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Werner Thuswaldner

Stille Nacht!
Heilige Nacht!

Die Geschichte eines Liedes

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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© der Erstausgabe 2002 Residenz Verlag, Salzburg – Wien – Frankfurt

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Sebastian Menschhorn unter Verwendung eines Fotos von Johann Hartl

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Inhalt

Vorwort

Weihnachten in Oberndorf

Kriegszeit, Notzeit, Aufklärung

Ort der Salzachschiffer

Turbulenzen der Geschichte

Die Kirche St. Nikola

Joseph Mohr

Franz Xaver Gruber

Die Verbreitung des Lieds

Die Fassungen

Urheberstreit

Ein ganz besonderes Lied

Mit anderem Text

Zum Gedenken

Bühne und Film

Schlussbemerkung

Anhang

Literatur (Auswahl)

Bildnachweis

Vorwort

So groß die Popularität des Weihnachtslieds »Stille Nacht! Heilige Nacht!« ist, so stark hat es die Fantasie vieler angeregt, die sich über seine Entstehung und Verbreitung Gedanken gemacht haben. Daher ist es kein Wunder, wenn sich viele, denken sie an Oberndorf, den Ort seiner Entstehung, ein kleines, verschneites, von der Welt abgeschnittenes Dorf irgendwo in den Alpen vorstellen. Dies würde gut damit übereinstimmen, dass ja auch Bethlehem, wo das Weihnachtswunder geschehen ist, wirklich kein Ort war, der zuvor im Mittelpunkt der damaligen Öffentlichkeit gestanden hatte. Die zwei Hauptbeteiligten, Josef und Maria, galten gewiss nicht als prominent, sondern als bescheidene Leute, von deren auf König David zurückreichendem Stammbaum vermutlich nur wenige Eingeweihte wussten.

Die Legende besagt, dass in Oberndorf bei Salzburg am Heiligen Abend des Jahres 1818 die Orgel versagt hätte. Den Grund dafür glauben die Legendenschreiber genau zu kennen: Mäuse hätten den Blasbalg der Orgel angefressen und damit das Instrument unbrauchbar gemacht. Zur vermeintlichen Naivität des Lieds wurde eine naive Geschichte erfunden. Die für die Kirchenmusik Zuständigen, der Organist Franz Xaver Gruber und der Hilfspriester Joseph Mohr, seien dadurch in größte Verlegenheit geraten. Die Lösung habe darin bestanden, schleunigst ein neues Weihnachtslied zu schaffen und es am Schluss gleichsam als Entschädigung für die vorangegangene stille Christmette feierlich aufzuführen – mit Gitarrenbegleitung, denn die Gitarre, ein Instrument, das üblicherweise dazu diente, bei weltlichen Gelegenheiten Musik zu machen, soll der lebenslustige Hilfspriester Mohr ohnehin stets mit sich herumgetragen haben.

Weil das aber nicht die ganze Geschichte sein kann, mussten noch andere Ausschmückungen her. Sie betrafen vor allem die beiden Hauptfiguren, Mohr und Gruber. Der trockenere, ein wenig biedere, sehr pflichtbewusste, musikbegeisterte, doch mit einem überschaubaren Maß an Ehrgeiz ausgestattete Gruber war dafür nicht ganz so ergiebig. Mohr dagegen erwies sich als ideal. Es beginnt schon mit seiner Familiengeschichte: Mohr war ein uneheliches Kind, und seine Mutter hatte noch weitere drei uneheliche Kinder, die alle von verschiedenen Vätern stammten. Was musste diese Frau für ein Leben geführt haben, was lässt sich ihr nicht alles an Pflichtvergessenheit und Liederlichkeit anhängen! Der Vater kann als nicht weniger pittoreske Figur dargestellt werden: ein fahnenflüchtiger Füsilier, der sich zeit seines Lebens nicht um seinen Nachwuchs kümmerte. Und dann: Mohrs Taufpate, Franz Josef Wohlmuth, war der letzte Scharfrichter von Salzburg, derjenige, der den Verurteilten, denen das Geständnis nicht selten unter Anwendung der Folter abgepresst worden war, mit dem Schwert den Kopf vom Rumpf trennte. Warum konnte Mohr, dem, weil er aus ärmsten Verhältnissen kam, der Weg eines Taglöhners vorgezeichnet war, gute Schulen besuchen, schließlich studieren und Priester werden? Das war nur möglich, weil er einen Förderer hatte. Einen uneigennützigen Förderer? An diesem Punkt ergeben sich gute Möglichkeiten für eine wuchernde Legendenbildung.

