles auf der Suche nach einer Wanze auseinandergeschraubt hatte: Handy, Internetbox, sogar den Computer hatte sie auseinandergenommen. Danach war alles kaputt. Ein billiges Telefon war schnell wieder beschafft, aber das Internet konnten wir seither vergessen.

So etwas hatte ich schon einmal erlebt, drei Jahre zuvor. Kurz darauf war Angie für zwei Monate verschwunden. In einer Klinik. Aber dieses Mal war es nicht so weit gekommen. Immerhin war sie noch hier und schien einigermassen mit ihrer Angst leben zu können. Obwohl – vor ein paar Tagen hatte sie damit begonnen, die Steckdosen von den Wänden zu schrauben und zu untersuchen. Deshalb gab es im Wohnzimmer nur noch die eine Stehlampe, die etwas Licht verbreitete.

Die Songs konnten die Wut nicht aus meinen Gedanken schwemmen. Ich ging mehrere Male ins Bad, um mein Gesicht abzuwaschen. Ich wurde das Gefühl der Spucke auf meinen Wangen nicht los.

Lucie, meine Schwester, streckte den Kopf herein. «Was hörst du?», fragte sie grinsend. «Wieder diesen Sheeran?»

«Geht dich nichts an», fuhr ich sie an, aber ich fühlte, dass ich rot wurde.

Lucie verzog das Gesicht. «Ich werde nie kapieren, warum du dir ausgerechnet Ed Sheeran reinziehst. Diesen Schmalzkotzbrocken.»

«Raus!», schrie ich, lauter als beabsichtigt.

Einen Moment sah es so aus, als wollte sie sich auf mich stürzen. Für sie war es ein Spass, ein willkommener Zeitvertreib, wenn sie mit mir herumbalgen konnte. Aber sie schien zu merken, wie bitterernst es mir war. Vielleicht hatte sie auch meine verheulten Augen gesehen. Jedenfalls verschwand sie genau so schnell wie sie aufgetaucht war. Die Tür schloss sich leise wieder.

Ich lehnte mich zurück und streifte die Kopfhörer ab. Ich hatte plötzlich genug. Keine Ahnung, warum ich mir immer diese Songs hereinzog. Draussen dachten alle, dass ich nur Heavy Metal oder Gothic hörte. Wegen meiner Klamotten. Und ich tat nichts, um sie eines Besseren zu belehren. Es ging niemand etwas an, was für Musik ich hörte. Diese Songs drehten sich zwar auch um Liebe, vor allem aber um Freiheit. Und die ging mir über alles.

Meine Mutter mischte sich selten in etwas ein, was Lucie und mich betraf. Sie liess uns völlige Autonomie. Meist bemerkte sie uns nicht mal.

In der Schule jedoch war es anders. Das Schlimmste war meine Angst. Solange ich vor einigen meiner Mitschüler Schiss in der Hose hatte, würde ich niemals frei sein. Niemals.

Und es wurde von Jahr zu Jahr ätzender. In den letzten Monaten war es beinahe unerträglich geworden. Tiffany und Caroline hatten mich auf ihrem Schirm, seit Tiffany in unserer Klasse war. Und da mich schon vorher keiner gemocht hatte, hatte sie keine Mühe, ihren Hass an mir auszuleben. Es schien, als hätte die Klasse nur darauf gewartet.

Der Nachmittag kroch vorüber, und als es endlich Nacht wurde, legte ich mich aufs Bett, so, wie ich war. Wie gerne hätte ich jetzt eine dieser Tabletten genommen, die Angie manchmal in jenen Zustand versetzten. Sie lag dann einfach herum und nahm nichts mehr wahr. Irgendwann mitten in der Nacht stand ich auf und suchte in der Küche danach. Die Schachtel mit den orangefarbenen kleinen Tabletten lag geöffnet auf der Theke. Langsam presste ich eine davon aus dem Blister und legte sie behutsam auf meine Zunge. Aber bevor ich sie runterschlucken konnte, hatte ich sie auch schon wieder ausgespuckt. Sogar davor hatte ich Angst.

