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www.lenos.ch

Kaouther Adimi

Was uns kostbar ist

Roman

Aus dem Französischen
von Hilde Fieguth

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Die Übersetzerin

Hilde Fieguth, geboren 1944 in Schwabach, lebt seit 1983 in Freiburg i. Ü. Langjährige Beschäftigung mit meist literaturbezogener Malerei. Seit 2000 freie Literaturübersetzerin; sie hat vor allem Werke von S. Corinna Bille und, zusammen mit Rolf Fieguth, von Maurice Chappaz und Nicolas Bouvier ins Deutsche übertragen; für den Lenos Verlag übersetzte sie zudem Jean-François Haas, Mahi Binebine und AJAR.

Die Autorin

Kaouther Adimi, geboren 1986 in Algier, lebt und arbeitet seit 2009 in Paris. Sie veröffentlichte bisher drei Bücher, die zahlreiche Preise erhielten. Nach Des ballerines de papicha und Des pierres dans ma poche (dt. Steine in meiner Hand, Lenos 2017) war ihr dritter Roman Nos richesses 2017 für den Prix Goncourt nominiert und wurde mit dem Prix Renaudot des lycéens und dem Prix du Style ausgezeichnet.

Titel der französischen Originalausgabe:

Nos richesses

Copyright © 2017 by Editions du Seuil

E-Book-Ausgabe 2018

Copyright © der deutschen Übersetzung

2018 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Neeser & Müller, Basel

eISBN 978 3 85787 966 1

El Biar

ich renne zum Hafen hinab

auf dem Chemin du Télemly

der in der Sonne loht.

Die Rue Charras riecht nach Anisette.

Ich blättere in einem Buch

in den Vraies Richesses.

Frédéric Jacques Temple,
Paysages lointains

Der Tag wird kommen, da werden selbst die Steine zum Himmel schreien ob des masslosen Unrechts, das den Menschen dieses Landes angetan wurde …

Jean Sénac,
Lettre d’un jeune poète algérien
à tous ses frères

Für die Menschen der Rue Hamani

Inhalt

Algier, 2017

Kapitel 1

Algerien, 1930

Aufzeichnungen von Edmond Charlot Algier, 1935–1936

Kapitel 2

Algier, 1939

Aufzeichnungen von Edmond Charlot Algier, 1937–1939

Kapitel 3

Deutschland, 1940

Aufzeichnungen von Edmond Charlot Algier, 1940–1944

Kapitel 4

Sétif, Mai 1945

Aufzeichnungen von Edmond Charlot Paris, 1945–1949

Kapitel 5

Algerien, 1954

Aufzeichnungen von Edmond Charlot Algier, 1959–1960

Kapitel 6

Paris, 1961

Aufzeichnungen von Edmond Charlot Algier, 1961

Algier, 2017

Quellen

Dank

Im Buch erwähnte Autoren, Verleger, Künstler und Werke

Algier, 2017

In Algier angekommen, nehmen Sie eines der steilen Strässchen, zuerst bergauf, dann bergab. Bald stossen Sie auf die Rue Didouche-Mourad, über die zahlreiche Gassen führen wie hundert Geschichten, unweit einer Brücke, die Selbstmördern und Liebenden gehört.

Nun weiter hinuntergehen, weg von den Cafés und Bistros, Kleidergeschäften, Gemüsemärkten, schnell, ohne Halt weiter, nach links abbiegen, dem alten Blumenhändler zulächeln, sich einen Moment an eine hundertjährige Palme lehnen und nicht dem Polizisten glauben, dass das verboten sei, mit einer Kinderschar einem Distelfinken nachjagen und auf die Place de l’Emir-Abdelkader stossen. Dabei verpassen Sie vielleicht die Milk Bar, so schlecht sind am hellen Tag die Buchstaben auf der frisch renovierten Fassade zu sehen: das fast weisse Blau des Himmels und die blendende Sonne verwischen sie. Sie werden Kinder beobachten, die auf den Sockel des Abdelkader-Denkmals klettern, übers ganze Gesicht strahlen und für ihre Eltern posieren, die dann die Fotos eilends in den sozialen Netzwerken posten. Ein Mann steht in einer Tür und liest rauchend eine Zeitung. Man muss ihn grüssen und ein paar Worte der Höflichkeit mit ihm wechseln, ehe man weitergeht, dabei aber nicht vergessen, zur Seite zu schauen: das silbern glitzernde Meer, das Möwengeschrei, das ewige, fast weisse Blau. Sie müssen dem Himmel nachgehen, die Häuser im Haussmann-Stil vergessen und das Aéro-Habitat, den Betonhäuserblock über der Stadt, hinter sich lassen.

