Alice ist fünfundzwanzig und Lektoratsassistentin in New York, als sie in einen Kaninchenbau fällt – den komplett verspiegelten Lift hinauf zum Apartment des großen Ezra Blazer. Ihre Romanze während der frühen Tage des Irakkriegs ist so zärtlich-intim wie einseitig beherrscht on seinem Geschmack, seinen Neurosen, und bald, immer mehr, dem Vorgefühl des Endes. Und Alice, die selbst angefangen hat zu schreiben, muss schließlich eine Entscheidung treffen.
Ende 2008 wird der in Brooklyn aufgewachsene Amar auf dem Weg zu seinem Bruder in Kurdistan am Heathrow Airport festgehalten. Eingesperrt in ein Wartezimmer, zwischen langen, absurden Verhören, denkt er über seine Vergangenheit nach und die Menschen, die ihm am meisten bedeuten. Was verbindet diese beiden Figuren? Und welchen Einfluss nehmen sie auf das Leben des jeweils anderen? Es sind Anklänge, Ähnlichkeiten, die im Zusammenspiel der scheinbar unabhängigen Geschichten zunehmen – und mit einem überraschenden Schluss in ganz neuem Licht erscheinen.
Hanser E-Book
Lisa Halliday
Asymmetrie
Roman
Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
Carl Hanser Verlag
FÜR THEO
INHALT
I
Verrücktheit
II
Wahnsinn
III
Ezra Blazer bei Desert Island Discs
I VERRÜCKTHEIT
Wir alle leben ein Leben wie im Slapstick, bedroht von der unerklärlichen Strafe des Todes …
MARTIN GARDNER, »ALLES ÜBER ALICE«
Alice wurde es langsam leid, so allein herumzusitzen und nichts zu tun zu haben: Immer mal wieder warf sie einen Blick in das Buch auf ihrem Schoß, doch es waren fast nur lange Absätze und keinerlei Anführungszeichen darin, und was lässt sich schon mit einem Buch anfangen, dachte Alice, in dem es keine Anführungszeichen gibt?
Daher überlegte sie gerade (so gut es eben ging, denn es war nicht ihre Stärke, Dinge zu Ende zu bringen), ob sie wohl eines Tages selbst ein Buch schreiben sollte, als sich plötzlich ein Mann mit zinngrauen Locken und einem Eishörnchen von Mister Softee drüben an der Ecke neben sie setzte.
»Was lesen Sie da?«
Alice zeigte es ihm.
»Ist das das mit den Wassermelonen?«
Wassermelonen waren zwar noch nicht vorgekommen, aber Alice nickte trotzdem.
»Was lesen Sie sonst noch?«
»Ach, meist alte Sachen.«
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander; der Mann aß sein Eis, und Alice tat, als wäre sie in ihr Buch vertieft. Eine Joggerin drehte sich im Vorbeilaufen nach ihnen um, dann noch eine. Alice wusste, wer er war – sie hatte es von dem Moment an gewusst, als er sich zu ihr gesetzt hatte und ihre Wangen wassermelonenrot geworden waren –, aber vor Erstaunen konnte sie nur wie ein fleißiger Gartenzwerg in das undurchdringliche Buch starren, das offen in ihrem Schoß lag. Es hätte genauso gut aus Beton sein können.
»Also gut«, sagte der Mann und stand auf. »Wie heißen Sie?«
»Alice.«
»Die gern alte Sachen liest. Bis bald mal.«
Am Sonntag darauf saß sie an derselben Stelle und versuchte, ein anderes Buch zu lesen, diesmal über einen zornigen Vulkan und einen von Blähungen geplagten König.
»Sie«, sagte er.
»Alice.«
»Alice. Wozu lesen Sie das? Ich dachte, Sie wollen Schriftstellerin werden?«
»Wer hat das gesagt?«
»Sie, oder etwa nicht?«
Mit leicht zitternder Hand brach er ein Stück von seiner Schokolade ab und gab es ihr.
»Danke«, sagte Alice.
»Vofür denn.«
Alice biss von der Schokolade ab und sah ihn fragend an.