Am nächsten Morgen wachte ich schweissgebadet auf. Die Nacht war voller Albträume gewesen. Ich stand auf, obwohl es noch viel zu früh war, und stellte mich erst mal unter die Dusche. Das heisse Wasser lief über meinen Körper, aber es half mir nicht, meine Gedanken zu beruhigen. Die Schule war mir noch nie so zuwider gewesen. Lieber wäre ich gestorben, als mich heute dort blicken zu lassen.

Ich stellte die Dusche ab und griff nach einem Duschtuch. Ein leichter Geruch nach Schimmel stieg mir in die Nase. Himmel, es war so feucht hier drin! Danach ging ich auf Kleidersuche. Ich durchwühlte meine Sachen nach den schwarzen Jeans, die über das ganze linke Bein von Löchern durchzogen waren, aber ich konnte sie nirgends finden. Hastig zog ich mein Skelett-Shirt über den Kopf und setzte meine Suche im Wohnzimmer fort. Meine Mutter schlief tief und fest. Sie hatte überhaupt nichts mitbekommen, und das war mir nur Recht.

Wahllos griff ich in den Wäscheberg. Angie hatte gestern in einem Anfall von Betriebsamkeit mehrere Waschmaschinen voll gewaschen und im Tumbler getrocknet. Danach war alles auf dem Tisch im Wohnzimmer gelandet. Jemand würde es dann schon wegräumen.

Endlich fand ich das Gesuchte. Dann warf ich einen Blick auf die grosse Wanduhr, die über meinem Kopf tickte. Ich hatte Lucie vergessen! Ich tappte in den dunklen Korridor und polterte an die Tür. «Aufwachen! Es ist schon spät!»

«Lass mich in Ruhe.»

«Du stehst sofort auf, sonst …»

Lucie antwortete nicht. An einem anderen Tag hätte ich sie mit Gewalt aus dem Bett gezerrt. Aber heute hatte ich nicht die Kraft dazu.

«Hör mal, Lucie, ich bin heute Mittag nicht da. Falls Angie fragt, sagst du ihr, wir hätten ein Projekt und müssten in der Schule bleiben, verstanden?»

Aus dem Zimmer kam ein unverständliches Grunzen.

«Lucie? Hast du mich gehört?»

Ich gab es auf. Es war scheissegal, ob sie mich gehört hatte oder nicht. Sollte sie doch machen, was sie wollte. Ich hatte heute überhaupt keinen Bock auf kleine Schwestern.

Ich durchsuchte die Küche nach etwas Essbarem, das sich mitnehmen liess. Meinen Fund, einen Apfel und eine halbe Tafel Schokolade, stopfte ich in die nächstbeste Plastiktasche. Dazu zwängte ich zwei leere Flaschen aus dem vollen Aldikarton in die Tüte. Die konnte ich auf dem Weg in den Glascontainer werfen. Wenn ich nicht dran blieb, musste ich mich irgendwann mit mehreren vollen Taschen dahin schleichen und sie entsorgen. Das dauerte eine Ewigkeit! Ich war schon fast an der Tür, als ich wieder umkehrte. Ungeduldig zerrte ich die beiden Flaschen raus und schmiss sie mit lautem Klirren zurück zu den anderen. Als wäre das jetzt wichtig.

Mein Fahrrad war noch dort, wo ich es abgestellt hatte. Unverschlossen. Keiner würde sich die Mühe machen, diesen Schrottesel zu klauen. Ich hob es die fünf Stufen hoch und stieg auf. Einen winzigen Moment zögerte ich noch, aber dann fuhr ich entschlossen nach rechts bis ans Ende unserer Strasse. Dort bog ich in eine etwas breitere Quartierstrasse, die ansonsten fast gleich aussah wie die unsrige mit den mehrstöckigen, hässlichen Häusern. Auf der linken Seite ragte ein grosses Fabrikgebäude hinter einem hohen Zaun empor. Danach fuhr ich auf dem Gehsteig hinunter bis zur Wiese, einem Zufluss des Rheins.

Mein Fahrrad liess ich achtlos ins Gras fallen. Ein schmaler Streifen Grün verlief an beiden Ufern flussaufwärts, bis zur Grenze nach Deutschland und darüber hinaus. Links und rechts davon gab es Wald, abwechselnd mit Schrebergärten und Entenweihern. Das Dröhnen von den Autobahnbrücken her, die hier kreuz und quer über den Fluss führten, übertönte alles andere. Wenn ich hier sass, die Augen schloss und innerlich ganz wegdriftete, fühlte ich mich, als wäre ich irgendwo in einer wirklich grossen Stadt.