Sie werden allein sein, denn man muss allein sein, wenn man sich verlieren und alles sehen will. Es gibt Städte, und diese hier gehört dazu, wo jede Begleitung eine Last ist. Hier lässt man sich treiben, wie es einem beliebt, die Hände in den Taschen und mit pochendem Herzen.

Sie steigen die Strassen hinauf, stossen schwere, nie verschlossene Holztüren auf, streicheln die Löcher in den Mauern, die von den Schüssen auf Gewerkschafter, Künstler, Soldaten, Lehrer, Anonyme, Kinder geblieben sind. Seit Jahrhunderten geht die Sonne über Algiers Terrassen auf, und seit Jahrhunderten morden wir auf diesen Terrassen.

Nehmen Sie sich die Zeit, und setzen Sie sich auf eine Treppenstufe in der Kasbah. Hören Sie den jungen Banjospielern zu, erahnen Sie die alten Frauen hinter den geschlossenen Fenstern, beobachten Sie die Kinder, die mit einer Katze spielen, der man den Schwanz kupiert hat. Und das Blau über den Köpfen und zu Ihren Füssen, das Himmelsblau, das in das Meeresblau gleitet und wie ein Ölteppich ins Endlose geht. Das Blau, das wir nicht mehr sehen, trotz der Dichter, die uns einreden wollen, Himmel und Meer seien eine ganze Palette von Farben und könnten sich jederzeit mit Rosa, Gelb, Schwarz schmücken.

Vergessen Sie, dass die Wege rotgetränkt sind, dass dieses Rot nicht abgewaschen wurde und dass mit jedem Tag unsere Schritte etwas tiefer einsinken. In der Morgendämmerung, wenn die Verkehrsadern der Stadt noch nicht von den Autos erobert sind, können wir in der Ferne die Bombeneinschläge hören.

Aber Sie werden bestimmt die sonnenbeschienenen Gassen wählen, nicht wahr? Dann kommen Sie endlich in der Rue Hamani an, früher Rue Charras. Sie suchen die 2bis und haben Mühe, sie zu finden, denn einige Hausnummern fehlen. Da stehen Sie dann vor einem Schaufenster, auf dem der Satz geschrieben ist: Ein Mensch, der liest, ist doppelt wert. Sie stehen vor der Geschichte, der grossen, die die Welt bewegt hat, aber auch der kleinen, der Geschichte eines Mannes, Edmond Charlot, der 1936 im Alter von einundzwanzig Jahren die Leihbuchhandlung Les Vraies Richesses1 eröffnete.

1 Deutsch: Die Wahren Schätze. (alle Anmerkungen von der Übersetzerin)

1

Am Morgen des letzten Tages. Die Nacht hat sich beunruhigt zurückgezogen. Die Luft ist dicker, die Sonne grauer, die Stadt hässlicher. Am Himmel hängen schwere Wolken. Die Katzen liegen auf der Lauer, mit aufgerichteten Ohren. Der Morgen eines letzten Tages ist immer wie ein Tag der Schmach. Die weniger Mutigen unter uns gehen schnell weiter, tun so, als verstünden sie nichts. Eltern ziehen ihre Sprösslinge, die neugierig stehen bleiben wollen, am Arm fort.

Zuerst war es sehr ruhig in der Rue Hamani, früher Rue Charras. Eine solche Stille ist selten in einer Stadt wie Algier, die immer aufgeregt und laut ist, immer dabei, zu vibrieren, sich zu beklagen, zu seufzen. Aber dann war es vorbei mit der Ruhe, als nämlich Männer das Gitter vor dem Schaufenster der Buchhandlung Les Vraies Richesses herunterliessen. Ach ja, seit den 1990er Jahren ist es ja gar keine Buchhandlung mehr, damals hat sie der algerische Staat von Madame Charlot, der Schwägerin des ehemaligen Besitzers, übernommen. Es ist jetzt einfach eine Aussenstelle der Nationalbibliothek Algier. Ein Ort ohne Namen, vor dem selten einmal ein Passant stehen bleibt. Wir nennen ihn trotzdem weiterhin die Buchhandlung Les Vraies Richesses, wie wir auch lange Zeit Rue Charras statt Rue Hamani gesagt haben. Wir sind die Bewohner dieser Stadt, und unser Gedächtnis ist die Summe unserer Geschichten.