Mohrs gesundheitliche Konstitution war schlecht. Auch damit lässt sich für eine fantasiereiche Ausgestaltung der Figur etwas anfangen. Er war ein Priester, der sich unter die Leute mischte, mit ihnen am Wirtshaustisch saß und Geselligkeit schätzte. Daher musste er ja über kurz oder lang mit einem verknöcherten Vorgesetzten in Konflikt geraten. Überhaupt fällt auf, dass er sich nie länger an einem Ort aufhielt und immer wieder die Stelle wechselte oder vielmehr gezwungen wurde, sie zu wechseln. Die Erklärung der Legendenschreiber ist einfach: Schuld waren die fortwährenden Konflikte mit der Obrigkeit. Und dann war da noch etwas: In jedem Ort, so heißt es, gab es nicht nur mindestens eine Hexe, sondern auch die Dorfhure. Diese hatte nichts anderes im Sinn, als den jungen Priester auf Abwege zu bringen.

Auch zum Revolutionär konnte Mohr stilisiert werden, zu einem Mann, der sich furchtlos in die politischen Auseinandersetzungen der Zeit einmischte, der wie Robin Hood das Äußerste wagte, der selbstverständlich auf der Seite der Benachteiligten stand und der guten Sache zum Sieg verhalf.

Aber ist es wirklich nötig, so viel hinzuzudichten? Ist die Geschichte von der Entstehung und Verbreitung des Lieds »Stille Nacht! Heilige Nacht!« wirklich so armselig? Muss sie künstlich verbessert werden? Wenn man ein wenig genauer hinsieht, wird man sehr rasch merken, dass es der Zusätze und Verfälschungen gar nicht bedarf, weil die Umstände dramatisch genug waren. Allein die Zeit, in der das Lied entstand, hatte es in sich: Es waren Kriegs- und Notzeiten, die mit Verarmung und schweren gesellschaftlichen Erschütterungen einhergingen. Gerade die Menschen in Oberndorf, die vor allem von der Schifffahrt auf der Salzach lebten, wurden von der politischen Entwicklung existenziell betroffen. Oberndorf hatte bislang nur als Vorort der angesehenen Stadt Laufen existiert. Auf einmal fand sich der Ort durch eine frisch gezogene Staatsgrenze von der Stadt und dem Hinterland, mit dem er durch Jahrhunderte hindurch verbunden gewesen war, abgetrennt. Die Schifffahrt kam in eine Krise. Die 20 Kilometer von Oberndorf entfernte Stadt Salzburg verlor ihren Status als Residenzstadt und versank in die Bedeutungslosigkeit. Horden von Bettlern zogen von Haus zu Haus und ein Stadtbrand verschärfte die Not noch um einiges.

Zur Verelendung breiter Bevölkerungskreise trug der Ausbruch des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa 1815 im heutigen Indonesien bei. 150 Kubikkilometer Staub und Asche wurden in die Atmosphäre geschleudert und verteilten sich rund um den Erdball. Die Auswirkungen machten sich in weiten Teilen der Welt im Folgejahr und auch noch 1817 durch Missernten auf katastrophale Weise bemerkbar. 1816 wurde als das »Jahr ohne Sommer« bezeichnet. Die Getreidepreise verdreifachten und vervierfachten sich.