Unter der riesigen Stahlbrücke war mein Lieblingsplatz. Das stählerne Gebilde wirkte fast bedrohlich, wie es da, von Rost überzogen, über dem Wasser hing. In der Stützmauer gab es diese Nische, in die ich mich jeweils verkroch, genau in der Mitte unter der Brücke. Dorthin gelangte am wenigsten Licht, und ich war ungestört. Man konnte mich nur entdecken, wenn man genau hinsah. Ich prüfte kurz, ob sie sauber war. Es war mir nur einmal passiert, dass ich mich hineingesetzt hatte, ohne nachzuschauen. Ich hatte es sogleich bitter bereut, als ich neben mir in etwas Weiches griff. Ich war zur Wiese runtergelaufen und hatte meine Hand eine Ewigkeit ins Wasser gehalten. Dennoch hatte ich danach noch zwei Tage lang den Geruch nach Hundekot in meiner Nase.

Heute würde es noch heisser werden als gestern. Aber jetzt, so früh am Morgen, fröstelte mich unter der kühlen Stahlbrücke. Ich zog die Knie an, schlang meine Arme darum und liess mich von den alles übertönenden Geräuschen um mich herum wegtragen.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon dagesessen hatte, als es mir wie ein Blitz durch meine Gedanken fuhr: Wir hatten die Dupont heute in der dritten Stunde und sie hatte einen Test angekündigt!

Schweinchengesicht hatte mir erst vor ein paar Tagen gesagt, ich dürfe bis zu den Sommerferien keinen einzigen Test mehr verpassen, sonst würde sie höchstpersönlich bei mir zu Hause aufkreuzen und meine Mutter davon in Kenntnis setzen. Genauso hatte sie sich ausgedrückt. «In Kenntnis setzen.» Als ob das irgendetwas geändert hätte.

In meinem Kopf hämmerte es. Die Vorstellung, dass einer meiner Lehrer oder gar Schweinchengesicht selbst bei mir zu Hause auftauchen würde, wurde immer grösser und bedrohlicher. Bis ich es nicht mehr aushielt. Ich musste zur Schule und retten, was noch zu retten war.

Ich lief, wurde immer schneller. Ich bückte mich nach meinem Schrottesel und stellte ihn auf. Der Reifen schien noch weniger Luft zu haben und automatisch musste ich an Hannah denken. Die hatte Sorgen! Als wäre eine Acht im Rad das Wichtigste in meinem beschissenen Leben.

Erst als ich mein Fahrrad an die Bretterwand vor der Schule stellte, schaute ich zur Schulhausuhr hoch. Ich war losgefahren, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie spät es unterdessen geworden war. Gleich würde die Pause beginnen. Danach war Dupont angesagt.

Als es kurz darauf klingelte, überkam mich die Panik. Ich schaute mich um, suchte nach einem Ort, an den ich mich ungesehen verkrümeln konnte. Die Schüler strömten schon scharenweise in den Hof.

«Hey, Nejla, wo hast du gesteckt?» Hannah kam direkt auf mich zu. Sie schaute mich mit diesem unerträglich unschuldigen Blick aus ihren haselnussbraunen Augen an. «Geht’s dir gut?»

«Lass mich doch in Ruhe», fuhr ich sie an.

Sie blieb stehen und sah mich an, als müsste sie sich vergewissern, ob ich es ernst meinte. Dann lehnte sie sich schweigend neben mir an die Schulhausmauer. Ich wagte nicht, mich fortzubewegen, aus Angst, die Aufmerksamkeit von Tiffany und Co. zu wecken. Aber die waren am anderen Ende des Schulhofes und bemerkten mich nicht einmal.

Als es klingelte, hastete ich nach oben in das Klassenzimmer von Madame Dupont. Hannah folgte dicht hinter mir. «Du hast nichts dabei», sagte sie beinahe vorwurfsvoll und kramte gleichzeitig in ihrer Tasche.

«Da.» Sie reichte mir zwei Stifte und einen Block.

Ohne ein Danke griff ich danach und liess mich in der hintersten Reihe in einen Stuhl gleiten. Die Dupont war bereits im Zimmer und kritzelte etwas in ihre Unterlagen.