»Kennen Sie nicht diesen Witz? Fliegt ein Mann nach Honolulu und fragt seinen Sitznachbarn: ›Verzeihung, wie spricht man das aus, Hawaii oder Havaii?‹ ›Havaii‹, sagt der andere. ›Danke‹, sagt der Mann. Darauf der andere, ›Vofür denn.‹«
Noch immer kauend, lachte Alice. »Ist das ein jüdischer Witz?«
Der Schriftsteller schlug die Beine übereinander und faltete die Hände im Schoß. »Was glauben Sie?«
Am dritten Sonntag kaufte er bei Mister Softee zwei Hörnchen und bot ihr eins davon an. Alice nahm es, genau wie zuvor die Schokolade, denn es begann schon zu tropfen, und mehrfache Pulitzer-Preisträger hatten ohnehin Besseres zu tun, als Leute zu vergiften.
Sie aßen ihr Eis und beobachteten zwei Tauben, die nach einem Strohhalm pickten. Alice, deren blaue Sandalen farblich genau zu dem Zickzackmuster auf ihrem Kleid passten, streckte träge einen Fuß in der Sonne aus.
»Also gut, Miss Alice. Sind Sie dabei?«
Sie sah ihn an.
Er sah sie an.
Alice lachte.
»Sind Sie dabei?«, fragte er noch einmal.
Wieder zu ihrem Hörnchen gewandt, sagte sie: »Na ja, was spricht schon dagegen?«
Der Schriftsteller stand auf, warf seine Serviette weg und kam wieder zu ihr. »Oh, eine Menge.«
Alice blinzelte zu ihm hinauf und lächelte.
»Wie alt sind Sie?«
»Fünfundzwanzig.«
»Freund?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Job?«
»Ich bin Lektoratsassistentin. Bei Gryphon.«
Die Hände in den Taschen, hob er leicht das Kinn. Offenbar fand er, das passte.
»Gut. Sollen wir nächsten Samstag zusammen spazieren gehen?«
Alice nickte.
»Um vier Uhr hier?«
Sie nickte noch einmal.
»Am besten notiere ich mir Ihre Nummer. Falls irgendetwas dazwischenkommt.«
Während ein weiterer Jogger langsamer lief, um ihn anzusehen, schrieb Alice ihre Nummer auf das Lesezeichen, das dem Buch beigelegen hatte.
»Jetzt wissen Sie nicht mehr, an welcher Stelle Sie waren«, sagte der Schriftsteller.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Alice.
Am Samstag regnete es. Alice saß gerade auf ihrem Schachbrett-Badezimmerboden und versuchte, den kaputten Toilettensitz wieder festzuschrauben, als ihr Handy klingelte: UNBEKANNTER TEILNEHMER.
»Hallo, Alice? Hier ist Mister Softee. Wo sind Sie?«
»Zu Hause.«
»Das heißt?«
»Fünfundachtzigste, Kreuzung Broadway.«
»Ah, direkt um die Ecke. Wir könnten uns ein Dosentelefon bauen.«
Alice stellte sich eine Schnur über der Amsterdam Avenue vor, die leicht durchhing wie ein Riesenspringseil und vibrierte, wenn sie miteinander sprachen.
»Gut, Miss Alice. Was sollen wir machen? Möchten Sie hierher kommen, und wir unterhalten uns ein wenig? Oder sollen wir ein andermal zusammen spazieren gehen?«
»Ich komme.«
»Sie kommen. Sehr gut. Halb fünf?«
Alice schrieb die Adresse auf einen Werbebrief. Dann legte sie sich die Hand über den Mund und wartete.
»Das heißt, lieber um fünf. Um fünf Uhr hier bei mir?«
Der Regen strömte über die Gehwege und durchnässte ihre Schuhe. Die Taxis auf der Amsterdam, von deren Reifen das Wasser hochspritzte, fuhren offenbar viel schneller als an trockenen Tagen. Der Türsteher verfiel in eine Art Kreuzigungshaltung, um sie durchzulassen, und Alice trat zielstrebig ein: mit langen Schritten, aus runden Wangen prustend und den Schirm ausschüttelnd. Der Aufzug war von oben bis unten mit poliertem Messing verkleidet. Entweder waren die Etagen sehr hoch oder der Aufzug sehr langsam, denn Alice hatte viel Zeit, ihren unendlich vielen Spiegelkabinettgesichtern stirnrunzelnd skeptische Blicke zuzuwerfen und sich mehr als nur ein wenig zu sorgen, was wohl als Nächstes passieren würde.