Mohr und Gruber fanden den richtigen Ton, um die Menschen zu trösten. Sie gaben der Hoffnung auf Frieden und Rettung Raum. Das geschah in einer allgemein gehaltenen, derart einfachen und berührenden Form, dass die Botschaft jedem verständlich war. So blieb ihre Wirkung nicht auf die Schiffer von Oberndorf, die zunächst gemeint waren, beschränkt, sondern konnte sich ausdehnen auf die Menschen in den Städten und weiter ausgreifen auf den europäischen Kontinent, weiter bis nach Übersee und in alle Welt.

Gruber war als Komponist ein Praktiker. Er überlegte genau, welche Ansprüche er an die Ausführenden in dem Dorf, wo er wirkte, stellen durfte. Sie waren sehr gering. Daher konnte das Lied, das er den Menschen gab, nur ein einfaches Lied sein. Es war leicht zu lernen und blieb jedem, der es hörte, gleich im Ohr. Das war für die Verbreitung die günstigste Voraussetzung.

War das Lied das Ergebnis eines genau nachvollziehbaren künstlerischen Schaffensakts oder war es ein Zufall, dass ein Welterfolg dabei herauskam? Gab es eine länger dauernde Zusammenarbeit zwischen Mohr und Gruber? Heute, im Medienzeitalter, kann ein Lied binnen kürzester Zeit weltweit bekannt werden. Was aber musste damals passieren, damit »Stille Nacht! Heilige Nacht!« vor 200 Jahren schon bald in Leipzig, Berlin und New York gesungen werden konnte?

Was erfährt einer, der nachfragt, wo die Kirche steht, in der das Lied zum ersten Mal erklungen ist? Wie sind die verschiedenen politischen Strömungen mit der außerordentlichen Popularität des Lieds zurechtgekommen? Was taten die Mächtigen, wenn es ihnen nicht in den Kram passte?

Es genügt also, in einem Buch über die Entstehung und Verbreitung des Lieds »Stille Nacht! Heilige Nacht!« bei den Fakten zu bleiben. Nichts anderes soll im Folgenden geschehen. Ob sich die Frage klären lässt, was die ungewöhnliche Wirkung des Lieds letztlich bis heute ausmacht?

Weihnachten in Oberndorf

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Franz Kulstrunk, Oberndorf mit der alten Kirche St. Nikola, Aquarell, 1903

Auf dem vereisten, schmalen Gehsteig gehen eingemummte Menschen dem Hinweisschild nach, das die Richtung zur Stille-Nacht-Gedächtniskapelle anzeigt. Autos, die meisten mit ausländischen Kennzeichen, suchen nach legalen oder illegalen Parkplätzen. Aber es scheint schon lang keine mehr zu geben. Bodenmarkierungen sind ohnehin nicht zu erkennen, denn es liegt ein halber Meter Schnee und die geräumten Flächen sind mit einer Eisschicht bedeckt. Es ist vier Uhr nachmittags. In dieser Zeit der kürzesten Tage und längsten Nächte des Jahres beginnt jetzt die magische »blaue Stunde«. Am Fuß des Kapellenhügels stehen Seite an Seite aus frischen Brettern gezimmerte Verkaufsbuden, die Speck, Süßigkeiten und vor allem heiße Getränke anbieten. Zarter Geruch nach Rum erfüllt die Luft. Schon eine Stunde vor Beginn der Feier sind viele Besucher da. Einige versuchen, einen Blick ins Innere der Kapelle zu werfen. Der Schnee knirscht unter ihren Füßen, wenn sie den Hügel hinaufgehen, doch da hat sich schon eine Schlange vor dem Eingang gebildet, weil das Innere der Kapelle nur eine Handvoll Besucher fasst. Das ist aber auch gar nicht das unbedingte Ziel für alle, die hierhergekommen sind. Um die Kapelle mit ihrer einfachen Ausstattung, den Glasfenstern, dem geschnitzten Altar und den paar Stuhlreihen von innen zu sehen, ist jeder andere Tag günstiger. Vielsagend ist das darin aufliegende Gästebuch, in dem die Menschen ihren Besuch dokumentieren. Sie schreiben Gebete hinein, drücken ihre enge Verbundenheit mit dem Lied aus, und wer weiter zurückblättert, wird aus den Eintragungen schließen können, dass dies hier für viele, die während des Sommers vorbeikommen, eine willkommene Station auf einem hunderte Kilometer langen Radweg ist, der den Fluss entlangführt. Das ist auch jene Route, auf der jahrhundertelang das Salz transportiert worden ist, denn die Salzach war lange Zeit der wichtigste Verkehrsweg des Landes.