Tiffany und Caroline waren die Letzten, die hereinkamen, und ihre Augen weiteten sich erstaunt, als sie mich sahen. Aber sie sagten nichts. Zu gross war ihr Respekt vor der Dupont.

Der Test lief genauso wie erwartet. Ich hatte die Verben nicht gelernt und hatte keine Ahnung, was die Dupont von uns wollte. Bis zum Schluss tat ich, als wäre ich schwer beschäftigt.

«Ich sammle jetzt die Tests ein und ihr könnt zusammenpacken und gehen», sagte die Lehrerin kurz vor der Pause. An meinem Tisch blieb sie stehen und sagte viel zu laut: «Nejla, du bleibst noch hier, ich muss mit dir reden.»

Verdammt, was war jetzt los? Hatte das etwas mit gestern zu tun? Oder weil ich heute zwei Stunden versäumt hatte? Fast hoffte ich, es wäre Letzteres. Ich konnte Kopfweh vortäuschen. Sie würde mir ohne weiteres glauben. Zum Test war ich dagewesen und das war alles, was einem Pauker wichtig war.

Ich sah die Augen von Tiffany spöttisch aufblitzen, und beim Hinausgehen grinste sie mich an. Caroline ihrerseits platzierte unauffällig einen schmerzhaften Puffer in meine Seite, als sie sich hinter mir vorbei drängte. «Hey, schwarzer Tod», flüsterte sie mir ins Ohr.

Langsam packte ich meine Sachen zusammen und wartete, bis alle andern das Klassenzimmer verlassen hatten.

Madame Dupont sah mich an. «Nun, Nejla, wie geht es dir?»

Dupont. Was für ein passender Name für eine Französischlehrerin. Sie sah gut aus mit ihren blonden, geraden Haaren, die ihr vorne schräg ins Gesicht fielen. Sie war schlank, sportlich gekleidet und immer gut drauf. Man hatte Respekt vor ihr, denn sie war strenger als die meisten anderen Lehrer hier.

Ich sagte nichts, schaute sie nur herausfordernd an.

«Ist bei dir alles in Ordnung?»

Wir hörten sie selten Deutsch sprechen und mir fiel auf, dass sie mit einem starken Akzent sprach. Was würde sie sagen, wenn wir so Französisch reden würden?

Als ich nicht antwortete, fuhr sie mit einem Seufzer fort: «Ich habe gehört, bei dir zu Hause läuft nicht alles so, wie es sollte. Stimmt das? Du kannst es mir ruhig sagen, es wird nichts von dem, was du hier sagst, aus diesem Klassenzimmer hinausgelangen, das verspreche ich dir.»

«Alles ok, was soll schon sein?»

«Ich möchte ganz ehrlich sein, ja?» Sie schaute mich mit ernsten Augen an. «Es gibt Gerüchte.»

Wovon sprach sie?

Sie fuhr mit leiser Stimme fort: «Du musst oft zu deiner Mutter und deiner Schwester schauen, nicht wahr? Und stimmt es, dass eure Wohnung, nun, sagen wir, nicht ganz so aussieht, wie das normalerweise der Fall sein sollte? Deine Mutter scheint auch sehr oft krank zu sein.»

Wie bitte?! Woher hatte sie das? Wer hatte ihr das gesteckt? Keiner durfte so über mein Zuhause sprechen, und keiner durfte mit mir reden, als wäre ich ein bemitleidenswertes kleines Kind.

«Nun?»

«Was?» Ich funkelte sie wütend an.

«Vielleicht wäre es gut, wenn du mir ein wenig erzählen würdest. Wenn ich kann, möchte ich dir gerne helfen.»

«Helfen?» Meine Stimme triefte vor Sarkasmus. «Sie wollen doch nur, dass niemand aus der Reihe tanzt. Alles soll schön ordentlich sein und bitteschön so, wie Sie es sich vorstellen.»

«Nejla, darum geht es doch gar nicht.» Sie seufzte. «Du kannst mir vertrauen. Ich verspreche dir, dass ich nicht nichts weitererzählen werde. Nur: Helfen kann ich nicht, wenn du dich mir gegenüber nicht wenigstens ein kleines bisschen öffnest.»

