Über das Buch:
In einer Berliner Villa wird eine junge Studentin brutal ermordet - das ihr anvertraute Kind ist spurlos verschwunden. Mit jeder Stunde, die vergeht, schwinden die Chancen darauf, dass der kleine Junge noch am Leben ist. Die zuständigen Hauptkommissare Sunja Löwel und Matthias Müller arbeiten gegen die Zeit. Aufgrund des seltsamen Verhaltens der Eltern wird zuerst eine Beziehungstat vermutet, doch dann überschlagen sich die Ereignisse und der Fall gerät für die erfahrenen Polizisten zu einem Drahtseilakt. Schon bald gibt es weitere Morde und es ist längst nicht mehr nur das Leben des Kindes in Gefahr ...
Sascha Behringer
Zerbrochene Puppen
Kriminalroman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2016 Edel Germany GmbH
Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2016 by Sascha Behringer
Dieser Titel wurde vermittelt durch die Berliner Literaturagentur Wortunion.
Covergestaltung: Designomicon
Lektorat: Susanne Schindler
Korrektorat: Martha Wilhelm
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-830-8
facebook.com/edelelements
Hinter dem Pseudonym Sascha Behringer verbergen sich Doris Bewernitz und Gerald Stitz. Die Schreibweise im Team ermöglicht es, verschiedene Blickwinkel auf das jeweilige Hintergrundthema und den Fall zu liefern.
Da Regionalkrimis im Trend liegen, die Welt aber global geworden ist, schreiben sie „Globalkrimis“. Alle Bücher dieser Reihe werden einen Kriminalfall in Berlin aufweisen, bei dessen Lösung sich der Fokus auf ein jeweils anderes Land verschiebt.
Doris Bewernitz, geboren 1960, sammelte Erfahrungen in verschiedenen Berufen, von der Kinderkrankenschwester bis zur Gerichtsprotokollantin. Heute ist sie in Berlin als freie Autorin tätig. Als Gründungsmitglied der Autorengruppe Aufbruch Berlin schreibt sie Kurzgeschichten, Krimis und Lyrik, die sich in zehn Büchern, einer Hör-CD sowie diversen Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften niederschlugen, unter anderem bei Herder und Allitera.
2012 kam sie auf den 3. Platz des Brandenburgischen Literaturpreises in der Kategorie Lyrik und gewann 2014 den Viktor-Finn-Krimipreis für ihre Kurzgeschichte Notwehr.
Gerald Stitz, geboren 1964, ist Autor und Master für Kreatives und Biografisches Schreiben. Er leitet eine Schreibwerkstatt im Bezirk Berlin-Treptow und verfasst Gedichte und Kurzgeschichten, die unter anderem in Anthologien publiziert wurden.
Der Tritt ließ eine Welle von Schmerz aufbranden. Sie krümmte sich und schnappte nach Luft.
Dennoch lächelte sie. Immer die gleiche Stelle.
Ihre Handflächen betasteten den vorgewölbten Nabel und die feinen silbrigen Linien in der gedehnten Haut. Den Blick auf die Kugel des Bauches gesenkt, versuchte sie, sich das Baby darin vorzustellen. Da, wieder ein Tritt. Einen Moment konnte sie den winzigen Fuß fühlen.
Dieser Leib gebar ein Kind. War sie nicht gestern noch selbst ein Kind gewesen? Mit einer Hoffnung, groß wie ein Meer?
Der Geruch sibirischer Zedern strömte durch das offene Fenster, vermengt mit dem von Salbei. Die Alten sagten, in der Taiga würde der Mensch neu geboren. Die Endlosigkeit des Waldes ginge auf den über, der sich ihm anvertraute. War das so? Heute, wo selbst dieses uralte Baummeer schrumpfte?
Nadeschda hatte ihr das Häuschen für ein Wochenende überlassen. Ausruhen sollte sie und Kraft sammeln für die Geburt. Alles hier war so gewohnt wie vertraut: die dunklen, aus Bohlen gefügten Wände, die bemalten Fensterläden und der mit Holzkohle beheizte Samowar in der Ecke. Und die dicke Matrjoschka auf der Kommode, Spielzeug und Fruchtbarkeitssymbol in einem.
Behaglich wippte sie im Schaukelstuhl vor dem Fenster. Langsam breitete sich eine Wolkendecke über die Taiga, der Sturm krümmte die Kiefern und ließ die Haustür im Schloss hin- und herschlagen …
Sie erwachte aus dem Dämmerschlaf, sanft trommelte der Regen gegen die Scheiben. Draußen wirkte alles verschwommen, der Wind hatte nachgelassen.
Sie stand auf, streckte sich, drückte die Hände ins Kreuz und ging ein paar Schritte.
Wie die Dielen knarrten!
Mit vorsichtigem Blasen überredete sie das Feuer im Herd. Endlich begann es zu knistern, wärmte die Kascha, ihr geliebtes Kindheitsgericht. Sie goss Milch über die klebrige Buchweizengrütze.
Nach dem Essen legte sie sich wieder in den Stuhl, deckte sich zu, stieß sich ein wenig vom Boden ab und ließ sich vom Schaukeln einlullen. Die Bewegungen wurden kleiner, schließlich stand der Stuhl. Reglos lag sie da, schaute durch das Fensterchen ins fließende Grau.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Tiere des Waldes. Eine massige Bärin mit kleinen Mischkas, eine Rehmutter mit ihrem Kitz. Wölfe mit Jungen. Ein Luchs.
So einfach alles, dachte sie. Die sorgten für die Arterhaltung, nach irgendeinem genetischen Programm. Und sie? Hatte sie etwas Widernatürliches getan? Anfangs hatte sie nicht weiter nachgedacht, es schien zu leicht. Schwangere Studentinnen waren heute normal, sie hatte Zeit zum Lesen und Lernen. Neun Monate Zeit, bevor der Vorhang aufgehen würde für ihr richtiges Leben. Sie endlich wegkonnte, weit weg.
Wie billig sie war. Folgte einem Bündel Geldscheine wie irgendein Flittchen. Andere verdienten an ihrer Einfältigkeit. Skrupellose Anwälte und widerliche Aufsteiger, wie sie dieses Land zahlreich hervorgebracht hatte.
Ihr Menschenjunges schlug einen Purzelbaum nach dem nächsten. War es ein Junge? Nicht einmal das hatte man ihr gesagt. Sie sollte keine Beziehung aufbauen, hieß es in der Klinik. Sich keinesfalls auf ihn freuen, das würde sie nach der Geburt nur schmerzen.
Sie tippte mit dem Finger auf die Bauchkugel und prompt kam die Antwort. Wie kräftig der Kleine war! Du wohnst in mir, dachte sie, du hörst mein Herz schlagen, du bist mein Häschen.
Die Melodie eines alten russischen Kinderliedes schien plötzlich im Raum zu schweben, sie stand auf, ging ein paar Schritte, suchte nach den ersten Worten.
Allmählich fielen sie ihr ein, sie summte. Sang kaum hörbar für dies namenlose Menschlein, für den kleinen Fremden in ihr. Sacht tanzte das Lied immer weiter mit ihr durch die Stube. Die Mutter hatte es ihr gesungen, wenn sie Angst gehabt hatte:
Im Walde steht ein Tannenbaum
im immergrünen Kleid,
ist schlank und lieblich anzuschaun
zu jeder Jahreszeit.
