Über dieses Buch:
Was Jane sich wünscht? Ein kleines bisschen Glück! Was sie stattdessen hat: eine kleine Tochter mit dem fragwürdigen Charme einer Naturgewalt. Kein Wunder, dass Janes Libido zwischen Kindergeschrei und Haushaltsstress auf der Strecke geblieben ist. Auch ihr Mann Guy hadert mit seinem Leben, das ihn zunehmend an eine Sackgasse erinnert. Da geht es ihm wie seiner alten Studienfreundin Nina, die noch dazu als Single-Mom eines frisch verliebten Sohns heillos überfordert ist. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, bekommen Guy und Nina plötzlich Post – nach vielen Jahren Funkstille kündigt ihr alter Freund Hugo seinen Besuch an. Da gibt es ein entscheidendes Problem: Die drei verbindet ein Geheimnis, das sie lieber vergessen würden … und das nun ungeahnte Folgen hat!
Über die Autorin:
Clare Chambers, geboren 1966 im englischen Croydon, studierte in Oxford und arbeitete als Lektorin in einem Londoner Verlag. Sie lebt mit ihrer Familie in Kent.
Bei dotbooks veröffentlichte Clare Chambers bereits ihre Romane »Die Melodie der Erinnerung« und »Das alte Haus am Brombeerweg«.
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eBook-Neuausgabe Juni 2018
Die Originalausgabe dieses Romans erschien 2000 unter dem Titel »A Dry Spell« bei Century, Random House Group Ltd., London. In Deutschland erschien der Roman erstmals 2002 unter dem Titel »Immer Ärger mit Hugo« bei Goldmann.
Copyright © der Originalausgabe 2000 by Clare Chambers
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Cozynook und artpustovit
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96148-205-4
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Clare Chambers
An einem Tag wie keinem anderen
Roman
Aus dem Englischen übersetzt von Antje Althans
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MEMO
An: Alle Komiteemitglieder
Von: A. P. Thoday, Vorsitzender des Expeditions- und Feldforschungskomitees der Royal Geographical Society
Datum: 20. September 1976
Infolge der jüngsten tragischen Ereignisse in Algerien, von denen eine von einem unserer Mitglieder geführte Gruppe betroffen war, wurde der Vorschlag laut, die Reiseempfehlungen der Society an Reisende und Expeditionsleiter neu zu überdenken und zu aktualisieren. Mögliche Diskussionspunkte in der nächsten Sitzung (19. Oktober 1976) beinhalten: allgemeine Sicherheit; Kooperation mit den Gastländern; Versicherungsfragen; rechtliche Aspekte; inoffizielle »schwarze Listen« feindlicher Nationen/Regionen; konsularische Pflichten etc. Überarbeitete Tagesordnung anbei.
Sobald ihr Sohn James einige Monate vor seinem achtzehnten Geburtstag anfing, Fahrstunden zu nehmen, verkaufte Nina Osland ihren Wagen. Sie wusste zwar, dass er irgendwann einen eignen haben musste – in modernen Zeiten war ein Leben ohne Auto kein Spaß, wie sie bald herausfinden sollte –, doch sie wollte verdammt sein, wenn er in ihrem zu Tode kam.
Leider wollte der Mann, der sich auf ihre Anzeige im Loot meldete, ebenfalls ein Pessimist, ein Auto für seine siebzehnjährige Tochter kaufen, weil er fand, dass sie nach Einbruch der Dunkelheit hinter einem Lenkrad sicherer wäre als zu Fuß – ein statistischer Trugschluss. Er brachte sie zur Probefahrt mit. Sie war schlank und blond und hatte einen gepiercten Bauchnabel, den sie dem Februarwetter zum Trotz zwischen einem abgeschnittenen T-Shirt und ihrer Jeans zur Schau stellte, und große, unnatürlich hohe Brüste, die von einem Bügel-BH grausam zusammengequetscht waren.
Sie kann praktisch ihr Kinn auf ihnen ablegen, dachte Nina, als sie dem Vater die Schlüssel überreichte, der nach einer Rostinspektion gerade wieder unter dem Fahrgestell des Wagens aufgetaucht war.
»Haben Sie ihn in der Garage stehen?«, fragte er, als er sich hinters Steuer manövrierte und den Fahrersitz unter dem Quietschen von Metall auf Metall nach hinten rammte.
»Nicht oft«, sagte Nina, die beschlossen hatte, nicht freiwillig mit nachteiligen Informationen herauszurücken – zum Beispiel damit, dass der Verschluss des hinteren Sicherheitsgurts nicht einwandfrei funktionierte – es sei denn, sie musste, aber lügen würde sie auch nicht. Den überlegten Einsatz von Wahrheit und Schweigen hatte sie von ihrem Vater, einem Diplomaten, geerbt oder vielleicht auch gelernt, und außerdem war James auf der Eingangsstufe erschienen, um zuzuhören. Seine Haare waren ungebürstet, und er hielt ein trockenes Weetabix in der Hand. Er aß die Mistdinger, wo er ging und stand und hinterließ im ganzen Haus Brösel wie gigantische Schuppen. Sie wedelte ihn wieder nach drinnen, weil sie nicht wollte, dass er ihre Verkaufsmasche mit anhörte.
»Wollen Sie eine Probefahrt machen?«
Das Mädchen saß auf dem Beifahrersitz. Nina beobachtete, wie sie im Spiegel an der Sonnenblende verstohlen ihr Make-up kontrollierte. Sie fing Ninas Blick auf und errötete durch eine Maske aus Grundierung.
»Wäre es Ihnen denn recht?«, fragte der Mann. »Nur einmal um den Block. Um zu sehen, wie er fährt.«
»Machen Sie ruhig.« Ich frage mich, ob sie Implantate hat, dachte Nina müßig.
»Wollen Sie nicht mitkommen?«, bot der Mann ein wenig verlegen an. »Ich meine, falls ich ihn stehle.«
»Nein, ist schon okay.« Nina lächelte. »Hinterher entführen Sie mich noch.«
»Sie finden also, ich sehe eher wie ein Entführer aus als ein Autodieb«, sagte er. »Das ist interessant.«
»Eigentlich sehen Sie wie keins von beiden aus«, gab Nina zu, die ihn zum ersten Mal richtig wahrnahm. Vor ihrem Wortwechsel hatte sie ihn als uninteressant abgeschrieben. Doch jetzt, als sie ihn genau musterte, sah sie einen großen, kahl werdenden Mann Mitte vierzig mit müden Augen und einem freundlichen, anständigen Gesicht. Einen Mann, der seine Tochter liebte.
»Um ehrlich zu sein, bin ich eher in Sorge, dass ich mich verfahre«, sagte er. »Vielleicht finde ich nie wieder zurück.
»Sie können ja James mitnehmen«, sagte eine Stimme, die Nina als die ihre erkannte, die jedoch geradewegs vom Teufel abgesandt zu sein schien. Ich habe die Zukunft gesehen, dachte sie, als sie beobachtete, wie James hinter dem Mädchen auf den Rücksitz kletterte.
Eine Stunde später war sie um dreitausend Pfund reicher, aber sie konnte sich nicht darüber freuen.
