Chris White lochte seine Arbeitskarte und schob sie in sein Fach. Dann ging er hinaus in den Nachmittagssonnenschein. Ihm war sehr heiß; also blieb er stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schwang seine Arbeitsjacke über die Schultern. Nach acht Stunden schwerer Arbeit spürte er jeden Muskel, denn er entlud Südfrüchte aus einem am Pier liegenden Dampfer. Gegenüber vom Eingang zu den Lagerhäusern kam eine Gruppe Schauerleute, die geschlossen auf das Kontrolltor zugingen, aus einer schäbigen Kneipe. Zwei von ihnen kannte Chris, und er nickte ihnen zu, als er eine etwas verknitterte Zigarette anzündete. Er war heilfroh, dass sein Arbeitstag zu Ende war.
„Was ist es denn heute?“ rief einer.
„Bananen“, antwortete Chris lachend.
Der Mann schüttelte den Kopf und fluchte. Ein anderer seufzte schwer. „Da wachsen uns wieder eine Woche lang Spinnen aus den Ohren“, sagte er.
„Solang es keine Taranteln sind, geht‘s ja noch“, meinte ein anderer missmutig.
Chris wartete, bis die Männer an ihm vorbei waren und drehte sich dann um, weil er hoffte, auf der um das Dock führenden Straße Kathy zu sehen. Es wäre fein gewesen, wenn sie ihn überrascht und abgeholt hätte. Nach einem Drink in einer der Kneipen konnte man dann gemütlich nach Hause schlendern, wo es gerade Zeit wurde zum Abendessen.
Eine dunkelhäutige Prostituierte mit grellroten Lippen und breiten Hüften lächelte ihn einladend von ihrem Balkon aus zu. Chris tat einen langen Zug an seiner Zigarette, verließ den Pier und ging zur U-Bahn-Station. Die Hure schenkte ihr Lächeln nun den anderen Arbeitern, die aus den scheunenähnlichen Lagerhäusern kamen.
Vielleicht war Kathy jetzt eben beim Kochen. Es kostete ihn einiges, seine Enttäuschung hinunterzuschlucken. Nach der Schwerarbeit des Tages fühlte er sich halb verhungert. Einen vollen Tag ganze Bananenstauden heben, tragen und wieder einpacken – es war, weiß Gott, keine leichte Arbeit. Hoffentlich hatte sie aus den Resten der vergangenen Tage ein ordentliches Abendessen gezaubert. Es war schon ein bedrückender Gedanke, kein Geld zu haben, und er lag ihm wie ein Stein im Magen. Er kam sich so … so … unnütz und untüchtig vor. Er hasste es, dass das Geld so notwendig und wichtig war, und er hasste die Hoffnungslosigkeit des Geldmangels. Und sein Schuldbewusstsein ließ ihm auch keine Ruhe. Bedenkenlos zwang er Kathy, von dem kümmerlichen Lohn zu leben, den er vom Dock nach Hause brachte. Klar, er hätte mehr verdienen können, aber seine Karriere als Schriftsteller war ihm wichtiger.
Kathy hätte ein viel besseres Leben verdient …
Einmal werde ich ihr alles vergelten können, dachte er. Dann, wenn mein Theaterstück fertig und angenommen ist. Dann bringt es Geld. Viel Geld vielleicht. Und dann bekommt Kathy alles, was sie sich wünscht.
Chris bog in die breite Straße ein und ließ sich vom Menschenstrom die Treppe zur U-Bahn hinuntertreiben. Mechanisch schlurfte er mit den Füßen und schirmte sich mit dem Gedanken an sein Theaterstück gegen die schiebende und stossende Umwelt ab. Vierzehn Monate lang hatte er daran gearbeitet. Mit der letzten Fahrkarte, die er hatte, ging er durch die Sperre. Ein ganzer Wespenschwarm der Angst flatterte und surrte in seinem Magen, wenn er daran dachte, dass ein Fremder sein Werk prüfen sollte. Der Gedanke erschreckte ihn und machte ihn verlegen. Hätte er nicht doch warten und noch ein wenig daran herumpolieren sollen, ehe er es zu Leo Jäger, dem Agenten mit dem eleganten Büro, brachte?
Der Zug röhrte in die Station und kam rumpelnd zum Stehen. Die Türen schoben sich auf. Chris wurde von den Leuten hinter ihm hineingeschoben und an die gegenüberliegende Metallwand gedrückt. Er versuchte eine Ecke zu finden, wo er einigermaßen sicher und bequem stehen konnte. Die Türen schlossen sich, und mit einem Ruck zog der Zug an. Leo Jäger hatte ihm nicht viel Zeit gewidmet. Trotzdem hielt er ihn für einen netten und einigermaßen seriösen Mann. Immer wieder versuchte er sich jedes einzelne Wort ins Gedächtnis zu rufen, das Jäger bei der Besprechung gesagt hatte.