Achtzig Jahre lang hat sie standgehalten!, schreibt ein eifriger junger Journalist, der herbeigeeilt war, in ein Notizbuch mit schwarzem Umschlag. Er hat Augen wie ein Marder, denken wir, und das gefällt uns gar nicht. Diese Buchhandlung verdient Besseres als diesen jungen Mann, dem der Karrierist ins Gesicht geschrieben steht. Kaum Menschen, trister Himmel, triste Stadt, tristes Eisengitter vor den Büchern, schreibt er in sein Heft, dann besinnt er sich anders und streicht triste Stadt aus. Beim Nachdenken legt sich sein Gesicht in fast schmerzliche Falten. Er ist Anfänger. Sein Vater, Besitzer eines grossen Kunststoffunternehmens, war mit dem Chefredakteur handelseinig geworden: die Einstellung seines Sohnes gegen den Kauf von Werbebeilagen. Von unseren Fenstern aus beobachten wir den etwas unbeholfenen Journalisten. Eingeklemmt zwischen eine Pizzeria und einen Lebensmittelladen befindet sich die ehemalige Buchhandlung Les Vraies Richesses, in der einmal berühmte Schriftsteller verkehrten. Er kaut auf seinem Kugelschreiber, kritzelt auf dem Rand herum. (Camus, ja, aber wer sind die anderen, deren Fotos in der Buchhandlung mit Reissnägeln an die Wand geheftet sind? Edmond Charlot, Jean Sénac, Jules Roy, Jean Amrouche, Himoud Brahimi, Max-Pol Fouchet, Sauveur Galliéro, Emmanuel Roblès … Keine Ahnung. Recherchieren.) Aussen hat jemand auf die kleine Stufe, wo der junge Albert Camus Manuskripte zu korrigieren pflegte, eine Topfpflanze gestellt. Niemand denkt daran, sie wegzunehmen. Letzte Überlebende (oder letzte Zeugin?). Diese Buchhandlung/Bibliothek wurde bestens instand gehalten: Ihre schöne Schaufensterfassade funkelt wie tausend Lichter (nachschauen, ob funkelt wie tausend Lichter ein Klischee ist). Er macht einen Punkt und fängt eine neue Zeile an: Das Kulturministerium weigerte sich, unsere Fragen zu beantworten. Warum eine Stadtbibliothek einem privaten Käufer überlassen? Es stört also wohl niemanden, dass wir nicht mehr lesen, uns nicht mehr bilden können? Ein Mensch, der liest, ist doppelt wert. Das steht, französisch und arabisch, an der Schaufensterscheibe der Buchhandlung, das heisst, ein Mensch, der nicht liest, hat keinen Wert. Er streicht den letzten Satz aus und fährt fort: In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise hält es der Staat für richtig, solche Orte an den Meistbietenden zu verkaufen. Seit Jahren verschwendet er das Ölgeld, und jetzt auf einmal schreien die Minister: »Es ist Krise«, »wir haben keine Wahl«, »das ist nicht schlimm, das Volk braucht Brot, keine Bücher, verkaufen wir die Bibliotheken und Buchhandlungen«. Der Staat verschleudert die Kultur, um an jeder Strassenecke eine Moschee zu bauen! Es gab einmal eine Zeit, in der Bücher so wertvoll waren, dass wir sie respektvoll betrachteten, sie unseren Kindern versprachen, sie geliebten Menschen schenkten!

