817498_Turano_Braut_Wider_Willen_S003.pdf

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Nachdem er sich gewaschen und die saubere Kleidung angezogen hatte, die Stanley für ihn bereitgelegt hatte, fühlte sich Bram wieder wohler. Er trat aus seinem Schlafzimmer und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus den Augen.

Er hatte immer noch keine Ahnung, wie er erklären sollte, dass er eine Augenklappe getragen hatte. Auch wenn Stanley ihm eine plausible Erklärung vorgeschlagen hatte, hatte sich Bram nicht wohl dabei gefühlt, die Wahrheit zu verbiegen. Natürlich könnte er immer noch anbieten, in dem Theaterstück, das seine Mutter gerade auf die Beine stellte, einen Piraten zu spielen. Aber es gab keine Garantie, dass das Stück irgendetwas mit dem Meer zu tun hatte. Außerdem würde er seine Mutter damit sofort misstrauisch machen, da er sich noch nie angeboten hatte, bei einer ihrer Aufführungen mitzuwirken. Sie würde zweifellos merken, dass etwas nicht stimmte, und erst ruhen, wenn sie herausgefunden hatte, was dieses Etwas war.

Er liebte seine Mutter wirklich sehr, aber sie hatte ganz konkrete Vorstellungen davon, was ihrer Meinung nach für ihre Kinder angebracht war und was nicht. Bram hegte den Verdacht, dass sie nicht sonderlich begeistert wäre, wenn sie herausfände, dass er in Miss Plum verliebt war. Mütter waren grundsätzlich nicht davon angetan, dass ihre Söhne eine Beziehung zu Schauspielerinnen eingingen, selbst wenn diese noch so ehrbar waren.

„Ah, Mr Haverstein, ich wollte Sie gerade suchen.“

Er hob den Kopf und sah, dass Mrs Macmillan mit einem Staubwedel in einer Hand und sonderbarerweise dem Teil einer Ritterrüstung in der anderen auf ihn zukam.

„Ich habe soeben Ihrer Großmutter eine Nachricht ausgerichtet. Ich muss betonen, dass ich gezwungen war, dafür bis ins Turmzimmer hinaufzusteigen.“ Sie kniff vielsagend die Augen zusammen. „In der Nachricht ging es um eine beunruhigende Situation, die sich in dieser Minute zwischen Ihrer Mutter und Kenton abspielt. Da Sie der Hausherr von Ravenwood sind, hielt ich es für angebracht, Sie unverzüglich über diese Situation in Kenntnis zu setzen, beziehungsweise so schnell, wie es mir möglich war, nachdem ich diese unzähligen Stufen vom Turm wieder herabgestiegen war.“

„Ich schätze es sehr, dass Sie Ihre Stelle als Haushälterin so gewissenhaft ausüben“, sagte Bram, hatte aber Mühe, keine Miene zu verziehen, obwohl er beim Anblick seiner extrem missmutigen Haushälterin am liebsten laut gelacht hätte.

„Ihre Mutter hält sich gerade im roten Salon auf.“

„Ich werde sofort zu ihr gehen.“

Mrs Macmillan hob das Kinn. „Tun Sie das.“

Als er den Flur entlangging, fragte er sich erneut, warum er Angestellten, die völlig ungeeignet waren, nicht kündigte. Nachdem er das Erdgeschoss erreicht hatte, begab er sich gleich in den roten Salon. Dort ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen, ohne jedoch den schweren dunklen Möbeln, für die er ein kleines Vermögen ausgegeben hatte, oder den kunstvollen Wandteppichen, die Szenen von blutigen Schlachten zeigten, Beachtung zu schenken. Er betrachtete seine Mutter, die in einem Polstersessel aus braunem Tweed saß, und dann den Mann, der ihr gegenübersaß. Er konnte sich ein Grinsen nicht länger verkneifen.

Der Mann trug seltsamerweise ein leuchtend gelbes Kleid mit einem dazu passenden Hut, allerdings hatte sich dieser nach rechts geneigt, während die weiße Perücke des Mannes nach links gerutscht war, was ihm ein etwas schiefes Aussehen verlieh. Bei genauerem Hinsehen erkannte Bram, dass es sich bei diesem Mann tatsächlich um Kenton handelte, den Butler seiner Großmutter. Bram hatte einige Male mit dem Mann gesprochen, als er seiner Großmutter in New York unerwartet über den Weg gelaufen war.

Einmal hatte er Kenton und seine Großmutter getroffen, als er durch den Central Park geritten war, obwohl man wohl eher sagen müsste, dass er von den beiden verfolgt worden war. Sie hatten in einem offenen Phaeton gesessen, was ihn überrascht hatte, da diese kleinen Kutschen schnelle Gefährte waren, die gewöhnlich von Jüngeren bevorzugt wurden.

Ein anderes Mal hatte er sie in der Männerabteilung von Arnold Constable & Company getroffen, wo sie ihn spontan gebeten hatte, Kenton dabei zu helfen, einen passenden Anzug zu finden. Allerdings hatte Kenton so ausgesehen, als wäre ihm bis zu diesem Augenblick nicht bewusst gewesen, dass er sich einen Anzug kaufen wollte.

Das letzte Mal war er Kenton auf dem Hudson River begegnet, direkt neben Brams privater Anlegestelle. Er hatte gerade in sein Dampfschiff steigen wollen, als ein Horn ertönt war. Eine Sekunde später hatte Abigail ihm von einem Dampfer aus aufgeregt zugewinkt und ihm zugerufen, dass sie und Kenton unterwegs seien, um Freunde zu besuchen. Bevor er sie hatte einladen können, bei ihm auf Ravenwood eine Tasse Tee zu trinken, hatte sie sich jedoch umgedreht und dem Kapitän des Schiffes etwas zugerufen. Dann waren sie schnell weitergefahren.