Um sich ein Bild davon zu machen, muss man ein paar Schritte auf den Hochwasserdamm steigen. Er existiert in dieser Form seit den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Die Salzach beschreibt hier eine markante Schleife, sodass man meinen könnte, die Stadt Laufen am anderen Ufer befände sich auf einer Insel. Jetzt benimmt sich der Fluss ganz unschuldig. Es ist unvorstellbar, wie sich auf diesem niedrigen Wasser ein Schiff fortbewegen soll. Könnte es auch nicht. Im Winter ist der Pegelstand viel zu niedrig. Während des Winters musste der Salztransport ruhen. Aber von Zeit zu Zeit bewegen sich hier ganz andere Wassermassen. Wenn sie in der Vergangenheit, als es den Damm noch nicht gab, in einer Höhe von über zehn Metern mit rasender Geschwindigkeit daherrollten, brachten sie immer wieder Tod und Verderben über Oberndorf. Die Häuser standen damals noch unmittelbar am Ufer, entsprechend katastrophal waren die Schäden. In manchen Jahren blieb es nicht bei einer Überschwemmung und es kam vor, dass die Erholungspausen zwischen einem Hochwasser und dem nächsten nicht ausreichten, um auch nur die gröbsten Schäden zu beseitigen. Die Schiffer lebten vom Fluss, zugleich bedrohte er immer wieder ihre Existenz.

Die Hochwassergefahr ist übrigens, wie die Überschwemmung von 2013 zeigte, bis heute trotz des Damms und trotz des Baus eines Schneckenpumpwerks nicht gänzlich gebannt.

Für längeres geduldiges Warten in der Reihe vor dem Eingang zur Kapelle ist es an diesem Nachmittag zu kalt, minus acht oder sogar zehn Grad, da ist es besser, an einem der Stände ein Glas Punsch zu trinken, um, von innen gewärmt, die Wartezeit überbrücken zu können. Inzwischen ist die Menge der Besucher immer dichter geworden, viele verschiedene Sprachen sind zu hören, Amerikanisch, Japanisch, Deutsch und Russisch. Einen farbigen Akzent setzen die Schifferschützen in ihren historischen Uniformen. Wo immer sie in kleinen Gruppen zusammenstehen, werden sie fotografiert, und die eine oder andere Besucherin will mit ihnen aufs Bild kommen. Sie sind sich ihrer Bedeutung als Zeugen einer vergangenen Zeit bewusst und tragen mit sichtlichem Stolz die scharlachroten Jacken und weißen Hosen. Die Stattlichkeit ihrer Erscheinung unterstreichen aber erst so recht die Korsikanerhüte mit weißen Federbüschen und Ankerabzeichen. Waffen tragen sie auch, Säbel und Vorderladergewehre mit Bajonetten. Aufmerksamkeit ziehen aber ebenso einige Frauen in kostbarer Tracht mit Goldhauben auf dem Kopf auf sich. Nicht nur ihr Äußeres ist bewundernswert, auch die Gelassenheit, mit der sie stoisch die Kälte ertragen.

