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Michael Vogler

WIR

Plädoyer für einen neuen Generationenvertrag

 

Edition Konturen

Wien • Hamburg

Für Gerti

 

 

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Bild 1: Tizian, Allegorie der Zeit (um 1560)

The National Gallery, London – commons.wikimedia.org

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Bild 2: Elefantenbulle, Amboseli-Nationalpark, Kenia 2013

Photo Richard Rhee – commons.wikimedia.org

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Bild 3: Wolf aus dem Druid-Rudel, Yellowstone Nationalpark, 2000

Photo Doug Smith – commons.wikimedia.org

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Bild 4: Die Westrosette der Kathedrale von Leon, Spanien (Ende 13. Jahrhundert)

Photo José Luiz Bernardes Ribeiro – commons.wikimedia.org

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Bild 5: Der Waldrapp im Formationsflug

Waldrappteam, LIFE Northern Bald Ibis – www.waldrapp.eu

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Bild 6: Das Rad der Lebensalter (um 1308)

Madonna-Meister, British Library – commons.wikimedia.org

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Bild 7: Die Lebenstreppe des Menschen (um 1840)

Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kunstgeschichte, Münster.

commons.wikimedia.org

 

Wir legen Wert auf Diversität und Gleichbehandlung. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit der Texte werden manche Begriffe in der maskulinen Schreibweise verwendet. Grundsätzlich beziehen sich diese Begriffe auf beide Geschlechter.

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

Copyright© 2018 Edition Konturen Mediendesign Dr. Georg Hauptfeld GmbH – www.konturen.cc

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten

 

Umschlaggestaltung: Georg Hauptfeld, dressed by Gerlinde Gruber.

Layout: Georg Hauptfeld

Lektorat: Christa Hanten

 

ISBN 978-3-902968-36-4

1. Kein Grund zu verzweifeln

Die wahre Kraft der Welt liegt in der Solidarität.

Sergio Pirozzi, Bürgermeister von Amatrice,

ein Jahr nach der Zerstörung der mittelitalienischen Stadt

durch das Erdbeben vom 24. 8. 2016

 

Eines schrecklichen Tages, so erzählt eine Legende vom Amazonas, brach ein riesiger Waldbrand aus. Mit ungeheurer Geschwindigkeit fraß sich das Feuer über Berge und durch Täler. Die Tiere des Waldes fühlten ihre Ohnmacht. Panik ergriff sie. Die größeren Tiere stoben in wilder Flucht davon, die kleineren erstarrten vor Schreck und richteten ihre entsetzten Blicke auf die sich nähernden Flammen. Einzig der Kolibri holte einen winzigen Tropfen Wasser, flog zurück und spuckte ihn ins Feuer. Da rief das Gürteltier: „Kolibri! Bist du verrückt geworden? Du glaubst doch nicht wirklich, dass du mit deinem Tröpfchen Wasser dieses Feuer löschen kannst?“ „Ja, natürlich ist mir das klar“, antwortete der Kolibri, „aber ich erfülle den Teil der Aufgabe, den ich übernehmen kann!“

 

Es ist meine feste Überzeugung, dass es immer einen Weg gibt. Die Erfahrung als Berater und Coach sagt mir, dass große Herausforderungen nur gemeinsam gelöst werden können. Das betrifft insbesondere das Zusammenspiel aller lebenden Generationen, denn die wertvollen Fähigkeiten und Qualitäten jedes Lebensalters sind auf dem Weg in die Zukunft unverzichtbar. Idealerweise steuert die Phase des jungen Erwachsenen Energie und Veränderungswillen zur gemeinsamen Entwicklung bei. Das mittlere Lebensalter bringt seine gewachsene Routine und die Kompetenz zur Koordination mit. Lebenserfahrung und Abgeklärtheit der Älteren fügen schließlich die nötige Weitsicht hinzu, um mittel- und langfristige Folgen von Handlungen und Denkmustern abschätzen zu können.

