Wo gehobelt wird, sprühen Funken
Dank seiner talentierten Hände ist Tischler Gannon King der Star der angesagtesten Reality-Renovierungs-Show.
Er ist sexy und leidenschaftlich.
Er ist temperamentvoll.
Und er treibt seine Aufnahmenleiterin Paige in den Wahnsinn.
Ihr Job ist es, die Show am Laufen zu halten und sie hat keine Zeit für Gannons Wutausbrüche. Und schon gar nicht für eine Affäre mit ihm, egal wie heiß er ist. Privates und Berufliches trennt sie strikt. Denn eigentlich will sie weg vom Reality TV, wo eh alle Gefühle fake sind und nur die Einschaltquote zählt. Doch Gannon King könnte die Ausnahme von der Regel sein...
Bauplan für die Liebe
Aus dem Amerikanischen
von Uta Hege
Forever by Ullstein
forever.ullstein.de
Deutsche Erstausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juni 2018 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Copyright © 2017. Mr. Fixer Upper by Lucy Score
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-95818-218-9
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Für Adam und Abbie. Hoffentlich bin ich eines Tages in der glücklichen Lage, dass ich euch eure Collegeausbildung bezahlen kann. Oder wenigstens einen wirklich schönen Urlaub.
Paige schlug ihre langen Beine rastlos unter dem schimmernden Holz des Konferenztisches übereinander und stieß einen stummen Seufzer aus. Sie war einfach nicht für Marathonbesprechungen mit mehrseitigen Tagesordnungen geschaffen, und je länger sich die Powerpoint-Präsentation des Anzugträgers mit den deutlich sichtbaren Geheimratsecken hinzog, umso kribbeliger wurde sie. Sie hatte alle Hände voll zu tun, und ihren Chefs bei der Produktionsfirma dabei zuzuhören, wie sich die Einschaltquote einer Serie, die bereits ein echter Quotenschlager war, noch weiter steigern ließe, brachte sie bei ihrer eigenen Arbeit nicht voran.
»Was wir wirklich brauchen, ist, dass Gannon mehr Gefühle zeigt«, verkündete der Anzugträger und rief eine neue Folie auf, auf der das Gesicht von Sexgott Gannon King neben einem Säulendiagramm zu sehen war.
»Das ist es, was die Frauen wollen«, fügte er hinzu und Paige war ziemlich sicher, dass die Handvoll Frauen, die im Raum versammelt war, wie gebannt nicht auf das Diagramm, sondern ausschließlich auf das Foto sah.
»Damit wir uns recht verstehen: Sie sprechen nicht von den Gefühlen, die er für gewöhnlich zeigt. Korrekt?«, hakte der Mann zu ihrer Rechten nach. Eddie Garraza war der Produktionsleiter der Reality-Show Kings of Construction, und mit seiner Khakihose, die sein Markenzeichen war, dem knitterigen Hemd und den ausgelatschten Mokassins, die unablässig auf den Boden wippten, hob er sich deutlich von den Maßanzügen und Designerschuhen der anderen ab, die wahrscheinlich mehr gekostet hatten als das erste Auto vieler anderer Menschen.
Paige verbarg ihr leises Kichern hinter einem Hustgeräusch.
Das einzige Gefühl, das Gannon King normalerweise zeigte, war eine heiße Wut, an der sich jeder, der ihm näher als zehn Meter kam, verbrannte. Er war gelernter Bauhandwerker, aber seine große Liebe galt dem Holz, und die Möbel, die er baute, waren einmalige Kunstwerke, die praktisch und robust, zugleich aber auch herrlich anzusehen waren. Die Zuschauerinnen ihrer Sendung beteten vor allem seinen makellosen, manchmal nackten Oberkörper an, Paige selber aber reservierte ihr Verlangen für die Möbelstücke, denn das aufbrausende Temperament, die Streitsucht und die Sturheit dieses Mannes führten häufig zu Verzögerungen bei den Dreharbeiten und machten ihr ein ums andere Mal das Leben schwer.
»Wir wollen, dass er sich endlich einmal menschlich zeigt. Cat ist bei den Zuschauern total beliebt und sie werden begeistert sein, wenn Gannon auch ein bisschen weicher wird.«
Cat King war Gannons Zwillingsschwester und genauso attraktiv und talentiert wie er. Sie war zwei Minuten jünger und hatte wie ihr Bruder braune Augen mit unglaublich langen, dichten Wimpern. Doch im Gegensatz zu seinen dunklen, für gewöhnlich kurz geschorenen Haaren, waren ihre blonden Haare lang und wild gelockt. Wo er rau war, war sie glatt, und wo er stritt, suchte sie eher den Kompromiss, sodass vielleicht ihr Aussehen, aber ganz bestimmt nicht ihr Verhalten auf ihre Verwandtschaft schließen ließ.