Ihr Verhalten war ihm etwas sonderbar vorgekommen, aber nach längerem Nachdenken war Bram zu dem Schluss gelangt, dass Abigail höchstwahrscheinlich versucht hatte, einen kurzen Blick auf Ravenwood zu erhaschen, und dabei von ihm ertappt worden war. Das war ihr offenbar peinlich gewesen und sie hatte eilig die Flucht ergriffen. Da erst hatte Bram begriffen, dass seine Großmutter vielleicht versuchte, Kontakt zu ihm zu suchen. Und ihm war auch bewusst geworden, dass sie vielleicht nicht das Ungeheuer war, als das seine Mutter sie immer dargestellt hatte.

„Sie starren sich seit zwanzig Minuten wortlos an.“

Bram riss seine Aufmerksamkeit von seiner Mutter und Kenton los, die sich tatsächlich nur wortlos anschauten oder, besser gesagt, finster anstarrten, und richtete seinen Blick auf einen vornehmen älteren Herrn. Dieser wirkte völlig entspannt, obwohl er ein elfenbeinfarbenes Kleid mit violetter Spitze trug, das Bram schon an Miss Plum gesehen hatte. Als der Mann sich erhob, trat Bram zu ihm und drückte die Hand, die ihm der Mann reichte.

„Mein Name ist Archibald Addleshaw, Mr Haverstein, aber da Ihre Großmutter und ich enge Freunde sind, dürfen Sie gern Archibald zu mir sagen.“

„Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir, und Sie müssen Bram zu mir sagen. Darf ich annehmen, dass Sie mit Oliver Addleshaw verwandt sind?“

Archibald nickte und setzte sich dann wieder in den Ohrensessel, der vor den hohen Buntglasfenstern stand. Er deutete zu einem zweiten Ohrensessel an seiner Seite und wartete, bis Bram Platz genommen hatte, bevor er sich vorbeugte. „Oliver ist mein Enkel. Es freut mich zu hören, dass Sie mit ihm bekannt sind.“

„Leider kenne ich ihn nicht sehr gut. Oliver und ich haben nie in denselben gesellschaftlichen Kreisen verkehrt, aber wir sind uns hin und wieder in dem einen oder anderen New Yorker Herrenclub begegnet. Ich habe Gerüchte gehört, dass er sich vor einiger Zeit verlobt hat. Bitte richten Sie ihm meine Glückwünsche aus, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen.“

„Inzwischen ist er schon verheiratet. Mit Miss Hannah Peabody, einer engen Freundin von Lucetta und einer lieben Freundin Ihrer Großmutter.“ Archibald lächelte. „Abigail wird Ihnen wahrscheinlich irgendwann erzählen, dass sie dafür verantwortlich war, dass Hannah und Oliver zusammenkamen. Und dass sie auch ein wenig die Hand im Spiel hatte, als Olivers bester Freund, Mr Everett Mulberry, Miss Millie Longfellow geheiratet hat.“

Bram runzelte die Stirn. „Wenn Sie sagen, sie war verantwortlich, dann meinen Sie …?“

Archibalds Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen. „Sie betätigt sich seit geraumer Zeit mit Begeisterung als Kupplerin.“ Nach dieser etwas beunruhigenden Aussage lehnte sich Archibald zurück und schlug ein Bein auf eine alles andere als damenhafte Weise über das andere. Dabei rutschte der Rock seines Kleides ein Stück nach oben und ein auffallend weißes Bein kam zum Vorschein.

„Ich will mich ja nicht aufdrängen, Sir, aber ich kann Ihnen gern etwas zum Anziehen leihen, falls Sie nichts Eigenes dabeihaben“, sagte Bram. „Ich habe noch nie ein Kleid getragen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Kleider so bequem sind wie Hosen. Und da man sieht, dass Sie keinen, ähm, Unterrock tragen …“

Archibald erwiderte Brams Grinsen. „Ich danke Ihnen für das Angebot, aber ich habe einen eigenen Koffer mitgebracht.“ Er deutete mit dem Kopf auf Iris und Kenton und senkte die Stimme. „Ich habe mich nur nicht wohl dabei gefühlt, Kenton mit Ihrer Mutter allein zu lassen, da ich von dem angespannten Verhältnis der beiden weiß.“

Bevor Bram Gelegenheit hatte, auch nur eine einzige Frage zu dem angespannten Verhältnis zwischen seiner Mutter und Abigails Butler zu stellen, rauschte plötzlich seine Großmutter ins Zimmer. Sie warf einen Blick auf ihre Tochter, erschauerte leicht und steuerte dann geradewegs auf Bram und Archibald zu.

Sie blieb neben Bram stehen, der sich rasch erhoben hatte, lächelte ihn freundlich an und tätschelte seine Wange. „Ich bin ja so froh, dass du diese Augenklappe abgelegt hat, mein Lieber. Du hast so ein attraktives Gesicht – auch wenn dir diese Augenklappe, wie ich zugeben muss, durchaus ein etwas verwegenes Aussehen verliehen hat.“ Sie tätschelte erneut großmütterlich seine Wange. „Du solltest das Thema Augenklappe jedoch unbedingt vermeiden, wenn du das nächste Mal mit Lucetta sprichst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es keine gute Erklärung dafür gibt, warum du sie getragen hast, und wenn sie den Eindruck bekommt, dass du irgendwie … seltsam bist, wirst du ihre Wertschätzung nie erlangen.“

„Woher weißt du denn, dass mir etwas an Miss Plums Wertschätzung liegt?“, gab er zögerlich zurück.

„Du wärst ein Narr, wenn das nicht der Fall wäre, mein Lieber. Außerdem bin ich deine Großmutter. Großmütter wissen alles, besonders wenn es um ihre Enkel geht und um deren Liebes-“

Was auch immer sie noch hatte erwidern wollen, blieb ungesagt, als Iris plötzlich ein lautes Schnauben ausstieß. Sie sprang auf und steuerte mit einem Blick auf sie zu, der in Bram den Wunsch weckte, die Flucht zu ergreifen.