Es dauerte zwei Monate, bis Nina das Mädchen wieder sah, und diesmal war es sogar noch spärlicher bekleidet. Nina hatte bereits gefolgert, dass James sich eine Freundin zugelegt hatte, da ihr zum Beispiel auffiel, dass er öfter außer Haus war, als oben in seinem Zimmer auf seinem Computer zu spielen, und dass er es mit seinem Aussehen genauer nahm als mit seinen schulischen Leistungen. Ihr war ganz anders geworden, als sie im Bad die Tuben mit Waschgel und Pickelcreme sah und die Schwaden eines neuen, pfeffrig riechenden Eau de Cologne schmeckte.
James verbrachte auch mehr Zeit als je zuvor damit, im hinteren Garten herumzustreunen und mit seinem Handy zu telefonieren – ein Phänomen, das Nina rätselhaft war, da er mit seinen Freunden, wenn sie vorbeikamen, ganze Abende glücklich und zufrieden verbringen konnte, ohne sich dabei aufs Sprechen zu verlegen. Der Empfang im Haus – wo es ein normales Telefon gab, zu dem er ungehinderten Zugang hatte – war offensichtlich schlecht, deshalb war James gezwungen, draußen auf und ab zu gehen wie ein Wünschelrutengänger auf der Suche nach einem starken Signal. Manchmal, wenn es regnete, beobachtete Nina, wie er in der Telefonzelle an der Straßenecke Schutz suchte und Minuten später, immer noch redend, wieder herauskam.
Der Tag, an dem Nina sie zusammen im Bett erwischte, fing schlecht an und das steigerte sich. Es begann damit, dass eine Frau, die behauptete, eine bosnische Kriegerwitwe zu sein, an die Tür geklopft und um eine Secondhand-Kleiderspende gebeten hatte. Nina hatte ihr einen Kaschmirpullover gegeben, der in einem Ärmel ein kleines Mottenloch hatte, den sie jedoch gelegentlich noch trug. Später, als sie aus dem Haus ging, fand Nina ihn zwei Gärten weiter in eine Hecke gestopft wieder. Sie trug ihn zurück nach Hause und machte sich, mit der Menschheit hadernd, erneut auf den Weg. Vor ihr lag die traurige Pflicht, die Wohnung einer Verstorbenen auszuräumen, damit das Wohnungsamt sie in Besitz nehmen konnte. Irene Shorrocks, James‘ Großmutter und Ninas Beistand und Freundin, hatte die meiste Zeit ihrer siebenundsechzig Jahre in East Dulwich gelebt und war in der kurzen Zeit zwischen ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben und ihrem Tod oft auf Kofferraumflohmärkten gewesen. Die Wohnung, die nach und nach immer mehr einer Reihe begehbarer Schränke ähnelte, war vom Fußboden bis zur Decke mit Pappkartons und schwarzen Tüten voll unsortierter »Schnäppchen« verstopft. Seit sie Nina zu ihrer Testamentsvollstreckerin ernannt hatte, hatte Nina Gott allabendlich um Gesundheit und ein langes Leben für Irene gebeten: O Gott, bitte mach, dass Irene mich überlebt.
An diesem speziellen Morgen, als Nina auf einem der schmalen, drehbaren Sitze auf den Bus wartete, die absichtlich dazu entworfen zu sein schienen, sie in den Scherbenhaufen zu ihren Füßen kippen zu lassen, fühlte sie sich dazu veranlasst, etwas Tapferes und gleichzeitig Dummes zu tun. Die Bushaltestelle war vollständig demoliert: Alle Scheiben waren zerbrochen und jede freie Fläche mit Obszönitäten besprüht. Der Fahrplan war herausgerissen, und darunter klebte ein Zettel mit einer Entschuldigung für sein Fehlen. Nur ein wahrer Misanthrop konnte sich ein solches System ausgedacht haben, dachte Nina gerade, als sie den süßen, scharfen Essiggeruch bemerkte, der das Miasma aus Abgasen durchdrang. Die andere Person an der Haltestelle, ein großes Mädchen mit einem Rundrücken, in Jeansrock und weißen Slingpumps, aß Pommes aus Zeitungspapier und saugte sich jede einzelne Fritte mit fleischigen, geschminkten Lippen in den Mund. Ninas Magen knurrte laut, was sie mit einem raschen Räusperanfall übertönte. Zusätzlich zu ihren anderen Missetaten hatte die bosnische Flüchtlingsfrau Nina auch noch beim Frühstück gestört. In der Ferne kam ein Bus in Sicht. Das Mädchen und Nina schwangen sich synchron nach vorn, um die Nummer zu lesen, und dann enttäuscht wieder zurück. Die Pommes waren so gut wie aufgegessen. Das Mädchen knüllte das Papier zusammen, gab es von einer Hand in die andere, um seine fettigen Finger abzuwischen, und dann, nachdem es zuerst Nina und dann den Mülleimer beäugt hatte, der sich nicht einmal fünf Schritte entfernt an der Bordkante befand, ließ es das Ganze auf den Boden fallen.
Nina, die an windigen Tagen einem Bonbonpapier über die Straße hinterherjagte, wenn es ihr aus der Tasche fiel, war entsetzt. Zugegeben, es lag sowieso schon eine ganze Menge Müll auf dem Bürgersteig, doch für Apathie in diesem Ausmaß gab es wirklich keine Entschuldigung. Vor ihrem geistigen Auge erhoben sich Bilder vergleichbarer Schandtaten von Bürgern, und sie spürte, wie ihr Magen begann, sich vor Entrüstung über die unsichtbare Armee aus Dreckspatzen und Vordränglern, Rauchern in U-Bahn-Stationen und Beschmutzern öffentlicher Toiletten wild zu drehen. Beruhige dich, sagte sie sich. Misch dich nicht ein. Doch es half nichts: Mehrere sarkastische Bemerkungen boten sich bereits an.
»Ganz schön weit bis zum Mülleimer, was?«, sagte sie, und vor Zorn klang ihre Stimme verräterisch nach Upper-Class. Das Mädchen war nur für eine Sekunde aus dem Konzept gebracht, bevor es sich Nina über die kurze Distanz wie ein Schwan zischend näherte und ihr einen kräftigen Stoß gegen die Brust versetzte, der sie durch die fehlende Scheibe des Haltestellenhäuschens nach hinten und in die Glassplitter auf dem Beton fallen ließ. »Blöde Kuh«, schleuderte ihr das Mädchen zum Abschied noch ins Gesicht, bevor es sich auf seinen abblätternden Stöckelabsätzen die Straße hinunter entfernte.