Die Aufzugtüren öffneten sich, und sie kam in einen Flur mit sechs weiteren grauen Türen. Sie wollte gerade an die erste anklopfen, als sich gegenüber dem Aufzug eine andere Tür einen Spalt breit öffnete und eine Hand herausgestreckt wurde, die ein Glas hielt.
Alice nahm es. Darin war Wasser.
Die Tür schloss sich wieder.
Alice trank einen Schluck.
Als die Tür sich das nächste Mal öffnete, flog sie weit auf, scheinbar ganz von allein. Alice zögerte, dann ging sie mit ihrem Wasser durch einen kurzen Flur in einen hellen weißen Raum, in dem unter anderem ein Zeichentisch und ein ungewöhnlich breites Bett standen.
»Zeigen Sie mir Ihre Handtasche«, hörte sie ihn hinter sich sagen.
Sie zeigte sie ihm.
»Und jetzt bitte öffnen. Aus Sicherheitsgründen.«
Alice stellte ihre Handtasche auf das Glastischchen zwischen ihnen und öffnete die Schnalle. Sie nahm ihr Portemonnaie heraus: ein abgewetztes Herrenmodell aus braunem Leder. Ein Rubbellos, das einen Dollar gekostet und genauso viel eingebracht hatte. Ein Lippenpflegestift. Ein Kamm. Ein Schlüsselbund. Eine Haarspange. Ein Druckbleistift. Etwas Kleingeld und schließlich drei Tampons, die wie Gewehrpatronen in ihrer Hand lagen. Fusseln. Sand.
»Kein Handy?«
»Das habe ich zu Hause gelassen.«
Er nahm das Portemonnaie und fuhr mit dem Finger über eine lose Naht. »Das ist eine Schande, Alice.«
»Ich weiß.«
Er öffnete das Portemonnaie und nahm ihre Bankkarte, ihre Kreditkarte, ihren Führerschein, eine abgelaufene Dunkin’-Donuts-Geschenkkarte, ihren Studentenausweis und dreiundzwanzig Dollar in Scheinen heraus. Dann hielt er eine der Karten hoch und sagte: »Mary-Alice.« Alice zog die Nase kraus.
»Mary gefällt Ihnen nicht.«
»Ihnen?«
Einige Augenblicke sah er abwechselnd sie und die Karte an, als versuchte er sich zu entscheiden, welche Version ihm besser gefiel. Dann nickte er, klopfte die Karten auf dem Tisch zu einem sauberen Stapel zusammen, wickelte ein Gummiband aus seinem Schreibtisch darum und ließ sie wieder in ihre Handtasche fallen. Das Portemonnaie warf er in hohem Bogen in einen Drahtpapierkorb, den ein weißer Kegel entsorgter Schreibmaschinenseiten kränzte. Der Anblick schien ihn für einen Moment zu ärgern.
»Also, Mary-Alice …« Er setzte sich und bedeutete ihr, dasselbe zu tun. Sein Lesesessel war mit schwarzem Leder bezogen und lag tief wie ein Porsche-Sitz. »Was kann ich sonst noch für Sie tun?«
Alice sah sich um. Auf dem Zeichentisch erwartete ein neues Manuskript seine Aufmerksamkeit. Dahinter führten zwei gläserne Schiebetüren auf einen kleinen Balkon, der durch den darüber vor Regen geschützt wurde. Das große Bett hinter ihr war so sorgfältig gemacht, dass es abweisend wirkte.
»Möchten Sie nach draußen gehen?«
»Okay.«
»Keiner lässt den anderen fallen. Abgemacht?«
Alice, die immer noch anderthalb Meter von ihm entfernt saß, streckte lächelnd eine Hand aus. Der Schriftsteller sah sie an und senkte dann eine ganze Weile zweifelnd den Blick darauf, als stünde auf ihrer Handfläche das Für und Wider jedes einzelnen Mals, als er jemandem die Hand geschüttelt hatte.
»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte er schließlich. »Komm her.«
Seine Haut war faltig und kühl.
Er hatte weiche Lippen – doch dahinter kamen seine Zähne.
Im Vorzimmer zu ihrem Büro im Verlag hingen nicht weniger als drei gerahmte National-Book-Award-Urkunden mit seinem Namen.
