ISBN: 978-3-95428-686-7
1. Auflage 2018
© 2018 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
info@wellhoefer-verlag.de
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Die Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.
Wollen Sie die lange oder die kurze Version? Ja, das verstehe ich. Wer vor einer so endgültigen Entscheidung steht, einer Entscheidung für die Ewigkeit sozusagen, will umfassend informiert sein. Dann also die lange Version. Das mache ich gerne. Aber die Zeit läuft. Ab jetzt koste ich Geld. Sollten Sie sich für meine Dienstleistungen entscheiden, wird diese Stunde selbstverständlich mit dem Gesamtvolumen verrechnet. Mit anderen Worten: Wenn ich den Auftrag bekomme, entfällt die Gebühr für dieses konspirative Treffen, dann gehört dieses Gespräch zum Service.
Gerne erkläre ich Ihnen ausführlich, weshalb Sie mir vertrauen dürfen und ich alles tun werde, um Ihnen ein finanziell gesichertes und zufriedenes, rundum ungestörtes Leben zu ermöglichen.
Warum ich gewillt bin, menschliche Ärgernisse für Sie dauerhaft zu beseitigen? Das ist ganz einfach: Ich verstehe, was Sie durchmachen. Denn ich stand einmal am gleichen Punkt wie Sie. Vor genau zwölf Monaten. Nur handelte es sich bei mir nicht um einen untreuen, verschwenderischen Ehegatten, der mir den Lebensabend vergällte, sondern um eine geizige Behörde.
Diese Behörde hatte mir meinen Rentenbescheid zugestellt und damit mein Leben grundlegend verändert. Nein, ich lebe seitdem nicht gesünder, ich lebe seitdem zielführender. Für mich und für Sie. Das hat seinen Grund: Als ich las, dass sich meine monatliche Unterstützung nicht einmal annähernd im vierstelligen Bereich befinden würde, bin ich Millimeter an einem Infarkt vorbeigeschrammt. Mich hat nur die pure Wut vom Sterben abgehalten. Wut über ein Leben voller Arbeit, aber ohne Anerkennung.
All die Jahre als Sprechstundenhilfe bei Dr. Grantig und dann Almosen. Staatliches Hohngelächter für eine Fachkraft. Eine Mitarbeiterin, die alles kann, was ihr Beruf verlangt: Verbände anlegen, Blut abnehmen, Spritzen geben. Meine Mund-zu-Nase-Beatmung weckt Tote auf.
Obendrein war ich immer höflich, immer geduldig. Mein »Der Nächste, bitte!« hat nie seinen freundlichen Unterton verloren, in keiner Grippeepidemie und auch nicht, als ich nach einer Wirtshausschlägerei eine beachtliche Anzahl Gliedmaßen wieder ihren rechtmäßigen Besitzern zuordnen musste.
Sogar Dr. Grantig, der seinem Namen immer dann gerecht wurde, wenn ich um eine Gehaltserhöhung meines schmal bemessenen Salärs bat, schätzte mein Können und hätte mir niemals gekündigt.
So viel ist gewiss: Ich habe meine Arbeit gut gemacht, gewissenhaft und zum Wohle der Allgemeinheit.
Aber das kümmerte meinen Sachbearbeiter wenig. Der hat nur gerechnet und gerechnet – und dann ungerührt den Stempel unter den Bescheid gesetzt. Das macht die Behörde gerne: Kurz bevor sie dir ausbezahlen müssen, was du fünfundvierzig Jahre lang eingezahlt hast, schicken sie dir die Bestätigung, wie wenig du wert bist.
Mir blieben nicht mehr als 765 Euro Rente, bei einer Miete, die bereits Anspruch auf die Hälfte dieser Summe erhebt. Mein Rentenbescheid las sich für mich wie eine Verurteilung zu lebenslanger Arbeit. Kein Zweifel: Ich musste mir für den Rest meiner Tage etwas dazuverdienen. Aber wie? Und vor allem womit?
Mir wollte einfach nicht einfallen, welchen Job ich bis an mein Lebensende erledigen konnte, ohne mich körperlich zu übernehmen. Ich ging sogar noch einmal zur Berufsberatung – obwohl die ja vierzig Jahre zuvor bereits auf ganzer Linie versagt hatte, als sie mir den Beruf der Sprechstundenhilfe als eine gute und sichere Lebensperspektive vorgegaukelt hatte. Ich lief umher wie in Trance, stand mit meiner Enttäuschung auf, ging mit ihr ins Bett und träumte von ihr. Ich nahm hohe Dosen Baldrian, um nicht auszurasten oder tagelang zu heulen vor Wut. Wie und durch was sollte ich überleben? In meinem Alter konnte ich in keine Praxis zurück, in keine legale jedenfalls. Aber illegal, das ging. Da war auch für mich noch was drin. Dafür musste ich nur Eigeninitiative entwickeln und bereit sein, ein paar Rüschen an meine Phantasie zu nähen.
Da kam mir eine alte Gewohnheit zu Hilfe. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte mich mein Weg jede Woche in den Blumenladen der Schlocker-Stiftung in Hattersheim geführt, um dort Gestecke oder Blumen für die Rauchglasvase auf dem Anmeldetresen unserer Praxis zu kaufen und unseren Patienten so ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Diese Rauchglasvase offerierte mir Dr. Grantig an meinem letzten Arbeitstag als Abschiedsgeschenk, zusammen mit einem mickrigen Gutschein für eine letzte Füllung. Im Nachhinein kann ich sagen: Das war das Wertvollste, was ich je von ihm bekommen habe.
Mein letzter Gang zur Schlocker-Stiftung als Sprechstundenhilfe war auch mein erster Schritt in mein neues Leben. Oder anders gesagt: Die Stiftung hat mich gerettet und ich bedanke mich für diesen Liebesdienst, indem ich dafür sorge, dass sie ihren gepflegten Grabschmuck auf wesentlich mehr Gräber verteilen darf, als dies ohne meinen neuen Job der Fall wäre. Die Schlocker-Stiftung und ich, wir arbeiten Hand in Hand – auch wenn diese überaus menschenfreundliche Einrichtung von meiner unkonventionellen Unterstützung nicht das Geringste ahnt.
An jenem Abend wechselte Dr. Grantigs Gutschein zwar in die Hände der Schlocker-Stiftung zurück, aber nicht für Blumen, nicht für Setzlinge und nicht für Gestecke. Als ich den Laden betrat, fiel mein Blick auf ein Plakat: In einem zu einer kulturellen Begegnungsstätte umgewidmeten Teil der Gewächshäuser, passend Grüner Daumen getauft, sollte wenig später eine Lesung unter dem Motto »Der Mörder ist immer der Gärtner« beginnen. Krimiautoren aus dem Rhein-Main-Gebiet würden bei Wein und Kerzenschein fantasievolle Möglichkeiten präsentieren, wie man unliebsame Zeitgenossen sauber und ohne Nebenwirkungen für den Täter ins außerstoffliche Dasein befördert.