Der Sturm singt dir ein Wiegenlied:
„Schlaf, Jolotschka, ei ei!“
Und deckt mit Schnee und Eis dich zu,
dass es schön warm dir sei …
Ein kleines Häschen hat vor Angst
sich unter dir versteckt,
der böse Wolf, der lief vorbei
und hat es nicht entdeckt …
Wie ging das Lied weiter? Sie hatte es vergessen. Tränen liefen über ihre Wangen, brannten auf der Haut. Sie rollte sich zusammen. Für diesen Winzling war sie das Universum. Er wusste nicht, dass fremde Menschen kommen und ihn holen würden.
Nichts ist gewisser als der Tod,
nichts ungewisser als seine Stunde.
- Anselm von Canterbury -
Ernesto! Welch ein Name!
Vor einer halben Stunde war ihr Kollege Matthias Müller mit einigen Hundert Fotos hereingeschneit, die er nun im Sekundentakt vor sie hinblätterte.
„Süß, oder?“, schwärmte er.
Hauptkommissarin Sunja Löwel warf ihre verschwitzte Jeansjacke über den Schreibtischstuhl, strich sich die widerspenstigen braunen Haare aus der Stirn und murmelte etwas Zustimmendes.
„Eh, tolles T-Shirt!“, meinte Matthias. „Genau dasselbe hat Ernesto auch, guck mal hier.“
Sie nahm sich vor, das Shirt zu Hause sofort zu entsorgen.
Das nächste Foto. Und noch eins. Sunja starrte auf das stramme Baby: schlafend, trinkend, schreiend, mit offenem Mund, mit geschlossenem Mund, mit schiefem Mund, mit geradem Mund, auf dem Arm des Papas, auf dem der Mama, im Körbchen, auf der Couch … Am Ostersonntag, vor drei Wochen, hatte Matthias’ kleiner Sohn Felix einen Bruder bekommen. Ernesto.
Sunja gönnte dem frischgebackenen Vater sein Glück, doch nach einem Drittel der Fotos beschlich sie Unbehagen.
Ernesto in der Badewanne. Und mit der Oma. Und hier …
Das Telefon schrillte, sie atmete auf.
Es war ihr Kollege Hans-Peter Große, genannt HP.
„Sunja! Info von der Rettung, eine Tote in Hessenwinkel. Kollegen von der Streife sind da, Ärztin ist unterwegs. Die Nachbarn haben sie gefunden. Angeblich ’ne Riesensauerei. Fährst du hin? Kannst ja Matthias mitnehmen, ich komm hier nicht weg.“ Er gab ihr die Adresse durch.
„Wo ist das?“
„Köpenick, weiter draußen. Rialtoring 23!“
„Wir kommen!“
Sie schaute Matthias mit seinen Fotos an. Der selig-beschränkte Gesichtsausdruck eines Verliebten. Alle Eltern sind begeistert, sagte sie sich und suchte den Autoschlüssel. Freu dich einfach mit ihm.
„Einsatz!“, rief sie. „Zum Rialto, komm! La dolce vita!“
Matthias sah auf und griff nach dem Smartphone.
„Das ist mir peinlich, Sunja, aber ich hab es Ines versprochen … In einer Stunde schließt die Kita, ich muss den Großen …“
„Sorry, bist du beim LKA angestellt oder nicht?“
Von der Tür aus hörte sie, wie er die Oma zum Kinderhüten überredete.
Vor der Villa wimmelte es von Polizisten und Sanitätern. Drei Streifenfahrzeuge, ein Rettungswagen und zwei Pkw versperrten die Straße. Rot-weißes Plastikband spannte sich vor dem Grundstück entlang. Jemand hatte es mit einer weihnachtsverdächtigen Schleife am Sockel der Straßenlampe festgebunden.
Sunja wurde an einen grauhaarigen Mittfünfziger mit zerfurchtem Gesicht verwiesen, den sie vom Sehen her kannte.
„Löwel. LKA. Guten Tag. Mein Kollege Matthias Müller.“
„Meudrich.“ Der Mann wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und gab ihnen die Hand. „Fürchterlich. Der ist mit äußerster Brutalität vorgegangen. Im Wohnzimmer.“
„Wissen wir, wer sie ist?“
„Noch nicht.“
„Gibt es Einbruchsspuren?“
„Keine. Sie muss den Täter reingelassen haben.“
Selbst im ärmellosen Shirt war es Sunja zu warm. Widerwillig zwängte sie sich in den für ihre 1,60 Meter Körpergröße viel zu großen Schutzanzug, legte Schuhschützer und Handschuhe an und betrat mit Matthias das Haus. Durch die geräumige Diele gelangten sie in ein helles, modernes Wohnzimmer mit weißer Ledercouch, Glastisch, großem Kamin, weißen Regalen und Fenstern bis zum Boden. Mitten auf dem beigefarbenen Wollteppich lag, gekrümmt wie ein Fragezeichen, die Tote. Ihre taubenblaue Bluse war zerfetzt von Messerstichen, überall klebte Blut: am Körper der jungen Frau, in den blonden Haaren, auf dem Teppich, dem Tisch, der Couch, sogar an den Büchern in den Regalen, auf den Fensterscheiben und an den Wänden.
Sunja schaute auf die Ärztin, die neben der Leiche kniete und in die Arbeit versunken schien.
„Was meinen Sie – Raubmord?“, fragte sie den näher gekommenen Meudrich.
Dieser wies auf die Einrichtung des Zimmers. „Kann sein, die sind ja eher vermögend. Aber – zu viel Blut. Da hat jemand gewütet. Außerdem scheint auf den ersten Blick nichts zu fehlen, nichts durchwühlt, alles unangetastet.“
Flink wie ein Wiesel schnellte die Ärztin nach oben und stand plötzlich zwischen den Polizisten.
„Silberstein. Guten Tag. Ihr Kollege hat recht. Sieht eher wie eine Tat im Affekt aus.“
„Affekt schließt Raubmord nicht aus“, murmelte Sunja. Obwohl es ihr schwerfiel, zwang sie sich, das Gesicht der Toten zu betrachten. Sie schätzte sie auf um die zwanzig. So blutjung … „Ist die Staatsanwaltschaft informiert?“, fragte sie Meudrich.
„Müsste jeden Moment kommen.“
„Tatwaffe gefunden?“
„Bis jetzt nicht.“
In dem luftdicht schließenden Schutzanzug lief Sunja der Schweiß in Strömen herunter. Heute war Donnerstag, der 27. April. Vor drei Wochen war schlagartig der Hochsommer ausgebrochen und hatte die letzten Schneereste zum Schmelzen gebracht. Kein Tropfen Regen hatte seither das zarte Grün belebt, die winzigen Blätter hingen schlapp und staubig an den Bäumen.
Doch obwohl sie schwitzte, spürte Sunja in diesem Zimmer diese spezielle bleierne Kälte, die ihr bis in die Knochen drang. Das hatte sie schon oft wahrgenommen, die Temperatur in einem Raum, in dem ein Toter lag, schien auf besondere Art zu sinken. Ob man das technisch messen konnte?
Die Stille im Haus wirkte bedrohlich, trotz der sieben Personen im Zimmer hörte sie keinen Laut.