Beim zweiten Mal verstrichen auf ihr Klopfen hin mehrere Sekunden ohne Antwort.
»Ich bin’s«, sagte Alice zur Tür.
Sie öffnete sich einen Spalt breit, und heraus kam eine Hand mit einer Schachtel.
Alice nahm sie.
Die Tür schloss sich wieder.
Lincoln Stationers stand in eleganter Goldprägung auf der Schachtel. Darin lag unter einem einzelnen Blatt weißem Seidenpapier ein weinrotes Portemonnaie mit Münzfach und Schnappverschluss.
»Ach du meine Güte!«, sagte Alice. »Es ist wunderschön. Danke.«
»Vofür denn«, sagte die Tür.
Wieder bekam sie ein Glas Wasser.
Wieder taten sie, was sie taten, ohne dabei das Bett zu behelligen.
Über ihrem Pullover legte er Alice eine Hand auf jede Brust, als wollte er sie zum Schweigen bringen.
»Die hier ist größer.«
»Oh«, sagte Alice und blickte betrübt nach unten.
»Nein, nein, das ist kein Makel. Da gibt es kein vollkommen gleiches Paar.«
»Wie bei Schneeflocken?«, fragte Alice.
»Wie bei Schneeflocken«, stimmte er zu.
Von seinem Bauch bis hoch zum Brustbein verlief eine reißverschlussähnliche rosa Narbe. Eine weitere Narbe zerteilte sein Bein von der Leiste bis zum Knöchel. Zwei weitere bildeten einen blassen Zirkumflex-Akzent über seiner Hüfte. Und das war nur die Vorderseite.
»Wem hast du die zu verdanken?«
»Norman Mailer.«
Während sie ihre Strumpfhose hochzog, stand er auf, um das Spiel der Yankees einzuschalten. »Ooh, ich liebe Baseball«, sagte Alice.
»Tatsächlich? Welches Team?«
»Die Red Sox. Als ich klein war, ist meine Großmutter immer mit mir nach Fenway gefahren.«
»Lebt sie noch, deine Großmutter?«
»Jep. Willst du ihre Nummer? Sie dürfte in deinem Alter sein.«
»Für Spott ist es in unserer Beziehung noch ein wenig früh, Mary-Alice.«
»Ich weiß«, sagte Alice und lachte. »Tut mir leid.«
Sie sahen zu, wie Jason Giambi einen Three-Two-Pitch ins linke Centerfield hämmerte.
»Oh!«, sagte der Schriftsteller und stand auf. »Das hätte ich fast vergessen. Ich hab dir einen Cookie gekauft.«
Wenn sie einander gegenübersaßen, etwa beim Essen an seinem Glastisch oder sie auf dem Bett und er in seinem Sessel, fiel ihr auf, dass sein Kopf ganz leicht seitwärts pulsierte, scheinbar mit seinem Herzschlag.
Außerdem war er schon drei Mal an der Wirbelsäule operiert worden, was bedeutete, dass sie bestimmte Dinge tun und andere nicht tun konnten. Nicht tun sollten.
»Ich will nicht, dass du dich verletzt«, sagte Alice.
»Dafür ist es ein wenig spät.«
Sie benutzten jetzt das Bett. Seine Matratze bestand aus einem speziellen orthopädischen Material, auf dem sie sich vorkam, als würde sie in ein riesiges Stück Weichkaramell einsinken. Wenn sie den Kopf zur Seite drehte, sah sie durch seine hohen Fenster die Skyline von Midtown, deren Gebäude im Regen aneinandergeschmiegt und erhaben wirkten.
»O Gott. O mein Gott. O Gott, o Gott. Heiliger … Was machst du da? Weißt du … weißt du eigentlich, was du … was du da machst?«
Danach, während sie einen weiteren Cookie aß:
»Mit wem warst du zusammen, Mary-Alice? Wer hat dir das beigebracht?«
»Niemand«, sagte sie, pickte einen Krümel aus ihrem Schoß und aß ihn. »Ich stelle mir nur vor, was sich gut anfühlen würde, und dann mache ich es.«
»Na, du hast eine Fantasie.«
Er nannte sie Meerjungfrau. Sie wusste nicht warum.