Unliebsame Zeitgenossen! Ich musste sofort an Dr. Grantig denken, aber auch an die Tatsache, dass ich nie mehr »Der Nächste, bitte!« in die Runde rufen würde. Als auch noch ein paar unangenehme Patienten und mein Sachbearbeiter an meinem inneren Auge vorbeizogen, beschloss ich, den Gutschein gegen eine Eintrittskarte einzutauschen und den Abend als Weiterbildungsveranstaltung zu betrachten.
Das Programm war reiner Genuss. Erst wurden wir alle durch die imposante Anlage geführt – von den riesigen Gewächshäusern bis hin zum artenreichen Wildstaudengarten. Ich konnte endlich sehen, woher die vielen Blumen gekommen waren, die den angenehmen Teil meiner Arbeit in der Praxis ausgemacht hatten. Der junge Mann, der die Führung übernommen hatte, erklärte en détail, wie viel Liebe und Arbeit es kostet, um Pflanzen vom kleinen Samenkorn oder Setzling bis in meine Rauchglasvase zu bringen. Während er mit Begeisterung erzählte, fragte ich mich, wie es sich anfühlen würde, in Zukunft ohne die Ergebnisse seiner Kunst zu leben. Blumen bedeuteten in meiner mickrigen Zukunft puren Luxus. Auf meinem Tisch würde es kein wöchentlich wechselndes Farbspiel geben, weil es schwierig genug werden würde, vernünftiges Essen aufzutragen.
An diesem Punkt spürte ich, wie die Säure in meinem Magen vor Zorn zu brodeln begann. Ich sah all die Menschen vor mir, die sich an ihrem Lebensabend der kleinen, aber entscheidenden Freuden beraubt sahen, die unser Leben bereichern und deshalb für jeden erschwinglich sein sollten. Ganz gleich, ob der Auslöser ungerechten Verzichtes irgendeine Behörde, die Familie, der Freundeskreis oder die Arbeitgeber waren. Ich begann zu ahnen, dass ich in einem überfüllten Boot saß, das zu kentern drohte, wenn nicht diejenigen daraus entfernt würden, die sich viel zu breit machen und damit das Wohlergehen aller aufs Spiel setzten.
Nachdem wir einiges über Zier- und Wildpflanzen gehört hatten und sowohl heilende als auch hochgiftige Pflanzen bewundern konnten, wurden wir in den Grünen Daumen zur Lesung gebeten. Als ich mich in dem lichten, luftigen Raum umsah, begann ich mich zum ersten Mal seit Wochen wieder wohlzufühlen. Außer mir nahmen etwa vierzig weitere Zuhörer auf bezaubernd bunt bemalten Stühlen Platz, auf den Tischen vor uns warteten kühler Riesling und leckere Knabbereien darauf, köstliche Begleitung für mörderisch unterhaltsame Geschichten zu werden.
Ich entspannte mich von Minute zu Minute mehr. Durch alles, was ich sah und hörte, stellte sich die Zuversicht ein, mir solche Veranstaltungen weiter regelmäßig gönnen zu können. Ich hatte zum ersten Mal wieder Augen und Ohren für die Menschen um mich herum. Deshalb entging mir nicht, dass ausgerechnet an meinem Tisch eine Dame meines Alters saß, die offenbar die gelöste Stimmung und die nette Gesellschaft nicht so genießen konnte wie alle anderen. Nachdem ich durch die Veranstaltung neuen Mut gefasst hatte, wollte ich die Dame neben mir aufheitern, ganz so, wie ich es in meinem Beruf täglich und hundertfach getan hatte. Ich verwickelte sie in der Pause in ein Gespräch und ließ dann nur noch sie reden. Eine meiner Stärken: Ich weiß, wie ich Menschen dazu bringe, mir ihre Ängste, Sorgen und Nöte zu offenbaren.
»Elise Trautwein«, stellte sich die Dame vor und bekam Tränen in die Augen. »Noch! Stellen Sie sich mal vor, mein Mann will sich scheiden lassen. Nach vierzig Ehejahren glaubt er, ausgerechnet in unserer Haushaltshilfe aus Bulgarien die große Liebe gefunden zu haben. Er besteht darauf, dass ich meinen Mädchennamen wieder annehme. Es kann nur eine Frau Trautwein geben, hat er gesagt. Er wünscht keine Verwechslungen zwischen seiner hübschen Donka und einer alten Schabracke wie mir.«
»Hat er nur sein Hirn bei der jungen Frau abgeliefert oder auch seine Brieftasche?«, erkundigte ich mich.
»Er will unser Haus verkaufen und sich dafür ein neues bauen, mit Blick aufs Schwarze Meer. Da bekommt er für das Geld eine richtige Villa, sagt er.« An dieser Stelle war es mit Elises Fassung vorbei, und ich manövrierte sie auf die Toilette, damit sie sich beruhigen und ihre Fassade wieder restaurieren konnte. Unterwegs erfuhr ich, dass sie zwar drei Kinder geboren und großgezogen hatte, aber durch die schreiende Ungerechtigkeit, dass diese Arbeit keine nennenswerte Rente einbringt, in Zukunft vor dem Nichts stünde. Um Nägel mit Köpfen zu machen, hatte ihr Mann bereits heimlich das gemeinsame Haus beliehen, um mit dem Erlös zu verschwinden.
Während des nächsten Teils des Programms hüllte meine neue Freundin sich in düsteres Schweigen, bis, ja, bis eine Autorin ihren Krimi vorlas, in dem eine ältere Dame ihre Rente auf höchst ungewöhnliche Weise aufbesserte: als Auftragskillerin!
Diese Schriftstellerin hatte binnen Sekunden unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.
Auftragskillerin. Bei dieser Berufsbezeichnung stellten sich bei mir Bilder von gutaussehenden, nie alternden Männern mit der Lizenz zum Töten ein oder von Mr. und Mrs. Smith aus Hollywood, aber diese Autorin berichtete von einer ganz normalen Frau, einer Frau meines Alters, die sich selbst die beste Tarnung war.
