Während die Jungen mit den Mädchen von der Marcia-Blaine-Schule sprachen, blieben sie hinter ihren Fahrrädern stehen und behielten die Hände am Lenker, so dass die Räder einen Schutzzaun zwischen den Geschlechtern bildeten und der Eindruck entstand, sie würden im nächsten Augenblick davonfahren.
Die Mädchen konnten ihre Panamahüte nicht abnehmen, weil die Schule nicht weit weg war und Barhäuptigkeit als Verstoß gegen die Schulordnung galt. Von der vierten Klasse aufwärts wurden gewisse Abweichungen manchmal toleriert, solange niemand den Hut schräg aufsetzte. Doch es gab andere feine Abstufungen der allgemeinen Regel, nach der die Krempe hinten hoch und vorne heruntergebogen sein musste. Die fünf Mädchen, die wegen der Jungen dicht beieinanderstanden, trugen ihre Hüte jedenfalls auf eindeutig unterschiedliche Art.
Diese Mädchen waren die »Brodie-Clique«. So
hatten sie schon geheißen, bevor die Direktorin sie voller Verachtung so nannte, als sie mit zwölf Jahren von der Junior School in die Senior School wechselten. Schon damals waren sie ohne weiteres als Miss Brodies Schülerinnen zu erkennen gewesen, da sie umfassend über zahlreiche Themen Bescheid wussten, die laut der Direktorin nicht zum amtlichen Lehrplan gehörten und für die Schule als solche nutzlos waren. Es wurde entdeckt, dass die Schülerinnen von den Buchmaniten gehört hatten und von Mussolini, von den italienischen Renaissancemalern, vom überlegenen Nutzen hautfreundlicher Waschcreme und Hamamelis im Vergleich zu biederer Seife und Wasser und von dem Wort »Menarche«, sie hatten das Londoner Haus des Autors von Winnie the Pooh samt Einrichtung geschildert bekommen sowie das Liebesleben von Charlotte Brontë und das von Miss Brodie. Sie wussten von der Existenz Einsteins und kannten die Argumente derer, die die biblischen Geschichten für erfunden hielten. Sie beherrschten die Grundlagen der Astrologie, wussten aber nicht, wann die Schlacht von Flodden gewesen war und wie die Hauptstadt von Finnland hieß. Bis auf ein Mädchen rechnete die ganze Brodie-Clique mit Hilfe der Finger, so wie es ihnen Miss Brodie vorgemacht hatte, und kam dabei zu mehr oder weniger genauen Ergebnissen.Auch als sie mit sechzehn in die vierte Klasse kamen, nach dem Unterricht vor dem Schultor herumstanden und sich dem herrschenden System angepasst hatten, blieben sie typische Brodie-Schülerinnen, die man überall an der Schule kannte, das heißt, man begegnete ihnen mit Argwohn und ohne besondere Zuneigung. Sie besaßen keinen Teamgeist und hatten außer der anhaltenden Freundschaft mit Jean Brodie sehr wenig gemeinsam. Miss Brodie unterrichtete immer noch in der Junior School. Ihr begegnete man mit besonders großem Argwohn.
Die Marcia-Blaine-Mädchenschule war eine Tagesschule, die Mitte des 19. Jahrhunderts unter anderem von der wohlhabenden Witwe eines Edinburgher Buchbinders gestiftet worden war. Bis an ihr Lebensende hatte sie Garibaldi bewundert. Am Gründungstag wurde ihrem martialischen Porträt in der großen Halle immer mit einem Strauß strapazierfähiger Blumen gehuldigt, Chrysanthemen oder Dahlien. Die Vase stand unter dem Porträt auf einem Pult neben einer aufgeschlagenen Bibel, in der die folgenden Zeilen rot unterstrichen waren: »O, wo find ich ein tugendsames Weib, das ist viel edler denn die köstlichsten Perlen.«
Die Mädchen, die Schulter an Schulter unter dem Baum standen, eng beieinander wegen der Jungen,
waren alle für irgendetwas berühmt. Monica Douglas war jetzt, mit sechzehn, Aufsichtsschülerin, berühmt vor allem für ihre Fähigkeit zum Kopfrechnen und ihre Wutanfälle, bei denen sie, wenn sie heftig genug waren, nach links und rechts Ohrfeigen verteilte. Sie hatte im Winter wie im Sommer eine hochrote Nase, lange dunkle Zöpfe und dicke Säulenbeine. Seit sie sechzehn geworden war, trug Monica ihren Panamahut etwas höher als üblich, er hockte auf ihrem Kopf, als sei er ihr zu klein und als wisse sie, dass sie ohnehin grotesk aussah.Rose Stanley war berühmt für ihren Sexappeal. Ihr Hut saß unauffällig auf dem kurzen blonden Haar, aber sie verpasste der Krone auf beiden Seiten einen Kniff.