Neben seiner Tastatur stand ein weißes, wie ein Zelt gefaltetes Blatt Papier, auf das er mit Schreibmaschine geschrieben hatte:
Lange Zeit bist du ein leeres Gefäß, dann wächst etwas, das du nicht willst, kriecht etwas hinein, das dir eigentlich zu groß für dich erscheint. In uns wirkt der Gott des Wandels … Künstlerisches Streben bedarf großer Geduld.
Und darunter:
Ein Künstler, denke ich, ist doch nichts anderes als ein Erinnerungsvermögen, das sich beliebig zwischen gewissen Erfahrungen bewegen kann …
Als sie den Kühlschrank öffnete, schlug die goldene Medaille vom Weißen Haus, die er an den Griff gebunden hatte, laut klappernd gegen die Tür. Alice ging wieder zum Bett.
»Liebling«, sagte er. »Ich kann kein Kondom tragen. Niemand kann das.«
»Okay.«
»Was machen wir dann wegen Krankheiten?«
»Na ja, also ich vertraue dir, wenn du …«
»Du solltest niemandem vertrauen. Was, wenn du schwanger wirst?«
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich würde abtreiben.«
Als sie sich später im Bad wusch, reichte er ihr ein Glas Weißwein durch die Tür.
Blackout Cookies hießen sie, und sie kamen aus der Columbus Bakery, an der er bei seinem täglichen Spaziergang immer vorbeiging. Er selbst versuchte, keine zu essen. Er trank auch nichts; Alkohol vertrug sich nicht mit einem der Medikamente, die er einnahm. Aber für Alice kaufte er Sancerre oder Pouilly-Fuissé, und nachdem er ihr eingeschenkt hatte, was sie wollte, verkorkte er die Flasche und stellte sie neben die Tür auf den Boden, damit sie sie mitnahm.
Nachdem Alice eines Abends ein paar Mal in ihren Cookie gebissen hatte, trank sie einen Schluck und verzog geziert das Gesicht.
»Was ist?«
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich will nicht undankbar erscheinen. Aber, na ja, das passt einfach nicht zusammen.«
Er überlegte kurz, dann stand er auf und holte aus der Küche ein Glas und eine Flasche Knob Creek.
»Versuch’s mal damit.«
Begierig sah er zu, wie sie noch einmal abbiss und dann einen Schluck trank. Der Bourbon brannte wie Feuer.
Alice hustete. »Himmlisch«, sagte sie.
Andere Geschenke:
Eine äußerst praktische wasserdichte Armbanduhr mit Zeigern.
Eau de Parfum Allure von Chanel.
Ein Bogen Zweiunddreißig-Cent-Briefmarken der Serie Legends of American Music, zum Gedenken an Harold Arlen, Johnny Mercer, Dorothy Fields und Hoagy Carmichael.
Eine Titelseite der New York Post vom März 1992 mit der Schlagzeile »Verrückter Liebesakt im Bullpen (Spätausgabe City).«
Beim achten Mal, als sie gerade etwas taten, was er eigentlich nicht durfte, sagte er:
»Ich liebe dich. Ich liebe dich hierfür.«
Als sie danach am Tisch saß und ihren Cookie aß, beobachtete er sie schweigend.
Am nächsten Morgen:
UNBEKANNTER TEILNEHMER.
»Ich wollte nur sagen, dass es seltsam gewesen sein muss, das von mir zu hören; es hatte nichts mit Werben zu tun – und ich meine W-E-R-B-E-N, nicht V-E-R-B-E-N, was aber auch kein schlechtes Wort ist. Was ich sagen will: Es galt für den Moment, aber das heißt nicht, dass sich zwischen uns irgendetwas ändern soll. Ich möchte nicht, dass sich etwas ändert. Du machst, was du willst, und ich mache, was ich will.«
»Natürlich.«
»Gutes Mädchen.«
Als Alice auflegte, lächelte sie.
Dann dachte sie eine Weile nach und runzelte die Stirn.