„Ich muss weiter.“ Die Ärztin durchbrach die Starre, schob die Ärmel der Leiche herunter und packte die Instrumente ein. Sie sah Sunja an. „Nirgends Anzeichen von Rigor Mortis. Lange kann sie also noch nicht tot sein. Vierzehn Stiche, soweit ich bis jetzt sehen kann, mehrere in der Herzgegend. Ein Messer, vermutlich. Erhebliche Abwehr- und Kampfspuren. Hier war bestimmt die Hölle los.“ Energisch streifte sie die Handschuhe ab. „Sie bekommen meinen Bericht so schnell wie möglich.“
„Danke.“ Die Kommissarin gab ihr eine Visitenkarte und wandte sich an Meudrich: „Vielleicht ist die Tatwaffe noch im Haus? Können Sie nachschauen, ob …“
Ein rundlicher Polizist kam ins Zimmer geschossen und keuchte: „Noch einer! Draußen! Kommen Sie schnell!“
Bevor Sunja reagieren konnte, rannte die Ärztin hinaus. Die Kommissarin bog hinter ihr um die Ecke und stürzte durch die offene Hintertür in den Garten. Ein Kiesweg und ein silberner Mercedes. Tulpenblüten. Schwarze Sterne auf rotem Samt. Sie trat einen Schritt aus der Tür und sah den Mann. Er lag reglos am Boden, direkt neben der geöffneten Wagentür.
Anfang vierzig, markantes Gesicht, kurze dunkle Locken.
„Er lebt!“, schrie die Ärztin, während sie nach ihrem Handy suchte. Dann sprach sie beruhigend auf den Mann ein, während sie ihn vorsichtig zur Seite drehte und rasch seine Verletzungen in Augenschein nahm. Im Brustbereich und an den Armen war sein Hemd von Stichen zerfetzt und blutgetränkt.
Wenige Minuten später erschienen zwei Sanitäter mit einer Trage, sie luden den Mann ein, und der Krankenwagen fuhr mit schriller Sirene davon.
Mit dem Handrücken wischte sich Frau Silberstein den Schweiß von der Stirn, als sie auf Sunja zukam. „Genau dasselbe“, murmelte sie.
„Dieselbe Waffe?“
„Sieht so aus. Hoffentlich kommt er durch.“
„Wohin wird er gebracht?“
„Krankenhaus Rüdersdorf.“
„Okay.“ Sunja konnte den Blick nicht von der Stelle abwenden, an der der Verletzte gelegen hatte. Blutige Steine, kleine Gebirge aus Kies. Hatte er gekämpft? Versucht aufzustehen? Ihr leerer Magen rebellierte wegen des süßlichen Blutgeruchs, selbst hier im Freien. Sie gab sich einen Ruck, mechanisch suchten ihre Augen die nächste Umgebung ab. Nirgends ein Messer.
„Ehrlich, mein Job gefällt mir deutlich besser als Ihrer“, sagte die Ärztin. „Jedenfalls solange es sich um Lebende handelt. Etwas ist mir übrigens noch aufgefallen …“
„Ja?“
„Das Armband der Toten. Geflochtene Silberfäden mit einer Katze daran. Wahrscheinlich ein Talisman …“
„Und was ist damit?“
„Der Mann trägt dasselbe.“
„Ach.“
„So, nun muss ich wirklich … Viel Erfolg!“
„Danke.“
Sunja rief einen der Kriminaltechniker. „Bitte fordern Sie sofort mehr Kollegen an. Die sollen alles absuchen: Garten, Haus, Garage, Schuppen, jedes Zimmer, den Keller.“ Sie schaute sich nach Matthias um, konnte ihn aber nirgends entdecken. „Wir brauchen die Tatwaffe. Und müssen schnellstens die Opfer identifizieren. Bitte sämtliche Personaldokumente, die Sie finden, sofort zu mir. Und alle Messer in die Spurensicherung, vielleicht ist die Waffe dabei!“
Sie ging wieder zu Meudrich.
„Was wisst ihr bis jetzt?“
Er machte eine Handbewegung zum Nebenhaus rechts. „Die Nachbarn haben die Polizei gerufen, Ehepaar Tienemann. Ich wollte sie kurz befragen, die waren aber fix und fertig. Nur so viel: Hier wohnt eine Familie Schwarz, sie Anwältin, er irgendwas in der Computerbranche. Aber die Nachbarn waren so durch den Wind, ich hab sie erst mal nach Hause geschickt und ihnen gesagt, sie sollen da warten.“
Sunja schaute zum Nachbarhaus, an dem wohl ein Architekt seinen Spieltrieb ausgelebt hatte. Es sah aus wie eine Mischung aus Schlösschen und Cottage: Zu den Seiten des Satteldaches erhoben sich zwei spitze achteckige Türmchen, gekrönt von einer Metallkugel samt Wetterhahn. Das Bauwerk war weiß verklinkert, hatte graue Schindeln und viele grüne Rundbogenfenster. Die Fenster des linken Turmes zeigten direkt zu der Einfahrt, in der sie und Meudrich standen. Sunja glaubte, hinter einer Gardine im Erdgeschoss ein Gesicht zu erkennen.
„Sie hat die Schreie gehört“, fuhr Meudrich fort. „Ist mit dem Mann zur Haustür rein, sie haben die Frau entdeckt und die Zentrale angerufen.“
„Was für einen Eindruck machen die zwei auf Sie?“
„Hm. Glaubwürdig. Gebildet. Ganz normale Leute eigentlich. Bisschen hysterisch, die Frau. Aber ich meine, so was sehen die ja auch nicht jeden Tag.“
„Allerdings.“
„Dann gibt’s noch einen alleinstehenden älteren Herren, dort.“ Er wies auf die gegenüberliegende Straßenseite und zeigte auf ein Haus, das von den anderen repräsentativen Bauten deutlich abstach. Ein einstöckiger, quadratischer Dreißigerjahre-Bau mit grauem, abblätterndem Putz, Moos auf dem Dach und einem runden Fenster im Giebel. „Herr Ramser. Hat merkwürdige Geräusche gehört. Sonst, na ja, wie soll ich sagen … Der redet ziemlich wirres Zeug und hört nicht auf. Ist schon etwas durch den Wind.“
„Inwiefern wirres Zeug?“
Meudrich räusperte sich. „Dass er sich nicht wundert. ‚Das musste ja passieren, bei so einer komischen Familie.‘ Das sind diese Zeugen, die sich unglaublich wichtig finden …“
„Was meint er mit ‚komischer Familie‘?“, unterbrach ihn Sunja.
„Keine Ahnung!“
„Haben Sie nicht nachgefragt?“
„Ehrlich, ich hatte noch anderes zu tun, Kollegin. Außerdem, wir kennen doch die Sorte! Die beobachten immer schon seit Wochen eine außereheliche Liebesbeziehung oder irgendeinen Ausländer. Die haben immer irgendein Auto erkannt, wissen aber nie die Autonummer!“
„Aha. Das ist alles?“
„Leider. Wir tun halt, was wir können!“
„Ja, klar. Sollte keine Kritik sein.“ Sunja sah sich um. „Verdammt ruhige Gegend hier. Wenn das bei mir im Friedrichshain passiert wäre, oh Mann, da hätten wir die ganze Straße voller Leute.“
Sie erfuhr, dass Nachbar Ramser ebenfalls in seiner Wohnung auf die Befragung wartete. Matthias kam aus dem Haus. Kurz entschlossen schickte sie ihn hinüber und er verschwand ohne ein Wort.