»Sie sollten ins Krankenhaus gehen und sich durchchecken lassen«, riet ihr der Mann von der Entrümplungsfirma, als Nina ihm den Grund für ihre Verspätung erklärt hatte. Er hatte vor Irenes Haus in seinem Lieferwagen gesessen und ein Schinkenspeckbrötchen gemampft, als sie völlig durcheinander und wütend dort ankam. Nach dem Zwischenfall hatte es ihr nicht an Helfern gefehlt, die ihr auf die Beine halfen, ihr den Dreck von den Kleidern klopften und den Notdienst rufen wollten, doch als sie erst einmal festgestellt hatte, dass ihre Schnitt- und Schürfwunden nur oberflächlich waren, wollte sie nichts anderes, als vom Ort des Geschehens zu verschwinden. Als die versammelten Zuschauer merkten, dass sie nicht schwer verletzt war und weder die Polizei rufen noch das dramatische Potenzial des Zwischenfalls ausschöpfen wollte, verloren sie das Interesse. Jemand hielt ihr ein Taxi an, und sie ergriff die Flucht und schwor sich, in Zukunft allen heldenhaften Impulsen zu widerstehen.
Sie saßen im dunklen Wohnzimmer vor dem Fernseher und sahen sich irgendeine Comedy-Show an. Auf dem Couchtisch vor ihnen befanden sich eine leere Pizzaschachtel und zwei Flaschen Cola. James hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, und sie waren beide, Kinn auf der Brust, tief auf dem Sofa runtergerutscht, als Nina hereinkam. Er zuckte vor Unbehagen leicht zusammen, rührte sich jedoch ansonsten nicht.
»Oh, Mum, das ist Kerry«, nuschelte er.
»Hallo Kerry«, sagte Nina, die es reizte, die Deckenlampe anzuknipsen und sie sich richtig anzusehen. Im bläulichen Schein des Fernsehers sah sie mehr aus wie ein Geist als wie ein lebendiges Mädchen, doch sie war erkennbar die Person, die zum Autokauf bei ihnen gewesen war. Nina sah ihre Piercings in Nase und Nabel glitzern.
»Hallo«, sagte Kerry, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
»Sie ist schüchtern«, würde James später zu ihrer Verteidigung vorbringen. Diese Entschuldigung, die dazu gedacht war, eine ganze Reihe kleiner Unhöflichkeiten und unsozialer Gewohnheiten abzuschwächen, beeindruckte Nina absolut nicht.
Der Comedy-Künstler war gerade dabei, einen obszönen Witz zu erzählen, deshalb beschloss Nina, sich so lange nicht von der Stelle zu rühren, damit sie nicht glaubten, es sei ihr peinlich. »Ich will euch ja nicht hetzen«, sagte sie von der Tür aus, »aber wie kommt Kerry nach Hause?« James und seine Freunde waren es gewöhnt, zu jeder Tages- und Nachtzeit weite Strecken von einem Haus zum anderen oder vom Pub zu Fuß zurückzulegen, und sie wollte nicht, dass sich das arme Mädchen mit dem nackten Bauch womöglich verkühlte oder was noch Schlimmeres.
»Taxi«, sagte James geduldig.
»Na, dann Gute Nacht. Nett, dich kennen gelernt zu haben«, sagte Nina zu Kerry, nicht ohne Ironie.
Ich kann genauso gut ins Bett gehen, dachte sie. Ich werde mich nicht in die Küche setzen wie der Familienhund. Normalerweise, wenn James Freunde mit nach Hause brachte, erhoben sie keinen Anspruch auf das Wohnzimmer, sondern hingen in seinem Zimmer herum und hörten Kassetten. Diese Abweichung erschien Nina bedeutsam.
Es musste nach ein Uhr gewesen sein, als sie von etwas geweckt wurde. Sie saß im Bett und war bei Licht über dem Times-Kreuzworträtsel eingeschlafen. Ihr Kugelschreiber war wahrhaftig über die Seite gerutscht und hatte eine unebene Linie hinterlassen – etwas, wovon sie annahm, dass es nur in Zeichentrickfilmen vorkam. Sie hob ruckartig – schuldbewusst sogar – den Kopf, wie jemand, der im Theater döst und vom Applaus hochgeschreckt wird.
Es muss Kerry sein, die nach Hause wollte, dachte sie und wartete auf das Zuschlagen der Tür, doch im Haus war es still und dunkel. Dann hörte sie es wieder: ein ungewohntes, weibliches Husten. Nina schlich sich auf den Treppenabsatz. James‘ Tür war – ungewöhnlicherweise – verschlossen, und an der unteren Kante war ein dünner Lichtstrahl zu sehen. Nina durchquerte den Flur in zwei Schritten, klopfte einmal laut, was im Zimmer ein hektisches Poltern auslöste, und öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten, die Tür.
Die beiden saßen dicht zusammengedrängt und mit nackten Schultern unter dem Federbett. Ihre Kleider, die sie offensichtlich mit einer gewissen Hast abgelegt hatten, lagen durcheinander auf dem Bett und ums Bett herum. Das einzige Licht kam von der verstellbaren Schreibtischlampe, die zur Wand gedreht worden war. Sie sahen so niedergeschlagen aus, dass sie Nina fast leid taten, doch dann kehrte ihre Entrüstung zurück, zusammen mit dem Gefühl, dass man sie zum Narren gehalten hatte.
»Nicht in meinem Haus«, sagte sie und deutete zuerst auf James und dann auf Kerry. »Zieht euch an. Ich rufe dir ein Taxi.« Sie hatte so viel Mitgefühl, wieder in den Flur zu treten, während Kerry aus dem Bett stieg und mit BH und Schlüpfer kämpfte. »Weiß dein Vater, dass du hier bist?«, fügte sie über die Schulter hinzu.
»Ich hab ihm gesagt, ich würde bei einer Freundin übernachten«, kam die Antwort.
»Wir haben doch gar nichts gemacht, Mum«, sagte James in einem Ton, der es fertig brachte, gleichzeitig flehentlich und vorwurfsvoll zu sein. »Wir haben nur ein bisschen gekuschelt.«
Es ist so unfair, dachte Nina, ganz allein den strengen Erziehungsberechtigten spielen zu müssen. Ein großer Kloß aus Selbstmitleid steckte in ihrem Hals, und sie zog sich unter dem Vorwand, ein Taxi zu rufen, in ihr Schlafzimmer zurück, damit sie ihrem Kissen mit geballten Fäusten ein paar kräftige Schläge versetzen und sich sammeln konnte, bevor sie ihnen wieder gegenübertrat.
Als sie draußen das Tuckern eines Dieselmotors hörte, kam Nina nach unten und drückte Kerry eine Zehnpfundnote in die Hand. »Das ist für die Taxifahrt«, erklärte sie, als hätte es über den Verwendungszweck irgendein Missverständnis geben können.
»Oh. Okay«, sagte Kerry.
Zweifellos bedeutete das in ihren Kreisen »Danke«, dachte Nina. James stand unschlüssig in der Gegend herum. Er sah aus, als wollte er Kerry einen Abschiedskuss geben, doch ein Blick auf seine Mutter, die jetzt in ihrem Schottenkaro-Morgenmantel auf der zweiten Treppenstufe saß, kaufte ihm den Schneid ab. »Ich ruf dich an«, sagte er stattdessen, und sie lächelten sich viel sagend an, bevor sich die Tür schloss und James sich umdrehen musste, um sich der Inquisition zu stellen.