Zufrieden mit seinem Entwurf, zieht er ab, der Journalist, das schwarze Heft in der Hand, den Kugelschreiber in der Tasche, ohne einen Blick für Abdallah übrig zu haben, in Les Vraies Richesses verantwortlich für die Ausleihe, den wir den Buchhändler nennen. Allein steht er auf dem Trottoir der Rue Charras. Mit seinen fast zwei Metern ist er immer noch eindrucksvoll, auch wenn er sich auf seinen hölzernen Stock stützen muss. Er trägt ein blaues Hemd und eine graue Hose. Über die Schultern hat er ein weisses Tuch aus fester ägyptischer Baumwolle gelegt, es ist sauber, wenn auch ein wenig vergilbt. Das Gesicht des Mannes ist voller Falten, bleich, sein Mund schön gezeichnet. Er sagt nichts. Mit seinen grossen, eindringlichen schwarzen Augen starrt er nur unentwegt auf das grosse Schaufenster. Er ist wortkarg, Abdallah, ein stolzer Mann, der in der Kabylei gross geworden ist, zu einer Zeit und in einem Land, wo man nicht über Gefühle sprach. Wenn sich der Journalist jedoch die Zeit für ein Gespräch genommen hätte, dann hätte ihm der alte Mann vielleicht in ernstem, ruhigem Ton erzählt, was dieser Ort für ihn bedeutet und weswegen ihm heute das Herz gebrochen ist. Nein, den Ausdruck »gebrochenes Herz« hätte er nicht gewählt, er hätte andere, von Wut gefärbte Worte verwendet und dabei sein weisses Tuch eng um sich gezogen, das er immer bei sich hat. Aber der Journalist ist längst weg. Er pfeift in seinem Büro vor sich hin und haut wild in die Tasten. Er merkt nicht, dass sein Gepfeife den Kollegen auf die Nerven geht und sie sich vielsagende Blicke zuwerfen.

Rue Hamani, früher Rue Charras, das graue Licht der Wintersonne dringt kaum in die Strasse. Die Händler lassen sich Zeit beim Öffnen ihrer Läden, nichts eilt. Wäschegeschäft, Lebensmittelladen, Restaurant, Fleischerei, Friseursalon, Pizzeria, Café … Wir nicken Abdallah zu oder tippen ihm leicht auf den Arm. Wir wissen, wie ihm zumute ist. Wer hat hier nicht schon einen letzten Tag erlebt? Kinder überqueren die Strasse ohne Respekt vor den frisch gestrichenen Fussgängerstreifen, sie kümmern sich nicht um die hupenden Fahrer der dicken französischen, deutschen, japanischen Autos – ein internationales Defilee. Die Gymnasiasten tragen Rucksäcke, die von ihren Kameraden getaggt wurden; sie rauchen, flirten. Die kleinen Jungen haben hochgeschlossene blaue Hemden an, und die kleinen Mädchen tragen rosa Schürzen. Sie schreien, streiten sich, lachen, tuscheln. Ein Schüler rempelt Abdallah an, murmelt Entschuldigungen und reckt dabei den Kopf in die Höhe, um diesem grossen Mann ins Gesicht sehen zu können, dann rennt er zu seiner älteren Schwester, und die herrscht ihn an, los, los, sonst gibt es Haue. »Rotznasen, dreckige«, keift eine Frau mit dickem Kopf, die Haare hat sie auf die Schnelle im Nacken zusammengebunden. Ausgerüstet mit Besen und einem Eimer Schmutzwasser, das nach Chemie riecht, schrubbt sie das Trottoir. Ein Junge zeigt ihr den Stinkefinger. »Na warte!«, und schwupp, kippt sie ihren Eimer mit dem schmutzigen Wasser auf ihn. Er versucht auszuweichen, aber seine beige Leinenhose ist unten trotzdem vollgespritzt. Er schreit und droht: »Das sage ich meiner Mutter!«, und rennt Richtung Schule davon. Die Strasse ist jetzt wieder ruhig, seltsam dunkel. Die Händler schauen sorgenvoll zum Himmel. Wir sind es nicht gewöhnt, dass die Sonne nicht scheint. »Der Winter wird hart, er wird viele Hungerleider mit sich bringen«, sagt Moussa, der Chef der Pizzeria neben Les Vraies Richesses. Er ist im ganzen Quartier für seine Grosszügigkeit bekannt und für das Muttermal im Gesicht, das wie der afrikanische Kontinent aussieht.

Abdallah, auf seinen Stock gestützt, denkt, dass dies der erste Morgen seit zwanzig Jahren ist, an dem Moussa nicht mit einem schwarzen Kaffee zu ihm kommen wird. Abdallah hatte ihm immer verboten, Les Vraies Richesses mit einem Getränk zu betreten, entsetzt von der blossen Vorstellung, er könnte Flecken auf die Bücher machen. Er weiss, dass gegen Abend ein kleines Mädchen mit seiner Mutter kommen wird, um sich Bücher für die Woche auszuleihen. Mit rosa Rock, weissem Jäckchen, Lackschuhen und einem Rattenschwänzchen auf der Seite. Sie wird vor verschlossener Tür stehen.