»Paige.« Der Mann in dem zu engen Hugo-Boss-Anzug – Raymond? Ralph? – winkte ihr mit der Fernbedienung zu. »Sie und Gannon haben sich doch schon des Öfteren gefetzt. Wir hätten gern, dass Sie ihn auf die Palme bringen und dass das dann jemand filmt. Sie wissen, dass der Mann für Kinder eine ganz besondere Schwäche hat. Versuchen Sie, ihn damit dranzukriegen, ja? Wenn Sie ihn dazu bringen, dass er Tränen vor der Kamera vergießt, ist ein 5.000-Dollar-Bonus für Sie drin.«
Ohne wirklich zuzustimmen, gab sie durch ihr Nicken zu verstehen, dass sie gehört hatte, worum der Mann sie bat. Tatsächlich hatte es am Set während der ersten Staffel ihrer Show, in der sie Häuser renovierten, mehr als einmal zwischen ihr und Gannon King geknallt. Er schien instinktiv zu spüren, was er für Knöpfe bei ihr drücken musste, damit sie – zumindest innerlich – vollkommen aus dem Gleichgewicht geriet. Sie hätte noch jede Menge Zeit, um dem vorlauten Kerl ein paar Gefühlsausbrüche zu entlocken, denn nach dem unglaublichen Erfolg der ersten Staffel fingen bald die Dreharbeiten zu der zwölfteiligen zweiten Staffel an.
Und nach dem Vorschlag, den ihr Raymond-Ralph soeben unterbreitet hatte, waren dabei offenkundig alle Mittel recht.
Doch so sehr sie die 5.000 Dollar brauchen konnte, war sie ganz sicher nicht bereit, Gannon bis aufs Blut zu reizen und nur zum Spaß dafür zu sorgen, dass er aus dem Gleichgewicht geriet. Er war ein Arschloch, aber ein sehr talentiertes Arschloch, und in der Tiefe ihres Herzens konnte sie den unverhohlenen Hass, den er auf all die »Sesselfurzer, die nur auf die Quoten sahen«, verspürte, durchaus nachvollziehen.
Aber erzählen würde sie ihm das ganz sicher nicht.
Eddie pikste sie unter dem Tisch mit seinem Kugelschreiber an. »Wir werden unser Bestes geben«, versprach er mit ausdrucksloser Miene, während Paige die Finger schon über die Tasten ihres Laptops fliegen ließ.
Die Augen hinter seiner zwanzig Jahre alten Brille mit dem Drahtgestell verrieten nicht, was er tatsächlich dachte, doch er wusste aus Erfahrung, wann sich eine Auseinandersetzung lohnte und wann nicht. Deshalb konnte Eddie es sich leisten, trotz der Tätigkeit in einer Branche, in der jeder darauf aus war, möglichst jung zu wirken, einen dichten Schopf aus grauen Haaren und Falten, die man in seinem Alter nun mal hatte, wenn er nicht zur Botox-Nadel griff, unverhohlen zur Schau zu stellen.
Endlich wandte Raymond-Ralph sich einem anderen Thema zu und Paige sah durch die Glasfront des Besprechungszimmers auf die Hochhäuser der Stadt. Der Konferenzraum lag im sechsten Stock mitten in New York City, wo die Produktionsfirma angesiedelt war. Summit-Wingenroth Productions klang nach einem alten, ehrwürdigen Unternehmen, doch in Wahrheit war der Laden, den ein einstiger Reality-Star gegründet hatte, gerade mal fünf Jahre alt, und bisher wurde überwiegend Geld mit Dutzenden von Serien ohne echte Drehbücher verdient.
Kings war das einzige Format des Unternehmens, das aus Sicht von Paige nicht völlig unerträglich war. Sie halfen Menschen, die in Not geraten waren, und das war es, worum es – ihr – am Ende ging. Für Summit-Wingenroth war Kings einfach der kitschiger Zuschauerköder, mit dem man gute Einschaltquoten machte und mit dem sich Werbezeit verkaufen ließ.
Plötzlich drehten alle ihre Köpfe, denn die Flügeltüren des Konferenzraums gingen auf und Gannon King persönlich kam hereinmarschiert. Cat kam direkt hinter ihrem Bruder aus dem Flur gefegt und schaute sich mit einem warmen Lächeln um. Eilig klickte Raymond oder Ralph die nächste Folie an und das Gesicht des Stars verschwand hinter dem nächsten Säulendiagramm.
Paige lenkte ihren Blick zurück auf ihren Laptopmonitor und weigerte sich standhaft, Gannon anzustarren.
Er war die Art von Mann, die beim Betreten eines Raumes automatisch alle Blicke auf sich zog. Er war gebaut wie ein nordischer Gott, und seine breiten Schultern und die muskulöse Brust verjüngten sich zu einem derart straffen Bauch, dass seine Twitter-Fangemeinde sich vor Freude überschlug, sobald er vor der Kamera sein Hemd auszog. Jetzt aber spannte sich ein graues Henley-Shirt über der muskulösen Brust und schmiegte sich an seinen ausnehmend beeindruckenden Körper. Dazu hatte er drei Lederbänder um sein linkes Handgelenk gewickelt und sein Haar, das er ein wenig länger als während der Dreharbeiten trug, war souverän zerzaust.
Paige biss sich auf die Lippe, denn, verdammt noch mal, sie war kein liebeskranker Teenie, sondern arbeitete mit dem Kerl zusammen, und mit seinem elenden Narzissmus hatte er ihr arbeitstechnisch ein ums andere Mal das Leben schwer gemacht.
»Da sind ja unsere Stars.« Der Anzugträger klang so heuchlerisch, dass Paige es nur mit Mühe schaffte, nicht die Augen himmelwärts zu rollen.