„Es wurde auch allmählich Zeit, dass du endlich auftauchst, Mutter.“

Abigail holte tief Luft. „Ich habe mich um Miss Plum gekümmert. Für den Fall, dass du es vergessen haben solltest: Sie hatte einen Ohnmachtsanfall. Da ich für diese junge Dame und ihr Wohl verantwortlich bin, musste ich bei ihr bleiben, bis ich das Gefühl hatte, dass sie sich ein wenig erholt hatte.“

Iris schnaubte laut. „Miss Plum ist eine versierte Künstlerin. Selbst ich weiß, dass ihr schauspielerisches Können unvergleichlich ist. Daher hatte ich sofort durchschaut, dass es sich bei Miss Plums Ohnmachtsanfall lediglich um ein Ablenkungsmanöver handelte. Sie wollte doch nur die Aufmerksamkeit von dir ablenken. Und das hast du zweifellos ganz genau gewusst, als sie so perfekt zu Boden sank. Außerdem bin ich sicher, dass du dich wegen irgendwelcher verrückten Komplotte rargemacht hast, die du bestimmt wieder spinnst. Warum sonst solltest du ausgerechnet eine Schauspielerin nach Ravenwood bringen?“ Iris verschränkte die Arme. „Ich finde, dass eine Erklärung angebracht wäre, Mutter.“

Abigail verschränkte ebenfalls die Arme. „Ich komme deiner Aufforderung sehr gern nach, aber vorher musst du mir erklären, was du mit dem armen Kenton getan hast.“

„Wir haben uns lediglich unterhalten“, sagte Iris schmallippig.

„Indem ihr euch finster angestarrt habt?“ Abigail ließ nicht locker.

„Ich glaube, Miss Iris ist immer noch etwas ungehalten, weil ich sie damals vom Fenster weggezogen habe“, sagte Kenton, der auf unsicheren Beinen langsam zu ihnen trat.

Bram nahm den älteren Mann am Arm und geleitete ihn zum nächsten Sofa. „Soll ich jemandem läuten, der Sie zu Ihrem Zimmer führt, Kenton? Ich bin zwar noch nicht im Bilde, was alles passiert ist, aber ich nehme an, dass Sie alle eine anstrengende Nacht hinter sich haben. Aus diesem Grund wird mir meine Mutter sicher zustimmen, dass alle Diskussionen über die Vergangenheit warten können, bis Sie sich ausgeruht haben.“ Er beugte sich zu dem Mann hinab und flüsterte ihm zu: „Wenn Sie nicht in Bestform sind, haben Sie gegen meine Mutter keine Chance.“

Zu Brams Überraschung lächelte Kenton ihn an. „Ich schätze Ihre Fürsorge wirklich sehr, Mr Haverstein. Auch wenn ich in den vergangenen dreißig Jahren nicht das Vergnügen hatte, viel Zeit mit Ihrer Mutter zu verbringen, kann ich mich noch sehr gut daran erinnern, wie schwer es ist, bei einem Streit die Oberhand zu gewinnen. Ehrlich gesagt, war das der Grund, warum ich mich entschieden hatte, in der letzten halben Stunde zu schweigen.“

Iris schnaubte erneut, aber als Bram ihr einen Blick zuwarf, sah er, dass ihre Mundwinkel belustigt zuckten. Als sie erkannte, dass er dies bemerkt hatte, rümpfte sie die Nase. Sie deutete nur wortlos auf sein Auge, das nun nicht länger mit einer Augenklappe bedeckt war. Zu seiner Erleichterung schüttelte sie aber den Kopf und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Kenton. Offenbar wollte sie das Gespräch über das sonderbare Verhalten ihres Sohns auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.

„Es wäre nicht nötig, über irgendetwas zu streiten, Kenton, wenn Sie sich einfach dafür entschuldigen würden, dass Sie damals meinen verzweifelten Versuch vereitelt haben, von zu Hause wegzulaufen.“

Abigail mischte sich sofort ein. „Also wirklich, Iris! Das liegt doch Jahrzehnte zurück, und da es dir gelungen ist, Mrs Haverstein zu werden, hast du es ja offensichtlich doch noch geschafft, aus deinem Elternhaus zu flüchten. Deshalb verstehe ich nicht ganz, warum du Kenton immer noch so feindselig behandelst. Er wollte dich doch nur davor bewahren, dir deinen eigensinnigen Hals zu brechen.“

Abigail trat zu dem Sessel, von dem Bram aufgestanden war, und setzte sich. Dann erinnerte sie Archibald mit einer Handbewegung daran, dass er ein Kleid trug. Als er seinen Rock züchtig nach unten gezogen hatte, wandte sie sich wieder Iris zu, die sich auf einem hellrosa Sofa niedergelassen hatte, das so gar nicht zum Stil des Zimmers passte. „Falls du es vergessen haben solltest, meine Liebe: Kenton hat dich aufgehalten, als du versuchtest, aus deinem Zimmerfenster im zweiten Stock zu klettern. Der Baum, an dem du nach unten klettern wolltest, war nicht viel mehr als ein dürres Bäumchen. Du solltest dem Mann lieber danken, dass er dir das Leben gerettet hat.“

„Ich war schon unzählige Male aus diesem Fenster geklettert, ohne dass mir etwas passiert wäre. Und wenn Kenton mich nicht aufgehalten hätte, als ich unbedingt hatte fliehen müssen, wäre ich nicht gezwungen gewesen, von meiner eigenen Verlobungsfeier zu flüchten.“

Bram wurde hellhörig. „Ich wusste nicht, dass du und Vater eine Verlobungsfeier hattet.“

