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Mary Rose Dawson

Nordwindflüstern

Das Buch:

 

Mit Mitte vierzig stehen viele Frauen plötzlich vor Veränderungen, die entweder erhofft oder bange befürchtet sind. Kinder gehen aus dem Haus, Ehen werden geschieden, beruflich wird man aufs Abstellgleis geschoben, weil die jungen Wilden von der Uni beim Chef besser punkten können. In unserer Reihe »Changes« befasst sich unsere Autorin Rose Mary Dawson unaufdringlich, aber mit viel Einfühlungsvermögen und Liebe zu ihren Heldinnen, mit all den unglaublichen, alltäglichen und bewegenden Situationen, die Frauen zwingen, noch einmal ganz neu anzufangen.

 

 

Rose Mary Dawson

 

 

Roman

 

 

 

Nordwindflüstern - Changes

Rose Mary Dawson

 

Copyright © 2018 at bookshouse Ltd.,

Ellados 3, 8549 Polemi, Cyprus

Umschlaggestaltung: © at bookshouse Ltd.

Coverfotos: www.shutterstock.com

Satz: at bookshouse Ltd.

 

 

 

ISBNs: 978-9925-33-012-6 (E-Book .pdf)

978-9925-33-013-3 (E-Book .epub)

978-9925-33-014-0 (E-Book Kindle)

 

 

www.bookshouse.de

 

 

 

Urheberrechtlich geschütztes Material

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Epilog

Kapitel 1

 

 

 

»Entschuldigung! Darf ich kurz mal vorbei?« Eine ruppige Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

»Natürlich. Einen Augenblick.« Ich griff nach meinem Rucksack und meiner Handtasche, die ich zwischen den Beinen abgestellt hatte, und hob sie auf.

»Geht das auch ein bisschen schneller? Dem Kind ist schlecht, verdammt!«

Jetzt erst sah ich das kreideweiße Gesicht des kleinen Jungen, der sich halb hinter seinem Vater versteckt hatte.

In diesem Moment ergoss sich ein Schwall aus halb verdauten Frühstücksflocken über das Deck.

»O mein Gott, das tut mir leid.« Eine junge Frau, ungefähr Mitte zwanzig, war inzwischen ebenfalls zu unserer kleinen Gruppe gestoßen. In ihrer Hand hielt sie eine Brechtüte, die sie dem Kleinen gerade noch rechtzeitig vor das Gesicht hielt, ehe noch mehr Frühstücksflocken auf dem Riffelblech landen konnten.

Der Kleine weinte herzzerreißend, während ihn sein Vater auf die andere Seite der Fähre trug.

»Das ist mir so peinlich. Wirklich.« Die junge Frau, die mich mit deutlichem skandinavischem Akzent angesprochen hatte, lächelte scheu. Sie hatte einen angenehmen, offenen Blick, und obwohl sie fast zwanzig Jahre jünger als ich sein musste, strahlte sie etwas Beruhigendes, Mütterliches aus. Ich mochte sie auf Anhieb. »Haben Sie irgendetwas abgekriegt? Natürlich übernehmen wir die Reinigung. Es ist das erste Mal, dass es Tommy auf der Fähre schlecht wurde. Normalerweise hat er einen echten Wikingermagen.« Sie streckte mir ihre Hand entgegen. »Mein Name ist Ingrid.«

Die Art und Weise, wie sie ihren Namen aussprach, der bei ihr eher wie »Ingeri« klang, überzeugte mich davon, dass sie tatsächlich aus Norwegen stammen musste.

»Aber ich bitte Sie. Die See ist rau heute, und die Größe der Fähre lässt einen gern vergessen, dass auch sie im Vergleich zur Nordsee nur ein Spielzeugbötchen ist.« Ich streckte ihr die rechte Hand entgegen. »Rebekka.«

Ihr Händedruck war warm und fest. »Ist Ihnen auch übel?« Ingrid musterte mich aufmerksam. »Ich meine, es ist eiskalt hier draußen, und das Wetter ist ja auch nur gerade mal so na ja …«

»Nein.« Ich lachte. »Mir geht es gut. Ich muss meine Nase nicht in den Wind strecken. Mir ist es da drinnen einfach nur zu laut und zu voll.«

Ingrid nickte. »Ja. Immer, wenn das Wetter schlecht ist, ist kaum jemand an Deck. Ich wollte eigentlich noch ein bisschen in den Duty-free-Shop, ein paar Geschenke einkaufen, aber da drin war es so voll, dass Tommy Angst bekommen hat. Die Leute sind sich gegenseitig fast auf die Füße getreten.«

Ich konnte mir das lebhaft vorstellen. Auch ich hatte die Zeit der Überfahrt von Hirtshals nach Kristiansand nutzen und durch die kleinen Geschäfte an Bord der Fähre bummeln wollen. Aber obwohl ich aus Berlin kam und Gedränge mir durchaus nicht fremd war, war es auch mir zu viel geworden. Deshalb war ich trotz Kälte und Nässe, der Wellengang war stark, und der Wind blies mir die Gischt direkt ins Gesicht, in die Abgeschiedenheit des Vorderdecks geflohen.