»Tut mir leid, dass wir hier einfach reinplatzen«, erklärte Cat in alles andere als reumütigem Ton. »Aber wir waren gerade in der Gegend und da dachten wir, wir schauen mal kurz vorbei.«
»Bitte nehmt doch Platz. Wir gehen gerade die Zuschauerdemografien durch.«
Und suchen nebenher nach einem Weg, um deinen Bruder vor der Kamera zum Heulen zu bringen, klärte Paige sie in Gedanken auf.
Ohne auf das höfliche Geplänkel einzugehen, schenkte sich Gannon einen Becher schwarzen Kaffee ein und lehnte sich an die Tischplatte. Cat wählte einen Platz am Kopfende des Tischs und blickte so entzückt zu Raymond-Ralph, bis ihm das Wort »Einschaltquoten« nur noch unter Mühen über die Lippen kam.
Paige fing an zu grinsen. Cat war eine Meisterin der Manipulation. Was wie ein hübsches Lächeln und wie ehrliches Interesse wirkte, war in Wahrheit eine sorgsam kalkulierte Taktik zur Entwaffnung ihres Feindes und Erreichen ihres jeweiligen Ziels. Je mehr die anderen sie unterschätzten, umso besser kam sie damit durch, bevor die Opfer auch nur merkten, dass sie überlistet worden waren.
Paige fragte sich, was Cat wohl dieses Mal im Schilde führte, und mit einem Lächeln auf den Lippen blickte sie in Gannons Richtung und verfluchte sich für diesen Fehler, als sein ausdrucksloser Blick sie traf. Ihr Lächeln wirkte offenbar wie eine Einladung auf ihn, denn er kam an den Tisch und setzte sich dort auf den freien Stuhl links neben ihr.
Seine zerrissene, abgewetzte Jeans berührte ihren Oberarm und eilig riss sie ihren Arm von der Stuhllehne und legte ihre Hand in ihren Schoß. Dann schob er seine langen Ärmel hoch, entblößte eine neue Tätowierung auf dem Unterarm und legte diesen auf der Lehne ab.
Er roch nach Sägemehl und hatte seine verschrammten Arbeitsschuhe an. Wahrscheinlich hatte er den Vormittag in seiner Werkstatt in Brooklyn zugebracht, bevor ihn Cat gezwungen hatte, mitzukommen, um ihr bei was auch immer beizustehen.
Warum nur sah er so fantastisch aus und war dazu noch derart talentiert? Das war einfach nicht fair.
Er schob sich neben sie und flüsterte ihr zu: »Was ist nicht fair?«
Sein warmer Atem traf auf ihren Hals und Paige drehte den Kopf und stellte fest, dass er ihr viel zu nahe war. Konnte er jetzt etwa obendrein auch noch Gedanken lesen oder was?
Er nickte mit dem Kopf in Richtung ihres Monitors.
Das ist nicht fair. Das ist nicht fair.
Verflixt. Verlegen biss sie sich von innen in die Wange, zuckte mit den Achseln, wackelte mit ihren Fingern und erklärte knapp: »Tippen ist gut für die Karpaltunnel.«
»Na klar, Prinzessin«, stimmte er mit einem Grinsen zu, das deutlich machte, dass er ihr nicht auf den Leim gegangen war.
Die »Prinzessin« hatte er sich natürlich nicht verkneifen können. So nannte er sie permanent, seit sie beim Dreh der letzten Staffel unverhofft in einen Regenguss geraten war. Eine freiwillige Helferin hatte den Sportbeutel der Tochter da gehabt, ihr als Ersatz für ihre hoffnungslos durchweichten Kleider knappe Shorts sowie ein viel zu enges, weißes T-Shirt mit »Prinzessin«-Aufdruck ausgeliehen, und nachdem der Blödmann mitbekomme hatte, wie empfindlich sie auf diesen Namen reagierte, sprach er sie beharrlich damit an.
Paige löschte die Zeilen auf dem Monitor und versuchte, sich erneut auf Raymond-Ralph zu konzentrieren, der endlich zum Hauptpunkt ihres Treffens kam, nämlich den Familien, denen sie sich in der zweiten Staffeln widmen würden.
»Als Erstes fahren wir zu den Russes.« Er rief eine Aufnahme von einem älteren Paar und Kindern jeden Alters auf dem Bildschirm auf. »Phil und Delia Russe haben drei Kinder und neun Enkel.«
Eilig klickte er die nächste Folie an, auf der man die Fassade eines unscheinbaren Geschäftsgebäudes sah. »Die beiden haben vor zwanzig Jahren eine Suppenküche aufgemacht und seither über eine Million warmer Essen an Bedürftige verteilt. Auch die Kinder und die Enkel arbeiten dort ehrenamtlich mit.«
Wieder tauschte er die Folie aus und zeigte ein Büro im angesagten Shabby-Chic, in dem das Ehepaar von zwei Männern im Anzug einen dicken Scheck entgegennahm. »Vor fünf Jahren haben sie dazu noch eine Jobvermittlung aufgemacht, das heißt, wir haben neben ihren Kindern und den Enkeln auch noch jede Menge Leute, die durch sie der Obdachlosigkeit entkommen sind und die es kaum erwarten können, uns bei dem Projekt zur Hand zu gehen. Es wird eine Tränen-Fest werden. Der perfekte Start für unsere neue Staffel, finden Sie nicht auch?«
Paige schrieb eifrig mit, ließ allerdings die »Tränen-Fest« aus.
»Bisher wissen wir noch nicht genau, wie umfangreich die Renovierungsarbeiten dort werden, doch sobald das feststeht, schicke ich einen Projektplan raus«, bot sie an.