Um die Zeit abzukürzen, kann man in das Bruckmannhaus am Fuß des Damms zur Salzach gehen, wo jedes Jahr zur Adventzeit ein Sonderpostamt eingerichtet wird. Von hier aus wird Weihnachtspost, versehen mit einer jährlich neu gestalteten, motivbezogenen Sondermarke und mit einem Sonderstempel, in alle Welt verschickt. Noch lohnender ist der Besuch des Stille-Nacht-Museums, dessen Standort seit 2016 der Alte Pfarrhof, auch »Mesnerhaus« genannt, gegenüber der Gedächtniskapelle ist. In diesem Haus hatte Joseph Mohr während seiner Oberndorfer Zeit, also von 1817 bis 1819, gewohnt. Hier wird anhand von Dokumenten die turbulente Zeit dargestellt, in der das Lied entstanden ist, und der Lebensweg der beiden Urheber nachgezeichnet. Eindrucksvoll wird gezeigt, wie die Salzachschiffer den Ort Oberndorf geprägt haben.

Auf der Rückseite des Gebäudes findet sich ein Denkmal, das an den aus Oberndorf stammenden Philosophen Leopold Kohr (1909–1994) erinnert. Kohr, Nationalökonom und Philosoph, ein Weltbürger, ist 1983 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden.

Die Dämmerung bricht herein, Scheinwerfer strahlen den Hügel und die Kapelle an. Endlich, es ist knapp vor fünf Uhr, ertönen Schüsse. Die Köpfe wenden sich in die Richtung des Kalvarienbergs von Maria Bühel. Dort zeichnen sich als Silhouette vor dem noch hellen Himmel die aufgereihten Schützen der Königlichen Privilegierten Feuerschützengesellschaft Laufen ab. Noch bevor die Schüsse zu hören sind, blitzt das Mündungsfeuer der Geschütze auf. Gemeint ist diese Demonstration als Ausdruck der Hochstimmung. Aber es lässt sich dabei auch daran denken, dass genau hier in der Zeit um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ebenfalls Schüsse gekracht haben, die allerdings kriegerischer Natur waren. Es ging um Leben und Tod.

Dann ertönt plötzlich Glockengeläut von der Pfarrkirche Oberndorf, die Glocken der Stiftskirche Laufen jenseits des Salzachflusses auf deutscher Seite fallen ein, und zuletzt kommt auch noch das Läuten der Wallfahrtskirche Maria Bühel dazu. Jetzt beginnt auf dem Balkon des Pumpenhäusls neben dem historischen Wasserturm am Fuß des Kapellenhügels das Bläserquartett der Stadtmusikkapelle von Oberndorf, und dann begrüßt der Bürgermeister die Gäste aus aller Welt. Er erinnert daran, dass an diesem Ort vor langer Zeit erstmals das Lied »Stille Nacht, heilige Nacht« erklungen ist, als eine Friedensbotschaft an die ganze Welt, und er sagt, dass die Welt diese Botschaft heute dringender nötig hätte als je. Die Worte des Bürgermeisters bekommen durch die Übersetzung ins Englische nur noch mehr Gewicht.

Noch aber erklingt das berühmte Lied am Ort seiner Entstehung nicht, nein, Geduld ist nötig, die Erwartung wird zunächst durch andere Instrumentalmusik und Chorgesang gesteigert. So verlangt es die gut kalkulierte Dramaturgie. Einige kapitulieren inzwischen vor der Kälte und suchen Zuflucht im Gasthaus »Stille-Nacht-Stubn«. Dort beschlägt es einem die Brille, dann sieht man, wie überfüllt es hier ist. Der Raum ist voll von internationalem Stimmengewirr. Aber keiner will den Höhepunkt versäumen. Dann tragen zwei geistliche Herren das Weihnachtsevangelium vor (»Als aber Jesus zu Bethlehem in Judäa geboren war …«) und erteilen den Weihnachtssegen. Jetzt ist der Moment gekommen, da zwei Männer von der Liedertafel, Tenor der eine, Bass der andere, von einer Gitarre begleitet, zu singen beginnen: »Stille Nacht, heilige Nacht …«, sie übernehmen die Rollen, die bei der Uraufführung 1818 die beiden Schöpfer des Lieds, Franz Xaver Gruber und Joseph Mohr, innegehabt hatten, und der Chor der Oberndorfer Liedertafel fällt mit dem Refrain ein.