Sie las gerade die Gebrauchsanleitung ihrer neuen Uhr, als ihr Vater anrief, um ihr zum zweiten Mal in dieser Woche zu erzählen, dass an dem Tag, an dem die Türme einstürzten, kein einziger Jude bei der Arbeit erschienen war. Der Schriftsteller dagegen rief viele Tage lang nicht an. Alice schlief mit dem Telefon neben dem Kissen und nahm es, wenn sie nicht im Bett lag, überallhin mit – in die Küche, wenn sie sich etwas zu trinken holte, und ins Bad, wenn sie zur Toilette ging. Außerdem trieb sie ihr Toilettensitz in den Wahnsinn, weil er immer, wenn sie sich daraufsetzte, seitlich wegrutschte.
Sie spielte mit dem Gedanken, sich noch einmal auf ihre Parkbank zu setzen, entschloss sich dann aber zu einem Spaziergang. Es war Memorial Day, der Broadway war wegen eines Straßenfests abgesperrt. Schon um elf Uhr qualmte und brutzelte es im ganzen Viertel; Falafel, Fajitas, Fritten, Sloppy Joes, Maiskolben, Salsiccias, Funnel Cake und frisbeegroße Fladen aus Fettgebackenem. Eisgekühlte Limonade. Kostenlose Rücken-Checks. Ausstellung offizieller Dokumente durch »We the people« – Scheidung $ 399, Konkurs $ 199. An einem Stand mit No-name-Boho-Klamotten flatterte ein hübsches mohnrotes Kleid im Wind. Es kostete nur zehn Dollar. Nachdem der indische Standinhaber es heruntergeholt hatte, probierte Alice es hinten in seinem Lieferwagen an, unter den wachsamen, tränenden Augen eines Schäferhundes, der mit seiner Schnauze auf den Vorderpfoten lag.
An jenem Abend, sie war schon im Pyjama:
UNBEKANNTER TEILNEHMER.
»Hallo?«
»Hallo, Mary-Alice. Hast du das Spiel gesehen?«
»Welches Spiel?«
»Die Red Sox gegen die Yankees. Die Yankees haben vierzehn zu fünf gewonnen.«
»Ich habe keinen Fernseher. Wer hat gepitcht?«
»Wer hat gepitcht. Alle haben gepitcht. Sogar deine Großmutter musste ran. Was machst du?«
»Nichts.«
»Willst du vorbeikommen?«
Alice zog den Pyjama aus und das neue Kleid an. Schon jetzt musste sie einen losen Faden abbeißen.
Als sie in seine Wohnung kam, brannte nur die Nachttischlampe, und er saß mit einem Buch und einem Glas Soja-Schokomilch im Bett.
»Es ist Frühling!«, rief Alice und zog sich das Kleid über den Kopf.
»Es ist Frühling«, sagte er und seufzte erschöpft.
Wie ein Luchs kroch Alice über das schneeweiße Federbett zu ihm. »Mary-Alice, manchmal siehst du wirklich aus wie sechzehn.«
»Kinderschänder.«
»Grabschänderin. Vorsicht mit meinem Rücken.«
Manchmal fühlte es sich an wie »Dr. Bibber« spielen – als würde seine Nase blinken und der Schaltkreis brummen, wenn sie seinen Musikantenknochen nicht vorsichtig genug herausoperierte.
»Ach, Mary-Alice. Du bist verrückt, weißt du das? Du bist verrückt, und du weißt es, und ich liebe dich dafür.«
Alice lächelte.
Als sie nach Hause kam, waren seit seinem Anruf genau eine Stunde und vierzig Minuten vergangen und alles war genauso, wie sie es verlassen hatte, nur dass ihr Zimmer zu hell und irgendwie fremd wirkte, als gehörte es jemand anderem.
UNBEKANNTER TEILNEHMER.
UNBEKANNTER TEILNEHMER.
UNBEKANNTER TEILNEHMER.
Er hinterließ eine Nachricht.
»Wer hat das größte Vergnügen daran, den anderen irrezuleiten?«
Eine weitere Nachricht:
»Hier riecht’s nach Meerjungfrau, findet ihr nicht auch?«
UNBEKANNTER TEILNEHMER.
»Mary-Alice?«
»Ja?«
»Bist du’s?«
»Ja.«
»Wie geht’s dir?«
»Gut.