„Ein sehr interessanter Titel (Lied der Schatten). Ich werde das Buch lesen, sobald ich ein bisschen Zeit finde. Sie hören von mir – so oder so. Sie können sich drauf verlassen. Nur ein bisschen Geduld müssen Sie haben. Sie arbeiten an den Docks, eh? Ein Schriftsteller mit Muskeln. Ich hoffe, dass Sie auch so schreiben. Nicht so blutleer wie viele andere.“
Chris versuchte den Gedanken an sein Theaterstück und Jäger in den Hintergrund zu schieben, denn er wusste, dass Ungeduld, Zweifel und Unbehagen ihn quälen würden, hinge er ihnen länger an. Es war ja erst drei Tage her, dass er bei Jäger vorgesprochen hatte, und es konnte Wochen dauern, bis ein so bekannter Agent Zeit fände, sein Werk zu lesen. Er war ja ein Unbekannter.
Er versuchte an andere Dinge zu denken – was er tun würde, käme er in seine kleine Wohnung. Zuerst würde er duschen. Das gehörte sich so vor dem Abendessen, wenn man von der Arbeit kam. Vielleicht hatte Kathy Lust, nach dem Abendessen einen Spaziergang zu machen; dann musste er sich rasieren. Später, wenn sie dann auf der Couch lag und eine Radiosendung anhörte, konnte er mit dem Schreibblock in die Küche verschwinden. Er hatte eine Idee für eine Szene, die er schnell zu Papier bringen wollte, solange sie noch frisch und plastisch vor seinem geistigen Auge stand.
Vielleicht konnte er noch einige Zeit arbeiten. Meistens wurde er ja schnell müde. Schließlich musste er ja auch schon um sechs Uhr früh an den Docks sein, und das hieß, dass sein Wecker um fünf Uhr läutete. Er hatte also recht wenig Zeit, sich in seine Fantasiewelt zu flüchten.
Was dann, wenn Jäger sagte, sein Theaterstück sei schlecht?
Dann hatte er keine Möglichkeit, es zu verkaufen …
Finster musterte Chris die Reklame an den Wagenwänden. Er dachte an Kathy und an die Miete, die bald wieder fällig war. Und die Finanzierungsgesellschaft wartete auf die nächste Rate. Seine Arbeit an den Docks war auch alles andere als sicher. Wenn er dieses Theaterstück nicht verkaufte, dann musste er das Schreiben aufgeben, sich eine Arbeit irgendwo in einem Büro suchen und Kathy wenigstens ein bisschen Sicherheit und Behagen bieten. Noch länger darauf warten? – Nein, das konnte er ihr nicht zumuten.
Die Frauen in der Menge um ihn herum standen schweigsam und bepackt da. Sie klemmten ihre Handtaschen unter die Arme und hielten ihre Päckchen fest. Eine stämmige Blondine mit leeren Augen und einem missmutigen Mund drückte sich an ihn. Er fühlte ihre schwammigen Brüste an seinem Arm, und ihre Schenkel drückten sich ein wenig zu intim an die seinen. Er roch ihr billiges Parfüm, das den Körpergeruch eines Arbeitstages kaum überdeckte. Sehnsüchtig dachte er an seine Kathy, an ihren schmalen, biegsamen Körper, an ihre aufregenden Brüste, die immer so lustig hüpften, wenn sie nackt durch die Wohnung rannte, an die schmale Taille, die hübsch geschwungenen Hüften, die knusprigen Hügel ihres Hinterteils, an die langen, schlanken Schenkel. Er zog leise die Luft durch die Zähne.
Warum hatte sie ihn gestern Abend, als sie am Tisch einander gegenübersaßen, so merkwürdig angeschaut? Er hatte Angst bekommen und sie gefragt, ob irgend etwas nicht in Ordnung sei. Aber sie hatte sich nur umgedreht und eine Erklärung gemurmelt, die ihm nicht genügt hatte.
Später, als sie dann im winzigen, luftlosen Schlafzimmer ihrer kleinen Wohnung im Bett lagen, hatte sie ihre Hand ausgestreckt und ihn an sich gezogen. Sie hatte ihr Gesicht abgewandt, als seine Hände zärtlich über ihren Körper spielten. Es war merkwürdig: Sie klammerte sich mit aller Kraft an ihn, aber ihr Gesicht schmiegte sich nicht wie sonst an seinen Hals. Er legte sein ganzes Gefühl in den Liebesakt. Kathy war immer, seit er sie kannte, ein Inbegriff erregender Weiblichkeit für ihn gewesen. Sein Mund drückte sich in ihr seidenes Haar, und seine Zungenspitze zog die Umrisse ihres Ohres nach. Er wusste, diese Zärtlichkeit mochte sie immer gern. Sie war heiß, leidenschaftlich, fast gierig. Ihr Körper drängte sich dem seinen entgegen, ihre Hände krallten sich in sein Fleisch. Ihre Leidenschaft steigerte die seine so sehr, dass sie sich in einer himmelstürmenden Ekstase entlud.