Da vergessen die Zuhörer, dass es bitterkalt ist, und überlassen sich der besonderen Stimmung. Ähnlich ergriffen mögen die Menschen damals gewesen sein, als Franz Xaver Gruber und Joseph Mohr in der Kirche von St. Nikola, die an der Stelle der heutigen Gedächtniskapelle stand, nach der Mitternachtsmette zum ersten Mal das von ihnen geschaffene Lied sangen, ohne im Geringsten zu ahnen, welchen Widerhall es in der ganzen Welt finden würde.

Kriegszeit, Notzeit, Aufklärung

Die Jahre 1800–1816 brachten für das Land Salzburg tiefgreifende Veränderungen, dass es bis zu einer Normalisierung viele Jahrzehnte brauchte. Und Oberndorf war davon sehr stark und unmittelbar betroffen. Zwischen Österreich und Bayern gelegen, war Salzburg zuvor durch Jahrhunderte hindurch ein selbstständiges politisches Gebilde gewesen. Regiert wurde es von Fürsterzbischöfen, die es verstanden, den eigenen Status durch die Wechselfälle der Geschichte hindurch zu behaupten. So klein das Land innerhalb des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation auch gewesen ist, so groß war das politische Gewicht, das ihm in der oftmaligen Spannung zwischen Kaiser und Papst zukam. Der Reichtum basierte auf Erzvorkommen – vor allem Gold aus den Hohen Tauern – und auf dem Abbau von Salzlagern. Die Güter wurden auf dem Salzachfluss verschifft, und die Stadt Laufen mit ihrem auf dem anderen Salzachufer gelegenen Vorort Oberndorf spielte dabei eine wichtige Rolle, weil dort die Schiffsherren und ihre Untergebenen zu Hause waren. An der Flussschleife bei Laufen wurde von kleineren auf größere Schiffe umgeladen.

Die jahrhundertelang geltende Ordnung wurde durch Napoleon, der mit seinen Truppen über Europa hinwegfegte, außer Kraft gesetzt. Salzburg wurde in diesen Strudel hineingezogen, und danach war kaum mehr etwas wie zuvor. Diese Jahre heißen in der Erinnerung »die Franzosenzeit«.

In Salzburg herrschte damals Erzbischof Hieronymus Graf Colloredo. Mit ihm sollte die jahrhundertealte Selbstständigkeit des Fürsterzbistums zu Ende gehen. Graf Colloredo war mit seiner Art des Denkens und Handelns durchaus ein Kind seiner Zeit: Die Aufklärung machte mit alten Gewohnheiten, von denen viele bis ins Mittelalter zurückreichten, Schluss und setzte auf Vernunft, Verstand, aber auch auf neue Gesetze. Rigoros wurde gegen verdächtige Personen, gegen Landstreicher, falsche Priester und gegen »arabische Prinzen« vorgegangen. Arabische Prinzen nannten sich Vagabunden, die vorgaben, wegen ihres christlichen Glaubens von den Türken vertrieben worden zu sein. Mit dem Aberglauben sollte aufgeräumt werden. Segnungen gegen Krankheiten oder Gespenster wurden nicht mehr erlaubt und Zauberei geächtet. Das Brauchtum betrachtete der neue Geist skeptisch. Auch in diesem Bereich kam es zu drastischen Einschnitten. Die Bevölkerung, die an Althergebrachtem hing, hatte damit wenig Freude. Zu Colloredos Maßnahmen gehörte die Vereinfachung des Gottesdienstes. Die Kirchenräume mussten von übermäßigem Pomp befreit werden. Der lateinische Gesang wurde nur noch in Klosterkirchen geduldet, sonst sollte sich die deutsch gesungene Messe durchsetzen. Ferner beschränkte Colloredo das Klosterwesen – Kapuziner und Augustiner waren davon betroffen – und die Macht der Zünfte. Darüber hinaus veranlasste er eine tief greifende Neuorganisation des Gesundheitswesens. Die Mönche sollten nicht länger das Sagen an der Salzburger Universität haben. Andere Lehrer, die sich auch den Naturwissenschaften zuwandten, wurden berufen und neue wissenschaftliche Literatur angeschafft. Es wurde darauf geachtet, ob jemand wirklich studierte oder nicht, und »Bettelstudenten«, die sich durch Musizieren in Wirtshäusern ihre Existenz sicherten, wurden ausgeschlossen.