Wer traut schon einem Mütterchen mit 65 Jahren mehr zu, als mit einer überdimensionalen Handtasche aus Kunstleder auf einer Parkbank zu sitzen und, die steifen Henkel fest im Griff, den Enten dabei zuzusehen, wie sie die mitgebrachten Brotkrumen aufpicken? Dass eben diese Tasche außer Entenfutter auch noch eine beachtliche Waffensammlung von einer eleganten Beretta 950 Jetfire bis hin zu einem äußerst scharfen Klappmesser und für Gesunde tödliche Insulinspritzen beherbergen könnte, kam nie jemandem in den Sinn, machte die Handtasche aber um vieles verlässlicher – und hässlicher. Jedenfalls für die Opfer.
Die Dame in der Geschichte mordete nur für sich. Sie tötete alle, die ihr die Würde nahmen, sie schlecht behandelten, ihr etwas verweigerten, sozusagen alle, die glaubten, eine so alte Lady wie sie gehöre nicht mehr in den Park, sondern in den Sarg. Schließlich tat sie nichts mehr für die Allgemeinheit, kostete aber Rente.
Rente. Das war das Stichwort. Ich kapierte. Aus den Voraussetzungen Alter, Park, unauffällige Erscheinung und Handtasche ließ sich auch für mich ein passendes Geschäftsmodell entwickeln. Noch dazu in einer Branche, für die sich meine frühere Tätigkeit geradezu als Grundausbildung anbot.
Ich streichelte meine Handtasche liebevoll. Sie war ebenso groß und ebenso hässlich wie die in der Geschichte. Als ich aufsah, traf sich mein Blick mit Elises und ich wusste: Sie hatte denselben Gedanken.
In jener Nacht saßen wir noch lange zusammen. Der Plan, in Zukunft als Täterin statt als Opfer durchs Leben zu gehen, war schnell gefasst. Elises Egon und seine Donka sollten unsere Versuchskaninchen sein. An ihnen wollte ich üben.
Ich werde Sie an dieser Stelle nicht mit dem Tathergang langweilen. Nur so viel: Mein Wissen um Spritzen, Druckverbände, anatomische Verhältnisse und die Schwächen des menschlichen Körpers kommen mir bei jedem Auftrag zugute. Genau wie die Dame aus der Geschichte bin ich meine beste Tarnung, keines meiner Opfer hat mich jemals als Bedrohung empfunden: Gerade mal 1,65 cm groß, dreißig Kilo Übergewicht, Twinset, Tweedrock, Gesundheitsschuhe mit Blockabsätzen. Auf mich achtet niemand. Frauen über sechzig sind heutzutage ja faktisch unsichtbar. Das zahlt sich aus. Ich kann jede Tat begehen und anschließend in der Menge verschwinden, ohne dass sich irgendjemand an mich erinnert.
Gut so, denn zack – schon landet wieder Geld in meinem Sparstrumpf, mit dem Elise und ich uns mehrmals im Jahr eine Kreuzfahrt gönnen, Balkonkabine, Oberdeck.
Sie möchten wissen, wo ich die Morde begehe? Vorzugsweise in Parks und öffentlichen Gärten, genau da, wo alte Ladys hingehören. Unser schönes Rhein-Main-Gebiet ist in dieser Hinsicht geradezu üppig ausgestattet.
Ich kann mich dabei ganz nach den Gewohnheiten meiner Opfer richten. Wo geht die Zielperson am liebsten spazieren? Im Palmengarten von Frankfurt? Dort ist es ein Leichtes, sie mit dem Blauen Eisenhut in Berührung zu bringen und sie durch das in der Pflanze enthaltene Gift ins außerstoffliche Dasein zu befördern. Zu dumm, aber solche Unfälle passieren selbst im eigenen Garten.
Die Nervensäge liebt historische Friedhöfe? Dann wird sie mit Sicherheit an einer der äußerst seltenen Führungen über den russisch-orthodoxen Friedhof auf dem Wiesbadener Neroberg teilnehmen wollen. Dieser Ort liegt den Rest des Jahres so wunderbar still und verlassen da, dass ein zusätzlicher Erdhügel niemals bemerkt werden wird.
Ich hatte auch bereits ein Rendezvous mit dem Liebhaber alter Schlösser und Burgen, dessen tiefer Fall von der Mauer des Altangartens der Burgruine Eppstein auf die Altstadt darunter noch heute von seiner Geliebten, wenn auch nicht von der betrogenen Ehefrau, heftig betrauert wird. Ich könnte auch noch erwähnen, dass das Arboretum Main-Taunus zwischen Eschborn, Sulzbach und Schwalbach schon mehr als einen erfolgreichen Besuch meinerseits verzeichnen konnte und mit dem zusätzlichen Kompost wächst, blüht und gedeiht.
Sie möchten wissen, welche Rolle Elise in all dem spielt? Sie geht mir bei allen Vorbereitungen zur Hand, erledigt die finanzielle Seite, legt unsere Gelder an und überweist regelmäßig Zuwendungen an Projekte, die Menschen helfen, denen es nicht so gut geht wie uns. Sie möchte eben nicht untätig sein, hat sie doch am eigenen Leib erfahren, wie ausgeliefert man sich fühlen kann.
Ihren Mann und seine Geliebte haben wir seinerzeit übrigens auf eine einsame Anhöhe bei Breckenheim gelockt. Die Stelle ist ganz leicht zu finden. Man hat von dort einen weiten Blick über das Land bis hin nach Wiesbaden. Wir hatten diesen Platz allerdings nicht wegen der schönen Aussicht gewählt, sondern weil am Tag nach unserem Stelldichein eine große Pflanzaktion stattfinden sollte. Viele kleine Bäumchen wurden gesetzt und bilden seither die Basis einer neuen Streuobstwiese. Egon und seine Donka liegen tief unter dem Wurzelwerk und sind, wenn Sie so wollen, der Grunddünger. Elises Kinder wähnen das ungleiche Liebespaar noch immer unter östlicher Sonne. Ganz falsch ist das nicht, schließlich gehört Breckenheim zu den östlichen Vororten unserer schönen hessischen Landeshauptstadt.
Wie bitte? Nein, keine Angst. Elise und ich werden alles so einzurichten wissen, dass weder die Polizei noch Verwandte, Bekannte oder Nachbarn jemals argwöhnen, dass Sie etwas mit dem Verschwinden Ihres ... menschlichen Problems zu tun zu haben. Meine äußerst beachtliche Erfolgsquote können Sie an der Tatsache ablesen, dass bisher kein Staatsanwalt jemals in meine Nähe oder in die meiner Auftraggeber kam.
Ich denke, Sie wissen jetzt genug über mich und meine Qualifikationen und können in Ruhe entscheiden, wie Ihre Zukunft aussehen soll.