Gannon räusperte sich kurz und alle wandten sich ihm zu.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wandte sich dem Bildschirm zu. »Meine Jungs haben schon mal die einheimischen Bautrupps und das Bauamt kontaktiert. Der Platz hinter dem Haus reicht für ein zusätzliches Schlafzimmer im Erdgeschoss, und vorne haben wir an ein offenes Konzept gedacht. Hauptproblembereiche sind das Dach und die Elektrik, denn die sind inzwischen vierzig Jahre alt. Beides muss rundum erneuert werden, aber die Genehmigungen dafür sind ganz sicher kein Problem.«
Gannon sprach in einem Meeting. Freiwillig. Und konstruktiv. Paige kam aus dem Staunen nicht heraus. Aber natürlich stand sie selbst dadurch mit einem Mal wie eine ahnungslose Vollidiotin da.
Die drei anderen Frauen am Tisch hingen an seinen Lippen und das halbe Dutzend anderer Männer nickte nachdenklich, als wäre seine Ansprache nicht weniger bedeutsam als die weltberühmte Gettysburg Address.
Paige sah ihn von der Seite an, und er zog eine Braue hoch und hob die Hände in die Luft.
»Tja, Prinzessin, wenn ich will, kann ich auch nett sein«, klärte er sie leise auf.
»Ich habe nie was anderes behauptet.«
»Aber ich kann hören, was du denkst.«
Idiot. Das hatte er ganz sicher nicht gehört.
»Wenn du mich nicht mehr Prinzessin nennst, gebe ich zu, dass ich bisher vielleicht nicht völlig frei von Vorurteilen war.«
Wieder beugte er sich zu ihr vor. Und kam ihr dabei viel zu nah.
Die goldenen Sprenkel in den braunen Augen schimmerten im Licht und mit der Narbe, die die linke Braue teilte, sah er ausnehmend verwegen und gefährlich aus. »Das hättest du wohl gern.«
Als das Meeting endlich vorbei war, hörte Paige das laute Knurren ihres leeren Magens, doch vor allem war sie froh, Gannon zu entfliehen. Sie hatte eine knappe halbe Stunde Zeit, um was zu essen, bevor sie mit Eddie und dem Drehortmanager zusammenkäme, um die Einzelheiten der drei ersten Sendungen durchzugehen.
Sie stand auf, um ihren Laptop und ihre Papiere einzupacken, während Gannon weiter sitzen blieb. Sie versuchte, seinen Blick zu ignorieren, aber schließlich hielt sie es nicht länger aus und fragte spröde: »Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Ich habe dich noch nie in einem Rock gesehen. Aber das steht dir durchaus …«, er ließ seinen Blick über sie gleiten: »… gut.«
Tatsächlich kannte Gannon sie im Grunde bisher nur in der normalen Uniform der Renovierungscrew aus T-Shirt, Jeans und allem, was sich drüber- oder drunter ziehen ließ. Beim Filmen hatte sie schon Glück, wenn sie genügend Zeit zum Tuschen ihrer Wimpern fand, bevor sie noch vor Morgengrauen zum Drehort fuhr. Es hatte eben eindeutig auch Vorteile, hinter der Kamera zu stehen.
Das Kribbeln ihrer Haut verriet, dass ihre Beine unter seiner eingehenden Musterung errötet wären, wenn das physikalisch möglich wäre, doch sie widerstand dem Drang, an ihrem Bleistiftrock zu zupfen, bis zumindest ihre Knie nicht mehr sichtbar wären. »Freut mich, dass du mit meinem Outfit einverstanden bist«, gab sie in kühlem Ton zurück. »Wir sehen uns dann am Drehort.«
Sie verließ den Raum in einem Tempo, das ihm zeigen sollte, dass sie viel beschäftigt war, ohne den Eindruck zu erwecken, dass sie vor ihm floh, obwohl sein Blick sich weiterhin bei jedem Schritt in sie hineinzubohren schien.
»Paige!«, fing Cat sie an der Tür des Konferenzraums ab. »Wollen wir was zusammen essen?«
Paige warf einen Blick auf ihre Uhr. »Was für ein Essen können wir in einer knappen halben Stunde verdrücken?«
Cat zog nachdenklich die Nase kraus, aber dann hellte ihr Gesicht sich wieder auf.
»Etwas vom Hot-Dog-Stand«, sagten die beiden Frauen im Chor.
Paige lachte. »Und was ist mit deinem Bruder?«
Sie erstarrte, denn im selben Augenblick drang seine Stimme aus dem Konferenzraum an ihr Ohr und sprach einen ihr abgrundtief verhassten Namen aus. »Meeghan Traxx.«
»Er muss noch was erledigen«, winkte Cat ab. »Also lass uns irgendwelche grauenhaften Sachen essen und du erzählst mir, wie‘s dir in der letzten Zeit ergangen ist.«
Paige deponierte ihre Unterlagen und die Laptoptasche kurzerhand auf einem freien Schreibtisch und sie fuhren mit dem Lift ins Erdgeschoss. Um die Ecke gab es einen Stand, und kurz darauf, Hot Dogs in den Händen, gingen sie weiter in den Park. Es wurde langsam Frühling und Paiges Stimmung hellte sich bei dem Spaziergang in der warmen Sonne merklich auf.