»Mum.« James entschied sich für einen Präventivschlag. Wenn Nina erst einmal mit einer ihrer Strafpredigten loslegte, war sie nicht mehr zu bremsen – wenn sie endlich mit ihm fertig war, hatte er bereits vergessen, was er hatte sagen wollen. »Ich hab dir doch schon gesagt, dass wir nichts gemacht haben. Aber selbst wenn, ich bin siebzehn, fast achtzehn. Ich bin alt genug, um zur Armee zu gehen und für mein Land zu sterben.« Das war das Argument, das er immer vorbrachte, wenn er beklagte, dass er im Pub keinen Alkohol trinken durfte. »Ich bin alt genug, um zu heiraten, um Vater zu werden ...«
»Genau das wirst du auch, wenn du so weitermachst«, unterbrach ihn Nina. »Was willst du tun, wenn sie schwanger wird?«
»Sie wird nicht schwanger.«
»Sie könnte es werden. Dafür ist es schließlich gedacht, falls darüber bei dir Unklarheit herrscht.«
»Wir hatten noch nicht mal richtigen Sex!«, protestierte James.
»Noch nicht?« Ninas Stimme klang schrill, und sie dachte, was meint er mit ›richtig‹? »Dann habt ihr es also vor?«
James tat so, als würde er seinen Kopf ans Geländer schlagen. »In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich, Mum?«
Nina, die sich für eine mustergültige moderne, liberale emanzipierte Mutter hielt, fühlte sich davon getroffen. »Es ist nicht der Sex an sich, über den ich mir Sorgen mache«, sagte sie und änderte schnell ihre Taktik. »Ich versuche nicht, deine Jungfräulichkeit zu schützen.«
»Sowieso zu spät«, konnte James sich nicht verkneifen zu murmeln.
Nina schluckte. »Ich denke dabei an das Mädchen. Du wärst nicht derjenige, der eine ungewollte Schwangerschaft auf dem Hals hätte.« Das ist es, dachte sie. Das ist ein feministisches Problem. »Davon abgesehen ist das mein Haus, und ich will nicht, dass du mir hier ein Mädchen nach dem anderen anschleppst. Es ist ja auch nicht so, als wärt ihr schon länger miteinander gegangen.«
»Wie lange müssten wir denn miteinander gehen, bis es erlaubt wäre?«, wollte James wissen. Er lehnte in T-Shirt und Boxershorts an der geschlossenen Haustür, da er sich nicht die Mühe gemacht hatte, sich richtig anzuziehen.
»Ich ... Ich weiß nicht. Ich habe mir noch keinen speziellen Zeitplan überlegt«, stotterte Nina, die ausmanövriert war.
»Also, solange wir es nicht hier machen und Kerry nicht schwanger wird, hast du im Grunde nichts dagegen?«, hakte James nach, der versuchte, aus Ninas komplizierter Logik das Hauptargument herauszudestillieren.
»Nein. Ja. Ich meine, ich habe immer noch was dagegen, aber ich weiß, dass ich dich nicht davon abhalten kann. Deshalb wäre es mir lieber, wenn du wenigstens die ... äh ... Unantastbarkeit dieses Hauses respektierst.« Nein, das war nicht alles, dachte Nina. Das Haus war ihr scheißegal, und sie hatte ganz sicher nicht den Eindruck vermitteln wollen, dass sie der Gedanke daran, dass sie in irgendwelchen Schuppen und auf Autorücksitzen vögelten, begeisterte. Sie spürte, wie sich ihr ganzer Ärger in Müdigkeit und Verwirrung auflöste. Vielleicht liegt es daran, dass ich morgens mit dem Kopf auf den Bürgersteig gedonnert bin, dachte sie. Ich bin sicher davon völlig benommen. »Heute an der Bushaltestelle bin ich angegriffen worden«, wich sie jetzt aus. »Auf dem Weg zu Irene.«
»Was? Wieso das denn?«, sagte James, froh darüber, dass der Streit verpufft war, und beglückwünschte sich insgeheim dazu, so glimpflich davongekommen zu sein.
»Ich habe so ein Mädchen angepfiffen, weil es Müll auf den Boden geworfen hat. Daraufhin hat es mich auf den Boden in einen Scherbenhaufen geschubst.« Nina zog einen der weiten Ärmel ihres Morgenmantels hoch und reckte den Kopf zurück, um die Schürfwunden auf ihrer Schulter zu inspizieren.
»Himmel! Warum hast du nicht früher was gesagt? Hast du die Polizei gerufen?«
»Nein. Dann wäre ich noch später zu dem Treffen mit dem Mann von der Entrümpelungsfirma gekommen«, antwortete Nina. »Als moralischer Kreuzzug war es ein bisschen blödsinnig, fürchte ich.«
»Vielleicht solltest du die Finger von moralischen Kreuzzügen lassen – sie sind offensichtlich schlecht für deine Gesundheit«, schlug James mit der Andeutung eines Lächelns vor.
Nina wollte seine Wange tätscheln – eine Geste, die er hasste –, und er duckte sich auch prompt, trotzdem erfreut darüber, dass sie sich wieder vertragen hatten. Sie stritten sich normalerweise kaum.
»Na, dann Gute Nacht«, grummelte James und schob den Riegel vor die Haustür.
»Gute Nacht«, sagte Nina und drehte sich dann, als sie die Treppe schon halb hinauf war, wieder um. »Warum lädst du Kerry nicht mal sonntags zum Lunch ein, damit ich sie richtig kennen lernen kann? Ich will nicht, dass sie mich für einen alten Drachen hält.
James lachte unbehaglich. Genau das dachte sie. »Lunch, ich weiß nicht. Sie isst nicht gern vor anderen Leuten. Es ist nur, sie ist nicht dran gewöhnt, am Tisch zu sitzen und so. Es wäre ihr peinlich.«
Natürlich, dachte Nina. So eine Figur bekommt man nicht durch normales Essen. Sie plündert wahrscheinlich lieber um Mitternacht den Kühlschrank und steckt sich danach zwei Finger in den Hals.
»Dann eben nicht zum Lunch«, sagte sie. »Irgendwas anderes..
»Was auch immer«, sagte James auf seine liebenswürdig-unverbindliche Art. Aus diesem netten, kleinen Vorschlag würde nie etwas werden, so viel war klar.
Was für ein deprimierender Tag, dachte Nina, als sie das Times-Kreuzworträtsel auf den Boden beförderte und wieder ins Bett stieg. Auf dem Nachttisch, neben dem Wecker und den Kopfschmerztabletten auf pflanzlicher Basis, stand einer der sechs Gegenstände, die sie aus Irenes Wohnung gerettet hatte: das letzte Foto von Irenes Sohn, Martin, 1976 durch das offene Fenster eines Landrover aufgenommen, der vor der Wetterstation in In-Salah, Algerien, geparkt war. Daneben stand ein Bild von Nina mit einundzwanzig, die James als sechs Monate altes Baby hielt. Ihre Wangen berührten sich, und Nina lächelte mit dem Selbstvertrauen einer Frau in die Kamera, die noch jung und schön genug war, um einen engelhaften Säugling in den Schatten zu stellen. Doch James, dessen Aufmerksamkeit von irgendetwas auf der linken Seite gefesselt war, blickte bereits weg.