„Das liegt daran, dass es nicht unsere Verlobungsfeier war!“ Iris warf Abigail einen finsteren Blick zu und richtete dann ihre Aufmerksamkeit wieder auf Bram. „Deine Großmutter war zu der unglücklichen Schlussfolgerung gelangt, dass dein Vater nicht gut genug für mich wäre. Sie weigerte sich vehement, mir zuzuhören, als ich ihr erklärte, dass ich deinen Vater liebe, und behauptete, ich würde meine Gefühle für ‚diesen Deutschen‘, wie sie ihn immer nannte, bald überwinden. Sie ging sogar so weit, für mich eine Heirat mit einem Mr Wilbur zu arrangieren. Deshalb habe ich die Dinge selbst in die Hand genommen und bin weggelaufen.“

„Er hieß Wilbur Gilbert und war ein Mann mit erstklassigen Beziehungen und aus sehr guter Familie“, entgegnete Abigail. „Der arme Mr Gilbert war am Boden zerstört, als du ihn mitten im Ballsaal mit einem Ring in der Hand stehen gelassen hast.“

Iris’ Augen funkelten gefährlich. „Er hätte keinen Grund gehabt, am Boden zerstört zu sein, wenn er vorher mit mir über diese ganze Verlobungsgeschichte gesprochen hätte. Stattdessen hörte er auf deinen Rat und versuchte, mich mitten auf einem Ball damit zu überrumpeln. Noch heute bin ich über die Ereignissen dieses Abends so entsetzt, dass ich mich immer noch nicht davon erholt habe, dass meine eigene Mutter versucht hat, mich zu einer Heirat zu zwingen.“

Iris trommelte mit den Fingern auf die geschwungene Lehne des Sofas. „Glaubst du wirklich, es wäre besser gewesen, wenn ich den Mann, den ich von ganzem Herzen liebte und den ich immer noch liebe, aufgegeben hätte? Wenn ich deinen Mr Gilbert geheiratet hätte, den ich, wie ich noch einmal betonen möchte, kaum kannte und mit dem mich nichts verband? Und das alles nur, damit ich … was? … zu den richtigen Abendgesellschaften eingeladen werden würde?“

Zu Brams Überraschung nickte Abigail. „Damals dachte ich wirklich, dass das für dich das Beste wäre. Dein Vater hat das auch so gesehen. Wenn du dich erinnerst: Dein Mr Haverstein wollte dich vom Fleck weg heiraten und mit dir nach Kuba gehen, ein Land, das ich für unzivilisiert hielt und wo er ausgerechnet eine Zuckerfabrik betreiben wollte.“

„Da uns diese Zuckerfabrik und die Zuckerrohrplantage, die wir später kauften, nach wie vor Millionen einbringen, Mutter, solltest du deine Überzeugungen vielleicht noch einmal überdenken.“

Abigail kniff die Augen zusammen. „Stell dir vor, eure Tochter Ruby käme zu euch und würde euch sagen, dass sie einen Mann heiraten will, über den ihr nichts wisst, und dass dieser Mann sie in irgendein unzivilisiertes Land mitnehmen will. Kannst du ehrlich sagen, dass du und Philipp nicht versuchen würdet, diesem Unsinn ein Ende zu bereiten?“

„Wir sprechen hier nicht von meiner Tochter, Mutter. Wir sprechen von dir und deiner Angewohnheit, dich überall einzumischen.“

„Ein Thema, das meiner Meinung nach überhaupt nicht interessant ist und gewiss nicht weiter besprochen werden muss.“ Abigail kniff die Augen zusammen. „Warum willst du nicht über Ruby sprechen?“

Eine Sekunde lang sah Iris ein wenig betroffen aus, doch dann hob sie das Kinn. „Ich habe nie behauptet, dass ich nicht über Ruby sprechen will. Aber angesichts des sonderbaren Umstands, dass du hier auf Ravenwood bist und Miss Lucetta Plum mitgebracht hast, gibt es wichtigere Dinge zu besprechen als meine Tochter.“

Abigail schaute Iris forschend an. „Ruby bereitet dir Sorgen, nicht wahr?“

Bevor Iris Gelegenheit hatte, darauf etwas zu entgegnen, drangen plötzlich laute Tiergeräusche vom Flur ins Wohnzimmer. Begleitet von einem Poltern, das darauf schließen ließ, dass jemand den Flur entlangrannte.

Bram eilte hastig zur Tür, blieb aber abrupt stehen, als sich ihm ein Anblick bot, mit dem er nicht gerechnet hatte.

Miss Plum kam auf ihn zugelaufen. Bekleidet mit einem nur halb geschlossenen Kleid, was ihm einen großzügigen Blick auf ihr Unterhemd, ihr Korsett und ihre weiblichen Reize bot. Und da sie den Rock hochgehoben hatte, gewährte sie ihm auch einen ungehinderten Blick auf ihre gut geformten Beine und die nackten Füße. Dies schien ihr jedoch völlig gleichgültig zu sein, da sie rannte, als sei ihr Leben in Gefahr.

„Stehen Sie doch nicht so tatenlos herum, Mr Haverstein! Halten Sie Ihren Ziegenbock auf!“, schrie sie, während sie an ihm vorbeilief.

Dies lenkte seinen Blick auf ihren Verfolger – und tatsächlich kam auch ein Ziegenbock auf ihn zugelaufen. Nicht irgendein Ziegenbock, sondern Geoffrey, einer der gemeinsten Ziegenböcke, die Bram zu seinem Bedauern je besessen hatte. Was das Tier in der Burg machte, war ihm ein Rätsel, aber da Geoffrey eine starke Abneigung gegen Frauen und Kleider hatte, erwachte Bram rasch aus seiner Schockstarre und hoffte, den Ziegenbock aufhalten zu können, bevor es diesem gelingen würde, Miss Plum einzuholen.

