Über das Buch

Ein Vier-Sterne-Hotel, das schon bessere Tage gesehen hat, und ein berühmter Schriftsteller, dessen Stern allerdings auch schon einmal heller leuchtete, sind die Zutaten für Daniel Glattauers neue Komödie: beste Unterhaltung garantiert! Wie in seinem Erfolgsstück »Die Wunderübung«, das mittlerweile auch das Kinopublikum begeistert, gelingt es Daniel Glattauer in »Vier Stern Stunden«, mit wenigen Strichen ein Szenario zu entwerfen, das unterhält, verblüfft und berührt.

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Daniel Glattauer

VIER STERN STUNDEN

Eine Komödie

Deuticke

SZENE EINS

Wir befinden uns im altehrwürdigen und ehrwürdig gealterten Kur- und Kulturhotel Reichenshoffer, ein Viersternbetrieb, dem man einen Stern besonders deutlich ansieht — den fehlenden fünften.

Wir blicken auf eine dem Hotelgästeraum zugewandte improvisierte Bühne. (Später lernen wir vom Hotel auch den Raucherbereich, ein Zimmer, die Lobby und die Bar kennen.)

Aus dem Hintergrund sickert verstaubte Lounge-Musik ein, ein Piano tastet sich gerade durch »Strangers in the Night«.

Unangenehmer sind die zischenden und pfeifenden Geräusche, die von der Lautsprecheranlage erzeugt werden. Verursacher ist ein sportlich aussehender, solarium-gebräunter junger Mann, den der elegante Anzug eher verkleidet als kleidet. Er nimmt einige klägliche Anläufe, dem Publikum etwas mitzuteilen. Endlich hat die Technik den passenden Ton für ihn gefunden.

JUNIORCHEF (unruhig, stotternd) Guten Abend, verehrte Gäste. Wir hoffen, unser Degustationsmenü hat Ihnen gemundet. Willkommen nun zu einem der wahrscheinlich größten kulturellen Highlights in der Geschichte der um … kulturelle Highlights nie verlegenen … Sternstunden in Ihrem Kulturhotel Reichenshoffer. Mein Name ist … Reichenshoffer … junior. (Er lächelt verlegen.) David-Christian Reichenshoffer. Das Hotel ist … wie Sie vielleicht wissen … seit vier Generationen im Familienbesitz der Reichenshoffers. Manche von Ihnen, und da sind wir besonders stolz, waren ja von Anfang an unsere Gäste … Ich meine, schon Ihre Großeltern und Urgroßeltern. Tradition wird in unserem Hause groß geschrieben. Ich selbst bin hier … wie Sie vielleicht wissen, quasi das jüngste Glied in der Kette, und ich sehe es als meine Aufgabe … das große kulturelle Erbe  … 

Der Juniorchef wird abgelenkt und unterbricht seine Rede. Jemand dürfte ihm etwas Wichtiges zugerufen oder zugedeutet haben.

JUNIORCHEF (nervös, blickt auf die Uhr) Ich höre gerade von der … von meiner … also für den Ablauf zuständigen Mitarbeiterin. Wir werden doch noch fünf bis zehn Minuten zuwarten. Das Hotel Almtalerhof schickt uns noch einige Gäste vom soeben zu Ende gegangenen Bridge-Turnier herüber … damit wir hier so richtig knallvoll sind. Ich darf Sie also noch für einige Minuten um Ihre geschätzte Geduld bitten. Dankeschön.

Das Bühnenlicht wird abgedreht.

SZENE ZWEI

Der karge Raucherbereich des Hotels ist vereinsamt. Man nimmt zunächst nur einen undefinierbaren schwarzen Hügel wahr, der sich plötzlich in Bewegung setzt und aufrichtet. Der »Hügel« dreht sich, und nun wird ersichtlich, dass es sich hierbei um eine voll verschleierte Person, eine Burkaträgerin, handelt. In einer Hand hält sie ein Handy, das sie einmal näher zum Gesicht, dann wieder weiter weg bewegt, als suchte sie die passende Einstellung für ein Selfie. Zwischen den Fingern der anderen Hand klemmt eine Zigarette, die die Person durch den nach unten verschobenen Burka-Augenschlitz zum Mund führt. — Ein bizarrer Anblick.