»Oh mein Gott, das schmeckt einfach fantastisch.« Cat rollte genießerisch mit ihren braunen Augen, und den Mund voll wunderbarem Sauerkraut murmelte Paige ein zustimmendes »Allerdings.« Dann aber stieß sie knurrend aus: »Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie du bei deiner Art zu essen noch so aussehen kannst.« Paige selbst war 1,70 Meter groß, und ihre Freundin war fünf Zentimeter größer mit einer Figur wie eine Tänzerin.
»Das sagt gerade die Richtige.«
»Aber im Gegensatz zu dir quäle ich mich nachher zur Strafe für den Hot Dog eine halbe Ewigkeit im Fitnessstudio ab. Während du nach Hause fahren und noch drei Kilo Fettuccine futtern wirst.«
Cat tätschelte grinsend ihren flachen Bauch. »Ich habe einfach gute Gene und ich lasse mir das Fett absaugen, ehe es dort hängenbleiben kann.«
»Du bist eine elendige Lügnerin«, hielt Paige ihr vor.
»Aber mir wurde schon versichert, dass sich meine Art zu essen eines Tage rächen wird, und wenn es soweit ist, werde ich ein genauso süßes Tönnchen sein wie meine Nonni«, klärte Cat sie fröhlich auf.
»Das wäre nur gerecht.«
Während sie im Gehen aßen, feuerte die Freundin ein Reihe Fragen ab. »Also, wie war deine Drehpause? Hattest du schöne Ferien?«
»Auf jeden Fall. Und wie war es bei dir?«
»Verrückt und hektisch, aber wunderbar. Triffst du dich zurzeit mit jemandem?«
Paige rollte mit den Augen.
»Das werte ich als dickes, fettes Nein.« Cats platinblonder Pferdeschwanz wippte rhythmisch hin und her. In ihren engen Jeans, den Stiefeln und dem Tunikapullover sah sie aus, als wäre sie direkt von einem Fotoshooting in den Park spaziert.
»Du kennst doch meinen Terminkalender. Da bleibt einfach keine Zeit für einen Mann.« Paige zerknüllte die Serviette, die sie nicht mehr brauchte, warf sie im Vorbeigehen in einen Mülleimer, und Cat schob sich den letzten Bissen ihres Hot Dogs in den Mund.
»Du setzt deine Prioritäten falsch.«
»Mit all dem Zeug in deinem Mund kann ich dich nicht verstehen«, zog Paige sie auf.
»Oh!« Cat klatschte mit ihr ab. »Das hast du gut pariert. Aber jetzt zurück dazu, dass du dir endlich wieder einen Typen suchen oder dich zumindest wieder mal flachlegen lassen sollst. Du bist eine wunderschöne, junge Frau, und es ist ein Verbrechen, wenn du derart zugeknöpft« – sie tippte auf die hochgeschlossene Bluse, die Paige trug – »durchs Leben gehst.«
»Red doch keinen Unsinn, und erzähl mir bitte, dass du selber gerade keinen Typen hast.« Cat hatte die unselige Angewohnheit, sich spontan in irgendwelche unwürdigen Männer zu verlieben und nach ungefähr drei Wochen zu erkennen, dass sie ihr das Herz gebrochen hatten oder einfach dämliche Idioten waren. Und wenn das während der Dreharbeiten vorkam, hatte das verheerende Folgen für das ganze Team.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich mache gerade eine Trockenperiode durch. Willst du vielleicht lesbisch werden?«
»Wenn wir unterwegs sind, wäre das natürlich praktisch«, überlegte Paige. »Auf welcher Seite des Bettes schläfst du?«
»In der Mitte.«
»Dann wird nichts aus uns. Ich hasse es, wenn‘s unter der Decke eng wird.«
Cat seufzte. »Also gut, dann wende ich mich eben doch wieder den Männern zu. So wenig man ihnen auch trauen kann und so verwirrend sie auch sind.«
»Apropos Verwirrung. Warum seid du und Gannon überhaupt eben bei der Besprechung reingeplatzt?«
»Wir wollen höhere Gagen für das Produktionsteam und für unsere Crew.«
»Wofür mein Konto euch von Herzen dankbar ist.«
Cat und Gannon hatten eiserne Prinzipien, wenn‘s um die Verteilung der mit ihrer Sendung eingefahrenen Gewinne ging. Die Produktionsfirma hatte ihnen beiden astronomische Erhöhungen ihrer Gagen für die zweite Staffel zugesagt, und Paige war alles andere als überrascht darüber, dass ihnen die Erhöhung auch der Gagen aller anderer am Herzen lag.
»Auf dem Weg nach draußen habe ich gehört, wie Meeghans Name fiel.«
Bei der Erwähnung dieses Namens machte Cat ein würgendes Geräusch. »Mir wird schon schlecht, wenn jemand dieses aufgeblasene, jämmerliche Weibsbild nur erwähnt.«
Mit ihrem superblonden Haar, den supergroßen Brüsten und dem übertrieben großen Ego war sie der mit Abstand größte Star der Produktionsfirma mit zwei eigenen Design-Shows, und zugleich die Frau, mit der Cats Bruder angeblich zusammen war.
Die Filmcrews redeten, und Paige wusste, dass Meeghan sowohl am Set als auch außerhalb als wahres Monster galt. Und egal, wie unausstehlich Gannon manchmal war, nicht mal er hatte wahrscheinlich nicht so jemanden verdient.