Wieder seufzte sie und schaute mich mit diesem mitleidigen, verständnisvollen Blick an.

«Mir geht’s gut. Mir geht’s sogar sehr gut», stiess ich hervor. «Und Lucie ebenso. Wir haben alles, was wir brauchen. Was wollen Sie überhaupt? Was wollen alle von uns? Es geht doch einzig und alleine darum, dass ihr alle nicht ertragen könnt, wenn es mal irgendwo nicht genau nach eurer Vorstellung läuft. Dann wird sofort herumgegackert und immer mal wieder kommt einer, der uns in ein Heim stecken will.» Ich hielt atemlos inne, geschockt über meinen eigenen Ausbruch.

Die Dupont schaute mich an. Sie wusste offensichtlich nicht, was sie antworten sollte.

«Dann hab ich also Recht?», sagte ich und streckte herausfordernd das Kinn. «Geht es darum? Sie wollen uns in ein Heim stecken? Natürlich, ich sehe es Ihnen an. Und das nennen Sie helfen?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nichts liegt mir ferner als das. Ich halte davon auch nichts. Aber vielleicht hast du mal das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen.» Sie hob hilflos die Schultern. «Ich bin in deinen Augen steinalt und erst noch deine Lehrerin. Aber du sollst wissen, dass du zu mir kommen kannst, wenn du Hilfe brauchst.» Madame Dupont machte einen Schritt auf mich zu und strich leicht über mein Haar. «Ich weiss genau, wie du dich fühlst», sagte sie leise, wie zu sich selbst.

Das brachte mein Fass zum Überlaufen. Ganz plötzlich kamen die Tränen. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Die Dupont erschrak erst ein wenig, zögerte, aber dann trat sie noch näher, legte ihre Arme um mich und zog mich sanft an sich. Wir verharrten eine ganze Weile schweigend. Es war ein seltsam tröstendes Gefühl, so zu stehen, ihren blumigen Parfumduft in der Nase.

Als mein Schluchzen verebbte, liess sie mich los und hielt mir ein Taschentuch hin.

«Hör mal», begann sie zögernd, «ich denke, ich schulde dir die Wahrheit. Denn es ist tatsächlich mehr als nur ein Gerücht. Deine Schwester heisst Lucie, nicht wahr? Es gibt da einen Bericht von der Schule deiner Schwester. Wie ich vernommen habe, wird es wohl ein paar Untersuchungen geben.»

«Untersuchungen?»

«Das heisst, sie wollen prüfen, ob du und Lucie vielleicht besser in einem Heim aufgehoben seid. Wenigstens vorübergehend.»

Ich riss entsetzt die Augen auf: «Haben Sie …?»

Sie schüttelte den Kopf, hielt mich an den Schultern und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. «Glaube mir Nejla: Ich habe versucht, abzuwiegeln, sie davon abzubringen. Aber die Untersuchungen sind bereits in Gang. Ich konnte es nicht verhindern.»

Heftig machte ich mich los. «Niemals, hören Sie, NIEMALS werde ich einen Schritt in ein Heim machen. Ich lasse mich nicht einsperren. Und Lucie auch nicht. Das können Sie sich sonstwohin …» Ich riss die Tür auf. Sie erwischte mich am Ärmel und zog mich unsanft zurück. «Nejla, warte. Schau mich an. Glaub mir, ich weiss, wie sich das anfühlt. Dennoch möchte ich, dass du es dir wenigstens überlegst: Was du jetzt für Freiheit hältst, ist in Wahrheit vielleicht das Gegenteil.»

Ihre Stimme hallte in meinen Ohren. Meine Gedanken wollten sich überschlagen. Ich konnte ihr nicht in die Augen schauen und fixierte stattdessen ihre Bluse. Mit einem Mal dämmerte mir, woher die seltsamen schwarzen Flecken stammten. Scheisse! Madame Dupont folgte meinem Blick. Sie hielt einen Moment inne und zuckte gleich darauf mit den Schultern: «Macht nichts, ich hab was zum Umziehen hier.» Sie deutete auf ihren schicken ledernen Rucksack. Dann wühlte sie mit der Hand darin herum und förderte einen kleinen Spiegel zu Tage. «Da, nimm, und stell dich erst mal wieder her.»