»Haben Sie wirklich nichts abbekommen? Auch nicht Ihr Rucksack oder Ihre Handtasche?«

Ich verneinte abermals. »Nein. Ihr Mann hat mich gerade noch rechtzeitig gewarnt.« Ich warf einen Blick auf die andere Seite und sah Ingrids Mann auf einer der Bänke sitzen. Tommy hatte sich auf seinem Schoß zusammengerollt und schien angestrengt gegen seine Übelkeit anzukämpfen. »Ich glaube, ich habe eine Reisetablette bei mir. Möchten Sie Ihrem Sohn eine geben? Sie wird zwar nicht ganz helfen, aber vielleicht macht sie ihn müde genug, dass er den Rest der Überfahrt verschläft.«

Ingrid strahlte und zeigte dabei eine Zahnlücke zwischen den beiden oberen Frontzähnen, die ihren skandinavischen Charme noch unterstrich. Im Gegensatz zu den meisten Norwegerinnen, die eher dunkelblond oder brünett waren, hatten ihre Haare das helle Blond, mit dem schon Agneta von Abba in meiner Jugend Jungs und Mädels verzaubert hatte.

»Das wäre sehr nett von Ihnen. Danke.«

Sie nahm die Tablette und den »Durstlöscher«, den ich ihr reichte. »Haben Sie auch Kinder? Ich meine, weil Sie so gut ausgerüstet sind. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

Ehe ich antworten konnte, ging sie auf ihren Mann und ihren Sohn zu. Nach ein paar Schritten drehte sich noch einmal um. »Laufen Sie nicht weg. Ich bin gespannt auf Ihre Antwort.«

Ich lachte. »Keine Sorge. Ich werde schon nicht über Bord gehen. Und dort rein kriegen mich keine zehn Pferde mehr.«

Ich beobachtete, wie Ingrid für ihren Sohn die Reisetablette in zwei Teile brach, damit er sie mühelos schlucken konnte, während ihr Mann den Trinkhalm in den Tetrapak stach.

Nein, ich hatte keine Kinder. Ingrids Frage hatte eine heiße Welle voller Schmerz in meinem Körper in Bewegung gebracht, die mir die Luft zum Atmen zu nehmen schien. Ich klammerte mich an der Reling fest. Die Kälte, die meine Finger klamm und taub machte, wirkte wie ein Schwall Wasser auf das Feuer meines Kummers.

Nein. Ich hatte keine Kinder.

Kinder. Mit ihnen konnte alles möglich und ohne sie konnte alles unmöglich werden.

Ich hatte Jan vor fünfzehn Jahren auf einer Party kennengelernt. Was folgte, war der Klassiker aus schlechten Liebesromanen. Wir verstanden uns gut, lachten viel, tranken ein bisschen, vielleicht ein bisschen zu viel, landeten im Bett und starteten eine heftige, intensive und romantische Beziehung. Vier Wochen später stellte ich fest, dass ich schwanger war.

Zunächst lief alles gut. Jan stellte sich seiner Verantwortung, und als ich im vierten Monat war, heirateten wir. Das Kind sollte schließlich in geordneten Verhältnissen und mit dem Nachnamen des Vaters zur Welt kommen.

Der Einfachheit halber zog ich in seine Wohnung, die zumindest in der ersten Zeit groß genug für unsere kleine Familie sein würde.

Obwohl ich erst fünfundzwanzig Jahre alt war, galt meine Schwangerschaft aufgrund meines Alters schon als Risikoschwangerschaft. Und obwohl ich wusste, dass ich mich hätte dankbar und glücklich fühlen müssen, konnte ich mich mit dem Gedanken, Mutter zu werden, nur langsam anfreunden.

Ich hatte gerade mein Studium als Sozialpädagogin abgeschlossen und wollte beruflich durchstarten, anstatt zu Hause Windeln zu wechseln. Aber Jan versprach mir, dass ich mich auch um meine Karriere kümmern könnte, sobald er sich beruflich etabliert hatte.

Doch das Leben schreibt manchmal andere Geschichten als die, die wir gern lesen möchten.

Ich verlor das Kind im fünften Monat.

»Und?« Ingrid war zurück. »Haben Sie Kinder? Sind sie auch der Fähre?«

»Wie geht es Tommy?« Ich versuchte, mit einer Gegenfrage Zeit zu gewinnen.

»Es geht ihm besser. Er genießt es immer sehr, wenn er mal die volle Aufmerksamkeit seines Vaters hat. Jörg arbeitet sehr viel und kommt oft erst nach Hause, wenn Tommy schon im Bett liegt. In manchen Wochen sehen sie sich nur kurz beim Frühstück und am Wochenende. Das Beste ist, ich lasse die beiden jetzt eine Weile allein.« Sie zwinkerte mir zu. »Ich weiß, es ist laut und voll da drinnen, aber es gibt im Zwischendeck eine kleine, sehr exklusive Kaffeebar, die eigentlich immer ziemlich leer ist, weil sich die wenigsten die Preise leisten können. Darf ich Sie so lange auf einen Kaffee einladen? Sie würden mir eine sehr große Freude machen«, fuhr sie fort, ehe ich Widerspruch einlegen konnte. »Hier draußen ist es sehr kalt, und es gibt im Augenblick für mich nichts zu tun. Und ich sitze nicht gern allein in einem Café, da bin ich noch alte Schule.« Sie lachte ein freies, jugendliches Lachen, um das ich sie fast beneidete. Es war das Lachen einer Frau, die noch nicht viel Kummer gehabt hatte in ihrem Leben. »Also. Wie sieht es aus? Wollen Sie mich aus diesem Kühlschrank hier draußen erlösen?« Sie hakte mich unter, und ich ließ mich fast widerstandslos von ihr mitnehmen.

Kapitel 2

 

 

 

Ingrid behielt recht. Das Café mit dem klangvollen Namen »La Lounge« war fast menschenleer. Außer uns befanden sich noch fünf andere Gäste im Raum. Zwei davon sicher Geschäftsmänner, die ihre Laptops jeweils auf einem der winzigen Kaffeetische abgestellt hatten und in die Tasten hauten, als gäbe es kein Morgen.