Eunice Gardiner, klein, adrett und berühmt für ihre Turnkunststücke und Schwimmleistungen, hatte die Krempe vorn hochgebogen und hinten herunter.
Sandy Stranger trug ihren Panamahut mit rundherum hochgebogener Krempe und so weit wie irgend möglich nach hinten geschoben; zu diesem Zweck hatte sie am Hut ein Gummiband befestigt, das unter dem Kinn durchlief. Manchmal kaute Sandy auf diesem Band herum, und wenn es durchgekaut war, nähte sie ein neues an. Ihrer kleinen, kaum sichtbaren Augen wegen war sie nur
berüchtigt, berühmt aber war sie für ihre klangvollen Vokale, die Miss Brodie schon vor langer Zeit, noch in der Junior School, begeistert hatten. »Sag uns doch bitte etwas auf, es war ein anstrengender Tag.«Sie ließ das Tuch am Webstuhl ruhn,
Musst nur drei Schritt zum Fenster tun,
Sie sah die Wasserlilie blühn,
Sie sah den Helm, den Helmbusch ziehn,
Sie sah hinab auf Camelot.
»Das ist erhebend«, sagte Miss Brodie zu ihrer Klasse, presste erst die Hände auf die Brust und breitete dann die Arme aus, während die Zehnjährigen auf die erlösende Schulglocke warteten. »Wo es keine Phantasie gibt«, befand Miss Brodie, »gehen die Menschen zugrunde. Komm, Eunice, mach zur Abwechslung und allgemeinen Aufheiterung einen Salto.«
Jetzt aber spotteten die Jungen mit den Fahrrädern gut gelaunt über Jenny Grays Redeweise, die sie sich im Sprechunterricht zugelegt hatte. Sie wollte Schauspielerin werden. Sie war Sandys beste Freundin. Die Hutkrempe trug sie vorn scharf nach unten geknickt, und ihr Ruhm gründete sich darauf, dass sie das hübscheste und anmutigste Mädchen der Clique war. »Sei kein solcher Rüpel,
Andrew«, sagte sie hochnäsig. Unter den fünf Jungen gab es drei Andrews, und alle drei machten Jenny sofort nach: »Sei kein solcher Rüpel, Andrew!« Die Mädchen lachten unter ihren wippenden Hüten.Nun trat noch Mary Macgregor hinzu, das letzte Mitglied der Clique. Sie stand in dem Ruf, ein mundfauler Trampel zu sein, ein Niemand, dem man in jeder Situation die Schuld zuschieben konnte. Mit ihr kam eine Außenseiterin, das steinreiche Mädchen Joyce Emily Hammond, der neue Sündenbock der Klasse. Sie war vor kurzem als letzte Rettung auf die Blaine geschickt worden, weil keine andere Schule und keine Gouvernante mit ihr fertigwurden. Sie trug noch die grüne Uniform ihrer alten Schule. Die anderen trugen Dunkelviolett. Bisher hatte sie sich hauptsächlich dadurch ausgezeichnet, dass sie den Musiklehrer manchmal mit Papierkügelchen bewarf. Sie bestand darauf, mit beiden Vornamen angesprochen zu werden: Joyce Emily. Diese Joyce Emily gab sich alle Mühe, in die berühmte Clique aufgenommen zu werden, und dachte, die beiden Namen würden ihr vielleicht mehr Geltung verschaffen, aber sie hatte keine Chance und verstand nicht, warum.