Die Kirchenmusik war – nicht nur in Salzburg – von der Aufklärung und dem Umbruch in Europa besonders stark betroffen. Die französischen Sängerschulen gingen in der Revolution unter, die venezianischen Konservatorien erlebten einen Niedergang. Im protestantischen Deutschland wurde eine Reduzierung der kirchlichen Feste verlangt, Nebengottesdienste sollten abgeschafft werden. Unter dem Slogan »edle Simplizität« setzte sich eine formal einfache, inhaltlich lehrhafte Gestaltung des Gottesdienstes durch. Die Kirchenmusik war etwas Geduldetes. Man nahm es hin, dass die sinnliche Seite der menschlichen Natur im Zusammenhang mit der Gottesverehrung danach verlangte. Wenn schon Kirchenmusik, dann sollte es Chorgesang sein, keine Sololeistungen, keine Instrumente, die sich besonders hervortun. In jedem Fall wollte man erreichen, dass sich die Gemeinden aktiv beteiligten.

Im katholischen Einflussgebiet fielen die Einschnitte nicht ganz so radikal aus, aber auch hier wurde gegen Auswüchse der vormaligen barocken Frömmigkeit angegangen. Der in Wien residierende Kaiser Joseph II. regelte das für die habsburgischen Länder per ausgeklügeltem Dekret. Gefördert wurde nur noch das von der Kirchengemeinde gesungene deutsche Lied und das Lateinische lediglich für festliche Hochämter in größeren Pfarren erlaubt.

Von heute aus können manche der Maßnahmen als naiv betrachtet werden. Wenn sich jemand in der Zeit der Aufklärung eines Vergehens schuldig machte, so ging man davon aus, dass dies aus Unwissenheit geschehen war. In der Absicht, ihn zu bessern, musste der Delinquent also aufgeklärt und belehrt werden. Ein drastisches Beispiel dafür ist ein Gebetbuch, das Erzbischof Colloredo 1800 für die im Staatsgefängnis auf der Festung Hohensalzburg festgehaltenen Häftlinge drucken ließ. Das erste Gebet darin ist ein »Gebet gegen die Versuchung aus dem Gefängnis zu entfliehen«.

Wolfgang Amadeus Mozart und sein Vater Leopold waren im Hoforchester des Erzbischofs tätig, hatten zu ihm aber ein angespanntes Verhältnis. Der Grund dafür war nicht zuletzt darin zu sehen, dass Leopold für sich und seinen Sohn lange dauernde Urlaubszeiten beanspruchte, um ausgedehnte Konzertreisen durch ganz Europa unternehmen zu können. Auf diesen Reisen wurden Wolfgang und seine Schwester Nannerl staunenden Zuhörern als Wunderkinder präsentiert. Nachdem Mozarts Versuche fehlgeschlagen waren, einen potenten Mentor an einem der europäischen Fürstenhöfe zu finden, brach er mit dem Salzburger Erzbischof und ging nach Wien.

Ort der Salzachschiffer

Von Oberndorf, rund 20 Kilometer flussabwärts von der Stadt Salzburg gelegen, sprach man damals eigentlich noch nicht, man sprach von der hoch angesehenen Stadt Laufen. Das Stadtzentrum mit allen wichtigen öffentlichen Einrichtungen und den stattlichen Häusern der Wohlhabenden lag auf dem linken Ufer der Salzach, die hier eine markante Schleife beschreibt, sodass die Stadt wie auf einer schmalen Landzunge zu stehen scheint. Oberndorf und Altach waren Laufener Vororte auf dem rechten Flussufer.