Warum Gefühle wieder salonfähig sind
Susanne Pointner
in Zusammenarbeit mit
Josef Bruckmoser
www.kremayr-scheriau.at
eISBN 978-3-7015-0606-4
Copyright © 2018 by Orac/Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG; Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus
Typografische Gestaltung und Satz: Danica Schlosser
Vorwort
Gefühle sind wieder angesagt
Emotionen: Polyphonie oder Symphonie
Offen und berührbar: Die inneren Werte finden
Bedürfnisse befriedigen oder zurückstellen
Zeitgeist: Kontaktreich, aber berührungsarm
Umkehrpunkt: Zurück zu den Emotionen
Berührbarkeit: Lebendig mit der Welt verbunden sein
Emotionsregulierung: Gesunde oder kranke Wahrnehmung Innerliches Bewegtsein:
meine Beziehung mit dem Hier und Jetzt
Rollenbilder: Hineinwachsen in Authentizität und innere Reife
Trauma: Abschotten oder aufarbeiten
Psychotherapie: Ohne Beziehung verändert sich nichts
Schwingung: Schutzmuster oder innere Resonanz
Emotionale Intelligenz: Gefühl, Gespür, Sensibilität und Intuition
Blickrichtungen: Lebensgier entlarven oder Wertehunger aufdecken
Entwicklungsprozess: Emotionale Reife braucht Zeit
Spannung: Sensibel oder g’spürig
Resilienz: Robust oder selbstwirksam
Sinnkompass: Sich von den inneren Werten berühren lassen
Werte: Universell oder individuell?
Zwischenstadium: Schneller Kick oder Raum zum Schwingen
Entschiedenheit: Den magischen Moment ergreifen
Resonanzraum: Freundlich oder unfreundlich
Das innere Echo: mein liebevolles Du
Geschlechter und Beziehungen: Heldenreise oder Trennung
Rollenbilder: Cooler Macho, heiße Braut
Beziehungsformen: Teilengagement oder Verbundenheit
Lebendigkeit und Erotik – auch in schwierigen Zeiten
Sexualität: Stimmig oder blockiert
Kassandra lässt das Prophezeien nicht
Jugend: Das Leben ist noch nicht gelaufen
Odysseus, der Listenreiche im Sturm und Drang
Ein Haudegen lernt spüren
Odyssee heute – eine verpasste Reifungsgeschichte
Süchtig nach Leben sein und Schutz suchen
Die Bedürftigkeit des Schattens sehen
Den Lockruf der Seele hören
Der Sehnsucht nachspüren und die Angst aushalten
In die Entschiedenheit gehen
Gesellschaft: Berührung ist ein Überlebensmittel
Distanz, Nähe und Berührung
Frei sein – nicht von, sondern für etwas
Regeln brechen oder in der Komfortzone bleiben
Meine Berufung finden – und immer noch Fragen haben
Sensibilität und Berührbarkeit gehören zur Grundausstattung des Menschen. Für unsere persönliche und gesellschaftliche Entwicklung ist es wichtig, die emotionale Resonanz auf das, was uns im Alltag begegnet, zu spüren und ernst zu nehmen. Nur so können Empathie, Intuition und Kreativität gefördert und kultiviert werden.
Aber die Einstellung zur Empfindsamkeit ist ambivalent. Emotionale Ausgeglichenheit oder sogar Kaltblütigkeit gelten als Zeichen der Reife und Souveränität. Hochsensible Menschen oder „Softies“ finden beruflich und privat wenig Anerkennung. Gleichzeitig wird von Frauen wie Männern soziale Kompetenz eingefordert. Das setzt einen guten Zugang zur eigenen Gefühlswelt und Aufnahmebereitschaft für die Empfindungen anderer Personen voraus.
Dieses Buch lädt ein, dem persönlichen inneren Kind auf die Spur zu kommen und sich von den eigenen Werten berühren zu lassen. Wir suchen den Resonanzraum auf, in dem wir freundlich und empathisch mit uns selbst umgehen lernen. Wir entdecken den Wertehunger, der sich hinter unserer Lebensgier versteckt. Wir trachten die Resilienz zu stärken, die uns robust und selbstwirksam macht, aber nicht unsensibel und rücksichtslos.