Die Mittagssonne knallte auf die Tulpenbeete. Obwohl ihr die Kälte aus dem Zimmer noch in den Knochen saß, klebte ihr das Shirt auf der Haut. Sie ging ins Haus zurück, vorbei an den Männern, die die hintere Tür untersuchten. Acht weiß verpackte Gestalten der Kriminaltechnik, die über Blutlachen staksten, fotografierten, maßen, pinselten, Fingerabdrücke von Möbeln nahmen und den Boden nach Faserspuren absuchten. In der Diele stand ein starker Scheinwerfer, sein Licht verwandelte die tote Frau gleichsam in ein bizarres Kunstwerk. Der Magen der Kommissarin rebellierte, als sie zur Leiche schaute. Wieder stieg ihr der Blutgeruch in die Nase.
„Kollegin Löwel?“
Ein Techniker stand in der Küchentür und hielt ihr einen hölzernen Messerblock hin, in dem fünf verschieden große Messer mit Edelstahlgriffen steckten. Der sechste Schlitz war frei. „Eines fehlt, haben wir auch nirgends gefunden“, sagte er.
„Super. Nehmen Sie das Ding mit! Wie sieht’s mit anderen Spuren aus?“
„Reichlich. Fingerabdrücke, auf den ersten Blick mindestens acht verschiedene. Faserspuren und DNA-Material gibt’s auch. Wir werten so schnell wie möglich aus.“
Ihr Blick fiel auf den Wasserhahn in der Küche. Sie hatte wahnsinnigen Durst. Zu Hause würde sie jetzt aus dem Hahn trinken, aber das wollte sie hier nicht.
Sie verließ das Haus durch den Vordereingang, zündete eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Eine Ermordete und ein Schwerverletzter. Waren sie das Ehepaar Schwarz, von dem Meudrich gesprochen hatte? Oder Vater und Tochter? Hauseigentümer und Geliebte?
Eine Autotür ploppte. Die Staatsanwältin stakste auf sie zu. Höchstens dreißig. Schmale Lippen. Magersuchtverdächtig. Sunja erinnerte sich, dass sie erst Anfang des Monats ihren Dienst aufgenommen hatte.
„Hauptkommissarin Löwel, guten Tag“, sagte sie.
„März“, entgegnete die Frau kühl. „Was haben wir?“
„Eine Tote, noch nicht identifiziert. Brutal erstochen. Ein Mann, ebenfalls mit vielen Stichwunden. Vielleicht der Einzige, der die Tat gesehen hat, jetzt im Krankenhaus. Sonst gibt es drei Zeugen in der Nachbarschaft, mein Kollege hat gerade begonnen, sie zu befragen.“
„Spurensicherung schon da?“
„Ja. Wir sollten …“
„Wir sprechen uns. Ich mach mir erst mal ein Bild“, entgegnete die Staatsanwältin knapp, ließ sie stehen und rauschte ins Haus.
Sunja warf den Zigarettenstummel auf die Straße und betrachtete die noble Villa. Gleich am Gartentor drohte dem Besucher die lebensgroße Nachbildung eines schwarzen Kampfhundes. Ein Meer klein ziselierter weißer Pflastersteine ersetzte den Vorgarten, nur an einer Stelle quälte sich ein kränklicher Ahorn durch den Granit. Zwei gewaltige Säulen zu Seiten der Eingangstür verstärkten den festungsartigen Charakter des Anwesens, auf ihnen thronte der Balkon des Obergeschosses. Das Haus war strahlend beige und weiß gestrichen. Rechts war die überdachte Zufahrt, in der der verletzte Mann gelegen hatte. An der linken Grundstücksgrenze floss ein kleiner Kanal. Sunja beschloss, kurz die Umgebung zu erkunden, und ging langsam am Wasser entlang hinter die Villa. Ein mannshoher Plastik-Leuchtturm stand hinten auf dem Rasen, der ringsum von sanft geschwungenen Beeten umgeben war. Dort strahlten Tulpen, Narzissen und Primeln. Die herabgefallenen Blüten des Kirschbaums erinnerten an Neuschnee.
Sie umrundete das Haus, dann trieb ihre ausgedörrte Kehle sie zur nächsten Kreuzung. Die Hoffnung auf irgendeine Einkaufsmöglichkeit zerschlug sich jedoch sofort. Einfamilienhäuser, so weit man sah. Etliche fast neu, andere scheinbar aus den Zwanzigerjahren, mit schmiedeeisernen Jugendstilzäunen. Abgesehen vom Backsteingebäude gegenüber prunkten die Häuser mit makellosen Fassaden, die Zäune glänzten wie neu gestrichen. Rabatten, Rasenflächen und Vorgärten präsentierten sich so gepflegt, dass es fast künstlich aussah. Jedes Anwesen hier demonstrierte die Bonität seines Besitzers.
War das Verbrechen doch ein Raubmord? Das Bild des Tatortes sprach dagegen. Keine Anzeichen für Gestohlenes, kein offener Safe, kein zerwühltes Zimmer. Aber der erste Blick konnte auch täuschen, wie sie wusste. Warum hatte es genau dieses Haus und dieses Paar getroffen?
Sie ging zurück und wollte gerade zwischen den Polizeiwagen vor dem Grundstück hindurch, als ihr die Birke neben dem Gartentor ins Auge fiel. Der einzige dickere Baum in der Straße. In den rissigen Stamm hatte jemand etwas geschnitzt. Die Schnitte waren frisch. Wie hieß diese Art Kreuz mit dem unteren schrägen Balken? Orthodoxes Kreuz? Andreaskreuz? Sie zeichnete das Symbol in ihr Notizbuch.
Ein Kriminaltechniker kam auf sie zu und teilte ihr mit, dass sie im Obergeschoss fertig seien. Sunja entschied, zuerst einen Blick dorthin zu werfen, bevor sie mit dem Ehepaar aus dem Nachbarhaus sprach.
Sie betrat den Flur. Hinten rechts führte eine geschwungene Holztreppe in die obere Etage. Das Erste, was sie dort sah, war ihre eigene Gestalt in einem überdimensionalen Spiegel. Ihre kurzen dunkelbraunen Haare waren wie immer verstrubbelt, bisher hatten sie allen Bemühungen ihres Friseurs, sie in Form zu bringen, zäh widerstanden. Im Grunde war ihr das egal, sie legte keinen besonderen Wert auf Äußerlichkeiten. Aber als sie im Näherkommen die dunklen Ringe unter ihren Augen erblickte, runzelte sie die Stirn. Es war nicht mehr zu leugnen, man sah ihr die Fünfundvierzig an, auch wenn andere das Gegenteil behaupteten.
Durch die Mitte der Dachetage zog sich ein langer Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Sunja schaute in ein Schlafzimmer mit Doppelbett, Wandschräge und milchigem Oberlicht. Weiße Möbel, stilvoll und teuer.
Sie stutzte, als ihr Blick an einem Hochzeitsbild hängen blieb. In dem Mann erkannte sie sofort den Verletzten aus dem Garten. Markantes Profil, schwarze, lockige Haare. Die Angetraute, dunkelhaarig, trug eine raffinierte Hochsteckfrisur und ein kurzes Seidenkleid in Beige. Das war auf keinen Fall die Tote! Sunja ging dichter heran. Nein, die Frau sah völlig anders aus. Lag es vielleicht am veränderten Outfit, nur für den Tag der Hochzeit? Sollte ja vorkommen. Sie sah genau hin. Nein, das war jemand anderes.