Mechanisch nahm ich den Spiegel entgegen und versuchte, so gut es ging, meine Wangen zu säubern. Meine Tränen hatten schwarze Spuren hinterlassen. Die Augen waren rot und geschwollen und die Mascara total verschmiert.

«Nejla, es muss ja nicht zum Schlimmsten kommen. Und du kannst dich immer an mich wenden, hörst du? Wenn irgendetwas ist, darfst du mich anrufen, egal wann.» Ich hörte gar nicht richtig hin. Ich hörte nur ihr R, das sie nicht rollte, das sie am Gaumen aussprach, und das ‹U›, das mehr ein ‹Ü› war. Auch den französischen Singsang konnte sie nicht ablegen. «Ich gebe dir meine Karte, da stehen meine Telefonnummern und meine E-Mail-Adresse drauf. Komm einfach zu mir, wenn ich dir helfen kann oder du einen Rat brauchst.»

Ich zuckte die Achseln und stopfte mir die Karte in die Hosentasche. Da sollte mal einer schlau werden aus der Dupont.

Die nächste Schulstunde hatte bereits begonnen. Mathematik stand auf dem Plan. Das Zimmer lag gleich nebenan. Und da mir die Dupont nachschaute, blieb mir nichts anderes übrig, als dort nach einem kurzen Klopfen einzutreten. Sonst wäre ich gleich verschwunden. Hinter mir streckte sie den Kopf herein und bedeutete dem Stauffer, dass sie mich aufgehalten hatte.

Ich starrte die ganze Zeit in mein Matheheft und kritzelte Figuren. Meine Gedanken kreisten nur um das, was ich gerade erlebt hatte. Am Ende der Stunde gab es keinen freien Fleck mehr auf den beiden Seiten.

Nach der Schule verdrückte ich mich so schnell ich konnte. Tiffany und Caroline hatten mich heute kaum beachtet. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich ganz auf einen neuen Typ aus der Parallelklasse, der Tom hiess und ein absoluter Angeber war.

Ich war schon beinahe zu Hause, als ich hinter mir ein Keuchen hörte: «Nejla, warte.»

«Was willst du denn schon wieder?!»

«Ich wollte doch bloss mit dir zusammen nach Hause fahren. Wir haben fast den gleichen Weg, weisst du das nicht? Wir sind umgezogen und wohnen in der Nähe.»

«Lass mich in Ruhe, merkst du nicht, dass du störst?»

Hannah zuckte zurück. Sie zog ein beleidigtes Gesicht. «Nun, wenn du nicht willst, kann ich auch gehen.» Sie streckte ihr Kinn hoch. «Du kannst mich mal.»

Damit hob sie ihr Fahrrad und drehte es um hundertachtzig Grad. Das ist also doch nicht ganz dein Weg, dachte ich spöttisch.

Ganz plötzlich kam mir eine Idee.

«Hannah?»

«Was denn?»

«Hey, tut mir leid, ok? Hab im Moment ein paar andere Probleme.» Ich hob die Schultern und versuchte mich an einem treuherzigen Blick. «Wir können ja morgen mal zusammen nach Hause fahren, in Ordnung?» So etwas nannte man Arschkriecherei, aber mir blieb nichts anderes übrig. Wenn es dem Zweck diente …

Es schien zu wirken. «In Ordnung. Jeder hat mal Probleme.»

«Das kannst du laut sagen.»

«Wir könnten das von jetzt an jeden Tag machen, einverstanden? Ich meine: zusammen fahren. Ich wohne drei Strassen weiter in der Richtung.» Sie deutete nach Osten.

Ich verkniff mir eine hämische Bemerkung und zuckte mit den Achseln. «Bis morgen also.» Schnell drehte ich mich um und fuhr die letzten paar Meter bis zu meinem Block.

Was wollte Hannah ausgerechnet von mir? In der Schule war sie meistens alleine, nur mit Marco sah man sie ab und zu in der Pause reden. Sie war in einer christlichen Jugendgruppe. Daran konnte ich mich dunkel erinnern. Und sie hatte sich mir genähert, obwohl ich sie abwies. Plötzlich begriff ich. Leute wie sie wollten immer den anderen zu ihrem Glück verhelfen.

Egal. Ich hatte plötzlich wieder etwas Hoffnung. Hannah konnte mir noch nützlich sein.