Leider schien Geoffrey fest entschlossen zu sein, sich von Bram nicht aufhalten zu lassen, und warf ihn mit einem gezielten Kopfstoß zu Boden, bevor er seiner Beute weiter nachjagte und dabei drohend meckerte.

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Lucetta lief, so schnell sie konnte, obwohl ihre Lungen inzwischen brannten. Sie rief dem Mann in einem schwarzen Frack, der ihr die Eingangstür aufhielt, keuchend „Danke!“ zu, was sie jedoch schon im nächsten Augenblick am liebsten zurückgenommen hätte, da der Mann aus einem unerklärlichen Grund die Tür weit offen ließ, wodurch der wild gewordene Ziegenbock ihr weiterhin dicht auf den Fersen blieb.

Sie hob ihren Rock noch ein wenig höher und lief auf die vermaledeite Zugbrücke zu. Als sie heil auf der anderen Seite angekommen war, sandte sie ein schnelles Dankgebet zum Himmel. Sie lief über den gepflegten Rasen und beschloss, zu den Bäumen zu laufen. Als Skukman plötzlich zwischen diesen Bäumen hervorstürmte und ihr entgegenrannte, verlangsamte sie erleichtert ihre Schritte. Sie sah ihn an und blieb schließlich ganz stehen. Bram war es irgendwie gelungen, den Ziegenbock einzuholen, denn er lag jetzt auf dem Tier. Dieser Umstand war wahrscheinlich für das empörte Meckern verantwortlich, das der Ziegenbock in diesem Moment von sich gab. Das Tier konnte es offensichtlich nicht glauben, dass sein Versuch, Lucetta zu erwischen, ein so rasches Ende genommen hatte.

Jetzt eilten auch Abigail, Archibald, Iris und Kenton aus der Burg.

„Jeder, der ein Kleid trägt, sollte lieber zurück bleiben!“, rief Bram. Lucetta fand diese Aufforderung ein wenig sonderbar. Bevor sie jedoch darüber nachdenken konnte, hatte Skukman Bram erreicht und zog in aller Seelenruhe ein Seil aus seiner Jackentasche. Lucetta musste grinsen. Skukman besaß die wunderbare Gabe, in jeder Situation das richtige Hilfsmittel zur Hand zu haben.

Er schlang dem Ziegenbock das Seil um den Hals und nickte Bram zu, der sich daraufhin von der Ziege löste und aufstand. Was ihm wiederum ein lautes, schimpfendes Meckern einbrachte. Zu Lucettas Verärgerung trat der Ziegenbock friedlich neben ihren Leibwächter und schmiegte sogar den Kopf an seine Seite.

„Bist du aber ein braver Junge“, sprach Skukman beruhigend auf das Tier ein und führte es in Lucettas Richtung.

„Was heißt hier ,brav‘?!“, rief sie erbost. „Ich habe die Mordlust in seinen Augen gesehen. Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, ihn zu mir zu bringen!“

„Also wirklich, Miss Plum, jetzt übertreiben Sie aber“, sagte Skukman, während er den Ziegenbock um sie herumführte. „Gleich hinter diesen Bäumen befindet sich der Stall. Ich sperre ihn dort wieder ein.“

„Woher wissen Sie, wo der Stall ist?“

„Ich habe ihn entdeckt, als ich das Gelände erkundet und mich nach möglichen Gefahren umgesehen habe.“

Mit diesen Worten zog Skukman den Ziegenbock mit sich, wobei er ignorierte, dass das Tier immer wieder den Kopf drehte und Lucetta finstere Blicke zuwarf.

„Ihr Mr Skukman ist ein Mann weniger Worte, nicht wahr?“, stellte Bram fest, der jetzt neben sie trat.

„Das ist einer der Gründe, warum ich ihn eingestellt habe.“

Bram runzelte die Stirn. „Weil Sie Männer bevorzugen, die nicht viel sprechen?“

„Wären Sie beleidigt, wenn ich Ja sage?“

Zu Lucettas Überraschung schaute Bram sie verständnisvoll an und wirkte keineswegs beleidigt. „Sie haben den Schock, den Sie durch meinen Ziegenbock erlitten haben, offensichtlich gut überwunden. Auch wenn ich gern sagen würde, dass Geoffrey sich nur heute von seiner schlechten Seite gezeigt hat, muss ich leider zugeben, dass er immer etwas schwierig war, seit jemand ihn vor einigen Monaten mitten in der Nacht auf Ravenwood ausgesetzt hat.“

„Ihr Ziegenbock heißt Geoffrey?“

„Meine Schwester Ruby hat ihn nach einem Mann benannt, der ihr Hoffnungen gemacht hatte, sich dann aber als große Enttäuschung entpuppte.“ Bram schüttelte den Kopf. „Der Mann besaß doch tatsächlich die Kühnheit, irgendeine wohlhabende Dame zu heiraten, die beste Beziehungen zur feinen Gesellschaft hatte, und Ruby damit das Herz zu brechen.“

Lucetta lächelte. „Ich glaube, ich mag Ihre Schwester, Mr Haverstein. Ich finde es gut, dass sie keine Skrupel hat, ein unausstehliches Tier nach einem Mann zu benennen, dem sie keine Wertschätzung mehr entgegenbringt.“

„Sagen Sie bitte ,Bram‘ zu mir. Immerhin wurden Sie von meinen Hunden angegriffen und von meinem Ziegenbock verfolgt. So etwas verbindet.“

„Gern, und Sie müssen ,Lucetta‘ zu mir sagen. Und auf das Sie sollten wir auch verzichten.“ Er nickte. Doch dann verschwand ihr Lächeln. „Warum hat dein Ziegenbock versucht, mich anzugreifen? Und was hatte er überhaupt im Turmzimmer zu suchen?“

Bram atmete tief aus. „Geoffrey hat dich angegriffen, weil er ein Problem mit Kleidern hat.“ Er schüttelte den Kopf. „Und was die Frage angeht, was Geoffrey im Turmzimmer machte, muss ich zugeben, dass ich keine Ahnung habe, wie er dorthin kommen konnte.“

„Das ist wirklich rätselhaft“, sagte Lucetta und verzog das Gesicht, als sich etwas Spitzes in ihre Fußsohle grub. Als sie nach unten schaute, begann ihr Gesicht schlagartig zu glühen. Sie erkannte, dass ihr in ihrer wilden Flucht vor dem Ziegenbock völlig entgangen war, dass sie nicht nur Schuhe und Strümpfe vergessen hatte, sondern dass auch ihr Kleid nicht ganz zugeknöpft war.