Als sein Herz sich wieder beruhigt hatte und er sich schlafmüde von ihr trennte, da bemerkte er, wie steif und gespannt ihr Körper war. So hatte er sie noch nie erlebt, denn auch sie war sonst nach dem Liebesakt immer von der gleichen satten Schlaffheit gewesen wie er selbst. Er streichelte zärtlich ihren warmen Leib. „Schätzchen, ist etwas nicht in Ordnung?“ erkundigte er sich besorgt. Sie murmelte nur etwas, das er nicht recht verstand, küsste seine Wange, drehte sich auf die andere Seite und schien einzuschlafen.
Am anderen Morgen schlief sie noch, als er aufstand, um Kaffee zu machen. Er zog seine Arbeitskleidung an, nahm ein wenig Geld aus dem Marmeladentopf, der ihnen als Haushaltskasse diente, denn er musste ja etwas zum Mittagessen kaufen, brauchte ein paar Zigaretten und Fahrgeld, ging in das Schlafzimmer und küsste sie auf die schlafwarme Wange.
Als seine Lippen sie streiften, zuckte sie zusammen und drehte sich um. „Wiedersehen, mein Herz“, sagte er und strich ihr über das wirre Haar, das auf dem zerknüllten Kissen lag. Dann bückte er sich noch einmal hinunter zu ihr und gab ihr einen Kuss auf ihre lustige, sommersprossige Stupsnase. Sie schlug groß ihre Augen zu ihm auf und schien etwas sagen zu wollen, doch dann räkelte sie sich nur zurecht, machte die Augen wieder zu und lag entspannt da.
Chris verließ das Haus und dachte auf dem Weg zur U-Bahn darüber nach, was dieser seltsame Blick, ihr ruckartiges Erwachen und die merkwürdige Leidenschaft gestern mit der starren Spannung nachher zu tun haben mochte.
Vielleicht war es nur eine ungewöhnliche Stimmung, überlegte er. Fast schämte er sich seiner Bestürzung darüber. Vielleicht war sie nur nervös, weil Miete und ein paar Rechnungen fällig waren und sie das Liebesspiel daher nicht genießen konnte. Oh, dieser schändliche, entsetzliche Geldmangel! Auf dem Heimweg grübelte er noch immer.
Der Zug bremste so abrupt, dass die Fahrgäste sich automatisch nach vorne schoben. Im Gedränge ließ er sich zum Ausgang treiben, ging durch die Sperre und die Treppe hinauf zur Straße.
Er holte tief Atem und eilte nach Hause. Im späten Nachmittagslicht sah das Herz von Greenwich Village noch hässlicher und ungemütlicher aus als bei Nacht. Was fanden die Leute eigentlich daran, die diese alten, schmutzigen Gassen und verwahrlosten Häuser als das Künstlerviertel New Yorks feierten? Welch ein Narr war da auf die Idee gekommen, dass diese trübselige, heruntergekommene Gegend für künstlerisches Schaffen besonders vorteilhaft sei und anregend wirke? Er fand diese Atmosphäre bedrückend, und er zog Parallelen von ihr zu seiner eigenen Unfähigkeit als Schriftsteller, als Ernährer einer jungen, hübschen, lebensfrohen Frau.
Er überquerte die Straße und sah, wie Jigger die übervollen Abfalltonnen aus dem Keller des Hauses auf die Straße wuchtete. Chris zögerte ein wenig, bis ihm der Hausmeister wieder den Rücken zuwandte und durch die Kellertür verschwand ; dann erst betrat er das Haus. Schnell stieg er die knarrenden, ausgetretenen Holztreppen hinauf. Es wäre ihm entsetzlich peinlich gewesen, wenn er an die fällige Wohnungsmiete erinnert worden wäre. Außerdem beschwerte sich der Hausmeister immer wieder über den Lärm seiner Schreibmaschine. Klar, er schrieb oft bis spät in die Nacht hinein.
