Kristina Andres, geboren 1971 in Greifswald, wuchs in Mecklenburg auf, wo sie auch heute wieder lebt. Diplom im Fach Freie Kunst mit dem Schwerpunkt Malerei/Zeichnung an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Seit 2002 ist sie als freischaffende Autorin und Künstlerin tätig. Ihre zahlreichen Kinderbücher wurden mehrfach ausgezeichnet, so u. a. von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.
Barbara Scholz, geboren 1969 in Herford, lernte Druckvorlagenherstellerin und studierte an der Fachhochschule für Grafik in Münster. Seit 1999 ist sie freiberufliche Illustratorin und lebt in Bonn.
1
Licht und von Birken gesäumt lag der Wald da. Dort, am Rand, duckte sich eine Hütte mit blauer Tür tief ins Brombeergestrüpp. An der Wand unter dem schmalen Fenster lehnte eine Holzbank. In einem Blumenbeet steckte ein wackeliger Pfosten mit einem Postkasten daran. Hinter der Hütte, dem Wald zugewandt, erhob sich ein knorriger Wildapfelbaum. In dessen Schatten lagen die Bewohner dieser merkwürdigen Behausung, die allgemein nur Hasenhütte genannt wurde: Mucker Hase auf dem Rücken, Rosine Feldmaus auf dem Bauch. Mucker kaute auf einem Grashalm.
›Himmel und Hammel!‹, dachte er. ›Hitze und Hetze! Himmelhitze, Hammelhetze … Hemmelhatze …‹ Es war einfach zu heiß für Wunderworte. Sie vertrockneten, bevor er sie zu Ende gedacht hatte. Neben ihm raschelte Rosine mit ihrem Kochbuch. Es hieß »Kochkunst in der Nagerküche«. Sie las oft darin.
»Was denkst du über Kartoffelsuppe?«, fragte sie ihn nun.
»Hitziges Essen. Und wenn wir den Herd anschalten, wird es hier noch wärmer«, gab Mucker zu bedenken. Er hoffte, Rosine würde eine andere Seite finden und etwas Neues vorschlagen. Außerdem waren die Kartoffeln alle.
»Stimmt«, seufzte die Maus. »Also etwas ohne Kochen.« Sie blätterte weiter. »Kalte Gurkensuppe?«
Mucker drehte interessiert den Kopf zu ihr hin. Kalt? Oh ja, das klang gut. »Haben wir Gurken?«
»Nein«, gab Rosine zu.
»Ein kleines Gewitter wäre jetzt genau richtig!« Mucker stellte sich Regen vor, der niederrauschte und alles in einen kühlen Wassernebel hüllte.
»Ein Gewitter können wir uns nicht kochen!« Rosine stöberte weiter in den Rezepten und kicherte: »Aber Blitzgurken!« Sie las ihm vor, wie man die zubereitete, und hatte schon vergessen, dass die Gurken alle waren.
»Blitzgurken«, murmelte Mucker versonnen. »Ich dachte, die bereitet das Gewitter zu. Mit einem Schlag, und beim nächsten Donner sind sie fertig.« Er begann, kalte Dinge aufzuzählen: »Eiszapfen. Schneegestöber. Eine Schneewehe zum Reinspringen …« Muckers Stimme klang sehnsüchtig.
»Hach!«, machte Rosine und Mucker hörte lieber auf mit der Schwärmerei.
Reifen knirschten auf dem Weg. Ein Radio plärrte. Das Postauto hielt vor der Hasenhütte. Es hatte alle Scheiben heruntergedreht und die Ecken bunter Pakete schauten heraus. Mucker und Rosine liefen nach vorn.
»So viele!«, staunte Rosine.
»Alle vom selben Absender, einer gewissen Heidi Hase aus Großstadt. Diese Dame scheint eine Vorliebe für üppige Geschenke zu haben!«, stöhnte der Postbote. Er hatte das Auto hinten geöffnet und rumpelte darin herum. Deshalb sah er auch nicht, wie Mucker die Löffel umsackten. Dann war er fertig mit dem Gerumpel und das Postauto brauste davon. Auf dem Weg blieb ein Paket zurück, fast so hoch wie die Haustür der Hasenhütte. Das Papier war mit riesigen roten Herzen bedruckt. Ein Brief hing daran. Mucker öffnete ihn:
»Muckilein,
hier eine praktische Kleinigkeit. Ich dachte, das könnt ihr gut gebrauchen in dieser Höllenhitze!
Schmatzi, Schmatzi, Schmatzi!
Deine Tante Heidi«
Muckers Tante Heidi wohnte in der Stadt, weit weg. Zum Glück. Wenn sie einen ihrer Überfallbesuche machte, brachte Tante Heidi stets ihr gemütliches Leben durcheinander.
»Sie hat nicht geschrieben, dass sie kommt!«, sagte Rosine. Aber Muckers Ohren hingen immer noch.
Sie schafften das Geschenk nach drinnen. Unter dem Papier erschien ein weißer Schrank mit Kabel und Stecker, und er stand in der Hasenhütte wie ein Fragezeichen.