Plötzlich wurde sie von Trauer und Nostalgie überwältig – um ihre verlorene Jugend und um James‘ frühe Kindheit, die jetzt so unwiederbringlich weit war; und weil das Beste an ihrer Beziehung in der Vergangenheit lag. Er war ein so unkompliziertes Baby gewesen, so leicht zu trösten. Sie erinnerte sich flüchtig, aber sehr klar an das Gefühl rasierklingenscharfer Babyfußnägel, die über ihren Rücken kratzten: James schlief nicht gern allein und war oft mitten in der Nacht zu ihr ins Bett gekrochen. Das war einer der Gründe dafür, dass sie Single geblieben war. In dem Augenblick, als er geboren war, hatte sich ihre Berufung angekündigt: James. Sie würde ihm alles sein müssen – Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Freundin –, da alles, was ihm fehlte, ihre Schuld war. Einmal, als er fast drei war, hatte er gefragt, ob er eine Geburtstagsparty geben dürfte – die Idee dazu hatte er in einer Fernsehsendung für Kinder aufgeschnappt. »Wie kannst du denn eine Party geben, Liebling?«, hatte Nina gesagt. »Du hast doch gar keine Freunde.« Sie hatte ihn mit dieser Bemerkung nicht verletzen wollen – er hatte nur keine Freunde, weil er noch zu jung für den Kindergarten war, und Nina kannte sonst niemanden mit kleinen Kindern. Doch offensichtlich hatte sie es getan, denn am nächsten Tag, als sie mit dem Auto unterwegs waren, hatte er spontan und mit großer Würde gesagt: »Der Himmel ist mein Freund.«
Tja, jetzt brauchte er den Himmel nicht mehr, und sehr bald würde er auch sie nicht mehr brauchen. Diese Betrachtungen wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen, die sich dann ein Stück öffnete. »Ich hab vergessen, es dir zu sagen«, flüsterte James durch den Spalt. »Da ist eine Nachricht für dich auf dem Anrufbeantworter.«
»Ich höre sie morgen ab«, antwortete Nina. Sie hatte sich schön warm eingekuschelt und keine Lust mehr, sich vom Fleck zu rühren. Es hatte wahrscheinlich mit ihrer Arbeit zu tun. Nina hatte sich ursprünglich beim Lambeth Council zur Sozialarbeiterin ausbilden lassen, vertrat inzwischen jedoch bei Sorgerechtsverfahren vor Gericht die rechtlichen und persönlichen Interessen der betroffenen Kinder. Ihre Schützlinge hatten oft noch nach Dienstschluss Krisen. Egal wer es war, er konnte verdammt noch mal warten.
»Jemand namens Hugo«, sagte James und zog sich zurück. »Hat aus Australien angerufen.«
Nina sprang aus dem Bett, als hätte sie sich auf einen Skorpion gesetzt. Ihr Herz raste. In ihrer Hast verhedderte sich ihr linker Fuß im Federbett, und sie fiel zu Boden, schlug mit dem Gesicht auf die Ecke der Ottomane und zerrte gleichzeitig das Bettzeug mit sich. Das ist ein Omen, dachte sie, als sie benommen auf dem Boden lag. Sie griff sich an die Nase und fing die ersten Blutstropfen auf. Sogar noch nach achtzehn Jahren, aus einer Entfernung von zwölftausend Meilen und ohne einen Finger zu krümmen, brachte Hugo Unheil.
Das würde eine tolle Woche werden ... Am Montag hatte Harriet ein Schulheft ihrer Schwester von oben bis unten mit Wachsmalkreiden bemalt und es nach einem sehr sanften Tadel gegen das Aquarium geschleudert. Am Dienstag hatte sie vorm Schultor einen spektakulären Wutanfall bekommen, weil Jane sich geweigert hatte, sie durch das Brennnesselstück am Rande des Sportplatzes laufen zu lassen. Am Mittwoch war Jane sowieso schon mit mieser Laune aufgewacht, und es hatte gar nicht viel gebraucht, nur eine fallen gelassene Schüssel mit Cornflakes in Milch, um den Tag abzuhaken. Und heute saßen sie hier zusammen im Wartezimmer der Arztpraxis, weil sie Harriet nicht bei Guy lassen konnte, da er sonst fragen würde, warum sie einen Arzt konsultierte. Harriet war herumgerannt und auf die Stühle geklettert und gab seit fünfzehn Minuten dieses nervtötende schrille Kreischen von sich. Die Hälfte der Wartenden starrte sie, Jane, an, als würden sie sie am liebsten erwürgen, wenn sie dem Kind nicht bald eine knallte, und die andere Hälfte wirkte, als würde sie sie bei der Fürsorge anschwärzen, wenn sie es tat.
Die Praxis war für einen Frühlingstag schrecklich überheizt, die Fenster geschlossen und vergittert, die Heizkörper schienen zu glühen. Gott allein wusste, welche Krankheiten um sie herum ausgebrütet und in Umlauf gebracht wurden. Harriet kam auf sie zugerannt, sah ihre Miene, sprang wieder weg und prallte gegen den Couchtisch, wodurch ein Stapel Zeitschriften auf den Boden rutschte. Eine Woge aus missbilligendem Gemurmel und Zungenschnalzen durchlief das Wartezimmer. Auf Janes Stirn bildeten sich Schweißperlen.
»Harriet, komm her«, sagte sie und versuchte gleichzeitig diskret und drohend zu wirken. »Geh und spiel mit den Spielsachen«, fuhr sie fort und deutete auf den Plastikkorb mit schmuddeligen Teddybären und zerfledderten Büchern, aus dem die Spielecke bestand. Alle Versuchen, Harriet mit der Aussicht auf Süßigkeiten zu bestechen, ruhig zu sitzen und/oder still zu sein, waren gescheitert, und auch die Androhung vager und dann spezifischer Bestrafungen, die später vollstreckt werden sollten, hatte nicht gefruchtet. Jane hatte versucht, sie mit Gewalt festzuhalten, doch Harriet war, obwohl sie erst drei war, so stark und glitschig wie ein Riesenfisch.
Janes ältere Tochter, Sophie, inzwischen fünf und in der Schule, war nie so gewesen. Sie war ein nachgiebiges, sanftmütiges Kind – weinerlich vielleicht, aber leicht zu trösten. Harriet dagegen hatte von Geburt an Anzeichen von Widerspenstigkeit gezeigt. Sie hatte allen Bemühungen ihrer Mutter und der Horden von Fachleuten und Laktationsexperten getrotzt, die sie dazu bringen wollten, sich stillen zu lassen. In den ersten drei Monaten ihres Lebens hatte sie jede wache Minute untröstlich geweint. Diese frühen Symptome hatten sich inzwischen zu allgemeinem Trotz, Ungehorsam und einer abgrundtiefen Verachtung für mütterliche Autorität gewandelt. Jane hatte immer nur Mädchen gewollt: Sie dachte, sie wären sanfter, weniger wild als Jungs, und hegte die kühne Vorstellung, dass das Leben mit Töchtern so sein würde wie es in Little Women – Betty und ihre Schwestern beschrieben war sie würden abends mit Stickarbeiten am Kamin sitzen oder ums Klavier herum Madrigale singen. Die Realität war ein Schock und eine herbe Enttäuschung. Jetzt dachte sie, Jungs wären vielleicht gar keine so schlechte Idee gewesen. Die, die sie in Harriets Spielgruppe sah, schienen zärtliche, unkomplizierte Geschöpfe zu sein, ihren Müttern ergeben.