Die mythischen Gestalten Kassandra und Odysseus begleiten uns auf diesem Weg. Kassandra rettet die Troerinnen und Troer hellsichtig vor der Schande, blind gewesen zu sein. Die Heldenreise von Odysseus eröffnet den Zugang zu einer ungezügelten Männlichkeit, die als positive Kraft integriert werden will.
Zahlreiche Beispiele aus der therapeutischen Praxis stellen den Bezug zum Alltag her. Viele Leserinnen und Leser werden sich selbst darin erkennen und wertvolle Anregungen finden.
Susanne Pointner
Josef Bruckmoser
Die U-Bahn ist am Nachmittag schon recht voll. Eine Kindergartengruppe ist mit zwei Pädagoginnen unterwegs, die Kinder sind erstaunlich brav. Vier dunkelhaarige Mädchen spielen mit sichtbarem Vergnügen ein Klatschspiel: „Dann geh ich in den vierten Stock …“. Ein junger Mann im Anzug wirft kurz einen Blick in ihre Richtung und lächelt. Dann fängt er den Blick einer Pädagogin auf und schaut schnell wieder weg. Wahrscheinlich möchte er keinen falschen Verdacht wecken. Männer, die fremde Mädchen anlächeln, lösen Misstrauen aus.
Eine Frau mittleren Alters wendet sich irritiert ab. Sie wirkt müde, man hat den Eindruck, sie versucht sich inmitten der Menschenansammlung ihren kleinen, persönlichen Chillout-Bereich zu schaffen. Die zweite Pädagogin nimmt ihre Geste wahr und ermahnt die Mädchen: „Jetzt noch einmal, dann macht ihr Schluss damit!“ Die Kinder gehorchen und werden etwas leiser. Allerdings führen sie ihren kleinen Höhenflug in einer endlosen Reihe von Stockwerken fort. Zwei Reihen dahinter haben sich drei Jugendliche unterhalten, sie beginnen plötzlich laut zu lachen. Der junge Mann steckt sich Ohrhörer in die Ohren. Dann steigen die Kinder aus, die Burschen nehmen Platz und packen ihre Handys aus. Endlich ist Ruhe im Waggon.
Die wenigen Minuten in der U-Bahn sind, unter dem psychologischen Mikroskop betrachtet, eine reichhaltige Diskussion nonverbaler Botschaften. Wir stehen von früh bis spät im Austausch mit anderen. Das passiert vielfach unbewusst, über Empfindungen und in großer Selbstverständlichkeit. Wir achten in der Regel nicht darauf und denken darüber nicht viel nach. Dabei hat der Umgang mit Gefühlen und Eindrücken mindestens ebenso viel Einfluss auf unsere ganzheitliche Gesundheit wie Essen oder Bewegung.
Ein großer Teil der Menschheit lebt heute auf engem Raum zusammen und berührt zumindest emotional, oft aber auch physisch, fremde und vertraute Personen. In der Polyphonie, in guten Momenten in der Symphonie der leise zum Ausdruck gebrachten Freuden, Ärgernisse und Ängste sind wir ständig Akteure und Publikum zugleich. Der Unterton im Satz „Schatz, nimmst du den Müll mit?“ kann in der Verliebtheitsphase eine Liebeserklärung und im 20. Ehejahr ein Scheidungsanlass sein. Der Gesamteindruck ist ausschlaggebend für den Erfolg oder Misserfolg bei einer Prüfung. Ob es uns passt oder nicht – was wir sagen, zählt weniger, als wie wir es sagen. Das „Wie“ ist oft eine aufschlussreiche Botschaft, die wir unbeabsichtigt vermitteln. Der Empfänger nimmt sie auf über die emotionale Resonanz. Wir hören die Nuancen der Stimme, sehen die feinen Linien in der Mimik des anderen, interpretieren diese Wahrnehmungen blitzschnell und reagieren darauf. Dadurch wird der Austausch vertieft, aber unter Umständen auch erschwert. Schon allein deshalb ist es den Aufwand wert, sich der Landkarte der inneren Ströme zu widmen.