Joyce Emily sagte: »Da kommt eine Lehrerin«, und wies mit dem Kopf in Richtung Schultor.
Zwei der Andrews schoben ihre Räder zurück
auf die Straße und fuhren davon. Die anderen drei Jungen blieben herausfordernd stehen, schauten aber in die andere Richtung, als hätten sie nur kurz angehalten, um die Wolken über den Pentland Hills zu bewundern. Die Mädchen steckten die Köpfe zusammen, als würden sie gerade etwas besprechen. »Guten Tag«, sagte Miss Brodie, als sie näher kam. »Ich habe euch seit Tagen nicht gesehen. Ich denke, wir sollten diese jungen Männer mit ihren Rädern nicht länger aufhalten. Auf Wiedersehen!« Die berühmte Clique zog mit ihr davon, und Joyce, der Sündenbock, folgte ihnen. »Dieses neue Mädchen kenne ich, glaube ich, noch nicht«, sagte Miss Brodie mit einem scharfen Blick auf Joyce. Und nachdem sie einander vorgestellt worden waren, sagte sie: »So, jetzt müssen wir weiter, meine Liebe.«Sandy warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Joyce Emily auf ihren langen Beinen in die andere Richtung davonging und schließlich in ein für ihr Alter eigentlich unangemessenes Hüpfen verfiel. Die Brodie-Clique war wieder ihrem geheimen Leben überlassen, wie vor sechs Jahren, als sie noch Kinder waren.
»Ich setze alte Köpfe auf eure jungen Schultern«, hatte Miss Brodie damals zu ihnen gesagt, »und meine Schülerinnen sind immer die Crème de la crème.«
Sandy schaute aus ihren kleinen zusammengekniffenen Augen auf Monicas hochrote Nase und erinnerte sich an diesen Ausspruch, während sie im Kielwasser von Miss Brodie den anderen folgte.
»Ich würde euch gern für morgen Abend zum Essen einladen«, sagte Miss Brodie. »Ihr habt doch Zeit?«
»Die Theatergruppe …«, murmelte Jenny.
»Schreib einfach eine Entschuldigung«, sagte Miss Brodie. »Ich muss euch wegen einer neuen Verschwörung, die mich zur Kündigung zwingen will, um Rat fragen. Überflüssig zu sagen, dass ich nicht kündigen werde.« Sie sprach ruhig wie immer, trotz ihrer dramatischen Worte.
Miss Brodie besprach ihre Angelegenheiten nie mit anderen Mitgliedern des Lehrerkollegiums, sondern nur mit diesen ehemaligen Schülerinnen, die sie zu ihren Vertrauten herangezogen hatte. Schon früher hatte es Verschwörungen gegeben mit dem Ziel, sie aus der Schule zu entfernen, doch die waren vereitelt worden.
»Mir wurde wieder einmal nahegelegt, ich solle mich um eine Stelle an einer fortschrittlichen Schule bewerben, wo meine Methoden eher am Platz seien als an der Blaine. Aber ich bewerbe mich nicht an einer Schule für Spinner. Ich werde in dieser Erziehungsfabrik ausharren. In diese träge Masse gehört
unbedingt etwas Sauerteig. Gebt mir ein Mädchen im formbaren Alter, und es ist mein, ein Leben lang.«Die Brodie-Clique lächelte wissend, jedes Mädchen aus unterschiedlichen Gründen.
Miss Brodie begleitete ihre leise Stimme mit einem bedeutungsvollen Blitzen ihrer braunen Augen. In der Sonne sah sie mit ihrem dunklen römischen Profil sehr imposant aus. Die Brodie-Clique zweifelte keine Sekunde lang, dass sie sich durchsetzen würde. Genauso gut konnte man von Julius Cäsar erwarten, er solle sich an einer Schule für Spinner bewerben. Miss Brodie würde niemals kündigen. Wenn die Behörden sie loswerden wollten, mussten sie sie schon umbringen.