Die alte Dame neben ihr, o-beinig und mit Ballen versehen (zu diesem Zeitpunkt sah Jane auf die Füße der Leute, anstatt Blickkontakt mit ihnen aufzunehmen), stieß ein Zischen aus wie ein zerstochener Reifen, als Harriet zum zweiten Mal über ihren Stock stolperte. Knall. Janes offene Handfläche traf Harriet hinten am Bein mit einem Geräusch wie ein Schuss. Das Kind brach zusammen, als sei es wahrhaftig von einer Kugel niedergestreckt worden, sein Geschrei zerriss das Schweigen. Gut, wir gehen, dachte Jane.
»Jane Bromelow«, sagte eine körperlose Stimme, und durch eine Luke erschien eine ausgestreckte Hand und hielt ihre Krankenakte in der braunen Papphülle.
O Gott, dachte Jane verzweifelt und schleppte die immer noch schluchzende Harriet zur Tür des Behandlungsraums. Als wäre es nicht schon peinlich genug, auch ohne das.
Die Ärztin, eine ziemlich junge Frau, die sie noch nie gesehen hatte, schenkte ihr ein kühles Lächeln, als Jane Harriet an einem kleinen Tisch ablud, der mit weiteren abgenutzten und klebrigen Spielsachen übersät war. »Setzt dich ein paar Minuten dorthin«, befahl Jane.
»Was kann ich für Sie tun –«, die Ärztin sah auf ihre Notizen, »– Mrs. Bromelow?«
Jane musterte die linke Hand der Frau. Kein Ehering. Sie hätte eine verheiratete Ärztin ideal gefunden; eine verheiratete Ärztin, die den ganzen Tag mit einem kleinen Kind zu Hause festsaß. Aber das war unmöglich – das musste sogar Jane akzeptieren.
»Nun, ich verschwende wahrscheinlich Ihre Zeit«, sagte Jane, bereits unterwürfig und entschuldigend.
Die Ärztin lächelte. Das sagten sie fast alle und vergeudeten sie damit erst recht.
»Es ist wahrscheinlich nicht einmal ein medizinisches Problem.« Sie blickte zu Harriet, die jetzt versuchte, das verfilzte Haar einer einarmigen Barbiepuppe zu bürsten, und fragte sich, wie viel sie von alldem mitbekommen und später wiedergeben würde. »Es ist nur, dass ich jetzt schon seit einiger Zeit einfach keine ... äh ... Libido mehr zu haben scheine, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich habe einfach keine Lust mehr«, endete sie lahm.
Die Ärztin nickte. »Nehmen Sie die kombinierte Pille?«
Jane schüttelte den Kopf.
»Denn das kann manchmal der Grund sein.«
»Aber ich nehme sie nicht«, sagte Jane.
»Mmm. Bekommen Sie genug Schlaf? Stören die Kinder Sie?«
»Ich könnte ständig ein bisschen mehr Schlaf brauchen. Und manchmal kommen sie rein, wenn sie Albträume hatten. Aber nicht oft.«
»Möglicherweise fühlen Sie sich gehemmt, weil sie Sie hören könnten?«
»Vielleicht.
»Und sonst ist Ihre Beziehung zu Ihrem Mann in Ordnung?«
»O ja, gut, gut.« Jane stellte sich Guy vor, der noch immer loyal den schrecklichen Pullover trug, den sie ihm in den frühen Tagen ihrer Ehe gestrickt hatte, und wurde plötzlich von einer Welle aus tiefer Zuneigung durchströmt.
»Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?«
»O nein. Ich will seine Gefühle nicht verletzen. Er würde es persönlich nehmen. Und es ist nichts Persönliches. Es ist nicht so, als würde ich davon träumen, Sex mit anderen Männern zu haben.« So ein Mist, sie hatte vor Harriet nicht »Sex« sagen wollen. »Aber ich glaube, er hat langsam so eine Vermutung.
Ein paar Abende zuvor hatten sie im Bett gelegen, als Guy, als sie gerade eindöste, gefragt hatte: »Hast du irgendwelche sexuellen Phantasien?«
Diese Art von Konversation, das wusste Jane aus Erfahrung, war der Auftakt zu einem sanften Hinweis, dass sie in dieser Beziehung ein bisschen experimentierfreudiger sein sollte, und musste deshalb gleich im Keime erstickt werden.
»Äh ... ja, ich denke schon.«
»Na, dann erzähl mir davon.«
»Nein, nein, du wärst schockiert.«
»Nein, wäre ich nicht«, sagte Guy, plötzlich erregt.
Doch, das wärst du, Kumpel, dachte Jane. Weil meine sexuelle Phantasie daraus besteht, KEINEN SEX ZU HABEN. Stattdessen sagte sie: »Ich glaube, das Problem mit Phantasien ist, dass sie nur in der Vorstellung funktionieren. In dem Moment, wo man versucht, über sie zu reden oder sie auszuleben, funktionieren sie nicht mehr.«
»Wahrscheinlich«, sagte Guy. »Aber weißt du, wenn es je irgendwas gibt, was ich tun soll, dann tue ich es für dich, egal, wie seltsam es scheint.«
»Danke«, sagte Jane und küsste ihn, vermied es jedoch wohlweislich, das Angebot zu erwidern. »Ich werde es mir merken.« Damit war die Diskussion beendet.
»Sind Sie zufrieden mit Ihrer Verhütungsmethode?«, fragte die Ärztin. »Angst vor einer Schwangerschaft kann ein Hemmfaktor. sein. Eventuell möchten Sie es mit etwas Sichererem versuchen?«
Zum Beispiel mit der libidoreduzierenden Pille?, dachte Jane. »Kann sein«, sagte sie.
»Sie haben doch keine psychologischen Probleme – irgendwelche schlechten Erfahrungen mit Sex in der Vergangenheit, die Sie vielleicht verarbeiten müssen? Ich könnte Sie an eine Therapeutin vermitteln.«
»Oh, nein, nein, keine Therapie«, wehrte Jane hastig ab. Wie sollte sie denn das noch einbauen? Dazu konnte sie Harriet wohl schlecht mitnehmen. Außerdem war Jane, was so etwas betraf, eine echte Skeptikerin. Allein schon einen Arzt zu konsultieren war ein großes Zugeständnis.