Klara hatte früher die Gewohnheit, ihre Bedürfnisse mit großer Selbstverständlichkeit zu übergehen. Inzwischen ist sie achtsamer im Umgang mit sich. Auf meine Bitte, ob wir den nächsten Termin verschieben könnten, hätte sie früher gemeint: „Klar, kein Problem.“, auch wenn es für sie einiges an Organisationsaufwand bedeutet hätte. Nun antwortet sie lächelnd: „Dann müsste ich den Babysitter verschieben, aber wenn es nicht anders geht, lässt sich das sicher einrichten.“ Die Aussage ist selbstfürsorglich und doch entgegenkommend, und normalerweise löst diese Haltung in mir den Impuls aus, mich von meiner Seite um ein Beibehalten des Termins zu bemühen. Im Tonfall schwingt aber eine Leichtigkeit, fast Nachlässigkeit mit, die mir – eher auf einer intuitiven Ebene – vermittelt: „Ich schupf’ das Leben, mach dir keine Sorgen, und so wichtig ist es ohnehin nicht!“ Spontan entsteht dadurch bei mir der Impuls, ihr die Verschiebung ohne weiteres Zögern zuzumuten. Da ich ihre Geschichte kenne, die geprägt ist durch das frühe Bemühen, die Eltern nicht zu belasten, verweile ich länger bei dem Thema, als es rein organisatorisch notwendig gewesen wäre.
Im Gespräch wird Klara bewusst, dass sie nicht vermittelt, was sie eigentlich empfindet und sagen möchte. Sie merkt auch, dass sie selbst dazu neigt, Termine zu verschieben. Sie spürt, dass diese scheinbare Flexibilität andere mehr irritiert als entlastet, kann aber die Misstöne nicht zuordnen. Die Dissonanz zwischen ihrem Bedürfnis nach Struktur und Klarheit und ihrer lässigen Art war und ist für sie selbst und für andere verwirrend, manchmal ärgerlich.
Klara versteht aber auch, warum es ihr schwerfällt, bei ihrem Vorhaben zu bleiben, sich ernster zu nehmen. Sie hadert nicht mehr mit sich, sondern versucht geduldig, die Loyalität gegenüber den Eltern zu würdigen. Die Erwachsene weiß, dass sie die Überangepasstheit nicht mehr braucht. Aber der kindliche Anteil braucht noch Zeit. Ich vermittle Klara Verständnis für ihre Situation und spreche aus, was sie selbst spürt: Es gibt bei diesem Thema eine persönliche Resonanz in mir. Für Klara ist das entlastend. Wir einigen uns am Ende des Gesprächs darauf, den Termin zu belassen, wie er ist, und uns beide um Einhaltung der vereinbarten Termine zu bemühen.
Wir haben selten den Raum oder die Zeit, den Zwischentönen einer Begegnung so differenziert nachzuspüren, wie es in der therapeutischen Praxis möglich und notwendig ist. Wir verarbeiten die Tageseindrücke, wenn überhaupt, nebenbei, unter der Dusche und im Abendverkehr. Wir spüren nach, lassen Gefühle hochkommen, assoziieren dazu Bilder und Satzfetzen. Gerade wenn wir uns entspannen, arbeitet unser neuronales Gefühlszentrum oft auf Hochtouren. Bei Beifahrern wurde wesentlich vielfältigere Hirnaktivität gemessen als bei Lenkern. Der Lenker blickt auf die Stopptafel. Der Beifahrer resümiert die Stopptafeln seines Lebens.
Im besten Fall bildet der Austausch von Zuwendung und Abwehrsignalen den Lebenssaft unseres Daseins. Immer wieder ist aber der innere Strom blockiert, oder ausufernd, und dann leiden wir. Verkümmert er, so wird es grau, einsam und langweilig um uns. Ohne Gefühle sitzen wir in einer leeren Gefängniszelle ohne Fenster. Wir fühlen uns erschöpft, sind anfällig für Süchte und grantig im Beisein von anderen. Ist der innere Strom überbordend und ungezügelt, so wird er verwirrend oder sogar zerstörerisch. Wir befinden uns dann auf einem Schlachtfeld, inmitten des Kampfgetümmels. Wir haben Angst, auch wenn wir sie oft nicht spüren, und rudern mit Händen und Beinen, um zu überleben. Wir ziehen wie Ertrinkende andere in die Tiefe und merken es unter Umständen nicht einmal.