Das Foto daneben verwirrte sie vollends. Es zeigte wieder das Paar, diesmal weniger aufgedonnert und um einige Jahre älter. Ein etwa einjähriges Baby lachte vom Arm des Ehemanns, im Hintergrund konnte man Samtvorhänge und Plüschsofas ausmachen. Eine Art Hotelhalle oder Lobby? Sie nahm das Bild von der Wand. Kiew, 18. Mai 2012, stand auf der Rückseite.
Wenn die zwei ein Kind … War es noch im Haus? Hatte es alles mit angesehen?! Sie stürzte die Treppe hinab, suchte nach Meudrich und fand ihn in der Küche.
„Es gibt ein Kind!“ Sie hielt ihm das Bild unter die Nase.
Er betrachtete es konzentriert. „Der Mann ist der Verletzte“, sagte er. „Aber die Frau ist nicht die Tote. Da bin ich sicher.“
„Ich auch. Nur, wo ist das Kind?“
Meudrich warf ihr einen alarmierten Blick zu.
„Okay, ich geb’s weiter“, sagte sie und suchte die Nummer der Vermisstenabteilung.
„Übrigens, wir haben die Identität des Verletzten“, murmelte der Polizist. „Seine Dokumente lagen im Auto. Moment.“ Er verschwand im Wohnzimmer und kehrte gleich mit einem Kollegen der Spurensicherung zurück, der ihr diverse Plastiktüten überreichte. Sie enthielten einen Personalausweis, den Führerschein, Kreditkarten und andere Papiere. Alle ausgestellt auf Ulrich Schwarz, geboren am 1. Mai 1966, wohnhaft in Berlin, Rialtoring 23.
„Vielleicht ist die Tote seine Freundin“, sinnierte Meudrich, „und die Ehefrau ist mit dem Kleinen unterwegs? Falls sie hier noch gewohnt hat.“
Das hoffte Sunja auch. Vielleicht entdeckte sie im Obergeschoss die Handynummer der Mutter. Oder konnte anhand von Spielzeug oder Kleidung feststellen, ob das Kind hier gelebt hatte. Sie beschloss, die Zeugen von nebenan warten zu lassen. „Wenn ihr irgendwas habt … ich bin oben.“
Erneut stieg sie die Treppe hinauf. Liebend gern hätte sie jemand anderen dorthin geschickt. Ihr graute davor, in irgendeinem Winkel eine zweite Leiche zu finden – die eines Kindes.
Immer suchst du die Perle
am Tage deiner Geburt verloren
Das Besessne suchst du
Musik der Nacht in den Ohren
- Nelly Sachs -
Noch einmal trat sie ins Schlafzimmer und öffnete sämtliche Schranktüren. Schlug die Bettdecken zurück. Leuchtete unters Bett und sah in die Nachtschränke. Nichts. Weiter. Ein riesiges Bad mit schräger Wand, weiße Fliesen mit Goldverzierung. Sie schaute in die Dusche, hinter die Badewanne, in die Toilette. Alles strahlte makellos sauber. Weiter. Der Balkon zur Straßenseite. Teakholzsitzecke und drei blühende Oleander in Keramiktöpfen. Keine Versteckmöglichkeit. Sie hastete zur nächsten Tür.
Eine Abstellkammer. Zum Glück mit Beleuchtung. Staubsauger, Reinigungsmittel, Schraubenzieher an Wandhalterungen. Sie durchsuchte die Werkbank samt Ablage. Ein Regal, ein Werkzeugschrank auf Rollen, Aufbewahrungsboxen. Nichts. Nächste Tür. Eine Gästetoilette. Ein Arbeitsraum mit Tisch, zwei Computern, Büroschränken, Kartons. Bei jeder Schranktür, die sie öffnete, hielt sie die Luft an. Doch da war nichts. Sämtliche Schränke enthielten elektronische Bauteile. Laufwerke. Tastaturen. In den Schubladen des Schreibtisches säuberlich abgeheftete Unterlagen vom Hausbau. Ausgeprägter Ordnungssinn. Bis zur Zwanghaftigkeit. Persönliche Dokumente fand sie keine, bis auf einen Arbeitsvertrag von Ulrich Schwarz, ausgestellt vor vierzehn Jahren. Er arbeitete als Programmierer in einer Firma namens Intertec, die, soweit sie das beim schnellen Durchblättern erfassen konnte, kundenorientierte Softwarelösungen für Firmen im osteuropäischen Ausland entwickelte.
Wo war das Kind? Sie versuchte sich zu beruhigen, redete sich ein, dass es bei einem Freund war.
Die letzte Tür im oberen Flur führte in ein himmelblaues Kinderzimmer, den einzigen Raum im Haus, der lebendig wirkte. Ein mit Duplo-Steinen übersäter Teppich. Gewundene Schienenstränge mit einer knallbunten Lokomotive darauf. In den Wagen gingen eine Giraffe, ein Elefant und zwei Schafe auf Reisen. Der kleine Schaffner stand vor der Lok. Eine Frau mit Blumenstrauß winkte ihm zu. Sunja schloss die Augen. Sie glaubte fast, das Kind zu riechen. Seine Stimme zu hören. In welchem Alter spielten Kinder mit so etwas? Ein runder Tisch. Eine Schachtel mit dicken Buntstiften. Der Hund im Malbuch war ungelenk mit bunten Farbstrichen übertüncht. Neben der Tür eine Kindergarderobe. Blauer Anorak, karierte Wetterjacke, Mütze und Schal. Ein winziger grün-weißer Rucksack.
Die Angst nahm ihr den Atem. Zögernd begann sie auch in diesem Raum mit der Suche. Schränke, Schubladen, Kisten. Sie schlug das Deckbett des Kinderbettes auf und schrak zurück. Die Glupschaugen einer riesigen Puppe starrten sie an.
Hatte sie etwas übersehen? Erneut betrat sie den Flur. Keinerlei Möbel. Kein weiterer Dachboden.
Das Foto unter dem Arm, lief sie die Treppe hinunter und stieß an der Haustür fast mit Matthias zusammen, der eben hereinkam.
„Es gibt ein Kind!“, rief sie ihm entgegen.