Nur eins noch: Geheimhaltung hat höchste Priorität. Wer es sich anders überlegt und weiter unter seiner Nervensäge leiden möchte, wird respektiert, es sei denn ... er redet. Dann müssen wir leider eingreifen und ihm einen endgültigen Riegel vorschieben, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Aber was sage ich, diese wichtige Regel lesen Sie besser selbst nach. Im Geheimbereich meines Internetauftritts. Ich gebe Ihnen dafür jetzt ein exklusives Passwort, das nur ein einziges Mal und nur von Ihnen genutzt werden kann. Machen Sie unbedingt davon Gebrauch, denn dort finden Sie unsere Preise und Gebühren, alle notwendigen Vertragsunterlagen – und das Kleingedruckte rings um Ihre eigene Sicherheit vor, während und nach der Erledigung meines Auftrages. Besuchen Sie mich auf www.Der-Nächste-bitte!.com
Die Gärtnerei der Schlocker-Stiftung gehört zur EVIM Behindertenhilfe und gibt über 30 beeinträchtigten Menschen eine Arbeit als Gärtner in den Gewächshäusern und auf dem Friedhof sowie als Parkpfleger. Es werden Beet- und Balkonpflanzen angebaut und seit 2016 auch Wildstauden und Wildkräuter. Der Grüne Daumen ist der Veranstaltungsraum der Gärtnerei in einem ehemaligen Gewächshaus. Hier gibt es einmal im Monat Veranstaltungen rund um die Themen Garten, Kultur oder Kulinarik.
www.schlocker-gaertnerei.de
Anfahrt
mit öffentlichen Verkehrsmitteln:
Die S1, die zwischen Frankfurt und Wiesbaden verkehrt, hält auch in Hattersheim. Ein Fußweg von 10 Minuten führt entlang der Schulstraße direkt zum Grünen Daumen. Alternative: Buslinie 832, Haltestelle Friedhof.
mit dem PKW:
Von Wiesbaden oder Frankfurt kommend, nehmen Sie von der A 66 die Ausfahrt 12 Richtung Hattersheim / Eppstein / Kriftel. Am Ende der Abfahrt rechts halten, der Beschilderung in Richtung Hattersheim-Okriftel / Hattersheim-Stadtmitte Süd / West folgen und dann weiter auf der L 3011 fahren. An der nächsten Kreuzung links in die Mainzer Landstraße einbiegen. Nach dem Ortsschild in den Keltenkreisel einfahren und sofort die erste Ausfahrt Dürerstraße wählen. Rechter Hand sehen Sie bereits die Gewächshäuser der Schlocker-Gärtnerei.
Parkplätze: Vor den Gewächshäusern gibt es Kundenparkplätze für die Gärtnerei und den Gartentreff Grüner Daumen.
Der Höllenlärm war der ganz normale Geräuschpegel für die Bauarbeiter auf dem Grundstück, das im Frühjahr 1997 das Rosarium werden sollte. Große und kleine Geräte in Hochbetrieb verschlangen Rolf Jansens Rufen. Deshalb musste der junge Vorarbeiter herumspringen wie ein Hampelmann, als er versuchte, den Bagger anzuhalten. Endlich sah ihn der Baggerführer und brachte seine gefräßige Maschinerie zum Stehen.
»Was ist?«, schrie Rudi Richter aus der Führerkabine. »Ich muss bis zum Feierabend mit dem Ausheben des Teiches fertig werden.«
Jansen schüttelte energisch den Kopf. »Komm schnell runter. Guck dir das hier an.« Auf der Erde lag etwas, das aus der letzten Schaufelladung des Baggers herausgefallen war. Jansen bückte sich noch einmal darüber, um die Gegenstände näher zu betrachten. »Sieht fast aus wie … Gott, ja, es sind Knochen«, sagte er erschrocken.
»Gott bewahre uns! Sind wahrscheinlich Tote, die drüben aus dem Friedhof ausgebrochen sind«, knurrte Rudi.
»Oder Reste von Hunden und Katzen«, schlug Jansen vor.
»Ganz egal, ich muss heute fertig werden.« Der Baggerführer richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Wegen ein paar Knochen können wir den Zeitplan nicht durcheinanderschmeißen. Außerdem ist Knochenmehl gut für die Rosenzucht.«
Erneut schüttelte Jansen den Kopf. »Und wenn es keine Tierknochen sind?« Er kniete sich neben den Fund und scharrte in der Erde, in der die Knochen gelegen hatten. Sorgfältig lockerte der Vorarbeiter den Boden und brachte einen weiteren Knochen ans Tageslicht. Mit den Fingern entfernte er die lose Erde – und hielt Augenblicke später einen menschlichen Schädel in Händen. »Das war’s dann für heute, Rudi. Wenn es um menschliche Überreste geht, haben wir keine Wahl. Ich rufe die Kripo.«
*
Schweren Herzens trat Reinhardt durch die Tür in die Scheune und näherte sich seiner Frau, die die einzige Kuh melkte. Sie erhob sich. »Nur vier Gulden hab ich für die Sau bekommen, mein Schatz«, flüsterte er Ursula ins Ohr. »Schade, sie verkaufen zu müssen, aber das Geld bringt uns gewiss bis Rotterdam. Bis zur Abreise tauchen wir bei Onkel Heinrich in Acroftele unter, dann schauen wir weiter. Ursula nickte, aber ihre Miene verriet innere Unruhe. Sie lehnte sich fest an ihn und flüsterte: »Ich habe solche Angst. Ich will meine Familie nicht verlassen. Ich sehe sie nie wieder. Außerdem sind es nur ein paar Wochen, bis das Kind da ist.« Sie berührte ihren Bauch, der für eine so zierliche Frau sehr groß wirkte. »Ich werde nur ganz langsam laufen können.«