Rosine hüpfte umher. »Steck ihn ein!«, quiekte sie neugierig.
Vorsichtig schob Mucker den Stecker in die Dose. Sicherheitshalber gingen sie hinter dem Sofa in Deckung. Aber es passierte nichts, außer einem Summen, welches das Gerät von sich gab.
»Es singt«, flüsterte Mucker. »Aber es singt ganz schön leise für so ein großes Ding.«
Nach einer Weile hielt Rosine es nicht länger aus. Sie sprang los und riss die Tür auf. »Ein Schrank mit Lampe!«, verkündete sie und dann wurden ihre Augen groß. Ungläubig hielt sie ihre Pfote zwischen die Fächer. »Mucker! Schau dir das an!«
Mucker kam und steckte seinen Kopf hinein.
»Kalte Luft!«, rief er verdutzt. »Tante Heidi hat uns einen Winterschrank geschickt!«
»Jetzt können wir alles abkühlen!« Rosine stopfte gleich einen Armvoll Dinge in den Schrank: die Wollknäuel aus Muckers Strickwollekorb, ihr Kochbuch, die Kopfkissen. Die Bettdecke passte nicht. Mucker tat seinen Pulli hinein, sein Wunderwortebuch, in dem er alles aufschrieb, was er schön fand, und seine Gummistiefel.
Während sie nach Sachen suchten, die noch in die Kühle konnten, hüpfte das Postauto auf seinem Weg durch Wald und Wiesen, über Baumwurzeln und durch ausgetrocknete Regenlöcher. Als es an einem Hügel vorbeikam, auf dem eine unfreundliche Hütte stand, ein schiefes, roh gezimmertes Ding, das an einen faulen Zahn erinnerte, gab der Postmann extra Gas, denn er wollte schnell daran vorbei. Mit dem Hüttenbewohner, dem ollen Fuchs, wollte er nichts zu schaffen haben. Der hatte einen üblen Ruf. Ohnehin gab es heute keine Post für ihn. Das gelbe Auto sprang über einen Feldstein. Aus einem der Fenster fiel unbemerkt ein Paket hinter den schäbigen Zaun.
Mucker und Rosine begutachteten noch immer den Winterschrank.
»Hier oben ist eine Klappe!«, rief Rosine und zog am Griff. Die Wände des Eisfaches glitzerten.
»Vielleicht können wir doch eine Schneewehe machen! Oder Eiszapfen«, flüsterte Mucker.
Rosine hatte eine andere Idee. Sie pflückte eine Pfote voll Brombeeren und legte sie ins Eisfach. Immer wieder schauten sie hinein, und als am Abend die Beeren endlich hart wie Murmeln waren und mit einer frostigen weißen Schicht überhaucht, gingen sie damit nach draußen auf ihre Holzbank.
»Heute ist Eisbeerentag!«, verkündete Mucker und schob sich eine gefrorene Beere in den Mund. »Die Eisbären sollen bitte nicht böse sein, dass es nicht ihr Tag ist. Aber sie hätten nicht in unseren Winterschrank gepasst.«
»Ob die anderen wohl auch Pakete bekommen haben?«, überlegte Rosine. Ihre Freunde Molle Maulwurf, die winzige Elefantin Berta, Frau Eule mit Hugo, dem Drachenkind, und auch der Zauberbär wohnten an verschiedenen Orten im Wald. Und so vollgestopft, wie das Postauto gewesen war, hatte jeder von ihnen mindestens ein großes Geschenk erhalten.
»Das wird alles ans Tageslicht kommen!«, sagte Mucker fröhlich in die Dämmerung, die sich leise über den heißen Wald legte. Tante Heidi hatte ihnen zum ersten Mal etwas Schönes geschenkt. Warum sollten die anderen nicht genauso viel Glück gehabt haben? Und dann sann er darüber nach, wie man am besten eine Schneewehe machte. Nur eine ganz kleine.
2
Als der nächste Morgen anbrach, hell und schon sehr warm, nahm Mucker seine Gummistiefel aus dem Winterschrank und zog sie an die Pfoten. Auch Rosine hatte ihr gelbes Kleid über Nacht gekühlt und steckte nun ihren Kopf durch den kalten Stoff. War das schön! Wenigstens für ein paar Minuten. Mucker war immer noch nicht eingefallen, wie er zu seiner kleinen Schneewehe kam, aber Rosine hatte bereits eine neue Idee. Sie füllte Apfelsaft in ihre Holzbecher, steckte Stöckchen hinein und schob die Becher ins Eisfach.
»Am Abend gibt es Apfeleis!«, freute sie sich und machte lieber noch mehr Becher fertig, falls es nicht reichte. Schließlich konnte niemand schon am Morgen wissen, wie viel Eis er später am Tag vertilgen wollte.
Mucker hatte seine Nase in ein Wollknäuel gesteckt. Die kalte Wolle roch herrlich. Nach vielen Maschen und nach Winter. Er strickte für sein Leben gern. Manchmal vergaß er sogar, rechtzeitig damit aufzuhören. Deshalb lagen zahlreiche Wolldecken in der Hasenhütte herum.