»Bringt er sie zu Familienfeiern mit? Hat sie an Thanksgiving eine vergoldete Designer-Süßkartoffel-Beilage zu eurem Truthahn mitgebracht?«
Cat schnaubte laut. »Gott, nein! Wir haben sie bisher noch nie gesehen und er erwähnt sie nie auch nur mit einem Wort. Was wirklich gut ist, denn wenn er auf die Idee käme, mir von ihr vorzuschwärmen, würde ich ihn umgehend einweisen lassen, weil ich sicher wäre, dass er auf den Kopf gefallen ist.«
Paige lachte fröhlich auf. »Jetzt merke ich, wie sehr du mir gefehlt hast.«
Cat schlang einen Arm um ihre Schulter und erklärte grinsend: »Du mir auch, Baby.«
»Oh mein Gott! Sie sind es wirklich!«, kreischte plötzlich eine Frau in einem pinkfarbenen Jogginganzug und fuhr aufgeregt mit beiden Händen durch die Luft. »Das glaubt mein Mann mir nie! Cat King läuft wie ein ganz normaler Mensch hier durch den Park.« Sie wühlte hektisch in der riesengroßen Tasche, die sie bei sich trug.
Cat zwinkerte der Freundin zu. »Es ist immer schön, einen Fan unserer Show zu treffen. Sollen wir ein Foto machen?«
Triumphierend zog die Frau ihr Handy aus den Tiefen ihrer Tasche und reichte es Paige. »Das wäre wunderbar! Ihren Bruder haben Sie nicht zufällig dabei?« Die Frau sah sich so eilig um, dass Paige befürchtete, sie zöge sich ein Schleudertrauma zu.
»Heute leider nicht.«
Die Frau stieß einen Seufzer aus. »Aber wahrscheinlich ist es besser so. Wenn ich ihn treffen würde, würde ich wahrscheinlich ohnmächtig werden.«
Paige grinste, als sich Cat, gutmütig wie sie war, von der wildfremden Frau umklammern ließ, und als sie ein paar Fotos von den beiden machte, achtete sie darauf, dass sie Cat von ihrer besten Seite zeigte und die Aufregung des Fans zu sehen war.
Die Frau entließt den Star aus ihren Armen und sah sich sofort die Bilder an. Glücklich juchzte sie: »Wie aufregend!« Ohne sich noch einmal umzudrehen, eilte sie davon.
Cat sah ihr grinsend hinterher. »Wie lange wird‘s wohl dauern, bis ihr einfällt, dass sie nicht mal Tschüss gesagt hat?«
»Zehn Minuten«, prophezeite Paige. Erst im Verlauf der ersten Staffel waren die beiden Kings zu Stars geworden und sie hatten sich noch nicht daran gewöhnt, berühmt zu sein.
»Macht‘s dir noch immer Spaß, erkannt zu werden?«, fragte Paige.
Cat ließ die Schultern kreisen. »Ich habe mich auf diese Sache eingelassen, also muss ich jawohl akzeptieren, wenn mich jemand anspricht, weil er mich im Fernsehen gesehen hat.«
»Du gehst damit auf alle Fälle besser um als dein Bruder.« Gannon hatte sich bereits mit einem aggressiven Fotografen angelegt, der Cat bei einer Preisverleihung einfach nicht hatte in Ruhe lassen wollen. Jemand anderes hatte diesen Zwischenfall gefilmt, und obwohl die meisten ihn dafür gefeiert hatten, dass er seine kleine Schwester hatte schützen wollen, hatte es auch einen kleinen Fleck auf seiner weißen Weste hinterlassen, der der Produktionsfirma alles andere als gelegen kam.
»Gannon hat ganz einfach ein Problem damit, seinen Beschützerinstinkt in den Griff zu kriegen«, antwortete Cat. »So war es immer schon.« Sie schaute auf die Riesenuhr an ihrem schmalen Handgelenk. »Am besten schaffen wir dich jetzt zurück, damit du die nächsten aufregenden Meetings absolvieren kannst.«
Paige seufzte, machte sich dann aber selber Mut. »Ich schätze, dass die zweite Staffel mindestens so gut, wenn nicht gar besser als die erste wird.«
Stunden später, nach drei weiteren Besprechungen und einem Konferenzgespräch am Telefon, trat Paige erschöpft durch ihre Wohnungstür, stieg aus ihren hochhackigen Schuhen und schleuderte sie achtlos Richtung Couch. Becca, ihre Mitbewohnerin, war wegen eines Shootings unterwegs, und deshalb zog sie schon im Flur auch Rock und Bluse aus und schleppte sich ermattet in ihr Zimmer, das zwar winzig, aber trotzdem ihr Zuhause war.
Sie warf sich bäuchlings auf ihr Bett und streckt sich genüsslich darauf aus.
Die Dreharbeiten fingen nächste Woche an. Sie würden nach Columbia, South Carolina fliegen, einen Tag mit Vorarbeiten und der Überprüfung der verschiedenen Bau- und Drehgenehmigungen verbringen, und dann würde wie jedes Mal das Chaos ausbrechen.
Es war ein anstrengender Job mit langen Arbeitstagen, aber die Erfahrungen, die sie dort machte, waren von unschätzbarem Wert, und es wäre gelogen, zu behaupten, dass sie keine feuchten Augen hatte, wenn die Arbeiten beendet waren und die Familie die Schlüssel ihres Hauses wieder in die Hand gedrückt bekam. Auch wenn es ihren Chefs bei der Serie nur um Einschaltquoten und Gewinne ging, bekamen durch ihre Arbeit Menschen, die es eindeutig verdienten, ein Zuhause, das weit mehr war als einfach ein Dach über dem Kopf.