„He, Mister White!“
Chris ging weiter, als habe er den Ruf des Hausmeisters nicht gehört. Im vierten Stock angekommen, freute er sich darüber, dass er gar nicht außer Atem war – ein Zeichen dafür, dass er trotz seiner vierunddreißig Jahre in ausgezeichneter körperlicher Verfassung war. Die Arbeit an den Docks war schwer, aber gerade diese Anstrengung schaffte harte Muskeln und einen ruhigen Atem. Sein Körper war drahtiger denn je und wies kein Gramm überflüssiges Fett auf.
Er klopfte dreimal in einem bestimmten Rhythmus. Kathy wusste nun, dass er nach Hause gekommen war. Er hätte die Tür natürlich auch selbst aufschließen können, aber er freute sich immer auf die Schritte, die sich näherten, auf ihr lachendes Gesicht und wie sie ihm mit einem Sprung am Hals hing. Ah, es war herrlich, nach der schweren Tagesarbeit nach Hause zu kommen zu ihr, ihren weichen Körper in die Arme zu schließen und einen Kuss auf ihre vollen, warmen Lippen zu drücken.
Aber er vernahm keine Schritte. Vielleicht stand sie am Herd und kochte das Abendessen, so dass sie sein Klopfen nicht gehört hatte? Er nahm den Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf. Nun ja, überwältigend war der Anblick gerade nicht, wenn man die ärmliche Wohnung betrat. Erträglich und sogar schön wurde sie nur durch Kathys Anwesenheit.
„Kathy?“ rief er.
Keine Antwort.
Chris ging durch das kleine Wohnzimmer weiter zum winzigen Schlafraum. Auf dem Kopfkissen lag etwas Weißes. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, als er sah, dass es ein an das Kopfkissen gesteckter Zettel war. Nein, ein Briefumschlag. Sein Name stand in Kathys kindlicher Kritzelschrift darauf. Er zog die Nadel heraus, nahm den Brief aus dem Umschlag und las ihn:
„Chris, es tut mir so schrecklich leid, aber ich verlasse Dich. Du musst zugeben, dass ich mich sehr bemüht habe. Wahrscheinlich bin ich nicht stark genug, um Dir die Frau zu sein, die Du brauchst. Bitte, hasse mich nicht, sondern versuche mich zu verstehen. Ich schreibe Dir sobald wie möglich und erkläre Dir, weshalb ich glaubte, dass es so besser für uns beide sei.
Kathy“
Er ließ sich auf die Bettkante sinken. Ihm war, als habe er einen Schlag auf den Kopf bekommen; sein Gehirn funktionierte nicht mehr, und er vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen.
Nach einer Weile ließ er sich zurückfallen, lag quer über dem Bett und starrte zur Decke hinauf. Der Brief entfiel seinen Fingern und flatterte zu Boden. Er fühlte sich so unendlich müde, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Die lastende Stille wurde nur vom Tropfen des Wasserhahns im Bad durchbrochen. Sein Kreuz schmerzte dumpf von der ununterbrochenen Arbeit des Tages.
Die Zeit verging. Er hatte kein Gefühl mehr für sie, weigerte sich zu denken, sich zu bewegen. Erst als er nagenden Hunger verspürte, stand er auf, verließ die Wohnung und ging die Treppe hinunter zur Straße. Er drängte sich durch die auf dem Gehsteig spielenden Kinder und schob mit der Schulter die schmutzige Tür von Armandos Restaurant auf. Wie ein Automat ging er zum letzten Tisch ganz hinten, den Kathy immer am liebsten gehabt hatte.
Betty, die Kellnerin, nahm seine Bestellung entgegen und schaute ihn an. Ihre müden Augen wurden durch viel Tusche nicht frischer, und ihr reizloses Gesicht sah trotz der dicken Schminke nicht schöner aus. „Kommt deine Frau nicht?“ fragte sie.
„Heute nicht“, antwortete er ruhig.
„Ist sie krank?“
„Nein.“
Betty ging weg, und er spielte mit den dünnen Salzstangen herum, die in einer Dose auf dem Tisch standen. Er sah ihr dabei nach. Unter ihrem kurzen, engen Rock zeichneten sich ihre runden, fleischigen Hinterbacken sehr plastisch ab. Zu seiner eigenen Überraschung störte ein winziges Begehren die merkwürdige Taubheit und tote Ruhe, die seine Seele und seinen Körper, als er den Brief fand, erfasst hatten. Aber er wies dieses Begehren ebenso von sich wie jeden Gedanken, starrte auf das Papiertischtuch und wartete, bis Betty sein Essen brachte.
Als er seinen Kaffee getrunken und eine zerknitterte Dollarnote neben seinen Teller gelegt hatte, kam sie lächelnd an seinen Tisch. Da stand er auf.
„Wie geht‘s mit deinem Theaterstück?“ fragte sie.