Eine konservativ gekleidete Frau um die 45 kommt zögerlich dazu. Sie hält ein Skriptum in der Hand, das sie nervös studiert. Sie geht unruhig auf und ab, umkreist die Burkaträgerin mit Respektabstand, gibt sich dann einen Ruck und geht auf sie zu.

FRAU Excuse me. English?

VERSCHLEIERTE Yes. Oder Deutsch. As you like it.

Die verschleierte Frau spricht in der Folge gut Deutsch mit deutlichem Akzent.

FRAU Ich hoffe, es ist nicht unverschämt, wenn ich Sie … Haben Sie zufällig noch eine … Zigarette … für mich?

VERSCHLEIERTE Ja klar.

FRAU Danke, das ist reizend von Ihnen.

Es kommt zur Übergabe von Zigarette und Feuer. Die Frau entfernt sich ein paar Schritte, zieht hastig an der Zigarette, geht wieder auf und ab. Die Verschleierte beobachtet sie.

VERSCHLEIERTE Sie sind aufgeregt.

FRAU Ja, das kann man sagen.

VERSCHLEIERTE Warum?

FRAU Ich … ich. Wir haben hier gleich eine Kulturveranstaltung.

VERSCHLEIERTE Ah, ich verstehe. Deshalb die vielen alten Leute hier. Und Sie sind  … ?

FRAU Und ich bin die Moderatorin.

VERSCHLEIERTE Ah. Interessant.

FRAU Ja. Ich moderiere das Gespräch … mit dem … Künstler.

VERSCHLEIERTE Und da ist man aufgeregt.

FRAU Ja. Das heißt, nein, sonst bin ich es eigentlich nicht. Ich mache das schon viele, viele Jahre. Es ist mein Job. Es ist mein Leben. Es ist Routine. Ich bin Kulturjournalistin. Aber diesmal … diesmal  … 

VERSCHLEIERTE Aber diesmal sind Sie aufgeregt.

FRAU Ja.

VERSCHLEIERTE Warum?

FRAU (wirklich sehr aufgeregt) Ich werde gleich jemanden kennenlernen, neben jemandem auf der Bühne stehen, jemandem Fragen stellen dürfen, den ich für den … den ich für den … für einen der größten und wichtigsten zeitgenössischen … zeitgenössischen  … 

VERSCHLEIERTE Zeitgenössisch heißt, dass er noch lebt, nicht wahr?

FRAU Ja, nein, nicht unbedingt. Aber er lebt. Natürlich. Er ist hier. Er ist extra hierher gekommen, in dieses … in dieses … Hotel … hier.

VERSCHLEIERTE Und was macht er?

FRAU Er schreibt. Er schreibt Bücher. Er ist — ein großer Romancier.

VERSCHLEIERTE Ein Franzose?

FRAU Nein. Ein Romanschreiber. Ein Deutscher. Aber weltweit bekannt und geschätzt. Frederic Trömerbusch.

VERSCHLEIERTE Den Namen habe ich schon gehört.

FRAU Ja, der große Frederic Trömerbusch. Ich habe alle seine Bücher gelesen. Was heißt gelesen? — Verschlungen. Und jetzt darf ich ihn interviewen, von Angesicht zu Angesicht.

VERSCHLEIERTE Angesicht.

FRAU Ja.

VERSCHLEIERTE Und was werden Sie ihn fragen?

FRAU (deutet auf ihr Skriptum) Das werde ich ihn fragen. Zu seinen Büchern. Ich habe mich wochenlang vorbereitet. So eine Chance kriegt man nicht oft im Leben.

VERSCHLEIERTE Was für eine Chance?