»Wenn wir nur eine Wahl hätten.« Reinhardt strich mit der Hand über die rotblonden Haare seiner Frau und küsste sie auf die Stirn. Dann nahm er ihren Kopf zärtlich zwischen seine kräftigen Hände, die schwere Arbeit auf dem Hof gewohnt waren, und schaute in ihre grünen Augen. »Heute Abend ziehen wir los. Wir nehmen den Esel deines Vaters mit, damit du nicht so leiden musst. Wir brauchen ihn mehr als er. Er hat ihn uns ohnehin angeboten.« Ursula kämpfte gegen die Tränen und wischte sie mit ihrer Schürze aus dem Gesicht. »Ja, ja, das Angebot müssen wir wohl annehmen. Wie weit ist es von Heffterich bis Acroftele?«
»Mein Vater schätzt, wir brauchen drei Nächte. Seinen Brief habe ich eingesteckt, damit Onkel Heinrich uns auch wirklich aufnimmt. Bei ihm sind wir halbwegs sicher, bis wir auf einen Kahn gehen. Hier um Idstein herum ist es für dich viel zu gefährlich.«
»Nur weil ich die Menschen mit Kräutern zu heilen weiß, soll ich vom Teufel besessen sein? Und muss meine Heimat verlassen?«
Reinhardts Brust schwoll an vor Wut, als er an die Konsequenzen dachte, die ihr Bleiben bedeuten könnte. »Schon morgen könnten die Büttel an die Tür klopfen, um dich abzuholen. An alles, was dann folgen würde, wage ich nicht zu denken.«
Ursula zitterte. »Die Emmi steckt dahinter. Sie hasst mich, weil ich dich gekriegt habe. Die pure Eifersucht hat sie getrieben, mich zu denunzieren. Sie tanzt mit dem Satan, nicht ich!«
»Ich schwöre dir, ich habe ihr nie was versprochen. Sie hat sich alles eingebildet. Jetzt hetzt sie gegen dich, gegen uns, mit üblem Gerede. Es sind böse Zeiten, wenn eine wie sie den Scharfrichter bestellen kann.«
*
Um den Fund näher anschauen zu können, ging Polizeikommissar Schilling vorsichtig in die Hocke. Schließlich wollte er vermeiden, seine schicke Hose zu verschmutzen. Er nahm den Schädel in die Hand. »Das ist kein Fall für die Kripo. Wenn dieser Mensch ermordet wurde, liegt das mehr als ein paar Jährchen zurück, wenn nicht gar Jahrhunderte. Sie haben den Fund pflichtgemäß gemeldet, Herr Jansen. Das war vorbildlich. Ich bestelle jetzt die Archäologen vom Denkmalamt. Sie müssen das Alter der Knochen feststellen. Es tut mir leid: Vorerst ist hier Baustopp. Rühren Sie nichts mehr an.«
*
Im Laternenlicht der Scheune hievte Reinhardt ein mit Essen und ihren wenigen Habseligkeiten gefülltes Bündel auf seinen Rücken und schnürte es fest um sich. Als er Ursula helfen wollte, ihre Taschen über den Esel zu hängen, winkte sie ab. »Wart einen Moment, ich will dir was zeigen«, sagte sie leise. Sie griff in ihre Umhängetasche und brachte zwei kleine Gegenstände hervor. »Schau. Von meiner Mutter fürs Kind. Diese Spielsachen sind schon lange in der Familie.« Sie hielt eine aus Ton gefertigte Rassel und ein kleines Glöckchen zur Laterne hoch.
»Kleine Andenken aus der Heimat.« Reinhardt lächelte gerührt. »Deine Eltern verstehen aber, dass sie niemandem etwas verraten dürfen?«
»Und ob sie das wissen. Seit der Enthauptung der Pfarrfrau Wicht erzählen sie niemandem mehr etwas.« Ursula fing still an zu weinen. »Sie werden unser Kind nie sehen. Ach, Reinhardt, würde es nicht reichen, wenn wir nach Frankfurt gingen?«
Ihr Mann umarmte sie fest. »Vermutlich ja, aber ich will lieber weit fort. Es muss in Holland, vielleicht erst in der Neuen Welt, Chancen für Arbeitswillige geben. Denken wir lieber nicht dran, dass das auch bedeutet, unsere Familien nie wiederzusehen. Lass uns keine Zeit mehr verlieren. Die Nacht ist kurz.«
Nach einem verregneten Frühjahr war die Mainacht kalt, aber wenigstens trocken. Dennoch war die Straße aufgeweicht und von den Rädern unzähliger Fuhrwerke zerfurcht. Ein Dreiviertelmond leuchtete den Weg, als Reinhardt den mit Frau und Gepäck beladenen Esel so leise wie nur möglich aus dem Dorf Heffterich hinausführte. Auch der Esel schien den Ernst der Lage zu erkennen, denn er folgte ihm brav und ruhig.
Nach den Feldern verschwand der Weg im Wald. Weil die Baumwipfel das Mondlicht verschluckten, zündete Reinhardt eine kleine Laterne an. Nun in der Abgeschiedenheit des Waldes riskierten die zwei, leise miteinander zu sprechen. »Wir sind wie Maria und Josef, sogar mit Esel« , sagte Ursula traurig. »Meinst du, sie würden mich verbrennen?« Sie fasste sich an den Hals und schluckte schwer. »Oder wie Frau Wicht nur enthaupten?«
»Dir passiert nichts, ich lasse es nicht zu. Und jetzt kein Wort mehr darüber.«
Wie eine sanfte Melodie wehte der Wind leicht durch die Bäume. Die Luft war klamm und roch nach verrottenden Blättern, nach dem Tod. Gelegentlich flatterten Fledermäuse über den Pfad, um gleich wieder in den Baumkronen zu entschwinden. Die Rufe der Eulen ließen Ursula seufzen, Melancholie machte ihre Glieder schwer. Entlang der Straße verlief der Silberbach, der von der Schneeschmelze und dem Frühlingsregen zum reißenden Strom angeschwollen war und Richtung Main stürzte.
Reinhardt blieb stehen und schaute über die Schulter zurück. Im schwachen Licht des Mondes war der Umriss des Kirchturms von Heffterich gerade noch zu erkennen. Sie würden das Dorf nie wiedersehen.