»Was machst du gerade?«
»Ich lese.«
»Was denn?«
»Ach, nichts Interessantes.«
»Hast du eine Klimaanlage?«
»Nein.«
»Du schwitzt doch bestimmt.«
»Ja.«
»Am Wochenende soll es sogar noch wärmer werden.«
»Ich weiß.«
»Und was machst du dann?«
»Keine Ahnung. Zerfließen.«
»Ab Samstag bin ich wieder in der Stadt. Hast du Lust, dann zu mir zu kommen?«
»Ja.«
»Um sechs?«
»Jep.«
»Tut mir leid. Halb sieben?«
»Okay.«
»Vielleicht habe ich dann sogar was für dich zum Abendessen da.«
»Das wäre schön.«
Das Abendessen vergaß er, oder er entschied sich dagegen. Als sie ankam, bat er sie stattdessen, sich auf die Bettkante zu setzen, und überreichte ihr zwei große, bis obenhin mit Büchern gefüllte Barnes & Noble-Taschen. Huckleberry Finn. Zärtlich ist die Nacht. Tagebuch eines Diebes. July’s Leute. Wendekreis des Krebses. Axels Schloss. Der Garten Eden. Der Scherz. Der Liebhaber. Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Erste Liebe und andere Erzählungen. Feinde, die Geschichte einer Liebe … Alice nahm das Buch eines Schriftstellers, dessen Namen sie zwar schon gelesen, aber noch nie gehört hatte. »Ooh, Camus!«, sagte sie, aber so, dass es sich auf »Seamus« reimte. Es folgten einige Augenblicke, in denen der Schriftsteller schwieg und Alice den Klappentext von Der erste Mensch las. Als sie aufsah, machte er noch immer ein milde bestürztes Gesicht.
»Es heißt Ca-MUU, Liebling. Er ist Franzose. Ca-MUU.«
Ihre eigene Wohnung lag im Dachgeschoss eines alten Brownstone-Hauses, wo sie die Sonne einfing und die Wärme regelrecht speicherte. Auf ihrer Etage wohnte außer ihr nur eine alte Dame namens Anna, die die vier steilen Treppen nur in zwanzigminütiger Schwerstarbeit bewältigen konnte. Stufe, Pause. Stufe, Pause. Einmal begegnete ihr Alice auf dem Weg nach unten zu H & H Bagels, und als sie zurückkam, war die Ärmste immer noch nicht oben. Den Einkaufstüten nach zu urteilen, hätte man meinen können, ihr Lieblingsfrühstück wären Bowlingkugeln.
»Anna, darf ich Ihnen helfen?«
»Nein nein, Liebes. Ich mach das seit fünfzig Jahren. Hält mich jung.«
Stufe, Pause.
»Sind Sie sicher?«
»O ja. So ein hübsches Mädchen. Sagen Sie, haben Sie einen Freund?«
»Im Moment nicht.«
»Dann nicht zu lange warten, Schätzchen.«
»Keine Sorge«, sagte Alice, lachte und rannte die Treppe hinauf.
»Capitana!«
Sein Portier begrüßte sie inzwischen wie eine alte Freundin. Er rief den Schriftsteller nach unten und verabschiedete die beiden mit einem militärischen Gruß, wenn sie zum Spaziergang aufbrachen. Am Handgelenk einen pendelnden Beutel Pflaumen von Zingone Brothers, fragte der Schriftsteller Alice, ob sie schon von den Plänen der Stadt gehört habe, einige ihrer Luxusresidenzen nach Major-League-Baseballern zu benennen: das Posada, das Rivera, das Soriano. »Das Garciaparra«, sagte Alice. »Nein, nein«, unterbrach er sie wichtig. »Nur Yankees.« Sie gingen in den kleinen Park hinter dem Natural History Museum, wo Alice in eine seiner Pflaumen biss und so tat, als würde sie seinen Namen in die Gedenktafel mit den amerikanischen Nobelpreisträgern einmeißeln, direkt unter den von Josef Stieglitz. Aber die meiste Zeit blieben sie in der Wohnung. Er las ihr vor, was er geschrieben hatte. Sie stellte die Schreibweise von »Podex« infrage. Sie sahen sich Baseball an, und am Wochenende hörten sie zu, wie der Radiomoderator Jonathan Schwartz von Thierry Sutton und Nancy LaMott schwärmte. »Come Rain or Come Shine«. »Just You, Just Me«. Doris Day, die wehmütig »The Party’s Over« trällerte. Eines Nachmittags musste Alice laut loslachen. »Der Typ ist so eine Schmalzlocke.«