„Es ist fertig. Ich habe es einem Agenten übergeben.“ „Im Ernst? Na, dann wünsche ich dir aber Hals- und Beinbruch.“
„Danke.“
„Kommst du bald mal wieder vorbei?“
Chris nickte und ging auf die Straße hinaus. Die Zigarette hing zwischen seinen Lippen, als er vom Fußsteig aus zu seiner leeren Wohnung hinauf sah. Die leere Wohnung. Ein Alptraum. Er wandte sich nach links und ging weiter. Ein Paar kam an ihm vorbei. Der Mann war klein und gut gekleidet, das Mädchen jung und hübsch. Es schwang eindeutig und verführerisch die Hüften. Chris folgte den beiden. Die Kleine hatte schöne, aufregende Beine. Wie alt mochte sie sein? Zwanzig vielleicht?
Unvermittelt fiel ihm ein, dass sie viel zu jung wäre für ihn. Niemals mehr würde ein so junges Mädchen zu ihm passen, ein so frisches, unverbrauchtes Menschenkind. Er war vierunddreißig, und die Kluft zwischen ihm und dieser taufrischen weiblichen Schönheit ließ sich nie mehr überbrücken. Er fühlte sich sehr bedrückt, und eine unbestimmte Angst presste ihm den Magen zusammen. Kathy war jung gewesen. Sie war gegangen, und nun musste er sie aus seinem Leben streichen.
Er schlenderte im Gedränge dahin. Allmählich verging die Angst wieder, und er konnte freier atmen. Es begann zu dämmern, und der Abend war angenehm warm. Bald machte es ihm sogar wieder Spaß, die Beine der vorübergehenden Mädchen zu mustern und forschende Blicke auf ihre Blusen zu werfen. Es war eine unschuldige und doch ein bisschen beruhigende Beschäftigung, und sie tat den Mädchen nichts, die von ihren Bürojobs nach Hause eilten. Er lief ziellos weiter.
An der Bushaltestelle in der Nähe des Parks wartete ein Mädchen mit offenem braunen Haar. Irgendwie fühlte er sich ein wenig an Kathy erinnert. Weder heute noch morgen oder übermorgen würde sie in die Wohnung zurückkehren; niemals mehr. Zwischen ihnen war alles aus, und er wusste es auch. Sorgen machte er sich deshalb nicht, aber er lief in halber Betäubung dahin, und schließlich spürte er sogar, dass seine Beine zu zittern begannen.
Deshalb blieb er stehen und lehnte sich an einen dicken Baumstamm am Parkrand, um zu warten, bis die Schwäche wieder verebbte. Die laue Abendluft tat ihm wohl, und er atmete tief durch. Er wusste, dass er nur nicht an Kathy denken, über die Zukunft nachgrübeln durfte. Der Brief, nein, an den Brief wollte er sich nicht erinnern.
Alex Gordon, sein Freund, fiel ihm ein, und er stieß sich vom Baumstamm ab. Fünf Minuten brauchte er, um jenes moderne, elegante Haus zu erreichen, in dem der junge, erfolgreiche Komponist wohnte. Mit dem Lift fuhr er zum dritten Stock hinauf und drückte auf die Türklingel. Ja, mit Alex konnte er über Kathy sprechen. Er richtete sich innerlich auf, um für dieses ernste Gespräch bereit zu sein. Alex würde seinen Kummer verstehen und ihm so lange gut zureden, bis die Taubheit aus seinem Herzen und seinem Körper verschwand.
Nichts rührte sich, und er läutete erneut. Auf der anderen Korridorseite ging eine Tür auf, und eine rothaarige Frau mittleren Alters guckte durch den Türspalt. Er sah eine Hand, die einen geblümten Hausmantel über mageren Brüsten zusammenhielt.
„Er ist nicht zu Hause“, sagte sie und lächelte ihn an. „Oh, wirklich?“
„Gegen Mittag ist er weggegangen. Ich denke, er ist verreist, denn er hatte einen Koffer bei sich.“
„Ah, ich verstehe. Vielen Dank.“
Die Frau sah Chris und seine fleckige Arbeitskleidung an. „Wollen Sie etwas abliefern? Ich hebe es gerne für ihn auf.“
Chris drückte auf den Liftknopf. „Nein, ich bin ein Freund von ihm.“
Das schien die Frau zu überraschen. Langsam zog sie sich zurück, schloss die Tür und drehte innen das Sicherheitsschloss.
Er ging wieder die Straße entlang, wusste aber nicht, wohin er gehen und was er tun sollte, und es war ihm auch egal. Ins Kino? Lächerlich. Nach Kino war ihm nicht zumute. Ein Mann, den vor ein paar Stunden die Frau verlassen hatte, hockte nicht in einem Kino herum. Außerdem war ihm schon der Gedanke unerträglich, stillsitzen und auf eine Leinwand starren zu müssen. Er brauchte um sich Bewegung, Geräusche, ja sogar Lärm und hektische Geschäftigkeit, all das, was den Schmerz, der tief innen in ihm bohrte, ein wenig lindern und den ständigen Gedanken: „Kathy ist fort, Kathy ist fort, Kathy hat mich verlassen“, verscheuchen konnte.