Er sah das Bild an. „Und wo ist es?“
„Genau das wüsste ich gern!“
„Wenn seine Eltern arbeiten, ist es in der Kita, oder?“
Wahrhaftig, auf diese simple Idee war sie nicht gekommen. „Das müssen wir schnellstens checken“, entgegnete sie. „Hast du aus dem Nachbarn was rausbekommen?“
„Na ja. Einer von denen, die dir ein Ohr abkauen. Typ Hilfssheriff, überaus wichtig. Er sitzt im Rollstuhl, verbringt den ganzen Tag am Fenster und verdächtigt quasi die gesamte Nachbarschaft. Wenn’s nach ihm geht, sind das alles Verbrecher. Aber wenn du mich fragst, der hört die Spinnen husten. Ich glaub, der hat sich gefreut, dass er mal Besuch hatte. Hat mich kaum weggelassen. Vier Tassen Kaffee musste ich trinken.“
„Schön für dich“, kommentierte Sunja. „Eine davon hättest du mir gern mitbringen können. Okay, gibt’s Infos zu den Hausbewohnern? Wohnte der Typ hier mit seiner Frau oder nicht? Infos zum Kind? Hast du mal irgendwas Konkretes?“
„Du hast mir gerade erst von einem Kind erzählt, wie soll ich ihn dazu befragt haben? Hast du schlechte Laune?“
Die Kommissarin knurrte etwas. „Schon gut. Aber quetsch ihn noch mal wegen dem Kind aus. Es muss hier gewohnt haben. Junge oder Mädchen? Name? Alter? Könnte es in der Kita sein? Oder bei der Oma? Und wo könnte die Mutter sein? Sie ist nicht die Tote aus dem Wohnzimmer. Die Frage ist, wer das Opfer dann ist. Sie trug dasselbe Armband wie der Mann, vielleicht ist sie seine Geliebte? Was hat sie hier zu suchen? Frag du in den Häusern auf der anderen Straßenseite. Ich nehme mir gleich die direkten Nachbarn vor. Und die Häuser auf dieser Seite.“
„Da bin ich doch um Mitternacht noch nicht fertig“, stöhnte Matthias. „Vielleicht rufst du ja nachher meine Frau an und erklärst ihr das?“
Sunja drückte ihm das Bild in die Hand. Sie merkte, dass sie ihn wieder einmal herumkommandiert hatte, und wollte noch etwas Aufmunterndes sagen. Doch es fiel ihr nichts ein. Sie sah zu, wie er sich mit federnden Schritten über die Wiese entfernte.
„Frau Löwel?“ Ein Techniker kam auf sie zu. Er hatte ein hochrotes Gesicht und streifte im Laufen seine Kapuze ab. „Die Papiere der Toten.“ Er reichte ihr mehrere Plastikhüllen. „Waren in einem Rucksack unter der Garderobe. Jana Weitlinger aus Dresden, 24, Pädagogik-Studentin.“
„Matthias!“, rief Sunja ihrem Kollegen nach und sah, wie er auf dem Hacken kehrtmachte. Sie hielt ihm den Personalausweis hin. „Das ist das Opfer. Jana Weitlinger. Also nicht die Ehefrau.“
„Hauptkommissarin Löwel?!“ Unter dem Vordach stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen die Staatsanwältin.
Sunja, das Schlimmste befürchtend, rief: „Etwa noch eine …?“
„Was?“
„Nichts.“
Sie gingen zur Garage hinter dem Haus. In der Mitte stand statt eines Autos ein ausgeklappter Tapeziertisch, auf dem sie ihre Tasche abstellte.
„Endlich ein Raum, wo wir uns beraten können“, sagte die Staatsanwältin.
„Waren die Techniker hier schon drin?“, fragte Sunja.
„Wofür halten Sie mich? Natürlich. Also, was haben wir? Ist Ihr Kollege zurück?“
Sunja berichtete und sie besprachen die nächsten Aufgaben.
„Ideen zum Tathergang?“, fragte Frau März. „Unfall ist ja wohl auszuschließen?“
Die junge Staatsanwältin warf ihr die Fragen wie Brocken vor die Füße. Sunja grollte innerlich. Aber mit der würde sie auskommen müssen, zumindest so lange, bis die Dame die Karriereleiter hinaufgeklettert war und es nicht mehr nötig hatte, sich in den Niederungen der Verbrechensbekämpfung die Finger schmutzig zu machen.
„Eindeutig Fremdverschulden“, entgegnete sie. „Falls eine Kindesentführung vorliegt, können das Opfer und der Verletzte dem Entführer im Weg gewesen sein. Obwohl die Übertötung dagegen spricht, das sieht nach Affekthandlung aus. Was eher auf ein privates Motiv schließen lässt. Der Täter könnte von der Frau hereingelassen worden sein. Es gibt keine Einbruchsspuren, ich gehe nicht von Raub aus.“
„Warum nicht?“, unterbrach Frau März sie.
„Es scheint mir untypisch dafür.“
„Versuchter Raub?“
„Möglich. Aber es wurde nichts durchwühlt. Und warum ist dann das Kind weg? Das passt nicht. Nehmen wir an, der Täter ist ins Wohnzimmer eingedrungen, hat sich das Kind geschnappt, die Studentin getötet …“
„Sie glauben doch nicht, dass er mit dem Kind unterm Arm zwei Menschen niedersticht?“
„Ich glaube erst mal gar nichts. Möglich ist auch, dass der Täter das Kind entführen will und von der Studentin überrascht wird. Sie versucht, ihm den Kleinen zu entreißen, er greift nach einem Messer, tötet sie, das Kind läuft fort … Dann kommt der Vater nach Hause, wird Zeuge des Mordes, der Täter geht auf ihn los … Die Frage ist nur: Wo ist das Kind?“
„Vielleicht war es ja gar nicht da.“
„Möglich.“
„Genau. Die offene Wagentür. Das zweite Opfer muss gleich beim Aussteigen angegriffen worden sein“, sagte die Staatsanwältin.
„Woraus schließen Sie das?“
„Das sah man doch …“
Sunja zog es vor, diese Bemerkung nicht zu kommentieren.
„Wir müssen auf jeden Fall die Eltern überprüfen“, sagte sie. „Bei unklaren Kindesentführungen …“
„Ich denke, ich werd mich erst mal um die Presse kümmern“, warf Frau März ein. „Ein Wunder, dass die noch nicht hier sind. Wir gehen von Fundort gleich Tatort aus?“
„Ziemlich sicher. Nach Aussage der Ärztin.“
„Gut. Was gibt’s an Täterwissen?“
Sunja zählte auf: „Er kennt den Tatort, weiß, wie sein Opfer aussieht. Die Frau hat ihn reingelassen oder er hatte einen Schlüssel. Vierzehn Stiche, wahrscheinlich durch ein Messer aus dem Haus. Mehrere tödlich. Sie wurde vermutlich direkt im Zimmer ermordet, lag auf dem Teppich … Mal sehen, was die Techniker noch notieren. Können wir die Rechtsmedizin vor dem Abtransport der Leiche hier haben? Damit wir nichts übersehen.“
„Machen Sie das.“
„Das müssten Sie aber anordnen. Ebenso die Erlaubnis, dass wir Fingerabdrücke und DNA-Proben von möglichen Zeugen und von Personen aus dem Umkreis des Opfers nehmen können, auf freiwilliger Basis natürlich.“
„Werd ich.“ Frau März packte ihre Notizen ein. „Meine Anwesenheit dürfte ja vorerst nicht mehr …“
Ein markerschütternder Schrei aus dem Garten ließ sie verstummen.
Sunja lief hinaus und erkannte sofort die Frau, die sie auf dem Foto gesehen hatte. Sie eilte auf sie zu.
„Hallo? Wer sind Sie, bitte?“
Die Frau stand starr neben dem Mercedes, stützte sich mit einer Hand am Auto ab und schrie aus Leibeskräften. Im Moment gab es wenig Ähnlichkeit zwischen ihr und der Frau auf dem Bild im Flur. Blanke Panik sprang ihr aus dem Gesicht, die kurzen braunen Haare standen ihr wirr um den Kopf. Sie war schlank und sehr groß, Mitte bis Ende dreißig und elegant gekleidet. Ihr dunkelblaues Kostüm mit weißer Bluse erinnerte an die Uniform einer Stewardess. Sie brüllte wie ein verängstigtes Tier.