Martin ist eher melancholisch und langsam. Er ist erfolgreich in seinem Beruf, tut sich aber schwer beim Smalltalk. Geschäftsessen und informelle Firmentreffen sind für ihn eine große Belastung. Beim gemeinsamen Frühstück am Freitagmorgen wird viel gelacht – er sitzt meist verlegen lächelnd daneben und versucht sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Er kommt oft nicht zu Wort, weil die anderen schneller reagieren und das Thema wechseln. Er hat auch den Eindruck, dass er bei den angesprochenen Bereichen – technische Neuerungen, Reisen, Klatsch und Tratsch in der Firma – nicht mitreden kann. Ihm fallen die heimlichen Techtelmechtel und Dispute gar nicht auf.
Wir schauen gemeinsam auf den Status Quo und versuchen zunächst, eine Akzeptanz dafür zu erarbeiten, in dem Sinn: Es ist, wie es ist. Martin fällt es schwer, sich nicht abzuwerten für seine „Unfähigkeit“, mit den anderen in Verbindung zu kommen. Er tendiert dazu, sich dreinzufinden – aber hadernd, ohne innere Zustimmung. Nach und nach nähert er sich der Traurigkeit, die unter der Resignation liegt. Es war schon immer so. So viel ungelebtes Leben, so viel Einsamkeit hat sich in seinem Inneren angesammelt, und er hat immer von sich gefordert, anders zu sein. Wie die Eltern, die sagten: „Nun geh doch endlich zu den Kindern in die Sandkiste!“ Sie meinten es gut, aber es war nicht gut. Er merkt, dass er eigentlich eine innere Abwehr hat und an der Frühstücksrunde nicht gut teilhaben kann, weil er es in seinem Inneren gar nicht will. Er möchte dazugehören, aber er kann und will nicht die Gruppenkultur übernehmen.
Wir suchen nach den Ausnahmen. Schön war der Morgen, als eine Kollegin belastet war durch eine private Situation. Er merkte, dass etwas nicht stimmte und sprach sie darauf an. Sie waren früh da, es war noch ruhig im Raum. Sie setzten sich abseits, und die Kollegin erzählte in wenigen Worten von ihrem Problem. Es gab einen Moment tiefer Verbundenheit. Das Frühstück danach war für Martin anders als sonst. Er spürte, dass seine Nähe der Kollegin guttat, und brachte sich ein, als ein Scherz auf ihre Kosten gemacht wurde. Seine Wortmeldung zeigte zu seinem Erstaunen sofort Wirkung.
Martin achtet in der Folge mehr auf solche Ausnahmen, auf Momente, in denen seine Wesensart positive Resonanz auslöst. Er sucht und gestaltet Situationen, die seiner Art des Austauschs mehr Platz bieten – am Anfang der Frühstücksrunde, im kleinen Kreis, beim Kaffee am Nachmittag. Er merkt, dass er derjenige ist, der an Nebeltagen die Stimmung aufhellen kann, nicht durch einen Witz, sondern durch seine gutmütige Wärme.
In einer guten, sinnstiftenden Beziehung mit uns selbst und anderen sind wir, wenn es uns gelingt, für unsere Empfindungen offen zu sein. Wir nähern uns den inneren Quellen, wenn wir uns berühren lassen, wenn wir unsere Sehnsucht spüren und das Kostbare dahinter erfassen, ohne gleich etwas ausagieren zu müssen. Wenn Martin früher nach einem Gespräch mit Freunden versucht hatte, etwas zu verändern, war der innere Druck dadurch noch größer geworden. Er musste erst hinspüren lernen auf das lichtvolle Geheimnis, das er ist und in sich trägt.
Sind wir in einer Übereinstimmung von Werten, Gefühlen, kognitiven Inspirationen und innerer Klarheit, dann leuchten das Leben, die Umgebung und wir selbst. Ein Abend mit Freunden, im guten Gespräch, wo gemeinsam gelacht, gedacht, geschwiegen und gelächelt wird, bleibt uns lange in Erinnerung, jedenfalls in den Körperzellen. Oft macht uns nicht die strahlende Sonne wirklich glücklich, weil wir sie als zu grell oder kitschig empfinden. Hoffnung, Liebe, Inspiration empfinden wir dann, wenn wir uns abgeholt fühlen in der Talsohle, durch die wir gerade gehen, und ein Stückchen emporgehoben werden.