»Da gibt es diese Sextherapeuten«, sagte die Ärztin und rollte mit den Augen. Sie schien Probleme mit ihren Kontaktlinsen zu haben. »Allerdings wollen sie normalerweise, dass man als Paar zu ihnen kommt. Aber wenn Sie Ihren Mann da nicht hineinziehen wollen ...«
»Nein, noch nicht. Vielleicht ...« Sie wurde von einem erschreckten Aufschrei der Ärztin unterbrochen, die aus ihrem Drehstuhl schoss und sich auf Harriet stürzte, die die Barbie weggelegt und eine Hand im Waschbecken hatte, aus dem sie ein gebrauchtes Spekulum hervorholte. Jane und die Ärztin wechselten entsetzte Blicke, als Harriet das Instrument mit einem Klappern wieder zurück ins Becken fallen ließ.
»Hier.« Die Ärztin pumpte einen Klecks antibakterielle Seife aus einem Spender am Waschbeckenrand in Harriets Hände und rubbelte sie heftig. »Es tut mir so leid«, sagte sie leise und stellte sich vor, wie am nächsten Morgen Stapel von Klagen auf ihrem Schreibtisch landeten.
Jane schulterte ihre Handtasche. »Meine Schuld«, sagte sie. »Komm, Harriet. Ich denke über Ihre Vorschläge nach. Sie haben mir sehr geholfen«, log sie.
»Sie könnten versuchen, mit anderen Positionen zu experimentieren«, lautete der letzte Vorschlag der Ärztin, bevor Jane die Tür öffnete. »Der Körper der Frau verändert sich nach einer Geburt. Vielleicht haben Sie unterschwellige Beschwerden, die Ihnen die Lust nehmen.«
»Ja, danke«, sagte Jane, die jetzt unbedingt los wollte.
Andere Positionen, dachte sie verächtlich, als sie Harriet zurück durch das jetzt stille Wartezimmer führte. Wenn die moderne Medizin nichts Besseres zu bieten hatte, dann musste sie sich woanders umschauen. Was für ein vergeudeter Morgen.
»Was ist eine Libido?«, wollte Harriet mit lauter Stimme wissen.
»Es ist ein bisschen wie ein Bidet«, antwortete Jane und dirigierte sie aus der Tür auf die Straße. »Nur anders.«
An Guy Bromelows zweitem Tag im Internat hatte seine Mutter, Daphne, eine dringende Vorladung bekommen: Seine Sportsachen waren nicht vollständig; ob sie ihm weiße Turnschuhe bringen könnte, Größe 37.
Sie hatte sofort ihren Frisörtermin abgesagt, war auf der Suche nach einem Paar in die Stadt gestürzt und dann die etwa vierzig Meilen durchs ländliche Sussex zur Schule gefahren. Es war Mittag, als sie ankam, und die Jungs waren draußen auf dem Sportplatz, Hunderte von ihnen, identisch in Grau und Weiß. Einer davon, etwa in Guys Alter, lungerte am Tor herum und trat Löcher in den Kies. Daphne winkte ihn herrisch heran, und er trabte gehorsam hinüber. »Würdest du die Guy Bromelow geben«, sagte sie und drückte ihm die grüne Pappschachtel in die Hände. Wenn sie zurückraste wie der Wind, würde man sie im Salon eventuell doch noch einschieben können, dachte sie gerade, als der Junge gluckste: »Hallo, Mutter.«
Über die Jahre hatte Guy diese Geschichte auf Kosten seiner Mutter oft erzählt, und er dachte jetzt daran, während er in seinem Büro saß und nach draußen über einen anderen Sportplatz blickte, auf dem gerade ein Schlagballmatch stattfand. Ab und zu hörte er das »Tock« eines guten Schlags und das Anschwellen des Jubels, wenn der Schlagmann sich dem Mal näherte, doch im Schulgebäude war sonst alles ruhig. Er liebte es, wenn die Kinder und der Großteil des Lehrerpersonals nach Hause gegangen waren und er seine Arbeit ungestört erledigen konnte. Um den Sportplatz herum mähte der riesige Rasenmäher der Stadtverwaltung gerade das Gras wie ein Mähdrescher und verteilte seinen Regenbogenstaub hinter sich. Durchs Fenster kam der Duft des frisch gemähten Grases. Guy schloss die Augen und atmete ihn tief ein. Er würde morgen bei der Morgenandacht etwas verkünden müssen: Es ist verboten, mit Gras zu werfen. Als er noch ein Schuljunge war, gehörten Graskämpfe zu den Hauptfreuden des Sommertrimesters – praktisch ein anerkannter Sport. Doch jetzt gab es wütende Briefe von Eltern, wenn ein Kind auch nur mit einem grünen Fleck auf der Uniform nach Hause kam. Im Winter war es ähnlich: Kein Schneeballwerfen, nicht auf dem Eis rutschen. Was diese Verbote betraf, war Guys Meinung gespalten. Sein Instinkt sagte ihm, dass das Ausschalten aller Risiken, was Kinder betraf, ein vergebliches und auch unsinniges Unterfangen war, und er ärgerte sich über die Beschränkungen ihrer Freiheit. Wenn er das Thema Kinder abstrakt betrachtete, dachte er völlig rational; in Bezug auf seine eigenen Töchter jedoch war er neurotisch wie alle Väter.
Briefe von Eltern. Er hatte jetzt einen Stapel vor sich, der beantwortet werden musste. Die auf liniertem Papier sortierte er nach oben. Seiner Erfahrung nach kamen diese Leute am ehesten persönlich in die Schule, um ihren Standpunkt zu vertreten, wenn man sie nicht sofort zufrieden stellte.
Sehr geehrter Mr. Bromelow,
mit Sorge habe ich erfahren, dass mein Sohn (Mark, 3R) gebeten worden ist, ein Projekt über das Thema DINOSAURIER anzufertigen. Ich bin überrascht und bestürzt, dass eine kirchliche Schule es für angebracht hält, eine Theorie zu verbreiten, die der Lehre der Bibel widerspricht, und ich würde es vorziehen, wenn Sie Mark in diesen Stunden entschuldigen würden. Zum Ausgleich könnte ihm vielleicht gestattet werden, stattdessen ein Projekt über die GENESIS vorzulegen.
Hochachtungsvoll,
Eric Sharpearrow
Guy schaltete seinen Computer an. Die Schulsekretärin, Mary, tippte seine üblichen Elternbriefe, zusammen mit Memos, Tagesordnungen und Sitzungsprotokollen, doch er wollte sie nicht mit denen belasten, die außer der Reihe waren. Außerdem fand er nie ganz die nötige feine Balance zwischen Versöhnlichkeit und Ironie, wenn er in sein Diktafon sprach. Er begann zu tippen: Er hatte es nie richtig gelernt, aber er konnte mit seinen beiden Zeigefingern ein mörderisches Tempo vorlegen.
Sehr geehrter Mr. Sharpearrow,
vielen Dank für Ihren Brief. Es tut mir leid, dass Ihnen Marks Klassenprojekt in diesem Trimester Anlass zur Sorge gegeben hat. Ich fürchte jedoch, ich kann zwischen dem Stoff und der Lehre der Church of England keinen Widerspruch sehen. Wenn Sie nach gebührender Prüfung noch immer wünschen, dass Mark aus religiösen Gründen von den Stunden befreit wird, in denen Dinosaurier erwähnt werden, ist das natürlich Ihr gutes Recht. Wir haben allerdings nicht genügend Lehrpersonal, um einzelne Schüler zu beaufsichtigen: Er würde vor meinem Büro sitzen und selbstständig arbeiten müssen. Nach Rücksprache mit dem Klassenlehrer sind wir uns einig, dass es, da das Dinosaurierthema eher in einem naturwissenschaftlichen als in einem religiösen Kontext gelehrt wird, nicht passend wäre, Mark die GENESIS als alternatives Thema anzubieten. Wir schlagen stattdessen REPTILIEN vor.