„Meine Güte“, murmelte sie und zog den Ausschnitt ihres Kleides so weit wie möglich hoch.

„Wenn es dich beruhigt, kann ich dir sagen, dass wahrscheinlich niemand bemerkt hat, dass deine Kleidung etwas nachlässig ist.“

Sie hob abrupt den Kopf und sah Bram streng an. „Du hast es offensichtlich bemerkt.“

Er bedachte sie mit einem charmanten Lächeln. „Was soll ich bemerkt haben?“ Er bot ihr seinen Arm an. „Gleich hinter diesen Bäumen befindet sich ein kleines Wäldchen. Dort kannst du ungestört deine Kleidung in Ordnung bringen, denn ich glaube nicht, dass du besonders begierig darauf bist, all diesen Leuten, die immer noch vor der Tür stehen, so unter die Augen zu treten.“

Lucetta warf einen Blick über die Rasenfläche und stellte fest, dass eine kleine Schar in ihre Richtung blickte, obwohl Kenton und Archibald sich mit flatternden Röcken auf dem Rückweg zur Burg befanden. Abigail hingegen schien in ein hitziges Gespräch mit ihrer Tochter vertieft zu sein. Beide Frauen fuchtelten wie wild mit den Händen, während Brams Personal sich unauffällig davonschlich.

„Sollten wir eingreifen?“, fragte Lucetta mit einer Kopfbewegung in Abigails Richtung.

„Ich muss zugeben, dass ich nicht weiß, wie meine Großmutter ist, wenn sie aufgebracht ist, aber meine Mutter schätzt es nicht, wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischt. Ich schlage vor, dass du lieber deine Kleidung richtest, und dann machen wir einen netten Spaziergang über das Anwesen. Bis wir zurückkommen, haben sie hoffentlich einen Teil der Meinungsverschiedenheiten aus den vergangenen dreißig Jahren ausgeräumt.“

„Da ist es wirklich ein Glück, dass das Burggelände sehr weitläufig ist.“

„Das stimmt“, nickte Bram, während sie den Arm ergriff, den er ihr anbot. Sein Blick wanderte wieder zu Abigail und Iris. „Ich führe Miss Plum ein wenig über das Anwesen“, rief er. „Wir sind in einer oder zwei Stunden zurück.“

Abigail und Iris hielten abrupt inne und drehten die Köpfe in Brams und Lucettas Richtung. Es war offensichtlich, dass Abigail nichts dagegen hatte, dass Bram Lucetta seinen Besitz zeigen wollte. Sie hob den Arm und winkte den beiden fröhlich zu. Dann wandte sie sich um und schritt zur Burg, hielt jedoch schon im nächsten Moment wieder inne. Sie stemmte die Hände in die Hüften und marschierte zu Iris zurück, die sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Entschlossen ergriff sie den Arm ihrer Tochter und zerrte die sich sträubende Iris in die Burg hinein.

„Vielleicht sollten wir länger als nur eine oder zwei Stunden fortbleiben“, schlug Bram vor, während er Lucetta zu den Bäumen führte.

„Auch wenn der Gedanke, der unerfreulichen Auseinandersetzung zwischen Abigail und deiner Mutter aus dem Weg zu gehen, verlockend ist, fühle ich mich nicht wohl dabei, Abigail so lange allein zu lassen. Selbst wenn Archibald und Kenton da sind und notfalls eingreifen können.“

„Das ist sehr mitfühlend von dir“, sagte Bram und bedachte Lucetta mit einem Lächeln, bei dem ihre Knie weich wurden.

Sie verdrängte den Gedanken, dass er viel zu attraktiv war, wenn er lächelte, ignorierte das sonderbare Gefühl in ihren Knien und begann, über das Wetter zu reden. Als sie unter die Bäume traten, wurde es kühler. Doch als Bram stehen blieb und sie erneut anlächelte, errötete sie aufs Neue.

„Wenn du dich umdrehst, helfe ich dir bei den Knöpfen an deinem Rücken“, bot er an.

Bei seinem Vorschlag verstärkte sich ihre Röte, was sie völlig überraschte. Als Schauspielerin hatte sie sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt, dass andere Leute ihr das Kleid zuknöpften. Ob dies nun Männer oder Frauen taten, hatte sie bisher nie gestört. Da es oftmals nicht anders ging, hatte sie sich in den vergangenen Jahren auch keine großen Gedanken darüber gemacht, was züchtig war. Aber jetzt, nur von Bäumen umgeben und im Beisein eines Mannes, der das charmanteste Lächeln hatte, das sie je gesehen hatte, war es ihr plötzlich sehr wichtig, angemessen gekleidet zu sein.

„Gibt es hier noch mehr Tiere?“, wollte sie wissen und blieb regungslos stehen. Sie konnte sich nicht dazu bringen, sich umzudrehen und sein Angebot anzunehmen, ihr mit den Knöpfen zu helfen.