Einer der Helfer versuchte, eine Decke um sie zu wickeln, die jedoch ständig herunterrutschte. Vergeblich bemühte er sich, die aufgelöste Frau vom Mercedes wegzuführen, vor dessen offener Tür die Blutflecke auf den Steinen nicht zu übersehen waren. Mit einer Hand krallte die Frau sich am Auto fest, mit der anderen schlug sie auf den Sanitäter ein. Neben ihr auf dem Boden lag eine lederne Umhängetasche.
Sunja hob die Tasche auf, nickte dem Rotkreuzmann zu und griff nach dem Arm der Schreienden.
„Mein Kind!“, schrie die Frau. „Wo ist mein Mann? Was machen Sie hier? Verschwinden Sie! Verschwinden Sie aus meinem Garten! Alle! Ich will, dass Sie verschwinden!“
„Sie sind Frau Schwarz?“, sagte Sunja sanft.
Die Angesprochene verstummte wie auf Knopfdruck. Ihr Blick wurde glasig, die Beine knickten ihr ein und sie sackte weg. Der Sanitäter, der zum Glück noch neben ihr stand, fing sie geschickt auf.
Zwei andere Helfer holten einen Transportstuhl aus dem Rettungswagen, in den sie die apathische Frau setzten.
Sunja sah sie besorgt an. „Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“, fragte sie.
„Vergessen Sie es“, flüsterte der Rettungshelfer. „Schock. Wir bringen sie in die Klinik.“ Er streckte die Hand nach der Tasche aus.
Sunja warf rasch einen Blick hinein. Im Portemonnaie fand sie einen Personalausweis auf den Namen Maria Schwarz, geboren am 7. Mai 1975, und das Bild eines etwa dreijährigen Kindes mit schwarzem Haar und Segelohren. Mit einem weißen Teddy im Arm strahlte es den Betrachter an.
„Frau Schwarz? Ist das Ihr Sohn?“ Sie hielt ihr das Foto entgegen.
Doch die Frau reagierte nicht mehr. Unauffällig ließ Sunja das Kinderfoto in die Jackentasche gleiten. Sie konnte nur noch zusehen, wie Frau Schwarz in den Rettungswagen gebracht wurde und dieser sich mit Martinshorn entfernte.
Erst jetzt nahm sie die Staatsanwältin hinter sich wahr.
Wortlos zeigte sie ihr das Bild, auf dessen Rückseite Pascal, 2014 stand.
„Gut für die Fahndung“, war Frau März’ Kommentar. „Setzen Sie sich deswegen mit der Vermisstenabteilung in Verbindung. Ich erwarte morgen früh Ihren Bericht. Spätestens zum Rapport. Neun Uhr. Raum 208. Auf Wiedersehen.“
Sie rauschte davon.
Sunja hörte die Autotür klappen. „Staatsanwältin müsste man sein“, murmelte sie.
Ein vermisstes Kind, dachte sie. Wie damals bei der Sache mit Frank Hollmeyer. Mit ihm war sie auf der Polizeischule gewesen und danach noch ein Jahr im Praktikum in Brandenburg. Dort hatte es einen ungeklärten Fall mit einem vermissten Mädchen gegeben. Frank biss sich daran fest, las nächtelang Akten, ermittelte in seiner Freizeit ohne Dienstanweisung, beschattete heimlich den Vater und entdeckte, dass der seine Tochter umgebracht und die Leiche versteckt hatte. Da Frank die Ergebnisse nicht offiziell verwenden konnte, spielte er sie ihr als anonymen Hinweis zu. Offiziell hatte damit sie den Fall aufklären und die Lorbeeren einstreichen können.
Ein Jahr später hatte sie im LKA angefangen.
Frank … Ein undurchsichtiger Typ, ein Bär von einem Mann. Er war ziemlich abgebrüht gewesen und hatte sich damals über ihre naiven Moralvorstellungen, wie er sagte, amüsiert. Es hatte gefunkt zwischen ihnen, aber daraus war nie etwas geworden. Wann hatte sie ihn das letzte Mal gesehen? Vor zwei Jahren? Sein Leben schien, warum auch immer, aus Versteckspielen zu bestehen.
Sunja wischte die Erinnerung weg und hoffte inständig, dass dieser Fall nicht auch mit einer Kinderleiche enden würde.
Bei der Zeugenvernehmung im Nachbarhaus zerschlug sich ihre Hoffnung auf Kaffee sofort, sie bekam nicht mal ein Glas Wasser angeboten. Schon an der Tür näselte Frau Tienemann, man habe sie viel zu lange warten lassen. Die Frau war um einiges älter als ihr Ehemann und in ein knöchellanges grünes Samtkleid gehüllt, das Sunja an einen Berlinale-Empfang denken ließ. Sie nahmen an einem Glastischchen im Wohnzimmer Platz, auf dem stapelweise schrillbunte Frauenzeitschriften lagen.
Gleich zu Beginn der Befragung riss die Dame des Hauses das Gespräch an sich. Zwischen den Sätzen beäugte sie misstrauisch ihren Mann, der eingeschüchtert auf dem Sofa hockte. Hatten die beiden etwas zu verbergen?
Erst kurz vor sieben Uhr abends saß Sunja wieder im Büro. Auf dem Weg hatte sie es immerhin geschafft, drei Coffee to go zu trinken und an einem Imbiss eine Spinatpizza zu essen. Vor Müdigkeit klappten ihr trotzdem einige Male die Augen zu, also warf sie die Espressomaschine an und schaute trübe in den Raum. Dieses Büro ließ sie an einen Messiehaushalt vor dem Kollaps denken. Drehstühle verloren sich inmitten einer Landschaft aus Kartons, die bis zum Fensterbrett reichte. Schreibtische ächzten unter der Last von Aktenordnern, Anträgen für richterliche Durchsuchungsbeschlüsse, Zeugenaussagen, Fotoalben, eingetütetem Hausrat und leeren Kaffeebechern. Neben der Kaffeemaschine standen zwei Flipcharts, bedeckt von Fotos, Magnetpfeilen, Notizen und Fragezeichen.
Ein solcher Mordfall, und sie saß hier allein! Matthias war in Elternteilzeit und würde von zu Hause aus arbeiten. HP war immer noch wegen einer Überfallserie in Brandenburg, das würde wohl die ganze Nacht dauern.
Matthias machte ein verkniffenes Gesicht. Er saß im Arbeitszimmer am PC und bemühte sich, seinen Sohn zu überhören. Mit dem Müllauto aus Plastik rammte Felix gerade zum wiederholten Mal den Schreibtisch. Aus dem Wohnzimmer erklang das Geschrei des Jüngsten.
Die Personalien der Beteiligten im Mordfall hatte er alle überprüft. Dann die Straftäter-Datenbank. Die DNA-Datenbank. Nichts Relevantes. Und jetzt noch mal die Vermögensdaten. Jana Weitlinger …
Die Zimmertür wurde aufgerissen, und Ines baute sich neben ihm auf. „Ist ja super, wie du dich um deine Kinder kümmerst!“, fuhr seine Frau ihn an. „Wärst du doch besser im Büro geblieben, dann wüsste ich wenigstens, dass ich auf mich gestellt bin!“
Matthias wollte etwas erwidern, jedoch wurde ihm ein schreiendes Kleinkind in den Arm gelegt. Noch einmal knallte die Tür, und Ines war verschwunden.