Um berührbar zu bleiben, um ansprechbar zu bleiben für das, was von außen auf uns zukommt, müssen wir unsere Emotionen differenzieren. Die „primäre Emotionalität“ ist die spontane Reaktion, das Gefühl, das aufkommt, wenn Sie ein verlockendes Angebot betrachten, meist verbunden mit einem Impuls. Die „integrierte Emotionalität“ enthält Erfahrungen, Bewertungen, den Gesamtkontext des Lebens. In der Existenzanalyse ist das Heben der spontanen und der – man könnte sagen personierten – Empfindungen eine wichtige Vorbereitung für die sinnstiftende Entscheidung. Dort sind wir auch bereits nicht mehr nur mit uns beschäftigt, sondern schon wieder mehr ausgerichtet auf den Dialog mit der Welt, der im Ausdruck seine Vollendung findet. Das teure Notebook entspricht, näher betrachtet, nicht dem, was in meiner Lebenswelt derzeit eine Priorität haben sollte. Es verschafft mir Lust, aber nicht Erfüllung. Es kompensiert inneren Mangel, aber es nährt – derzeit – nicht wirklich die Werte, die mich in mein Leben führen. Ich kann mich spannenden Spielen in schöner grafischer Auflösung hingeben, aber ich fühle mich danach leer. Das Buch im nächsten Schaufenster ist fürs erste weniger verlockend. Wenn ich mir Zeit nehme, nachzuspüren, was mich mehr nährt, dann fällt mir die Entscheidung leicht.
Gefühle sind Botschaften der Seele, so wie Lustempfindungen und Schmerzen Ausdrucksformen des Körpers sind. Ob angenehm oder nicht, sie spenden die Energie für lebensnotwendige Handlungen. Das schmutzige Geschirr der Tochter auf dem Tisch ist ärgerlich, besonders wenn auf die Aufforderung, es wegzuräumen, die lakonische Antwort folgt: „Mama, chill’ deine Basis.“ Wirklich lebenshemmend ist aber vielleicht die fortwährende Grenzüberschreitung der Kollegin, die meine persönliche Post öffnet. Den Konflikt mit ihr auszutragen, wäre bedrohlicher – und sinnvoller. Die eigene Wut ist viel zu kostbar, als dass wir sie in einer Schimpftirade – womöglich gegenüber einem Dritten – sollten verpuffen lassen. Wir brauchen sie, um für uns oder andere einzutreten. Der richtige Adressat und das tiefere Ziel sind nicht immer gleich erkennbar. Martin war, wie er sich später eingestand, oft insgeheim wütend auf den Kollegen Leo, der als Salonlöwe die Runde mit Witzen versorgte, und damit auch das Klima prägte. Er hatte das Gefühl: Wenn der nicht wäre, käme ich eher zum Zug. Das war nicht von der Hand zu weisen – aber Martin beneidete Leo im Grunde nicht um seine Rolle, denn die wollte er nicht einnehmen. Er beneidete ihn darum, dass er seinen Platz gefunden hatte. Und daran konnte Martin niemand hindern – außer er selbst.
Manchmal ist es ganz leicht, die Richtung zu erkennen, in die uns das innere Schwingen, die Färbung unserer emotionalen Antwort auf Signale von außen, führen will und soll. Sehnsucht und Freude, aber auch Neid und Schmerz können gute Hinweise liefern, wenn das Leben uns lockt. Dieses Buch hat Ihr Interesse geweckt? Wie haben Sie das erkannt? Welche Regung hat Ihnen verraten, dass Sie kostbare Lebenszeit auf die Auseinandersetzung mit dem Thema einsetzen wollen? An den Gedanken „Das könnte für mich interessant sein“ ist immer eine Empfindung gekoppelt – auch wenn wir oft nicht darauf achten. Ohne die Aktivierung der neuronalen Bahnen, die für Gefühle zuständig sind, rühren wir keinen Finger.