Eine gute Zukunft für alle kann nur in einer Gesellschaft entstehen, die alle ihre Stärken zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft zusammenführt. Leider ist das derzeit nur ein visionäres Ansinnen, wird die öffentliche Diskussion doch hauptsächlich von Phobien und verantwortungslos kurzfristigem Denken beherrscht. Es fehlen klare Visionen und Strategien, die dem Wohl der Gesellschaft dienen könnten. Wo man hinsieht, werden Visionen durch wildes Taktieren ersetzt. Doch das Dringende ist der Tod des Wichtigen. Hektisches Handeln verstellt den Blick auf das Wesentliche. Echte Bemühungen zur gemeinsamen Gestaltung einer gedeihlichen Zukunft lassen sich derzeit allenfalls in Spuren erkennen. So entsteht der Eindruck, die Gesellschaft taumle durch die Gegenwart und werde steuerlos herumgeworfen, wie ein Blatt im Sturm des Herbstes.

Dabei ist es gerade in einer Zeit des Umbruchs höchst an der Zeit, sich darauf zu besinnen, dass alle lebenden Generationen gemeinsam jenes Morgen erschaffen, in dem ihre Kinder und Enkel leben werden. Enkeltauglichkeit jedoch ist derzeit weder eine politische noch eine wirtschaftliche Kategorie.

Ich selbst gehöre der Generation der Babyboomer an. Wie viele meiner Generation bin ich erschüttert über die Leichtfertigkeit und Verantwortungslosigkeit, mit der seit Jahren Ängste geschürt werden. Fassungslos sehe ich, wie innerhalb weniger Jahre das Bild einer Welt im Niedergang geschaffen wurde. Es ist beklemmend zu beobachten, wie schnell sich Solidarität auflösen kann und wie allerorts mentale und reale Mauern hochgezogen werden.

Ich werde zornig, wenn ich sehe, was das bei unseren Kindern und Enkelkindern anrichtet und wie ihnen der Mut genommen wird. Als wäre das nicht schon schlimm genug, müssen die Jungen auch noch Vorwürfe und Beschuldigungen vieler Älterer über sich ergehen lassen. Sie wären desinteressiert, übernähmen keinerlei Verantwortung, seien faul und nur an ihrem Smartphone interessiert. „Generation Relax“ werden sie genannt.

Viele Junge fühlen sich vollkommen zu Recht unverstanden. Wer genauer hinsieht, erkennt die großen Anstrengungen, die sie unternehmen, um ihren Weg in die Gesellschaft zu finden. Dabei suchen sie Orientierung, um die Anzahl ermüdender Umwege und Sackgassen klein zu halten. Sie fiebern nach einer Vorstellung davon, wie ihr Leben gelingen kann, trotz allem, was in der Welt vor sich geht. Aber sie bekommen viel zu wenige Antworten auf ihre Fragen.

Der Mangel an brauchbaren Leitlinien und die ständige Kritik verringern ihr Vertrauen in die Sinnhaftigkeit von Autoritäten, Strukturen und Organisationen. In dieser Situation ist ihre Tendenz, sich von bislang geltenden Vorstellungen zu lösen, eine gesunde Reaktion. Das gilt auch für ihre Bereitschaft, den Glauben an Autoritäten und alte Werthaltungen abzulegen.

Diese Abwendung schafft kurzfristige Befreiung, befriedigt aber nicht das Bedürfnis nach einer Perspektive, wo das alles hinführen soll. Stattdessen wächst der Wunsch nach Orientierung und Anerkennung. So ist die Generation der jungen Erwachsenen unablässig auf der Suche.

Erleichterung finden sie in gegenseitiger Bestätigung. Sie suchen mehr als die Generationen vor ihnen nach Gemeinsamkeit, doch das reicht nicht aus, um einen klaren Kurs zu finden. Nur zu oft bleibt ihre Suche nach einem solchen Kurs erfolglos, danach, was wesentlich ist in diesem Leben. Politische Karrieristen und hasardierende Geschäftemacher haben den Bedarf erkannt und wittern Beute.

Die Jüngeren zu unterstützen, wäre die angestammte Aufgabe der Älteren. Diese verharren jedoch zu großen Teilen in einer Art Schreckstarre. Ohnmächtig beobachten sie den Zusammenbruch ihrer Werthaltungen. Vernunft, Solidarität und Verbesserung des Lebens stehen immer noch im Mittelpunkt ihrer Überzeugungen. Eingeschüchtert fragen sie sich, ob sie sich geirrt haben.