Und sie war dankbar, als Bram sie auch nicht dazu drängte. „Ich besitze noch eine Herde aus einer bunten Mischung von Schafen, die früher misshandelt und vernachlässigt wurden. Dadurch haben sie ein starkes Misstrauen gegenüber Menschen entwickelt.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie haben sich inzwischen gut eingewöhnt, und ich hege die Hoffnung, dass sie, wenn sie länger hier sind, begreifen, dass sie endlich in Sicherheit sind und das Leben und das Gras auf den Wiesen rund um die Burg genießen können.“

„Woher hast du diese Tiere?“

Bram zuckte die Achseln. „Von überallher. Es hat sich herumgesprochen, dass ich bereit bin, Not leidende Tiere aufzunehmen. Deshalb werden alle möglichen Tiere auf Ravenwood abgeliefert, oder ich bekomme Briefe, in denen ich über Tiere informiert werde, die meine Hilfe gebrauchen könnten. Meine Angestellten und ich verwenden auch viel Zeit darauf, nach verwahrlosten Tieren Ausschau zu halten. Wenn wir sie finden, bringen wir sie hierher, wo sie den Rest ihres Lebens in Frieden verbringen können.“

Lucettas Herz schlug höher. „Du sammelst also Außenseiter.“

Bram lächelte. „Ich habe eine Schwäche für Außenseiter. Vielleicht liegt das daran, dass ich selbst auch immer ein wenig ein Außenseiter war.“ Er trat einen Schritt näher. „Soll ich dir jetzt helfen, die Knöpfe zu schließen?“

„Das sollte ich wahrscheinlicher lieber selbst machen.“

Sein Lächeln wurde unbeschreiblich süß. „Ich schaue auch nicht. Ich kann sogar die Augen schließen, wenn du dich dann besser fühlst.“

Sie holte tief Luft, obwohl ihr bewusst war, dass sie sich kindisch benahm, denn sie konnte das Kleid unmöglich selbst zuknöpfen. Schließlich wandte sie sich um. Im nächsten Moment zuckte sie erschrocken zusammen, als seine Finger ihren Nacken berührten und er ihre noch feuchten Haare zur Seite schob, bevor er einen Knopf nach dem anderen schloss.

„So, fertig. Und ich habe auch nicht geschaut. Kein einziges Mal.“ Er legte die Hände auf ihre Schultern und drehte sie wieder zu sich herum.

Seine Berührung brachte sie erneut aus dem Konzept, und sie versuchte, sich eine witzige Erwiderung einfallen zu lassen. Ihr fiel jedoch beim besten Willen nichts ein, als sie in seinen Augen versank. Sie hatte ja schon beim ersten Treffen erkannt, dass er ein ausgesprochen attraktiver Mann war. Aber jetzt erkannte sie, dass er auch ein zutiefst freundlicher, netter Mensch war.

Als er plötzlich einen Finger hob, um eine feuchte Haarsträhne von ihrer Wange zu streichen, verflüchtigten sich alle klaren Gedanken, zu denen sie noch fähig gewesen war. Sie vergaß alles um sich herum und sah nur noch ihn.

„Du bist sehr schön.“

Schlagartig kehrte sie in die Realität zurück.

„Danke“, sagte sie kühl und trat einen Schritt zurück. Ärger – nicht auf ihn, sondern auf sich selbst – schoss durch ihre Adern.

Sie hatte doch gewusst, dass er nur einer ihrer zahllosen Bewunderer war und für sie schwärmte. Und doch hatte sie diese Schwärmerei nicht im Keim erstickt, sondern angefangen zu glauben, er wäre anders. Er wäre anders, weil ihr Puls bei seiner Berührung raste und ihre Knie weich wurden, wenn er sie anlächelte …

„Vergib mir, Lucetta. Habe ich etwas getan, das dich verärgert?“

Lucetta schaute Bram an. „Wenn ich ganz ehrlich sein soll, ärgere ich mich mehr über mich selbst.“

Bram runzelte die Stirn. „Ich fürchte, ich verstehe dich nicht ganz.“

„Ich hätte die falschen Vorstellungen, die du von mir hast, sofort richtigstellen sollen.“

„Dir ist schon klar, dass wir uns erst seit ein paar Stunden kennen, nicht wahr?“

„Natürlich, aber ich bin ziemlich sicher, dass du dir ein falsches Bild von mir machst, seit du mich das erste Mal auf der Bühne gesehen hast.“

Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. „Ich verstehe immer noch nicht ganz, was du mir sagen willst.“

„Ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich freuen, wenn man ihnen sagt, dass sie schön sind. Und ich lasse mich auch nicht gern verhätscheln und bedienen. Ich will auch nicht so behandelt werden, als sei ich zart und zerbrechlich. Ich bin ganz anders als die Rollen, die ich auf der Bühne spiele.“

„Du bist genauso wie die Frau, die du in ,Die Dame im Turm‘ spielst“, widersprach er ihr. „Charmant, züchtig und entzückend.“

Sie unterdrückte ein Seufzen. Nachdenklich schlenderte sie zu einem gefällten Baum, der am Wegrand lag, und setzte sich darauf. „Nein, das bin ich nicht. Ich würde mich nie damit abfinden, in einem Turm gefangen zu sein und darauf zu warten, dass mein Traumprinz kommt und mich rettet. Aber genau das macht Serena Seamore, die ich in dem Stück spiele. Ich bin schon sehr lange auf mich allein gestellt, Bram, und ich bin sehr wohl in der Lage, selbst auf mich aufzupassen.“ Sie hob die Hand, als er Anstalten machte, ihr zu widersprechen. „Du darfst nicht vergessen, dass ich Schauspielerin bin. Es ist mein Beruf, eine Rolle glaubwürdig zu spielen, und ich bin erfolgreich, weil mir genau das gelingt. Außerdem habe ich ein ungewöhnliches Gesicht, es ist ausdrucksstark, wenn du so willst, und das ermöglicht es mir, den Menschen vorzumachen, ich wäre jemand, der ich nicht bin.“