»Wer gehört denn diesmal zu den Verschwörern?«, fragte Rose, die für ihren Sexappeal berühmt war.
»Wir reden morgen Abend darüber, wer mich bekämpft«, sagte Miss Brodie. »Aber macht euch keine Sorgen, sie werden keinen Erfolg haben.«
»Nein«, antworteten alle. »Nein, natürlich nicht.«
»Nicht, solange ich in der Blüte meiner Jahre bin«, sagte sie. »Noch bin ich in der Blüte meiner Jahre. Denkt immer daran, wie wichtig es ist zu erkennen, wann man in der Blüte seiner Jahre ist. Da kommt meine Straßenbahn. Ich finde bestimmt 1936. Die Zeiten der Kavaliere sind vorbei.«
wieder keinen Sitzplatz. Wir haben
Sechs Jahre zuvor hatte Miss Brodie ihre neue Klasse in den Schulgarten geführt, um dort unter der großen Ulme den Geschichtsunterricht abzuhalten. Auf dem Weg durch die Schulkorridore waren sie am Zimmer der Direktorin vorbeigekommen. Die Tür stand weit offen, der Raum war leer.
»Kommt mal her, Kinder«, hatte Miss Brodie gesagt, »schaut euch das an.«
Sie drängten sich um die offene Tür, und Miss Brodie wies auf ein großes Plakat, das mit Reißzwecken an der gegenüberliegenden Wand befestigt war. Es zeigte das riesige Gesicht eines Mannes. Darunter standen die Worte »Safety first!« – »Sicherheit geht vor!«
»Das ist Stanley Baldwin, der zum Premierminister gewählt und kurz darauf wieder abgewählt wurde«, sagte Miss Brodie. »Miss Mackay hat ihn immer noch an der Wand hängen, weil sie an die Devise ›Sicherheit geht vor‹ glaubt. Aber Sicherheit kommt nicht an erster Stelle. An erster Stelle kommt das Gute, Wahre und Schöne. Mir nach!«
Dies war für die Mädchen der erste Hinweis gewesen, dass es zwischen Miss Brodie und dem restlichen Lehrerkollegium Unstimmigkeiten gab.
Manchen wurde überhaupt zum ersten Mal klar, dass die sonst wie Pech und Schwefel zusammenhaltenden erwachsenen Respektspersonen uneinig sein konnten. Sie nahmen dies stillschweigend zur Kenntnis, und mit dem prickelnden Gefühl, Zeugen einer weiteren aufkeimenden Unstimmigkeit zu werden, ohne selbst betroffen zu sein, folgten sie der gefährlichen Miss Brodie in den sicheren Schatten der Ulme.Sooft es das Wetter in diesem sonnigen Herbst erlaubte, wurden die Mädchen auf den drei Bänken unter der Ulme unterrichtet.
»Haltet die Bücher aufgeschlagen in der Hand«, sagte Miss Brodie des Öfteren in diesem Herbst, »für den Fall, dass uns jemand stört. Wenn uns jemand stört, sind wir gerade beim Geschichtsunterricht … bei Gedichten … bei englischer Grammatik.«
Die Mädchen hielten die Bücher in der Hand, hefteten den Blick aber auf Miss Brodie.
»Inzwischen erzähle ich euch von meinen letzten Sommerferien in Ägypten … Erzähle euch, wie man Gesicht und Hände pflegt … Erzähle euch von dem Franzosen, den ich im Zug nach Biarritz kennengelernt habe … Und ich muss euch unbedingt erzählen, welche italienischen Gemälde ich gesehen habe. Wer ist der bedeutendste italienische Maler?«
»Leonardo da Vinci, Miss Brodie.«
»Falsch. Die richtige Antwort lautet: Giotto. Er ist mein Lieblingsmaler.«
Manchmal schien es Sandy, als sei Miss Brodies Brust ganz flach, ohne Rundung und so gerade wie ihr Rücken. An anderen Tagen wiederum war ihre Brust voluminös, ausladend und auffallend, und wenn Miss Brodie an den Tagen, an denen sie im Haus unterrichtete, kerzengerade dastand, den gebräunten Kopf hocherhoben, und beim Reden wie Jeanne d’Arc aus dem Fenster starrte, saß Sandy vor ihr und musste aus ihren winzigen Augen dauernd zu ihr hinschauen.