*
Zwei Tage nach dem Fund erschienen die Archäologen vom Landesdenkmalamt auf der Baustelle. Karl Zimmermann und sein junger Assistent Stephan Roth hörten Vorarbeiter Jansen schon von weitem schimpfen. »Das darf nicht zu lange dauern, hören Sie? Die Erdarbeiten sind im Verzug!«
Zimmermann stellte seinen Werkzeugkoffer ab. »Sie sind Herr Jansen? Ihnen auch einen guten Tag. Wissen Sie, es dauert so lange, wie es dauert.«
Jansen führte sie zur Fundstelle, wo die Bauarbeiter die Knochen leicht zugeschüttet hatten, um sie zu schützen. »Die Stelle ist natürlich von Baggern gestört worden. Na ja, wie kann es anders sein. Keiner hat vermutet, dass hier irgendwas anderes liegt als Erde. Schließlich soll der Teich achtzig Zentimeter tief werden.«
Zimmermann stöhnte. »Demnach ist bisher kein archäologisches Gutachten erstellt worden. Das kennen wir, da wird vorab gerne gespart.«
Mit Schippen entfernten er und sein Assistent vorsichtig die angehäufte Erde, bis die losen Knochen und der Schädel sichtbar wurden. Die Gebeine legten sie auf eine ausgebreitete Plane und fotografierten sie. Von nun an galt es, die Position jedes Skelettteils und jeden weiteren Fund mit Worten und in Bildern akribisch zu dokumentieren. In dem zweimal ein Meter großen Bereich, den der Bagger freigelegt hatte, gingen die beiden Männer auf die Knie und schabten mit Spitzkellen weiter, bis sie auf Widerstand stießen. Zimmermann seufzte leise. »Ja, jetzt kommt’s. Stephan, mach mal ganz langsam und ganz vorsichtig. Ich vermute, wir haben hier ein ganzes Skelett.«
»Mehr als das, Chef. Hier ist ein zweiter Schädel.«
*
Die Flucht durch die Nacht war bedingt durch das hügelige Gelände äußerst mühsam. Jedes Geräusch, ganz gleich ob ein Reh im Wald oder ein Fuchs im Gebüsch, brachte Ursulas Herz zum Rasen. Dennoch versuchte sie tapfer vor Reinhardt zu verbergen, wie sehr sie sich fürchtete. Er war ihr Held, ihr Retter. Für sie verließ er Haus und Hof. Für ihn hatte sie mutig zu sein – auch wenn sie sich keineswegs so fühlte.
Der Hexerei bezichtigt, auf der Flucht und zu allem Überfluss hochschwanger. Ohne Reinhardt hätte sie sich ihre Adern aufgeschlitzt und sich in den kalten flachen Kilbach gelegt. Die Angst trieb sie nun vorwärts, nicht nur das Bangen um die eigene Person, sondern auch um das unschuldige Kind, das sie unter ihrem Herzen trug. Sollte die Flucht scheitern, wäre Reinhardt ebenso zum Tode verdammt wie sie.
»Reinhardt, ich friere. Ich will ein Stück zu Fuß gehen.«
Ihr Mann nickte und half ihr, vom Esel zu steigen. Zitternd vor Kälte und Angst wickelte sie ihr Gewand enger um sich und lief neben ihm her.
»Bergauf laufen wärmt dich schnell auf, und der Esel wird sich über die Erleichterung auch freuen.«
Trotz ihrer Furcht antworte Ursula mit nervösem Kichern. »Ja, ich bin doch zurzeit eine schwere Last.«
»Bald bist du wieder beweglicher. Und wir sind über alle Berge, in Sicherheit. Eilheldin liegt bereits hinter uns; jetzt ist es nicht mehr weit bis Vockenhausen. Kurz davor verlassen wir die Straße und tauchen in den Wald ein. Dort suchen wir uns einen kuscheligen und sicheren Platz bis zum Abend. Es scheint, dass wir ungesehen aus Heffterich entkommen sind. Noch ist keiner hinter uns her. Hoffentlich bleiben wir weiterhin unsichtbar.«
»Wie weit ist es bis zum Main hinunter?« fragte seine Frau.
Reinhardt kratzte sich am Kinn. »Ich schätze, wir brauchen schon die nächsten zwei Nächte, um es zu schaffen.«
Ursula seufzte schwermütig. »Ich bin noch nie so weit von Heffterich fort gewesen.« Nichts mehr wird, wie es mal war, dachte sie und rieb mit beiden Händen über ihren Bauch. »Das Kind ist zappelig. Es dreht sich wild hin und her und tritt immer wieder auf meine Blase.«
Reinhardt lachte auf. »Ein gesunder Kerl wird das. Ist bestimmt ein Junge, der mir auf dem Hof helfen wird.«
Ursula rollte die Augen. »Ein Mädchen kann genauso gesund und lebhaft sein! Und nützlich!« Das Laufen brachte Ursula ins Schwitzen; sie ließ ihr Gewand locker hängen. Ihre Atmung wurde schneller und flacher, denn das Kind drückte ihr auf die Lungen.
Kurze Zeit später hielt Reinhardt an und zeigte auf einen Trampelpfad. »Schau, da vorne ist Vockenhausen. Es dämmert.« Er horchte auf. «Ich höre Pferde! Nehmen wir schnell diesen Weg in den Wald.«
*
Karl Zimmermann und Stephan Roth arbeiteten hoch konzentriert, um die einzelnen Knochen freizulegen, ohne sie aus ihrer ursprünglichen Lage zu entfernen. Es waren nicht wenige.
»Chef, könnte es ein Massengrab sein?«
Zimmermann zuckte die Achseln. »Das wird sich zeigen. Vielleicht war hier früher ein kleiner Friedhof. Es ist auch möglich, dass bei einer der Pestepidemien Opfer begraben wurden. Oder es sind im Krieg Gefallene. Davon haben wir genug gehabt. Wenn wir die Skelette registriert haben, nehmen wir sie heraus, dann können wir tiefer gehen und den Graben in der Weite ausdehnen. Da keine Textilien dabei sind, dürften die Knochen ziemlich alt sein. Aber sie kommen zur Datierung. Erst dann wissen wir Verbindliches.«
Nach circa zwei Stunden hatten sie zwei Skelette ausgegraben; mit den schon gefundenen Knochen waren sie komplett bis auf die Finger- und Zehenknochen, die schneller verwesten als der Rest des Skeletts. Zimmermann drehte seinen Kopf hin und her, um die Lage der Leichen genauer zu studieren. Die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer.
»Das ist gar keine Bestattung im eigentlichen Sinne«, stellte er fest. »Die beiden klammern sich aneinander. Wie in einer verzweifelten Umarmung. Als ob sie in eine Notlage geraten wären.«
Er rief Jansen zu: »Kommen Sie mal her. Wissen Sie zufällig irgendetwas über das Gelände, historisch, meine ich?«
Jansen zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Rein gar nichts. Ich weiß nur, wie es ausgesehen hat, als wir anfingen. Es war Acker.«
Der Baggerführer Rudi Richter kam herübergeschlendert. »Wollte mal vorbeischauen und gucken, wann es weitergeht. Hab Ihre Frage eben gehört, Herr Zimmermann. Ich weiß keine Details, aber ich bin von hier, und früher war ganz Okriftel eine Auenlandschaft. Bei Hochwasser des Mains war weit und breit Land unter. Selbst jetzt noch saufen bei hohem Wasserpegel viele Keller im Ort ab. Die Feuerwehr muss zum Auspumpen kommen. Wo die zwei lagen, war früher Wasser.«
*
Reinhardt und Ursula rasteten weit abseits der Straße in einem Waldstück. Die Bäume dienten ihnen als einziger Schutz vor dem einsetzenden Nieselregen. Von der Straße her vernahmen sie ab und an Geräusche von Pferden, die vorbeitrabten und Fuhrwerke hinter sich herzogen. Reinhardt gönnte sich wenig Schlaf und sah zu, wie Ursula erschöpft einschlief, sobald sie sich hingelegt hatte. Später am Tag aßen sie Brot und Wurst und tranken Wasser. Als die Nacht zurückkehrte, sammelten sie ihre feuchten Sachen zusammen und bereiteten sich auf die nächste Etappe vor, liefen aber erst los, als alle Lichter in Vockenhausen erloschen waren.