FRAU Einen der bedeutendsten Autoren vor sich zu haben, und ihm niveauvolle, literarisch relevante, substanzielle Fragen zu stellen. Ich … ich werde jedenfalls versuchen, ihm auf Augenhöhe zu begegnen.

VERSCHLEIERTE Auf Augenhöhe.

Sie umkreist mit den Fingern die Sehschlitze ihrer Kopfbedeckung.

FRAU Ja, literarisch gesehen. Er soll wissen, dass ich seine Texte wirklich aufmerksam gelesen und verstanden habe. Dass der Funke zu mir herübergesprungen ist. Ich will sein Werk würdigen, wertschätzen. Verstehen Sie? Ich will mich auf diese Weise bei ihm bedanken, für die vielen spannenden Stunden, die er mir bereitet hat.

VERSCHLEIERTE Sie meinen, seine Bücher.

FRAU Ja natürlich, die Bücher. Es geht hier um die Bücher. Es geht hier um Literatur, wissen Sie. Um Weltliteratur.

VERSCHLEIERTE Aha. Wollen Sie noch eine Zigarette?

FRAU Nein, danke, danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. (Wieder hektischer.) Ich werde mich jetzt wohl zur Bühne aufmachen. Es muss gleich losgehen.

Sie entfernt sich ein paar Schritte, kommt aber wieder zurück.

FRAU Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben, das hat mir ein bisschen die Nervosität genommen. Ich bin die … ich heiße … mein Name ist Mariella Brem.

Sie streckt der verschleierten Frau die Hand zum Gruß entgegen. Diese weicht etwas zurück, hebt ihre Handy-freie Hand hoch und winkt.

VERSCHLEIERTE (zögerlich) Ghulam Fatima. Viel Glück. Allah sei mit Ihnen! Und der Literatur.

SZENE DREI

Das Licht der Hotelbühne geht wieder an. Reichenshoffer junior, der sich mäßig wohl in seiner Haut zu fühlen scheint, beugt sich zum Mikrofon. Seine Leidenschaft wirkt übertrieben, sein Enthusiasmus aufgesetzt.

JUNIORCHEF (verkrampft) So, aber nun ist es so weit. Ich darf Sie nochmals ganz herzlich zu unseren diesjährigen Sternstunden im Kulturhotel Reichenshoffer … auf das allerherzlichste … begrüßen. Wie Sie vielleicht wissen: Seit Jahrzehnten scheuen wir weder Mühen noch … Kosten … und haben uns den Ruf erworben, die Prominentesten, die Erfolgreichsten, die ganz großen Namen der Kulturszene zu uns ins Haus zu holen. Was uns dieses Jahr gelungen ist, da würde sich wohl jeder internationale Großveranstalter alle zehn Pferde … Hände … alle zehn Finger jeder Hand … abschlecken. Ich möchte Ihnen jetzt nur einen kleinen Vorgeschmack  … 

Der Juniorchef wird abermals durch Worte oder Gesten neben der Bühne abgelenkt, unterbricht seinen Vortrag.

JUNIORCHEF (halblaut, zur Seite gedreht) Was, hier im Publikum?

Er wendet sich wieder den Hotelbesuchern zu.

JUNIORCHEF Entschuldigen Sie bitte die kleine Unterbrechung. Aber ich habe erfahren, dass sich hier im Saal eine … eine schwarz vermummte weibliche Person angeblich … befinden soll. Bitte, das ist leider nicht möglich. Bei uns. Sondern im Gegenteil — das ist strengstens verboten. Auch im Fasching. Ich bitte diese Person, sich ihrer Vermummung … entweder … zu entziehen … also zu entledigen. Oder sie ersuchen, den öffentlichen Raum aus … Sicherheitsgründen bitte umgehend zu verlassen.

Raunen im Saal. Es entsteht eine kurze Pause. Der Juniorchef nimmt eine Reaktion von der Seite entgegen und nickt beruhigt.

JUNIORCHEF So, dankeschön!

(liest holprig von einem Blatt Papier, das er hervorgekramt hat)(Lacht laut auf.)