»Ich habe es euch schon öfter gesagt, und die letzten Ferien haben es mir endgültig bewiesen, dass ich nun wahrhaftig in der Blüte meiner Jahre bin. Die Blütezeit des Lebens ist schwer zu fassen. Wenn ihr erwachsen werdet, ihr kleinen Mädchen, müsst ihr gut aufpassen, damit ihr eure Blütezeit erkennt – in welches Alter sie auch fallen mag. Dann müsst ihr sie bis zum Äußersten auskosten. Mary, was hast du da unterm Pult, was schaust du dir gerade an?«
Mary saß stocksteif da und war zu dumm, um eine Antwort zu erfinden. Sie war überhaupt zu dumm zum Lügen, sie wusste nicht, wie man etwas verheimlichte.
»Einen Comic, Miss Brodie«, sagte sie.
»Du meinst eine Komödie? Einen Schwank?«
Alle kicherten.
»Ein Comic-Heft«, sagte Mary.
»Ein Comic-Heft, sieh an. Wie alt bist du?«
»Zehn, Ma’am.«
»Mit zehn bist du zu alt für Comichefte. Gib her.«
Miss Brodie besah sich die bunten Seiten. »Tiger Tim, sieh an«, sagte sie und warf das Heft in den Papierkorb. Als sie merkte, dass aller Augen darauf gerichtet waren, holte sie es noch einmal heraus, zerriss die Seiten und ließ die Fetzen wieder hineinfallen.
»Aufgepasst, Kinder. Die Blütezeit ist die Zeit, für die man bestimmt ist, für die man überhaupt auf die Welt gekommen ist. Jetzt, wo meine Blütezeit begonnen hat – Sandy, du bist nicht bei der Sache. Wovon habe ich gerade gesprochen?«
»Von Ihrer Blütezeit, Miss Brodie.«
»Wenn im Lauf der nächsten Stunde jemand kommt«, sagte Miss Brodie, »dann denkt daran, wir haben englische Grammatik. In der Zwischenzeit erzähle ich euch ein bisschen aus meinem Leben, als ich noch jünger war – obwohl immerhin sechs Jahre älter als der Mann.«
Sie lehnte sich an die Ulme. Es war einer der letzten Herbsttage, und die Blätter schwebten in kleinen Wolken herab. Sie fielen auf die Kinder, und die waren dankbar für den willkommenen Vorwand, ein wenig herumzappeln und sich bewegen zu dürfen, wenn sie sich das Laub von den Haaren und vom Schoß wischten.
»Die Zeit der ersten Nebelschleier und der Fruchtreife. Ich war zu Beginn des Krieges mit einem jungen Mann verlobt, aber er fiel auf den Feldern von Flandern«, sagte Miss Brodie. »Hast du heute Waschtag, Sandy?«
»Nein, Miss Brodie.«
»Weil du die Ärmel aufgekrempelt hast. Mit Mädchen, die ihre Blusenärmel hochkrempeln, will ich nichts zu tun haben, mag das Wetter noch so schön sein. Roll sie sofort wieder runter, wir sind zivilisierte Wesen. Er fiel eine Woche vor dem Waffenstillstand. Er fiel wie Herbstlaub, obwohl er erst zweiundzwanzig Jahre alt war. Wenn wir ins Haus gehen, werfen wir einen Blick auf die Karte von Flandern und auf die Stelle, wo mein Liebster niedergestreckt wurde, bevor ihr geboren wart. Er war arm. Er kam aus Ayrshire, ein Bauernsohn, aber er studierte fleißig und war ein kluger Kopf. Als er mich bat, ihn zu heiraten, sagte er: ›Wir werden Wasser trinken und kleine Brötchen backen
müssen.‹ So drückte Hugh auf seine bäuerliche Weise aus, dass wir ein bescheidenes Leben führen würden. Wir müssen Wasser trinken und kleine Brötchen backen. Was bedeutet diese Redensart, Rose?«»Dass Sie ein bescheidenes Leben führen würden, Miss Brodie«, sagte Rose Stanley, die sechs Jahre später weithin für ihren Sexappeal bekannt sein würde.