In der Zeit davor konnten wir durch die blitzblanke Scheibe hindurch Abdallah zusehen, wie er geschäftig hin und her eilte und gegen rote Ameisen kämpfte. Manchmal warteten junge Burschen aus dem Quartier, bis er ihnen den Rücken zukehrte, dann klauten sie Bücher und brachten seine Ordnung durcheinander. Er liess sie gewähren und erklärte Moussa schulterzuckend: »Na und? Wenn sie auf diese Weise lesen, die Bürschchen …« Sein Freund wusste, dass die jungen Leute die Bücher auf einem Markt in der Nähe weiterverkauften, aber das wollte er Abdallah lieber nicht sagen.

Wir im Quartier mögen den einzelgängerischen alten Mann. Was können wir über ihn erzählen? Wir wissen nicht, wie alt er ist. Er weiss es selbst nicht. Ein mutmasslich Geborener. Als Abdallah auf die Welt kam, arbeitete sein Vater in einer Fabrik im Norden Frankreichs. Niemand meldete seine Geburt an. Seither schleppt der Buchhändler seine Papiere mit diesem »mutmasslich geboren am« statt eines Geburtsdatums mit sich herum. Sein Alter errät man an dem Stock, an seinen Händen, die mehr als früher zittern, an der Art, einem das Ohr hinzuhalten, an seiner Stimme, die lauter geworden ist.

Seine Frau ist im schwarzen Jahrzehnt1 gestorben, kurz vor Abdallahs Ankunft in der Rue Hamani. Wann? Wo? Niemand kann diese Fragen beantworten. Es ist hier nicht üblich, jemanden über seine Frau auszufragen, egal ob lebendig oder tot, schön oder hässlich, geliebt oder gehasst, verschleiert oder nicht. Unseres Wissens hat er nur ein Kind, eine Tochter, die in der Kabylei verheiratet ist.

Als Abdallah in Les Vraies Richesses anfing, haben wir für ihn die Buchhandlung ausgemessen: sieben Meter breit und vier Meter lang. Er hatte Spass daran, seine Arme auszustrecken, und sagte gern, er könne ja fast die Wände berühren. Die obere Etage, die man über eine steile Treppe erreichte, stattete er mit einem Matratzenbehelf und zwei schön warmen Decken aus, denn dort war nie geheizt. Auch eine elektrische Kochplatte schaffte er sich an, einen winzigen Kühlschrank und eine Tischleuchte. Er wusch sich wie auch seine Wäsche auf der Toilette der Buchhandlung.

Davor hatte er im Nebengebäude eines Rathauses gearbeitet, seine Aufgabe war, Schriftstücke zu stempeln. Es gab alle möglichen Dokumente, auf die er den ganzen Tag lang das Amtssiegel setzen musste. Zum Glück schätzte man ihn und nahm sich Zeit, mit ihm zu reden. 1997, nach dem Tod seiner Frau, war er auf eigenen Wunsch in diese Buchhandlung versetzt worden und hatte einen Brief erhalten mit dem Inhalt, dass bis zu seiner Pensionierung das hier nun seine Stelle sei. Dann war die Altersgrenze einmal erreicht. Aber man hatte ihn dort vergessen. Kein Nachfolger kam. Er brachte es nicht über sich, diesen Platz zu verlassen, sich etwas Neues zu überlegen, einen anderen Ort für sich zu finden, und so blieb er einfach, beklagte sich nicht und sagte niemandem etwas.

Das ist alles, was wir von dem Mann wissen.

Und dann kamen die ersten amtlichen Briefe mit der Information, dass das Ladenlokal Rue Hamani 2bis an einen Industriellen verkauft sei und Les Vraies Richesses bald geschlossen würden. Er hatte naiverweise geglaubt, die Behörden davon überzeugen zu können, wie wichtig es ist, diesen Ort geöffnet zu lassen. Er rief das Kulturministerium an, aber kam niemals durch. Die Nummer war ständig besetzt, und eine Nachricht konnte er nicht hinterlassen, denn der Anrufbeantworter war voll. Er ging hin, doch der Hausmeister lachte ihm bloss ins Gesicht. In der Nationalbibliothek hörte man ihn sich lange an, dann wurde er ohne ein Wort, ohne ein Versprechen zur Tür begleitet. Als der neue Eigentümer kam, um Les Vraies Richesses zu besichtigen, fragte ihn Abdallah, was er denn mit der Buchhandlung vorhabe. »Vollständig ausräumen, die alten Regale hinauswerfen, die Wände streichen, damit einer meiner Neffen hier beignets verkaufen kann. Es wird alle möglichen Sorten geben: mit Zucker, mit Apfel, mit Schokolade. Wir sind in der Nähe der Universität, das Potential ist gross. Ich hoffe, Sie sind einer unserer ersten Kunden.«