„Dein Gesicht ist hübsch, nicht ungewöhnlich.“

Lucetta tat sein Kompliment mit einer Handbewegung ab. „Du verstehst nicht, was ich sagen will.“

„Natürlich verstehe ich dich.“

Lucetta atmete tief ein und langsam wieder aus. „Ich bin leider nicht die Frau, die du so sehr zu … schätzen meinst.“

„Ich meine nicht nur, dass ich dich sehr schätze, ich weiß es.“

„Ach, du lieber Himmel!“, murmelte sie und warf dann die Schultern zurück. „Ich habe durchaus meine Eigenheiten.“

„Das bezweifle ich sehr.“

„Oh, doch! Glaube mir, das habe ich.“ Sie deutete auf den Platz neben sich. „Vielleicht solltest du dich lieber setzen.“

Bram nahm langsam neben ihr Platz und runzelte die Stirn. „Warum habe ich das ungute Gefühl, dass du mir jetzt etwas erzählen wirst, das ich gar nicht hören will?“

„Weil es so ist. Ich will deine Gefühle wirklich nicht verletzen, aber du musst begreifen, dass ein weiterer glühender Bewunderer so ziemlich das Letzte ist, was ich im Moment brauche.“

„Es gefällt dir nicht, dass die Leute deine Arbeit bewundern?“

„Ich glaube nicht, dass sie nur meine Arbeit bewundern, Bram.“

Seine einzige Antwort bestand darin, dass er sie einen Moment lang betrachtete. Dann seufzte er leise und betrachtete nachdenklich die umstehenden Bäume.

Da sie seine Gefühle nicht verletzen wollte, berührte sie Brams Arm.

„Aber ich fände es schön, wenn wir Freunde sein könnten.“

Er riss seinen Blick von den Bäumen los und sah sie mit seinen strahlenden blauen Augen an. „Du willst mit mir befreundet sein?“

„Ich habe nicht viele Freunde und männliche Freunde habe ich noch weniger. Aber die Gesellschaft der wenigen Freunde, die ich habe, genieße ich sehr.“ Sie tätschelte wieder seinen Arm. „Aber um eines klarzustellen: Wenn du und ich Freunde werden wollen, musst du aufhören, mich zu bewundern.“

„Die meisten Frauen genießen es, bewundert zu werden.“

„Die meisten Frauen haben auch nicht scharenweise glühende Bewunderer, die sie besitzen wollen und sogar so weit gehen, dass sie einen geistig minderbemittelten Stiefvater zu einem Kartenspiel verführen, um ihn über den Tisch zu ziehen und besagten Stiefvater dazu zu bringen, seine Stieftochter anzubieten, um seine Spielschulden zu begleichen.“

Bram zog eine Braue hoch. „Darf ich annehmen, dass wir gerade von etwas anderem sprechen als von meiner Bewunderung für dich?“

Sie nickte kurz.

Er beugte sich vor und runzelte die Stirn. „Darf ich außerdem annehmen, dass du in diesem konkreten Fall die erwähnte Stieftochter bist und dass einer deiner Bewunderer erwartet, dass du … die Schulden deines Stiefvaters begleichst?“

„Ja, das darfst du leider annehmen, da Silas Ruff – der besagte Bewunderer – genau das erwartet. Das erklärt dir hoffentlich, warum ich von Bewunderern nicht viel halte.“

„Sprechen wir von dem Silas Ruff, der vor einigen Monaten New York verlassen musste, weil er bei irgendeiner gesellschaftlichen Veranstaltung für einen Skandal gesorgt hat?“

„Genau. Und du solltest wissen, dass dieses skandalöse Verhalten sich auf einem Ball ereignete, den deine Großmutter ausgerichtet hatte.“

Bram beugte sich vor. „Silas Ruff hat sich im Beisein meiner Großmutter schlecht benommen?“

„Allerdings! Aber Archibalds Enkel, Oliver, hat die Sache geregelt, auch wenn sich inzwischen leider gezeigt hat, dass wir Silas nicht für immer losgeworden sind. Aus diesem Grund sind Abigail und ich unangekündigt bei dir hereingeschneit und nutzen deine Gastfreundschaft aus, da wir dir keine Chance gelassen haben, uns wieder fortzuschicken.“ Sie seufzte schwer. „Silas scheint fest entschlossen zu sein, eine Beziehung zu mir zu erzwingen. Du musst also wissen, dass ich dir wirklich sehr dankbar bin, dass du mir hier auf Ravenwood Unterschlupf gewährst. Wenigstens so lange, bis ich eine Möglichkeit gefunden habe, Silas ein für alle Mal loszuwerden.“

Bram wandte den Blick von ihr ab und betrachtete ein Eichhörnchen, das auf einem Baum saß und sie beobachtete. Er nickte zu sich selbst und drehte sich dann wieder zu Lucetta herum. „Du kannst auf Ravenwood bleiben, so lange es nötig ist, und ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen.“

„Danke, Bram. Ich bin dir für dieses Angebot wirklich sehr dankbar, auch wenn ich nicht weiß, ob mir bei Silas jemand helfen kann. Er ist ein sehr einflussreicher Mann, hat zwielichtige Kontakte im ganzen Land und ist einfach nicht willens, ein Nein zu akzeptieren. Ich versuche seit Jahren erfolglos, ihn loszuwerden, aber ich habe immer noch keinen brauchbaren Plan.“

Einen Moment lang sagte Bram kein Wort und sah sie nur nachdenklich an. Doch dann ergriff er ihre Hand und drückte sie entschlossen. „Ich glaube, ich habe eine sehr gute Lösung gefunden, mit der du Silas Ruff ein für alle Mal loswerden könntest …“ Er bedachte sie mit einem charmanten Lächeln und drückte ihre Hand noch fester. „Du musst heiraten. Unter den gegebenen Umständen wäre es mir eine Ehre, dir meinen Schutz anzubieten, indem du meine Frau wirst.“