Sie waren mitten in der Geschichte über Miss Brodies gefallenen Verlobten, als sich auf dem Rasen die Direktorin Miss Mackay näherte. Aus Sandys Schweinsäuglein rannen schon die ersten Tränen, und Sandys Tränen steckten ihre Freundin Jenny an, die später an der ganzen Schule für ihre Schönheit berühmt sein sollte; sie schluchzte auf und tastete das Bein ihres Schlüpfers nach einem Taschentuch ab. »Hugh wurde eine Woche vor dem Waffenstillstand getötet«, sagte Miss Brodie. »Danach gab es allgemeine Wahlen, und die Menschen riefen: ›An den Galgen mit dem Kaiser!‹ Hugh in seinem Grab verwelkte wie die Waldblumen in dem schottischen Volkslied.« Nun fing auch Rose Stanley an zu weinen. Sandy ließ ihren tränenfeuchten Blick zur Seite gleiten und sah, wie Miss Mackay mit vollen Segeln über den Rasen auf sie zusteuerte.
»Ich guck nur kurz bei euch vorbei und bin
gleich wieder weg«, sagte sie. »Warum weint ihr denn, Kinder?«»Ich habe ihnen etwas erzählt, was sie sehr gerührt hat. Wir haben gerade Geschichte«, sagte Miss Brodie und fing während des Sprechens geschickt ein zur Erde schwebendes Blatt in der Luft auf.
»Wie kann man mit zehn Jahren über eine Erzählung weinen!«, sagte Miss Mackay zu den Mädchen, die sich, noch immer ganz benommen von Hugh, dem Krieger, nacheinander von den Bänken erhoben hatten. »Ich wollte nur kurz bei euch vorbeisehen und muss auch gleich wieder weg. Also, Kinder, das neue Schuljahr hat begonnen. Ich hoffe, ihr hattet alle herrliche Sommerferien, und ich freue mich auf eure herrlichen Aufsätze über das, was ihr erlebt habt. Mit zehn Jahren solltet ihr wegen Geschichte nicht mehr weinen. Wirklich nicht!«
»Das habt ihr gut gemacht«, sagte Miss Brodie zu der Klasse, als Miss Mackay fort war, »dass ihr auf die Frage nicht geantwortet habt. Im Zweifelsfall sagt man besser gar nichts, weder schwarz noch weiß. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Mary, hörst du zu? Was habe ich gerade gesagt?«
Mary Macgregor, plump, mit Augen, Nase und Mund wie ein Schneemann und später berühmt für ihre Dummheit und dafür, dass man alle Schuld auf
sie abwälzen konnte, Mary, die mit dreiundzwanzig bei einem Hotelbrand ums Leben kommen sollte, sagte auf gut Glück: »Gold.«»Was ist nach meinen Worten Gold?«
Mary warf einen Blick in die Runde und dann nach oben. Sandy flüsterte: »Das fallende Laub.«
»Das fallende Laub«, sagte Mary.