Ganz gleich, durch welches Dorf sie kamen, in keinem wurde Wache gehalten, aber jedes Haus war verschlossen und verrammelt. Seit dem Ende des Krieges, der dreißig Jahre lang getobt hatte, wurde das Land nur zaghaft befriedet. Auch im Jahre 1676 gingen nachts keine anständigen Leute freiwillig vor die Tür, nicht einmal, um auf der Gasse nachzuschauen, warum der Hofhund bellte. Für Reinhardt und Ursula war das ein unerwarteter Segen. Der Esel aber erschreckte und schnaubte laut, Reinhardt hielt ihn an den Zügeln fest und führte ihn weiter.
Kurz darauf war das Paar in Epstein, das schon mehr Häuser und Höfe vorzuweisen hatte. Hoch auf dem Felsen zeichnete sich die Burg als schwarze Kontur gegen den Nachthimmel ab. Die Flüchtlinge zogen wortlos vorbei und weiter entlang der finsteren Straße, bis sie wieder zwischen Feld und Wald entlangliefen, ins enge Lorspachtal hinein.
»Heute Nacht will ich mindestens bis Hobheim kommen, vielleicht auch bis Cruftel«, sagte Reinhardt. »Dann ist das Schlimmste vorbei.« Kaum hatte er das gesagt, hörten sie hinter sich das dumpfe Donnern von Pferdehufen, das sich stetig näherte. Reinhardt riss den Esel an den Zügeln und zog ihn von der Straße fort, um auf einem schmalen Weg in einem Eichenhain Schutz zu suchen. Aus der Deckung sahen sie zu, wie zwei Reiter ihre Pferde voranpeitschten.
Ursula stieg vom Esel ab und klammerte sich an Reinhardt. »Meinst du, sie sind hinter uns her?« Reinhardt schwieg, antwortete nur mit Achselzucken.
*
Karl Zimmermann suchte Rat bei der Stadt Hattersheim und wurde fündig. Im Archiv fand er alte Landkarten. Im siebzehnten Jahrhundert verlief ein alter Mainarm tatsächlich auf dem Gelände, auf dem jetzt das Rosarium entstehen sollte. Im Laufe der Zeit hatte sich der Main jedoch nach Süden verlagert. Erst im späten neunzehnten Jahrhundert hatte man den Fluss in sein modernes Bett gebannt, was schließlich zum endgültigen Austrocknen des alten Mainarms geführt hatte.
Zimmermann kehrte zur Baustelle zurück, wo in der Zwischenzeit Stephan weitergegraben hatte. Als der Kollege nach und nach die einzelnen Knochen der Skelette aus der Erde entfernt hatte, um sie für die Datierung einzupacken, stieß er auf Aufregendes. »Chef, schau mal! Ich hab was!«, rief er. Er strahlte und streckte dem Kollegen seine offene Hand entgegen: Darin lagen vier Münzen, die Stephan schon so gut wie möglich gereinigt hatte. »Ich glaube, es steht 1670 drauf«, sagte er. »Sie lagen unter dem größeren Skelett.«
Zimmermans Augen wurden weit. »Wow!« Er klopfte Stephan auf den Rücken. »Gut gemacht, Junge! Das macht uns die Datierung ein gutes Stück leichter.«
»Aber es gibt noch was. Das hier habe ich beim kleineren Skelett gefunden.« Stephan hielt eine Tonrassel und eine stark verrostete Schelle hoch.
Zimmermann schielte auf die Teile. »Wenn ich mich nicht täusche, sind das Kinderspielsachen.«
Stephan zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Kinderknochen gefunden, nur die von zwei Erwachsenen.«
Zimmermann überlegte einen Moment. »Wenn es sich um ein Kleinkind – oder gar einen Säugling – handelt, können wir keine Knochen mehr erwarten. Sie hätten noch hauptsächlich aus Knorpel bestanden und sich schon längst aufgelöst.«
Stephan schaute traurig auf seine Funde. »Meinst du, dass ein Baby dabei war?«
Zimmermann nickte. »Das eine Skelett deutet auf einen kräftigen Mann, das andere ist von einer zierlichen Person, vermutlich weiblich. Theoretisch könnte ein Baby dabei gewesen sein.«
*
Als die Reiter verschwunden waren, wagten es Reinhardt und Ursula, zurück auf die Straße zu gehen. Sie schafften es, unentdeckt durch Hobheim zu laufen und an Cruftel vorbei. Kurz vor Sonnenaufgang zogen sie sich wieder erschöpft in den Wald zurück. Der Nieselregen hatte endlich aufgehört und die Sonne schien zögerlich durch die Wolkendecke. In einer Lichtung legten sie sich zur Ruhe in der Hoffnung, dass sie und ihr Gepäck im Laufe des Tages trocknen würden. Gegen Mittag gab es das letzte Brot.
Ursula sah ihren Mann hoffnungsvoll an. »Nicht mehr so weit, gell?«
Reinhardt nickte erleichtert. »Wenn diese Reiter Büttel waren, die uns hinterher sind, haben sie Pech gehabt.«
Es würde noch Stunden dauern, bis die Dunkelheit sie wieder unsichtbar machen würde, und Ursula legte sich zum Ausruhen hin. »Liebster, du kennst doch die schöne Kletterrose meiner Frau Mutter, die neben der Haustür? Die blüht im Juni so üppig. Die dicken rosaroten Blumen liebe ich so sehr. Und wie sie duften!« Sie seufzte. »Wir verpassen sie in diesem Jahr. Und für immer.«
»Anderswo wachsen auch Rosen, auch für uns, davon bin ich überzeugt.«
»Versprichst du mir, Reinhardt, dass wir auch Rosen ums Haus setzen können, egal wo wir am Ende bleiben?«
Die Sehnsucht in ihren Augen hätte ihn alles schwören lassen. »Oh ja. Ich verspreche es dir, du wirst so viele Rosen haben, wie du möchtest. Ich pflanze sie höchstpersönlich!«
Nunmehr beruhigt lächelte Ursula ihn an und küsste ihn auf die Wange. »Ich liebe dich, weißt du das? Ich liebe dich mit meinem ganzen Herzen und Körper. Und ich gehe mit dir, wohin du es für richtig hältst. Auch in die Neue Welt.« Sie überlegte kurz. »Und wenn es sein muss, in den Tod.«
*
Zimmermann erzählte Stephan und Jansen, was er beim Archiv Hattersheim erfahren hatte.