Hochachtungsvoll,
G. J. Bromelow
Guy grinste breit. Mit Jane würde er später darüber lachen.
Er speicherte das Dokument unter dem Namen ERIC4: Das war nicht der erste Briefwechsel, den Guy in den ersten beiden Trimestern, seit er Schulleiter geworden war, mit Mr. Sharpearrow gehabt hatte. Der Mann beschwerte sich grundsätzlich, wenn der Eltern-Lehrer-Ausschuss eine Tombola abhielt oder irgendeine andere Veranstaltung zur Aufbesserung der Schulfinanzen, bei der es in irgendeiner Form um Glücksspiel ging. Und er war fuchsteufelswild geworden, als ein Schüler bei der Schulaufführung der Arche Noah die Rolle Gottes übernommen hatte.
Der Sohn, Mark, war ein netter Junge, trotz seiner Gene, dachte Guy, wenn auch total unterdrückt von seinem Vater. Er beteiligte sich nie an irgendwelchen Aktivitäten außerhalb des Unterrichts, durfte nicht mit anderen Kindern zu Abend essen, damit er nicht irgendwie verdorben wurde, und sich nicht in Hörweite eines Radios oder Fernsehers aufhalten. Was den letzten Punkt betraf, war Guy allerdings mit dem Vater absolut einer Meinung. Harriet und Sophie sahen viel zu viele Zeichentrickfilme, und selbst Jane, die Guy einst für vergeistigt gehalten hatte, verbrachte ihre Abende oft lustlos vor dem Fernseher. Er hoffte, dass sie guter Laune wäre, wenn er nach Hause kam, was er in der letzten Zeit zunehmend später tat. Sie begrüßte ihn zwar nicht gerade mit einer Litanei aus Klagen an der Tür, aber er konnte an ihrer Miene sehen, ob es ein guter oder ein schlechter Tag gewesen war. Wenn sie Blickkontakt aufnahm, war das normalerweise ein positives Zeichen; wenn nicht, bedeutete es, dass sie genervt, besorgt und kurz davor war, sich in dieses innere ferne Reich zurückzuziehen, in das er ihr nicht folgen konnte. Manchmal waren ihre Augen rot und verquollen, was natürlich ein schlechtes Zeichen war – nämlich ein Beweis einer Konfrontation mit Harriet, aus der das Kind als klarer Sieger hervorgegangen war. Alles war irgendwie seine Schuld, obwohl Jane das nie sagte.
Sie hatte nicht umziehen wollen. Er hatte sich um seinen jetzigen Job als Rektor einer vorstädtischen Grundschule in West-London nur beworben, um Erfahrung mit Bewerbungen zu sammeln. Doch zu seinem Erstaunen war ihm der Posten mitsamt einer bescheidenen Umzugskostenrückerstattung angeboten worden. Jane hatte zwei Tage lang geweint, und er hatte fast abgelehnt, doch sie war sowohl eine Fatalistin als auch eine Märtyrerin. »Es soll so sein«, beschloss sie seufzend. Und so hatten sie ihre kleine Doppelhaushälfte an der Südküste verkauft, wo sie glücklich gewesen waren. Dort war Jane aufgewachsen, hatte ihre Freunde und einen guten Job im Gesundheitswesen gehabt, und dort waren die Kinder geboren. Sie zogen in eine ebenso kleine, aber viel teurere viktorianische Doppelhaushälfte in Twickenham, fünf Minuten von der, Schule entfernt. Finanziell hatten sie sich nicht verbessert. Guy arbeitete viel härter und länger, und Jane, der es sowieso schwer fiel, mit Fremden ins Gespräch zu kommen, vereinsamte zusehends.
Guy betrachtete das Foto von ihr auf seinem Schreibtisch, aufgenommen in glücklicheren Zeiten. Sie hielt Sophie und trug das liebevolle Lächeln einer stolzen Mutter. Diesen Ausdruck hatte sie kaum mehr. Die paar Jahre, in denen sie die Stirn über die Kinder gerunzelt hatte, hatten zwischen ihren Augenbrauen zwei tiefe Falten eingegraben – ihre Lachfältchen waren im Vergleich dazu schwach. Doch sie war immer noch schön, mit ihrem roten Meerjungfrauenhaar und ihren seegrünen Augen. Und falls sie mal lachte, lachte sie in einer Lautstärke, die Tote aufwecken konnte – ein richtiges Irrenlachen. Das war es, was ihn als Erstes zu ihr hingezogen hatte. Manchmal überraschten sie sich, indem sie sich gegenseitig zum Lachen brachten wie früher, und dann war es die pure Glückseligkeit: besser als Sex. Wovon es sowieso immer weniger gab. Jane hatte sich in der letzten Zeit sehr seltsam verhalten. Sie war nachts ins Gästezimmer verschwunden, weil ihr zu heiß oder zu kalt war oder sie nicht schlafen konnte. Um ihr Äußeres hatte sie sich überhaupt nicht gekümmert, sondern war in Jeans und Turnschuhen durchs Haus geschlurft, obwohl ihr ein unbegrenzter Geldfonds für neue Sachen zur Verfügung stand. Sie konnte bildhübsch sein, wenn sie sich nur ein bisschen Mühe gab. Dann war er neulich Abend spät von einer Schulbeiratssitzung nach Hause gekommen und hatte sie im Badeanzug in der Badewanne vorgefunden.
»Wozu trägst du den denn?«, hatte er verblüfft gefragt.
Sie hatte ein paar Sekunden verlegen gewirkt, sich aber schnell wieder gefangen. »Als ich klein war, wollte ich immer in meinem Badeanzug baden – nur um zu sehen, wie es sich anfühlt. Aber Mum hat es mir nie erlaubt«, sagte sie und forderte ihn damit heraus, sie zu kritisieren.
»Oh.« Er hatte nicht die Absicht, in die Falle zu tappen, indem er Partei für eine Spielverderberin ergriff. »Wie fühlt es sich denn an?«
»Schön.«
Er bückte sich, um sie zu küssen, und sie rutschte ein kleines Stück weiter unters Wasser, sodass er sich vorstrecken und seinen Rücken strapazieren musste, der sowieso schon von zwei Stunden auf einem dieser grässlichen Plastikeimersitze schmerzte. Sein Schlips fiel aus seinem Hosenbund und tauchte ins Wasser.
»Wie war dein Tag?«, fragte er und wrang ihn stirnrunzelnd aus.
»Nicht schlecht. Harriet hat in der Einkaufspassage ein Exemplar von Downing Street No. 10: Die Erinnerungen mitgehen lassen.«