Vor einem Espresso lungerte eine ganze Schar junger Leute herum. Ein Paar verließ eben die Gruppe und lehnte sich ein Stück abseits gegen die Wand. Der Junge war blond und athletisch gebaut. Er sah sehr gut aus. Das Mädchen war sicher nicht älter als achtzehn. Er redete leise auf die Kleine ein, und sie lachte ebenso leise dazu, zupfte an ihrem Röckchen herum und zog ihren Pullover straff, so dass das anliegende Material ihre jungen, kräftigen Brüste unterstrich und die Nippel deutlich nachzeichnete. Es waren runde Brüste und lange, schlanke, sanft gerundete Beine, die ihn wieder an Kathy erinnerten. Kathy … Er schloss die Augen und hielt den Atem an. Der gleiche Schwung der Hüften … Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und sein Mund war strohtrocken. Weg von hier, weg … Sie war nicht mehr seine Kathy.
Unerträglich war der Gedanke, der sich in ein Gewebe aus Sehnsucht, Enttäuschung, Begehren und Kummer hüllte und ihm das Herz abzuschnüren schien.
Seine Kathy. Er sah sie wieder vor sich, den verführerischen Schwung ihrer Hüften unter der sommerlich dünnen Bettdecke; er erinnerte sich an die dunkelrosabräunliche Farbe ihrer Nippel, die sich im zärtlichen Liebesspiel versteiften und wie Türmchen der Lust aus den Hügeln ihrer Brüste wuchsen, die weich und samtig waren wie Rosenblätter. Wie herrlich geschwungen war ihre Rückenlinie mit den schmalen Gesäßbacken, die sich so vollkommen in seine Hände schmiegten! Und die kleine Dreiecksnarbe, die sie am linken Knie hatte; als Kind war sie einmal gefallen.
Ja, und ihr Gesicht! Dieses entzückende, junge, rundliche Gesicht mit den sanften Augen eines Kindes, das in sein Spiel vertieft ist. Ihm waren sie immer wie Märchenaugen erschienen, wie die unschuldsvollen, vertrauenden Augen eines Jungtieres. Oh, es war grauenhaft, ständig ihr Bild vor sich zu sehen!
Ihr Haar war eine Schattierung dunkler als blond, noch eine Nuance dunkler das süße Dreieck ihrer Sexwiese. Wie hatte er es immer genossen, seine Fingerspitzen durch die Löckchen spielen zu lassen! Mädchenhafte Brüste, die sich in seine hohlen Hände schmiegten; der köstliche, blumenhafte Duft ihrer Haut, der ihn immer erregte, den er gierig einsog; ihre schmale Taille, die er fast mit seinen Händen umspannen konnte; die schönen, schlanken Beine mit den weichen, kräftigen Muskeln, die ihn in ihrer sanften Rundung täglich von neuem begeistert und hingerissen hatten; die schmalen Knöchel, die rosa Zehen, mit denen sie ihn in ihrem Übermut immer zärtlich gezwickt hatte – es war unerträglich, an sie zu denken.
Kathy war als Jungfrau zu ihm gekommen. Damals war sie neunzehn gewesen und hatte vor Verlangen gesprüht, sich liebend in seine Arme zu werfen. Beim Liebesspiel atmete sie immer tief, leise und zufrieden, und ihr Atem war süß. Mit zwanzig hatte sie ihn geheiratet. Er hatte ihr nichts bieten können, und trotzdem war sie bei ihm geblieben. Die erste Zeit ihrer Ehe – es war eine Zeit der täglichen Wonnen, unersättlichen Begehrens und Gewährens, und aus diesen Stunden ihrer Liebesspiele schöpfte er die Kraft für seine tägliche Arbeit und seine Schriftstellerei. Welches Glück hatten sie einander geschenkt!
Und mit welcher Energie und Umsicht hatte Kathy alles Materielle in die Hand genommen! Sie bewies darin eine Reife, die er niemals vermutet hätte. Kathy konnte schweigen, wenn er in seine Gedanken verloren über seinem Block brütete, um eine ganz bestimmte Formulierung zu finden; Kathy, die ihm Wäsche und Kleider kaufte; Kathy, die aus dem bisschen Geld, das er von der schweren, ermüdenden Arbeit nach Hause brachte, leckere Mahlzeiten zauberte, die in die kärglich möblierte Wohnung Wärme und Behagen brachte. Nein, die Wohnung war es nicht, die behaglich wurde; dieses Gefühl des Zuhauseseins, des Umsorgtwerdens, des trotz aller Unsicherheit ruhigen Selbstvertrauens ging von ihr aus, von ihrer lebendigen, warmen Weiblichkeit.