Natürlich sorgte sie dafür, dass niemand je etwas von ihrer Rührung mitbekam. Sie war am Set, um ihren Job zu machen, und sie machte ihre Arbeit gut. Es war für Eddie wichtig, dass sie dafür sorgte, dass die Dinge niemals aus dem Ruder liefen und die Kosten sich im Rahmen hielten, was bei einem Bauleiter wie Gannon King nicht gerade einfach war.
Sie seufzte in ihr Kissen. Nicht mehr lange, und sie könnte die Erfahrung, die sie bei der Serie machte, nutzen, um ein wichtiges, persönliches Projekt zu starten. Weit, weit weg von Gannon King.
Die Russes wirkten auf Paige wie Mrs und Mr Weihnachtsmann. Sie hatten beide feines, weißes Haar, rote Apfelbäckchen und ein permanentes Lächeln im Gesicht. Sie trugen ihre Fröhlichkeit anscheinend in den Genen, denn auch ihre Kinder und die Enkel strahlten pausenlos gute Laune aus. Trotzdem kämpfte Paige gegen das Chaos an, denn mit einem derart vollen Haus hatte sie es bisher noch nie zu tun gehabt.
»Also morgen früh«, erklärte sie und drückte Phil und Delia Kopien der laienfreundlich verfassten Ablaufpläne des Drehtags in die Hand, »tauchen wir gegen sieben hier bei Ihnen auf und bereiten alles vor, damit der Dreh um acht beginnen kann. Das heißt, Sie alle«, fuhr sie fort und ließ den Finger kreisen, um zu zeigen, dass das ganze überfüllte Wohnzimmer des Hauses angesprochen war, »müssen spätestens halb acht hier drin versammelt sein, denn dann klopfen die Kings bei Ihnen an die Tür.«
Die »Überraschungsszene« war nicht wirklich echt, denn die Familien wussten schon im Vorfeld, dass sie in die Sendung aufgenommen worden waren. Sie hatten bereits stundenlang am Telefon verschiedenen Produzenten oder Assistenten die Geschichte der Familie, von ihrer Arbeit in der Suppenküche und von den Problemen, die es in dem Haus zu lösen galt, erzählt, und in den vierundzwanzig Stunden vor Beginn der Dreharbeiten hatten sie mit anderen Mitgliedern des Teams alles zusammengepackt, was für die Dreharbeiten nicht nötig und eher dabei störte, um es außerhalb zu lagern, bis die Renovierung ihres Hauses abgeschlossen war.
Trotzdem hatten die Familien strenge Anweisung von Paige, zur vorgegebenen Zeit daheim zu sein, die Tür zu öffnen und dann angemessen überrascht und hoch erfreut zu reagieren. Wobei ein Minimum an Überraschung dahingehend erhalten blieb, dass die Familien den Kings zum ersten Mal vor laufender Kamera begegneten und dass die Menge freiwilliger Helfer, die im Hintergrund erschien, hauptsächlich aus Freunden und aus Leuten aus der Nachbarschaft bestand.
Das war ein hohes Maß an Vorbereitung für die kurze Szene an der Tür, die meist ein Dutzend Mal gedreht wurde, bevor der Regisseur damit zufrieden war.
»Also, Kinder«, wandte Paige sich jetzt den Enkeln zu. »Wir müssen morgen eure besten Überrascht-Gesichter sehen.« Sie zeigte auf ein Mädchen mit verschrammtem Ellbogen und sommersprossenübersäter Stupsnase und forderte die Kleine auf: »Los, Molly, zeig uns mal, wie überrascht du gucken kannst.«
Molly riss schockiert die Augen auf und während Paige ihr applaudierte, zog ein kleiner Junge mit kornblumenblauen Augen nachdrücklich an ihrer Hand.
»Sie reparieren Pop-Pops Haus?« Mit seinen riesengroßen Augen und den runden Wangen war er derart telegen, dass er auf jeden Fall im Bild erscheinen müsste, dachte Paige, während sie vor ihm in die Hocke ging.
»Genau das haben wir vor, Trevor. Gibt‘s irgendwas besonderes, von dem du denkst, dass unsere Truppe es auf alle Fälle reparieren muss?«
Er nickte ernst. »Pop-Pop isst gerne Popcorn.«
Paige spitze nachdenklich die Lippen, nickte aber zustimmend. »Okay. Wir werden dafür sorgen, dass dein Pop-Pop Popcorn essen kann.«
Lachend trat eine brünette, junge Frau in einem South Carolina Gamecocks-Sweatshirt auf sie zu. Paige durchforstete ihr Hirn nach einem Namen. Susan, fiel ihr ein. Phil und Delias zweites Kind. »Wenn Trevor hier bei Pop-Pop und bei Grammy übernachtet, gibt es immer Popcorn und sie sehen zusammen einen Film. Aber letzten Monat hat Dads alte Popcornmaschine den Geist aufgegeben und seither gibt‘s nur noch Mikrowellen-Zeug.«
»Das total eklig schmeckt.« Das Kind stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus.