Vom Geschrei aufgeschreckt, rannten wir hin und fanden den Besitzer vor, wie er gerade wieder aufstand und seinen Anzug abwischte. Abdallah wetterte, die Faust geballt, dass er die Zerstörung von Charlots Buchhandlung nie zulassen werde. Der Besitzer feixte: »Der Charlot bist doch du.« Er kam nicht wieder, aber die Briefe häuften sich, die Abdallah daran erinnerten, dass er bald verschwinden müsse. Er zeigte sie den jungen Anwälten im Quartier, die mittags Pizzaschnitten in Moussas Restaurant assen. Sie schüttelten den Kopf und klopften dem Buchhändler auf die Schulter. »Wir können nichts gegen den Staat ausrichten, das weisst du genau, Hâddsch, und dann ist das ja gar keine Buchhandlung, gerade mal eine unbedeutende Aussenstelle der Nationalbibliothek. Du musst doch zugeben, dass keiner kommt. Wie viele Benutzer hast du? Zwei oder drei, nicht wahr? Warum willst du für so wenig kämpfen? Du bist alt, gib auf. Lass ihnen doch dieses kleine Lokal, du kommst dagegen nicht an«, behaupteten sie. »Dann können sie also alles verkaufen? Heute eine Buchhandlung, morgen ein Krankenhaus? Und ich soll dazu schweigen?« Die jungen Anwälte waren verlegen und antworteten nicht, bestellten sich stattdessen noch eine Pizza und Limonade.

Am Tag vor der Schliessung hatte Abdallah einen Schwächeanfall. Sein Herz klopfte stark, als wolle es den Leib verlassen, das war offensichtlich. Es war ihm noch gelungen, die Tür der Buchhandlung zu öffnen, aber dann brach er auf der Schwelle zusammen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hörte das Geräusch von eiligen Schritten. Von Schritten, die sich entfernten. Von anderen, die näher kamen. Er dachte an das Wasser oben im Kessel, der bald pfeifen würde. Er schaute zu dem grossen Foto des Gründers dieses Ortes oben an der Decke hinauf, Edmond Charlot. Abdallah stellte sich vor, dass er gleich sterben würde. Kinder standen um ihn herum, und aus ihren flackernden Augen konnte man schliessen, dass sie dasselbe dachten.

Moussa hatte kein Telefon, er hatte schon immer der Technik misstraut. Als er Schreie hörte, stellte er die heisse Kaffeekanne auf den Tisch, ohne sich um die Spuren zu scheren, die sie auf der Wachstuchdecke hinterlassen würde. Er nahm seinen Stock, ging hinaus und sah den Menschenauflauf. Die Ambulanz liess auf sich warten. Junge Leute aus dem Quartier hoben Abdallah in den Lieferwagen des Lebensmittelhändlers und fuhren ihn ins Spital. Sie hielten den alten Bücherwächter fest, so gut sie konnten, und flehten zu Gott, der ersten und letzten Instanz, an die man sich hier wendet. Abdallah bekam immer noch keine Luft. Er wurde von Krämpfen geschüttelt und schien mit weit aufgerissenen Augen nach Luft zu ringen. Rumpelnd raste der Lieferwagen durch die Strassen von Algier, wich Löchern aus, Bodenwellen und streunenden Hunden. Der Arzt behandelte den alten Mann wie ein Tier, das man ohne Zögern einschläfern würde, und riet ihm, Algier zu verlassen. »Diese Stadt hat ihre eigenen Regeln, gegen die können Sie nichts machen, das würde Sie umbringen. Sehen Sie zu, dass Sie wegkommen, hier haben Sie nichts mehr zu tun.«

Abdallah kehrte in die Buchhandlung zurück. In sein weisses Tuch gehüllt, legte er sich unter das Mezzanin der Vraies Richesses. Kurz vor dem Einschlafen dachte er an seine erste Nacht hier zurück, an sein ungläubiges Staunen, sich an einem solchen Ort zu befinden, er, der vor der Unabhängigkeit des Landes keine Schule besuchen konnte, Arabisch lesen in der Moschee gelernt hatte und Französisch, ach, Französisch, viel, viel später und mit grosser Mühe.