Und dann hatte ihn Kathy nach zwei Jahren tapferen, unermüdlichen Kampfes verlassen, weil sie keine Zukunft sah. Vielleicht sah sie schon ein, was sie ihm damit angetan hatte. Vielleicht saß sie irgendwo in einem schäbigen Zimmer und weinte bitterlich. Vielleicht bereute sie ihren Schritt schon jetzt zutiefst. Der Gedanke, Kathy könnte einsam irgendwo weinen, schnitt ihm ins Herz.
Nein, Kathy weinte nie. Manchmal wurden ihre Augen feucht, und in den Augenwinkeln hing dann eine Träne. Aber Kathy weinte nicht.
Chris rieb sich mit der schwieligen, harten Hand über das Gesicht und wartete an einer Ecke, bis sein Herzweh ein wenig nachließ. Ihm war, als griffe eine kalte Eisenhand um sein Herz. Sein Mund war trocken, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Er sah die Leuchtschrift einer Kneipe und tastete in seiner Tasche nach Geld. Ein Drink würde vielleicht helfen. Zwei Dollar hatte er und ein paar Münzen Kleingeld. Es musste reichen. Zwei Dollar – das war vielleicht eine kleine Flucht vor dem großen Herzweh.
Er trat durch die Tür und ging zur Bar.
Das Bier war kalt, die Musikbox laut, das Licht ein wässriges Rot. Es war eine kleine, schäbige Kneipe, die nur von den Bewohnern der nächsten Umgebung besucht wird, in die man zu einem gemütlichen Schwatz geht, weil man nur um die nächste Ecke zu biegen braucht und dort immer ein paar bekannte Gesichter findet.
Zwei Männer standen an der Bar, einer an einem Ende, der andere am entgegengesetzten. Zwischen ihnen lehnte ein Paar mittleren Alters an der Theke, das sich leise unterhielt. Neben Chris saß eine einzelne Frau mit dunklem Haar und einem grünen Kleid vor einem Cocktail.
Chris hatte sein fünftes Bier vor sich stehen. Das war gut und richtig so, denn ein Mann, den seine Frau verlassen hat, geht in eine Kneipe und besäuft sich. Dazu setzt er sich nicht, sondern bleibt an der Theke stehen. Er redet auch mit keinem, er steht nur da, trinkt und starrt irgendwohin ins Leere.
Chris riss eine frische Zigarettenpackung auf und streifte das Cellophan ab. Schon wieder begann der Schmerz in seinem Innern zu pochen. Es war wie ein Hunger nach Dingen, die ihm unerreichbar waren und deshalb viel kostbarer und erstrebenswerter erschienen als je vorher.
Kathy …
Er dachte daran, wie sie einander zum erstenmal begegnet waren. Es war am Strand gewesen, und er hatte ihr nachgeschaut, wie sie vorsichtig und graziös am Wasser entlanggegangen war, um sich nicht an den vielen scharfen Muschelschalen die Füße zu verletzen. Sie hatte jung und wunderhübsch ausgesehen in ihrem knappen Badeanzug, der ihren Körper wie eine zweite Haut einhüllte. Er war so fasziniert gewesen, dass er seine Freunde verlassen hatte und zum Wasser hinuntergegangen war, um neben ihr stehen zu können. Er hatte den Bauch eingezogen, die Brust herausgedrückt und die Schultern zurückgeschoben, um eindrucksvoller auszusehen, und er hatte geglaubt, sich absolut unauffällig zu benehmen. Aber mit jedem Schritt, den er ihr näherkam, wurde ihm seine Körperlichkeit immer bewusster, so dass er kaum mehr den Mut aufbrachte, sie anzusprechen. Aber dann gelang es ihm doch noch. Ihr süßes Gesichtchen mit den lebhaften Augen und dem offenen Lächeln hatte ihn einen Moment lang fast erschreckt angeschaut, aber dann war das Lächeln wieder da, und um ihn war es geschehen. Er fühlte in sich eine Welle der Erregung anbranden, und er musste tief Atem holen, ehe er wieder ein Wort sagen konnte.
Das war der erste Tag gewesen, der Anfang. Dann sahen sie einander täglich, einen ganzen Monat lang. Schließlich saß sie in seinem möblierten Zimmer am Fenster und las seine Manuskripte, und er hockte zu ihren Füßen und beobachtete den Schimmer, den ihr süßes junges Gesicht zu umrahmen schien. Es war so kindlich ernst in seiner Konzentration gewesen.