»Du hast offensichtlich nicht zugehört«, sagte Miss Brodie. »Wenn ihr mir nur zuhören würdet – ich würde euch kleine Mädchen zur Crème de la crème machen.«
Während ihrer immerhin dreiundzwanzig Lebensjahre wurde es Mary Macgregor nie wirklich bewusst, dass Jean Brodie niemanden vom Lehrerkollegium ins Vertrauen zog und nur ihren Schülerinnen von dieser Liebesgeschichte erzählte. Ein Jahr nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde Mary Marinehelferin, erwies sich als linkisch und unfähig und wurde häufig gerügt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nie viel über Miss Brodie nachgedacht. Sie hatte nichts gegen sie, bestimmt nicht. Nur ein einziges Mal, als sie wirklich unglücklich war – ihr erster und letzter Freund, ein Unteroffizier, den sie erst seit zwei Wochen kannte, verließ sie, indem er einfach nicht am vereinbarten Ort erschien und sich gar nicht mehr in ihrer Nähe blicken ließ –, überlegte sie, ob sie jemals im Leben wirklich glücklich gewesen war. Damals wurde ihr bewusst, dass die ersten Jahre bei Miss Brodie, als sie nur dasaß und all den Geschichten und Gedanken lauschte, die nichts mit der gewöhnlichen Welt zu tun hatten, die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen war. Dies schoss ihr kurz durch den Kopf, danach kam sie nie mehr auf Miss Brodie zurück, sondern überwand ihr Leid und verfiel wieder in ihre schwerfällige Fassungslosigkeit, bis sie schließlich während eines Urlaubs in Cumberland bei einem Hotelbrand starb. Auf den Korridoren rannte Mary Macgregor hin und her durch den immer dichteren Qualm. Sie lief in die eine Richtung, kehrte um, lief in die andere, doch an beiden Enden erwartete sie ein Hochofen. Sie hörte keine Schreie, denn das Brüllen des Feuers übertönte alle Schreie; sie stieß keinen Schrei aus, denn der Qualm verstopfte ihr die Kehle. Bei der dritten Kehrtwende stieß sie mit jemandem zusammen, stolperte und starb. Doch jetzt, Anfang der dreißiger Jahre, war Mary Macgregor zehn Jahre alt und saß ahnungslos unter Miss Brodies Schülerinnen. »Wer hat die Tinte auf dem Fußboden verschüttet – warst du das, Mary?«
»Ich weiß nicht, Miss Brodie.«
»Ich glaube wohl. Mir ist noch nie ein so ungeschicktes Mädchen wie du über den Weg gelaufen. Und wenn dich das, was ich sage, nicht interessiert, dann tu wenigstens so, als ob es dich interessieren würde.«
Das war die Zeit, die Mary Macgregor
rückblickend als die glücklichste ihres Lebens betrachtete. Sandy Stranger ahnte schon damals, dass es vermutlich die glücklichste Zeit ihres Lebens war, und das sagte sie auch zu ihrer besten Freundin Jenny Gray, die sie an ihrem zehnten Geburtstag zu sich nach Hause zum Tee eingeladen hatte. Das Besondere an diesem Festmahl waren die Ananasstückchen mit Schlagsahne, und das Besondere an diesem Geburtstag war die Tatsache, dass sie allein im Zimmer waren. Für Sandy schmeckte und wirkte die fremdartige Ananas wie unverfälschtes Glück; sie sah sich die blassgoldenen Würfel aus ihren kleinen Augen sehr genau an, bevor sie sie auf den Löffel schob, und fand, das Prickeln auf ihrer Zunge schmeckte nach einem besonderen Glück, das mit Essen nichts zu tun hatte und anders war als das unbewusste Glücklichsein beim Spielen. Beide Mädchen hoben sich die Sahne bis zum Schluss auf und aßen sie dann löffelweise.»Ihr werdet die Crème de la crème sein, meine kleinen Mädchen«, sagte Sandy, und Jenny prustete ihre Sahne ins Taschentuch.
»Du weißt ja«, sagte Sandy, »dies ist angeblich die glücklichste Zeit unseres Lebens.«
»Ja, das sagen sie immer«, antwortete Jenny. »Sie sagen, genießt eure Schulzeit, denn ihr wisst nicht, was auf euch zukommt.«
»Miss Brodie sagt, das Beste ist die Blütezeit.«
»Ja, aber sie hat nie geheiratet wie unsere Mütter und Väter.«
»Die haben keine Blütezeit«, sagte Sandy.