Ernesto brüllte wie am Spieß. Matthias schluckte und begann ihn zu schaukeln. Er stand auf, um noch einmal in Ruhe mit Ines zu sprechen. Auf dem Weg zur Tür hielt ihn jedoch das einsetzende Jammern seines Ältesten zurück, der sich den Finger in einer Schublade eingeklemmt hatte.
Zwei Stunden später saß er endlich wieder vor dem Computer. Alles war still. Ines schlief, und die Kinder auch. Einstweilen.
Matthias starrte auf den Bildschirm mit dem Polizei-Symbol in der Ecke, konnte sich aber nicht mehr konzentrieren. Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit. War dies das Leben, das er gewollt hatte?
Er liebte seinen Job, schließlich hatte er extra vor ein paar Jahren die Versetzung zur Kripo beantragt. Doch jetzt wünschte er sich manchmal wieder in den Streifendienst zurück, dort gab es wenigstens geregelte Arbeitszeiten. Das wäre für die Kinder viel besser. Und für Ines auch. Er mutete seiner Familie schon eine Menge zu, das war ihm klar. Andererseits, so ein Leben, wie er es sich damals in Aachen vorgestellt hatte, mit Familie, Häuschen und Garten, das wäre ihm momentan fast ein bisschen zu langweilig.
Aachen … Damals schien sich alles in geordneten Bahnen zu bewegen. Anja, seine erste Freundin, war schwanger gewesen, sie hatten sich auf das Kind gefreut … Und dann passierte dieser Albtraum, von dem er sich bis heute nicht ganz erholt hatte. Mitten in der Stadt, auf offener Straße, war Anja entführt worden. Die Gangster hatten eine halbe Million Euro von ihrem Vater erpresst, einem alteingesessenen Brauereibesitzer.
Er selbst war damals fast durchgedreht. Nach Wochen war Anja freigekommen, in einem schlimmen Zustand, durch den Stress hatte sie das Kind verloren. Alle Therapien hatten nichts genützt, sie hatte sich abgekapselt und angefangen, Tabletten zu nehmen. Inzwischen lebte sie in einer betreuten Wohngemeinschaft.
Sein Leben hatte danach einen Riss bekommen. Er hatte das Studium an den Nagel gehängt und war zur Polizei gegangen. Hatte gehofft, noch einmal neu anfangen zu können, etwas wiedergutmachen zu können, woran er nicht schuld war … Es hatte ihn so wütend gemacht, dass die Schuldigen nicht gefasst wurden. Das durfte nicht sein. Er wollte etwas tun, für Anja, für andere und für sich selbst. Und trotzdem Kinder haben, wie er es sich immer erträumt hatte.
Verflucht, wie sollte das gehen? Ständig hatte er das Gefühl, nicht genug für seine Familie da zu sein. Dabei waren die drei ihm so wichtig! Aber er hing auch an seiner Arbeit.
Die Augen fielen ihm zu, worüber hatte er gerade gegrübelt?
Er starrte den Polizeistern auf dem Bildschirm an und hämmerte wütend auf eine Taste.
„Sörensen, wenn ich anrufe, ist es immer eilig“, sagte Sunja. „Das weißt du doch. Eine tote Studentin, ein verschwundenes Kind. Es muss sich nicht zwingend um eine Entführung handeln, wenn ein Mord vorliegt, ist aber in jedem Fall Gefahr im Verzug. Die Daten hab ich dir alle rübergeschickt, haltet ihr uns auf dem Laufenden? Ja, die Daten der Angehörigen sind natürlich dabei. Es zählt jede Stunde, aber wem sag ich das. Wir drücken euch die Daumen! Bis bald, hoffentlich!“
Sunja beendete ihr Telefonat mit dem Leiter der Vermisstenabteilung. Sie betrachtete das Bild des verschwundenen Jungen. Der Sohn der Familie Schwarz war drei Jahre und zwei Monate alt. Bildmaterial gab es reichlich, sein Aufwachsen war in sage und schreibe zwölf Fotoalben dokumentiert. Alle Kindertagesstätten und Krankenhäuser der Umgebung hatten Matthias und sie erfolglos abtelefoniert, dort kannte man kein Kind dieses Namens. Kein Nachbar wusste etwas über den möglichen Aufenthaltsort des Jungen. Ulrich Schwarz schwebte in Lebensgefahr, die Messerstiche hatten Lunge und Milz verletzt. Nach zwei Operationen lag er im künstlichen Koma. Seine Frau Maria, freiberufliche Anwältin für Wirtschaftsrecht mit eigener Kanzlei, wurde im selben Krankenhaus betreut, man wollte Sunja informieren, sobald sie befragt werden konnte. Vom Tatwerkzeug fehlte weiterhin jede Spur.
Sie blickte in den Abendhimmel und seufzte. Dann fuhr sie den Computer hoch, griff zum blauen Notizbuch mit den Zeugenaussagen und öffnete die zweite Zigarettenschachtel des Tages.
Im Unterschied zu Matthias, der dafür schon lange sein Tablet benutzte, machte sich Sunja bei Befragungen immer noch handschriftliche Notizen auf einen Block. Zwei Jahre als Protokollantin am Strafgericht kamen ihr hier zugute, sie konnte den Wortlaut direkt mitschreiben. Hinterher musste sie natürlich aus dem Gekritzel ein ordentliches Protokoll machen. Dies hatte aber den Vorteil, dass sie sich bei der endgültigen Niederschrift genau an alle Feinheiten und Stimmungen des Gespräches erinnerte. Oft fielen ihr gerade deshalb Unstimmigkeiten und Widersprüche in den Aussagen auf.
Aus den kryptischen Zeichen in ihrem Block entstand auf dem Bildschirm langsam das Protokoll der Zeugenbefragung von Larissa Tienemann:
„Ich war gerade von der Arbeit gekommen. Schon als ich auf der Auffahrt stand und die Wagentür öffnete, hörte ich aufgeregtes Geschrei, die Stimmen von einer Frau und einem Mann. Einzelne Worte konnte ich nicht verstehen. Ich dachte an Streit, es war ziemlich laut. Ich wunderte mich, unsere Nachbarn sind sonst friedliche Leute. Ich wollte mich aber nicht einmischen. Dann bin ich ins Haus gegangen. Als ich wenig später das Küchenfenster öffnete, habe ich Schreie gehört. Ich hab Angst bekommen, mich aber nicht getraut, nachzusehen. Weil es so unheimlich war, habe ich meinen Mann angerufen. Der kam eine viertel Stunde später. Inzwischen war es nebenan wieder ruhig. Wir sind beide rübergegangen. Die Haustür stand offen, und wir haben gerufen, aber niemand hat geantwortet. Da sind wir rein und haben gleich die tote Frau gesehen. Bitte? Nein, wir kannten die Frau nicht. Wir haben dann sofort die Polizei angerufen. Nein, als mein Mann noch nicht zu Hause war, habe ich niemanden gesehen. Ich war allein im Haus. Ich habe nicht rausgeguckt. Ich hatte ja solche Angst wegen der Schreie, dass ich mich im Haus verbarrikadiert habe, bis mein Mann kam.“
„Na super“, zischte Sunja. „Man kann ja wenigstens aus dem Fenster gucken!“