Und später dann, nachts, hielt er ihren zierlichen nackten Körper im Arm. Es war ein atemberaubendes Erlebnis gewesen, einmalig in seiner Zärtlichkeit und märchenhaften Schönheit. Ihr Haar duftete, und ihre Haut roch süß wie die eines frischgebadeten kleinen Kindes. Wie wundervoll waren ihre kleinen, festen Brüste gewesen! Sie war jungfräulich und unberührt in jeder Beziehung, aber sie hatte ihm voll Liebe und knospender Leidenschaft ihren Körper geschenkt. Wie hatte sie sich an ihn geschmiegt!
Es war ihm schwergefallen, so lange zu warten, denn er hatte sich mit allen Fasern seines Herzens nach ihr gesehnt. Er wollte sie nicht erschrecken, und deshalb hatte er voll behutsamer Zärtlichkeit die ihre zu wecken versucht. Und diese Zärtlichkeit war die ganze Zeit hindurch der bestimmende und beglückende Faktor zwischen ihnen gewesen.
Trotz aller Leidenschaft, die er für sie fühlte, hatte es ihm selbst weh getan, dass er ihr den Schmerz des ersten Eindringens in sie antat. Aber sie war bereit gewesen und hatte es auch gewollt. Es war ein Erlebnis ganz eigener Art, ein unerfahrenes Mädchen beim ersten Liebesakt dem Höhepunkt entgegenzuführen, aber seine Behutsamkeit und Rücksichtnahme hatte sich gelohnt. Wie glücklich und entspannt hatte ihr Gesicht ausgesehen, als ihr Kopf mit dem dunkelblonden, wirren Haar auf dem Kissen neben dem seinen ruhte!
Erinnerungen, die ihm das Herz im Leib umzudrehen drohten …
Sie hatten einander von da an tief und leidenschaftlich geliebt, und immer wieder hatte er ihr bewiesen, wie begehrenswert sie war, wie zauberhaft ihr Körper auf ihn wirkte, wie dankbar er ihr für ihre Fürsorge war. Er war arm, hätte sie aber am liebsten mit Geschenken überschüttet. Weil er kein Geld hatte, schenkte er ihr das, was er im Überfluss hatte – seine Liebe und Zärtlichkeit.
Vielleicht hatte es nicht genügt. Armut und Zweifel sind die größten Feinde einer Liebe, die ihrer selbst nicht absolut sicher ist. Die harte Wirklichkeit hatte sie dann eben erdrückt.
Chris wurde sich darüber klar, dass er noch immer das Zündholzheftchen in der Hand hielt; er runzelte die Brauen, riss das Hölzchen ab und zündete die Zigarette an, die er schon lange im Mund hielt. Tief sog er ihren Rauch ein und blies ihn nachdenklich über die Bartheke. Vielleicht war diese Liebe doch nicht so stark gewesen, wie er immer geglaubt hatte. Vielleicht war sie für ihn nur neu gewesen und daher beglückend; neu auch für sie, so dass sie eine Zeitlang ihrem Zauber erlag. Aber dann, als der erste Schmelz dahin war.
„Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mir Feuer geben?“
Die Frau neben Chris hatte ihn angesprochen, doch er hatte nicht verstanden, was sie wollte. „Oh, Verzeihung, ich habe Sie nicht verstanden.“
Sie lächelte und hielt ihr Feuerzeug in die Höhe. „Ich scheine schon wieder kein Gas mehr drinnen zu haben“, sagte sie.
Er nickte, zündete ein Streichholz an und hielt es an ihre Zigarette. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, dass sie ihn, seit er gekommen war, doch schon wiederholt angelächelt hatte. Sie war eine nicht unattraktive Frau, doch auch sicher nicht überwältigend hübsch. Schön war an ihr das reiche, kastanienbraune Haar, das sie in einer ungezwungenen Frisur trug. Über den Schultern hatte sie eine Strickjacke hängen.
„Vielen Dank“, sagte sie nach dem ersten Zug.
„Gern geschehen“, lächelte Chris.
Sie drehte sich ihm auf ihrem Hocker ganz zu. „Ich heiße Grace. Grace Oliver.“
„Und ich Chris White.“
„Hallo, Chris.“
„Hallo.“
Ihr Kleid war tief ausgeschnitten, und er sah ein wenig mehr als nur die obere Hälfte ihrer blasshäutigen Brüste. Um den Hals trug sie eine einfache Perlenkette. Ihr Mund war breit und gut geformt, die Augen waren lebhaft, vielleicht sogar eine Spur nervös, und die Wimpern schienen ständig zu flattern.