Hinzu kommt, dass die Älteren in ihrem Leben viel zu wenig darüber erfahren haben, wie man in Umbruchzeiten Solidarität aufbaut. Noch weniger haben sie Kenntnis von der immensen Bedeutung, die Älteren bei Aufbau und Pflege solidarischer und konstruktiver Grundhaltungen zukommt. Viel zu wenig wissen sie über ihre Aufgabe im Zusammenspiel der Generationen. In ihrer Hilflosigkeit gegenüber den Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, erliegen sie nur allzu oft der Versuchung, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Mit immer schärferen und perfekteren Kontrollen versuchen sie, die historische Entwicklung aufzuhalten.

Doch gerade in einer Zeit, in der sich ein Weltbild überholt, ist das Zusammenspiel der Generationen von entscheidender Bedeutung.

Die Herstellung eines gedanklichen Deutungsrahmens, der nötige Weitblick sowie Förderung und Pflege des Miteinanders sind seit jeher der Verantwortungsbereich der Älteren. Erst Lebenserfahrung befähigt dazu, Folgewirkungen abzuschätzen. Wer schon viele Probleme gelöst hat und Moden vorbeiziehen sah, der muss nicht mehr jeder neuen Idee hinterherlaufen.

Leider bleiben wesentliche Fragen der Jüngeren unbeantwortet, wie etwa: Wer bin ich und was könnte meine Aufgabe im Leben sein? Welche sind meine realen menschlichen Grundbedürfnisse, jenseits aller Einflüsterungen? Was brauche ich, um ein erfülltes Leben zu führen? Worauf muss ich meine Anstrengungen richten? Wie erkenne ich, wenn ich vom Weg abweiche?

Wie sehr dieses Feld brachliegt, beweisen verschiedene Untersuchungen über bestehende Werte bei Jüngeren. Regelmäßig zeigen solche Analysen, dass sich ihre größten Sehnsüchte auf das Miteinander in einer funktionierenden Gemeinschaft beziehen.

So beispielsweise die Studie „Generation What?“, die von der Europäischen Rundfunkunion im Jahr 2016 durchgeführt wurde. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass über 80 Prozent der Europäer zwischen 16 und 34 Jahren kein Vertrauen in die Politik haben. Auch andere Autoritäten, wie etwa Kirchen und Religionen, kommen schlecht weg (Generation What?). Die Sinus-Studie „Wie ticken Jugendliche?“ (Calmbach 2016) bestätigt, dass sehr viele Jüngere von Existenz- und Zukunftsängsten geplagt werden. Das alte Ideal der Selbstverwirklichung verliert rasch an Bedeutung. Weitgehend gemeinsam ist jungen Menschen zudem das Gefühl der Ohnmacht und der fehlenden Wirksamkeit eigenen Handelns.

Dem gegenüber steht eine ungeheuer starke Sehnsucht nach Miteinander, gegenseitiger Unterstützung und Sicherheit in der Lebensführung. Wünschen wir uns das nicht alle? Wer würde nicht gerne in einer Welt leben, die solche Werte zumindest anstrebt?

Um diese Richtung einschlagen zu können, braucht es vor allem konstruk­tive Perspektiven. Diese entstehen nicht von selbst. Um die Zukunft gut gestalten zu können, ist die Zusammenarbeit aller lebenden Generationen unerlässlich. Dieses Zusammenspiel über Altersgrenzen hinweg zu entwickeln, gehört neben Umwelt und Migration zu den wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit.

Dorthin zu kommen, ist nicht so schwierig, wie es zunächst scheinen mag. Allerdings muss man sich dafür der Stärken bewusst sein, die jedes Lebensalter mit sich bringt und – so wie der kleine Kolibri – den eigenen Beitrag leisten.

Das wäre ohne Zweifel vernünftig. Doch wie sind wir eigentlich in dieses pessimistische Weltbild geraten, das die Vernunft behindert? Was wäre wesentlich? Gibt es Vorbilder, die den Weg weisen können? Wie können unterschiedliche Generationen einander besser verstehen? Welche Qualitäten hat jedes Lebensalter und was können diese Fähigkeiten beitragen, um gemeinsam einen Weg zu Perspektiven und Gestaltungsfreude zu bauen?

Beginnen wir mit einigen wegweisenden Beispielen.