»Schmalzlocke«, wiederholte der Schriftsteller und biss in eine Nektarine. »Das ist ein gutes, altmodisches Wort.«
»Wenn man so will«, sagte Alice und suchte auf dem Boden nach ihrer Unterhose, »bin ich wohl ein gutes, altmodisches Mädchen.«
»The party’s over …«, sang er immer, wenn sie gehen sollte. »It’s time to call it a d-a-a-a-a-y …«
Dann wanderte er fröhlich durchs Zimmer, schaltete das Telefon, das Faxgerät und die Lampen aus, goss sich ein Glas Soja-Schokomilch ein und zählte ein Häufchen Pillen ab. »Je älter du wirst«, erklärte er ihr, »desto mehr hast du zu erledigen, bevor du ins Bett gehen kannst. Bei mir sind es an die hundert Sachen.«
Die Party ist zu Ende. Die Zeit in klimatisierten Räumen ist zu Ende. Den Bauch voll Bourbon und Schokolade und die Unterwäsche in der Hosentasche, ging Alice dann leicht schwankend durch die Hitze nach Hause. Nachdem sie die vier zunehmend schwülen Stockwerke zu ihrer Wohnung hinaufgestiegen war, erledigte sie genau eine Sache, nämlich ihre Kissen durch den Flur in das vordere Zimmer zu tragen, wo es auf dem Boden neben der Feuertreppe zumindest die Chance auf ein Lüftchen gab.
»Hör zu, Liebling. Ich gehe für eine Weile weg.«
Alice legte ihren Cookie ab und wischte sich über den Mund.
»Ich ziehe mich für ein paar Wochen aufs Land zurück. Ich muss diesen Entwurf fertig bekommen.«
»Okay.«
»Aber wir können ja trotzdem telefonieren. Wir sprechen uns regelmäßig, und wenn ich fertig bin, treffen wir uns wieder. Wenn du das möchtest. In Ordnung?«
Alice nickte. »In Ordnung.«
»Und in der Zwischenzeit …« Er schob ihr einen Umschlag über den Tisch. »Das ist für dich.«
Alice nahm den Umschlag – Bridgehampton National Bank stand neben einem Logo aus drei stilisierten Regatta-Segelbooten – und zog sechs Hunderter heraus.
»Für eine Klimaanlage.«
Alice schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht –«
»Doch, kannst du. Es würde mir Freude bereiten.«
Als sie nach Hause kam, war es draußen noch hell. Der Himmel wirkte, als wäre er ins Stocken geraten – als wäre ein Gewitter im Anzug gewesen und irgendwo unterwegs abhandengekommen. Für die jungen Leute, die in den Straßencafés etwas tranken, fing der Abend gerade erst an. Langsam und zögerlich, eine Hand auf der Tasche mit dem Umschlag darin, näherte sich Alice der Treppe vor ihrem Haus und überlegte, was sie tun sollte. Ihr Magen fühlte sich an, als stünde sie noch immer bei ihm im Aufzug und jemand hätte das Drahtseil durchtrennt.
Einen Block weiter im Norden gab es ein Restaurant mit einem langen Holztresen und alles in allem kultiviert wirkender Klientel. Alice entschied sich für einen freien Hocker ganz hinten neben dem Serviettenspender und setzte sich so, als wäre sie in erster Linie wegen des Fernsehers da, der oben in einer Ecke hing. In der zweiten Hälfte des dritten Innings lag New York mit vier Runs gegen Kansas City in Führung.
Kommt schon, Royals, dachte sie.
Der Barkeeper warf eine Serviette vor sie auf den Tresen und fragte, was sie trinken wolle. Alice sah auf die Weintafel an der Wand.
»Ich nehme ein Glas …«
»Milch …?«
»Sagen Sie, haben Sie Knob Creek?«
Am Ende belief sich die Rechnung auf vierundzwanzig Dollar. Alice legte ihre Kreditkarte auf den Tresen, dann nahm sie sie wieder weg und zog stattdessen einen der Hunderter heraus, die ihr der Schriftsteller gegeben hatte. Der Barkeeper gab ihr drei Zwanziger, einen Zehner und sechs Einer zurück.
»Die sind für Sie«, sagte Alice und schob ihm die Ein-Dollar-Scheine wieder zu.
Die Yankees gewannen.