»Dann will ich sehen, ob das Problem sich vielleicht lösen lässt. Also, was passiert, wenn du die Kameras entdeckst?«
»Ich tue so, als wären sie nicht da.«
»Genau. Dann bleibt jetzt nur noch eins – und das ist wirklich wichtig: Ich muss sehen, wie überrascht du gucken kannst.«
Er riss entgeistert Mund und Augen auf.
»Ja, okay. Jetzt bist du ängstlich überrascht. Aber was machst du für ein Gesicht, wenn du dich über eine Überraschung freust?«
Paige schaffte es vor elf zurück in ihr Motel und beschloss, dass alles ganz hervorragend gelaufen war. Sie hatte die Familie gebrieft, alles, was während der Dreharbeiten störte, hatten sie in Bob‘s klimatisiertes Mietlager geschafft, und der einheimische Bautrupp stand für die erforderlichen Abrissarbeiten bereit. Sie waren so gut vorbereitet, wie es ging, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass es keinen Dreh ohne unvorhergesehene Katastrophe gab.
Sie tauschte ihre Jeans und ihren Pulli gegen Schlafshorts und ein Tanktop, schlug die Bettdecke zurück, lehnte sich mit ihrem Laptop an die Kissen, ging noch mal den Drehplan durch und las verschiedene, nicht eilige E-Mails, die während des Tages für sie eingegangen waren. Dann sah sie auf die Uhr und schrieb eine kurze Textnachricht an Cat.
Bist du inzwischen im Motel?
Die Antwort kam umgehend.
Angekommen und bereit zu feiern!
Vielleicht solltest du stattdessen schlafen gehen. Früher Drehbeginn morgen.
Ja, Mom.
Grinsend dachte Paige, dass ihre Tätigkeit nach Meinung mancher Menschen auch nicht anders sei als die eines Babysitters. Im Grunde aber kümmerte sie sich um sämtliche Details des Drehs und deshalb ging sie noch mal alle Unterlagen durch und brachte ihre eigenen Notizen auf den neusten Stand, bevor das Knurren ihres Magens sie bei ihrer Arbeit unterbrach.
Das Hühnchen-Sandwich, das sie innerhalb von zwei Minuten hatte runter schlingen müssen, war inzwischen längst verdaut. Trotzdem ignorierte sie das Knurren ihres Magens und stand auf, um noch einmal den Inhalt ihrer Drehorttasche durchzugehen. Handyladekabel, Pflaster, eine Kamera mit Ladekabel, Kugelschreiber und Papier, iPad und Ladekabel, 50 Dollar bar und die Kreditkarte des Unternehmens, alles lag am vorgesehenen Platz.
Sie seufzte, denn inzwischen tat ihr Magen ihr vor lauter Hunger weh. Ein Snack aus einem Süßigkeitenautomaten gleich am ersten Abend machte wenig Hoffnung für ihre Ernährung während dieser Staffel, aber ohne was im Bauch bekäme sie kein Auge zu.
Entschlossen schnappte sie sich ihren Zimmerschlüssel und ein bisschen Kleingeld und folgte dem Übelkeit erregenden Orange und Rot des Flurteppichs bis zu der Nische, in der neben einem Eisspender der Automat mit Süßigkeiten stand.
Sie musste sich entscheiden, ob ihr eine Packung Erdnussbuttercracker oder eine kleine Tüte Popcorn lieber war, und in Gedanken an den Großvater von Trevor drückte sie den Popcornknopf. Sie hatte bereits eine E-Mail nach New York geschrieben, um zu sehen, ob das Budget noch Raum für einen Popcornautomaten, wie sie in den Kinos standen, ließ.
Sie beugte sich ein wenig vor, um die Tüte aus dem Schlitz zu zerren.
»Bist nicht du diejenige, die immer sagt, dass alles, was aus diesen Automaten kommt, hochgiftig ist?«
Sie fuhr auf und drehte sich erschrocken um.
In Lederjacke, T-Shirt, gut sitzenden Jeans und mit inzwischen wieder kurz geschorenen Haaren lehnte Gannon in der Tür.
Stirnrunzelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust, denn plötzlich fühlte sie sich unbehaglich nackt. »Bist du etwa gerade erst gekommen?«
Gannon war dafür berüchtigt, dass er immer deutlich später an den Drehorten erschien, als es nach dem von ihr entworfenen, strengen Zeitplan vorgeschrieben war.
»Hauptsache, ich bin jetzt da, oder? Und lenk bitte nicht vom Thema ab.« Er schlenderte gemächlich auf sie zu, nahm ihr die Tüte ab, riss sie entschlossen auf, schüttete sich eine Handvoll Popcorn in die Hand und gab ihr dann den Rest zurück. »Ich habe dich dabei erwischt, wie du dir nach allen deinen Vorträgen im letzten Jahr über die Gefahren der Ernährung aus den Süßigkeitenautomaten in Hotels selber was aus einem solchen Automaten holst.«
Sie war so anständig, verlegen auszusehen. »Es ist schon spät am Abend und ich hatte einfach keine Zeit, mir irgendetwas zu besorgen, was nicht giftig ist.«
Fröhlich warf sich Gannon ein Stück Popcorn in den Mund. »Schön zu wissen, dass auch du ein Mensch bist. Gute Nacht, Prinzessin.« Ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen, marschierte er davon.
»Du musst morgen spätestens um acht am Drehort sein«, rief Paige ihm hinterher. »Sieh bloß zu, dass du pünktlich bist!«