Immer wieder ist der Zugang zur Emotionalität eingeschränkt, überlagert oder verschüttet. Wenn wir gefühlsarm sind, ist es schwer zu spüren, welches Essen uns guttut, welche Freundschaft uns nährt, wo wir uns wie einbringen können und welche Aufgaben für uns sinnvoll sind. Dann ersetzen Vorgaben von außen oder Vorstellungen das Gespür für das, was uns wirklich guttut. Ratgeber, Freunde und Fachleute können eine gute Anregung für die Gesundheit und Lebensgestaltung sein. Sie können uns aber auch verwirren, in eine Fremdbestimmung führen und unseren Konsumdrang steigern, weil die innere Leere nach Sättigung schreit. Deshalb ist dieses Buch kein Ratgeber im klassischen Sinn. Es ist eine Ermutigung, auf die besondere Komposition in Ihrem Inneren zu lauschen und die Einzigartigkeit dieses Kunstwerks noch mehr zu entdecken.
Wir lernen früh, die Gefühle anderer Personen zu deuten und darauf angemessen zu reagieren. Gesunde Mütter, Väter, Omas und Opas ahmen automatisch die frühen Worte der Knirpse nach, mit hoher emotionaler Beteiligung. „Ja, das ist ein Zug!“, wiederholt die ältere Dame am Bahnhof die enthusiastischen Worte des Zweijährigen – und teilt die frisch geschlüpfte Freude des Buben über den Eisenbahnwagon, obwohl sie Zugfahrten nicht mag. Sie „spiegelt“ und „validiert“, also wiederholt, versteht und würdigt die Gedanken und Gefühle des Kleinen. Sie vermittelt auch Verbote zunächst mehr durch Betonungen als durch Anweisungen. „Pfui, das ist ein Hundegacki“, wird sie später beim Aussteigen sagen, und ihn damit anweisen, diese attraktive Knetmasse besser unbeachtet zu lassen. Die Kinder lernen durch solche Botschaften, die gefühlvoll verbalisiert werden, die Welt nicht nur kennen, sondern auch bewerten. Diese Resonanzfähigkeit sichert unser Überleben, physisch und psychisch. Sie eröffnet uns das Universum der Freude, der Neugier, der Angst, der Wut, der Scham, des Neids, der Zwiespältigkeit sowie die lichtvollen Gefühle der Sehnsucht, der Hoffnung, der Liebe, der Freude, der Inspiration. Alle Emotionen sind zunächst gebunden an Gegenstände, Menschen, sinnliche Wahrnehmung, Erlebnisse, Eindrücke. Kein bedeutungsvolles Wort in unserem Inneren ist wirklich neutral, alles hat eine Färbung und intuitive Bewertung. Selbst mathematische Gleichungen, Aufzählungen oder Namen aus dem Telefonbuch lösen Körperempfindungen aus, beeinflussen minimal die innere Gestimmtheit.
Dadurch lernen Kinder auch, eigene Impulse, Spannungsgefühle und Lustempfindungen wahrzunehmen, ihnen Raum zu geben und sie in die Verhaltenssteuerung einzubeziehen. Dafür braucht es Übung darin, die Spannung, die durch eine nicht befriedigte Lust entsteht, halten zu können und emotionale Botschaften zu reflektieren. Wir lernen schon im Säuglingsalter, etwa durch die Verlängerung der Stillzeiten, Bedürfnisse unter Umständen zurückzustellen. Wir üben auch, sie gegen andere auszutauschen, oder in einen größeren Kontext zu stellen. Ein Baby kann das noch nicht von sich aus. Mütter merken schnell, dass die hungrigen Münder gegen Ende des ersten Lebensjahres schneller zu schreien beginnen, wenn sie in der Nähe sind, als wenn Papa die Obhut übernimmt. Das Kind erfasst, sobald es nicht mehr physisch abhängig ist von der Muttermilch, intuitiv, dass Papa andere Ressourcen der Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung stehen als Mama – und dass es bei Mama mehr Sinn macht, energisch nach der Brust zu verlangen. Papa hat keinen Busen, um mich zu entspannen, aber er spielt cool Gitarre – also besser das Abendlied einfordern. Junge Mütter fühlen sich dann manchmal manipuliert. Tatsächlich ist es eine wichtige und intelligente Anpassungsleistung des Kleinkindes, zu unterscheiden, welche Gefühle wie, wann, wo zum Ausdruck gebracht werden sollten, um sich Lebensraum auf allen Ebenen zu sichern. Einmal Busen, einmal Abendkonzert. So lässt sich’s leben.