»Aber sie haben Geschlechtsverkehr«, sagte Jenny.
Die Mädchen schwiegen, denn dies war noch immer ein umwerfender Gedanke, etwas, was sie erst kürzlich entdeckt hatten; schon die Formulierung und ihre Bedeutung waren neu. Es war ganz unglaublich. Dann sagte Sandy: »Mr Lloyd hat letzte Woche ein Kind bekommen. Er muss also mit seiner Frau Sex verübt haben.« Diese Vorstellung war leichter zu ertragen, und sie prusteten wieder in ihre rosa Papierservietten. Mr Lloyd war der Zeichenlehrer der Senior School.
»Siehst du vor dir, wie das abläuft?«, flüsterte Jenny.
In dem Bemühen, es im Geiste vor sich zu sehen, kniff Sandy die Augen noch mehr zusammen. »Er hat wahrscheinlich einen Schlafanzug an«, flüsterte sie zurück.
Es schüttelte die Mädchen vor Heiterkeit, wenn sie an den einarmigen Mr Lloyd dachten, der das Schulgebäude immer so ernst betrat.
Dann sagte Jenny: »Das macht man ganz spontan. So läuft das ab.«
Jenny war eine verlässliche Quelle, denn eine Verkäuferin im Lebensmittelgeschäft ihres Vaters war vor kurzem schwanger geworden, und Jenny hatte von dem darauffolgenden Gerede einiges aufgeschnappt. Sie hatte Sandy ihre Entdeckungen mitgeteilt, und daraufhin hatten sie sich auf Forschungsreise begeben – Forschung nannten sie das, wenn sie Hinweise aus belauschten Gesprächen und Stellen aus den großen Lexika zusammenpuzzelten.
»Das Ganze passiert blitzartig«, sagte Jenny. »Es ist Teenie passiert, als sie mit ihrem Freund in Puddocky spazieren ging. Danach mussten sie heiraten.«
»Man sollte meinen, der Trieb wäre schon wieder erloschen, bis sie sich die Kleider vom Leib gezogen hat«, sagte Sandy. Mit »Kleider« meinte Sandy eigentlich den Schlüpfer, aber »Schlüpfer« klang in diesem wissenschaftlichen Zusammenhang zu gewöhnlich.
»Ja, genau das verstehe ich nicht«, sagte Jenny.
Sandys Mutter steckte den Kopf durch die Tür und sagte: »Geht’s euch gut, meine Schätzchen?« Über ihrer Schulter erschien der Kopf von Jennys Mutter. »Mein lieber Schwan«, sagte Jennys Mutter mit einem Blick auf den Teetisch, »die beiden haben ja ordentlich gefuttert!«
Sandy fühlte sich beleidigt und herabgesetzt; als ob der Hauptzweck ihrer Einladung das Essen gewesen wäre!
»Was habt ihr jetzt vor?«, fragte Sandys Mutter.
Sandy warf ihrer Mutter einen empörten Blick zu, der besagte: Du hast versprochen, uns allein zu lassen, und versprochen ist versprochen, du weißt doch, wenn man einem Kind gegenüber ein Versprechen bricht, ist es besonders schlimm, du ruinierst möglicherweise mein ganzes Leben, wenn du dein Versprechen nicht hältst, und heute ist doch mein Geburtstag.
Sandys Mutter zog sich zurück und nahm Jennys Mutter mit. »Lassen wir sie allein«, sagte sie. »Viel Spaß, mein Schätzchen.«
Sandy war es manchmal peinlich, dass ihre Mutter Engländerin war und sie »Schätzchen« nannte, nicht »Liebes« wie die schottischen Mütter in Edinburgh. Sandys Mutter hatte einen protzigen Wintermantel mit flauschigem Fuchspelzbesatz wie die Herzogin von York, während die anderen Mütter Tweed trugen oder allenfalls Bisam, und das musste tagaus, tagein genügen.