Jansen kratzte sich am Kopf. »Der Main verlief genau, wo wir jetzt bauen?«
Zimmermann nickte. »Die Landkarte aus dem siebzehnten Jahrhundert legt das nahe.«
Stephan schniefte und schaute betroffen auf die Skelette hinunter. »Also sind sie ertrunken?«
»Das ist zu vermuten. Das heißt, wir können viele Fragen stellen, uns vieles ausdenken. Zuallererst, wie sie in den Fluss gefallen sind. Aber Antworten werden wir nie finden. Ihre Geschichte ist verloren. Hier stößt die Archäologie an ihre Grenzen.«
*
In der folgenden Nacht erreichten sie binnen kurzem Heyderßheim. Das Ziel war im Visier: Acroftele. Die beiden jubelten. Obwohl die Nacht stockdunkel war, führte Reinhardt den Esel selbstbewusst und siegessicher durchs Dorf. Aber Ursula spürte schon die ganze Nacht, dass bei ihr etwas nicht in Ordnung war. Kam es vom Reiten, dass ihr Rücken so wehtat und dass es im Unterleib angefangen hatte zu ziehen? Auf der Straße zwischen Heyderßheim und Acroftele verschlechterten sich die Reisebedingungen drastisch, der Weg wurde matschig. Dem Esel gefiel es nicht, durch den Schlamm zu stapfen, und er sträubte sich, vorwärts zu gehen. »Reinhardt, Liebster, wir müssen anhalten. Mir ist nicht gut.«
»Das können wir hier schlecht. Aber wir sind gleich da. Nur noch ein paar hundert Meter bis zum Haus des Onkels, ich verspreche dir ...«
Weiter kam er nicht, denn Laternenlicht lenkte ihn ab und sie hörten, wie Pferde sich mühsam durch den Schlamm arbeiteten. »Psst! Ruhig. Da kommt jemand«, flüsterte Reinhardt.
»Es hilft nichts, ich muss sofort runter. Das Kind kommt. Es ist so dunkel. Ich sehe nichts. Was ist das für ein Rauschen?«
Getragen von zwei Reitern näherte sich das Licht. »Halt!«, riefen grobe Stimmen. »Sofort anhalten!«
Ursula erstarrte vor Angst. »Das sind die Büttel!« Sie ließ sich vom Esel gleiten, verlor aber das Gleichgewicht. Mit einem Schrei rutschte sie einen Hang hinunter.
Reinhardt versuchte, sie zu packen, griff aber ins Leere. Durch die vorgebeugte Haltung verlor auch er den Halt und schlidderte ihr hinterher, direkt auf einen Sumpf zu. Die Reiter stiegen ab und hielten die Laternen hoch, um nach den Flüchtigen zu suchen.
Reinhardt zog Ursula mit sich. »Wir müssen weg! Vorsicht, der Bach hat Hochwasser.« Er warf noch einen Blick über die Schulter und konnte erkennen, wie die Männer ihrer Notlage tatenlos zusahen. Einer stemmte sogar die Hände in die Hüften, um Balance halten zu können, als er sich vorbeugte.
Das war das Letzte, was Reinhardt sah, dann brach der feuchte Boden unter ihnen weg und Ursula und er fielen in den reißenden Fluss. Ihre Wollgewänder sogen sich in Sekundenschnelle mit Wasser voll. Schwimmen konnten sie nicht, die Macht des Flusses ließ ihnen ohnehin keine Chance.
Die Büttel lachten auf, als wäre es ein großer Spaß, dem Paar beim Ertrinken zuzusehen. Als nichts von den Flüchtlingen mehr zu sehen war, hallte ihr boshaftes Gelächter durch die Nacht bis zum Haus des Onkels.
»Eine Hexe auf die Art umzubringen ist gar nicht so schwer! Jetzt haben wir den Esel als Beweis, dass wir sie gekriegt haben. Schön, dass diese Emmi uns verraten hat, dass die zwei mit ihm losgezogen sind«, sagte der Dunkelhaarige. »Das hat uns die Mühe erspart, die Eltern zu foltern.«
Der Blonde nickte vergnügt. »Der Esel ist eine wertvolle Beute. Aber Hannes, heißt es nicht, wenn eine Hexe ertrinkt, dass sie gar keine sei? Dass sie unschuldig war?«
»Schuldig – unschuldig? Das ist mir egal! Hauptsache, wir werden bezahlt! Und haben den Esel dazu.«
*
Stephan stöhnte und schaute mitleidig auf die Gebeine. »Ich fände es gut, wenn die beiden hier im neuen Park bleiben könnten. Man könnte sie unter einem Rosenbeet bestatten. Dann hätten sie immer Blumen auf dem Grab.«
»Das fände ich auch gut«, sagte Zimmermann sichtlich bewegt. Dann räusperte er sich. »Aber allzu sentimental sollten wir nicht werden über Menschen, die vor dreihundert Jahren gestorben sind.«
Trotzdem schlug er eben diese Art der Bestattung der Stadt Hattersheim vor – und das zuständige Amt war von der Idee entzückt. Nach der Auswertung der Funde, die eine Datierung für das späte siebzehnte Jahrhundert bestätigte, wurden die sterblichen Überreste der Liebenden tief unter einem Rosenbeet des neu geschaffenen Rosariums zur ewigen Ruhe gebettet.
Das Rosarium mit seinen ca. 6.500 Rosensträuchern erinnert als lebendes Denkmal an den früheren Rosenanbau in dieser Gegend. Den Höhepunkt der Blüte und Farbenpracht genießt der Besucher im Juni und Juli. Das Rosarium ist durchgehend geöffnet und eintrittsfrei. Das Mitführen von Hunden ist nicht erlaubt.
Anfahrt
mit öffentlichen Verkehrsmitteln:
Die Anfahrt mit der S1 aus Frankfurt oder Wiesbaden ist möglich. Ausstieg Bahnhof Hattersheim, von dort aus weiter mit der Buslinie 833 zum Friedhof Okriftel.
mit dem PKW:
Das Rosarium liegt an der Verbindungsstraße zwischen Hattersheim und Okriftel (L 3011) in Höhe der Wasserwerkallee. Der 1997 angelegte Rosenpark gehört zum Regionalparkweg.
Parkplätze sind am Friedhof Okriftel vorhanden.