Der Adventkalender ist für die Kleinen dann schon eine größere Herausforderung. Sie lernen nun aktiv den Bedürfnisaufschub im eigenen Interesse. Sie üben, sich vorerst mit Wenigem zufrieden zu geben, „vernünftig“ zu sein, nicht dem Drängen nach der schnellen Befriedigung der Lust zu folgen. Dahinter steht ein emotional aufgeladener Wert – die Hoffnung auf eine intensivere positive Erfahrung. Jeden Tag nur ein Kästchen, damit am Heiligen Abend die kleinen Freuden in der großen münden können. Dabei geht es nicht nur um Mehrung des Lustgewinns. Ist wirklich die Lust so groß beim letzten Kästchen, dass es den Aufschub über 23 Tage wettmachen könnte? Warum funktioniert es dann so viel weniger im Einkaufszentrum, wenn es um das Öffnen des Schokoladenpuddings geht? Die Kinder spüren, dass diese kleine Fastenübung Teil eines Rituals ist, und sich erst durch die Gesamtheit der Freuden und Verzichte die Schönheit des Festes eröffnet. Jedes große Fest birgt ein kleines Opfer, und wird erst dadurch kostbar. Der Preis für das Fest des Lebens ist die Sterblichkeit – und mancher, der dem Tod nahe war und die Gefahr überwunden hat, kann die Leuchtkraft des Augenblicks tiefer empfinden.
Als Erwachsene sagen wir später im alltäglichen Sprachgebrauch „Mein Kopf sagt hü, mein Bauch sagt hott“. „Das Gefühl kann viel feinfühliger sein, als der Verstand scharfsinnig“, meint der Wiener Psychiater und Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie Viktor Frankl, und betont damit die Bedeutung der Gefühle für die Sinnfindung. Tatsächlich sind es unterschiedliche Werte, die sich in Form von Gedanken und Empfindungen zu Wort melden. Wir nehmen manchmal einen Wert, also etwas, das wir als gut und kostbar empfinden oder betrachten oder erlebt haben, mehr als Gefühl, den anderen mehr in Form von Gedanken wahr. Gute Entscheidungen brauchen beides – sowohl das Bergen der „primären Emotionalität“ als auch das Abstimmen mit situativen Informationen sowie Wissen, Erfahrungen, inneren Haltungen und Werten, die über das Hier und Jetzt hinausgehen.
Intuition, eine vielgepriesene Gabe, ist eine Mischung aus feiner Wahrnehmung, hoher Fähigkeit zur emotionalen Resonanz, raschem Blick für das Wesentliche und einer guten Verbindung mit der eigenen Tiefenperson. Gemeint ist damit der Wesenskern eines Menschen, das, was ihn wirklich hinter dem Ofen hervorlockt, erfüllt, belebt, und wo er der Welt etwas zu geben hat. In der Existenzanalyse nennen wir diesen Wesenskern die „Person“. Sie ist das, was über den Charakter, die Prägung, die biologische Grundstruktur hinausgeht. Wir spüren im Grunde, was unsere Entwicklung fördert. Menschen, Situationen, Eindrücke, die uns freier, lebendiger, dialogfähiger machen, lösen Freude, Inspiration, Interesse aus. Einflüsse, die uns in unserer Entfaltung behindern, erleben wir als bedrückend, leer, sinnlos, kalt. Um herauszufinden, was zu unserem inneren Wachstum beiträgt, müssen wir manche Gefühle und Bedürfnisse zurückstellen – und andere wichtig nehmen.
Markus, ein Versicherungsvertreter, Ende 30, war vor zwei Jahren schon bei mir, weil er sehr erschöpft war und sich schwertat, eine dauerhafte Beziehung zu führen. Er wollte eine Familie gründen, hatte aber, wie sich damals herausstellte, Angst vor der großen Verantwortung, die er dann zu tragen hätte. Er hatte schon als Kind viel Rücksicht genommen auf seine durch den kranken Vater sehr belastete Mutter. Mit der Zeit konnte er sich von seinen perfektionistischen Ansprüchen lösen, verliebte sich in eine lebendige, lebenstüchtige Frau, bald darauf kam eine Tochter. Sie bewohnten eine hübsche Wohnung mit einer Terrasse, er wechselte innerhalb der Firma die Stelle, und fühlte sich dort recht wohl. Wir beendeten die gemeinsame Arbeit, alle waren glücklich.