Bis zum Nachmittag, der glutheiß wurde, waren sie mit ihrem Winterschrank und den unverhofften Freuden beschäftigt, die er ihnen bescherte.
Mucker steckte sein kleines Strickzeug in die Hosentasche.
»Wollen wir nachschauen, was die anderen bekommen haben?«, schlug er vor.
Rosine war einverstanden.
»Lass uns zu Berta gehen. Vielleicht hat sie Gurken für uns!«, sagte sie, denn sie musste immerzu an die kalte Suppe denken.
Berta wohnte in südwestlicher Richtung in einer alten Kaffeekanne, deren Tür in einen großen, schönen Garten wies, wo alles wuchs, was man sich vorstellen konnte.
Heiß und stechend brannte ihnen die Sonne aufs Fell. Rosine dachte an das Apfeleis. Mucker zählte laut seine Schritte.
»Warum machst du das?«, fragte Rosine.
»Ich glaube, dass der Weg von der Hitze ausgeleiert ist. Wenn es wieder kühler ist, zähle ich das Ganze noch mal. Sind es dann weniger Schritte als jetzt, weiß ich, dass ich recht habe«, erklärte Mucker.
»Ich helf dir zählen!«
So gingen sie weiter, die Blicke auf Muckers Pfoten gerichtet, damit sie keinen Schritt, den er tat, übersahen. Was sie übersahen, war, dass sich jemand vom anderen Ende der Wiese her näherte. Auf einmal blieb Mucker stehen.
»Ich höre Schritte. Und es sind nicht meine! Und deine sind es auch nicht«, stellte er fest.
Rosine hob den Kopf und griff erschrocken nach Muckers Pfote. »In Deckung!«, fiepte sie.
Jemand kam angesprungen, der rot und borstig war und einen schlimmen Schatten warf. Aber sie befanden sich inmitten einer Wiese, es gab weit und breit kein Gebüsch, hinter das sie sich werfen und verstecken konnten. Erstarrt standen sie da und sahen dem ollen Fuchs zu, wie er unausweichlich auf sie zusteuerte und dabei größer und immer größer wurde.
»Guten Tag, die Dame! Guten Tag, der Herr! Aus dem Weg bitte, ich muss in die Stadt! Ich will in die Schule!«, bellte der olle Fuchs und trabte so schnell an ihnen vorbei, dass ihre Ohren das Flattern bekamen. Über seiner Schulter baumelte ein Turnbeutel.
»Willst du uns keine Abreibung verpassen?«, rief Mucker verdutzt. Rosine trat ihm heftig auf die Hinterpfote. Der olle Fuchs war sonst nie um eine Gemeinheit verlegen, man musste ihn nicht auch noch daran erinnern, wenn er es einmal vergaß, fand sie.
»Ich verteile keine Abreibungen mehr!«, blaffte der olle Fuchs zurück. »Ich bin jetzt gebildet!«
Und er lief weiter Richtung Bahnhof.
Sie sahen ihm nach. Rosine stand der Mund offen.
»Was ist denn mit dem los?«, murmelte Mucker.
Aber sie kamen nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn etwas anderes nahm ihre Aufmerksamkeit völlig gefangen. Am Himmel über Bertas Kanne flog etwas Kleines, stieg hoch, machte einen kurzen Bogen, stürzte hinab und sauste wieder nach oben. Und etwas zweites Kleines gesellte sich dazu, noch eines und noch eines und dann etwas Größeres. Mucker und Rosine vergaßen den Fuchs, das Schrittezählen. Sie liefen, um sich die Sache näher anzusehen.
Die alte Kaffeekanne stand da wie immer, in eine Moosschicht wie in einen Pelz gehüllt. Sonst schimmerte das Moos samtig grün, heute aber machte es einen stumpfen, ausgetrockneten Eindruck. Der Zaun war kürzlich frisch gestrichen worden, auf den Pfählen steckte reihum buntes Geschirr, das einmal zerbrochen gewesen sein musste und völlig verkehrt zusammengeklebt worden war. Hinter der Kanne sauste es immer noch durch die Luft.
Aus dem Garten drangen verärgerte Rufe.
»Berta?«, rief Rosine.
Sie liefen um die Kanne herum. Ein zirkusreifer Anblick bot sich ihnen: Berta, in eines ihrer üppigen Raschelkleider gehüllt, jagte mit einer Schachtel in den kurzen Armen Geschirr hinterher, das in meterhohen Sprüngen durch den Garten flog. Aber sie bekam es nicht zu fassen.
»So eine unfassbar Hopsgeschirr!«, rief sie bekümmert und warf die Schachtel in den Sand.
Mucker erkannte Tante Heidis Schnörkelschrift. Er hob die Schachtel auf, während neben seinen Pfoten ein Teller landete und sofort wieder hochsprang.
»Unkaputtbar! Das sprungbereite Geschirr für jede Lebenslage! Von Klimbim!«, las er laut vor. Tante Heidi hatte Berta Gummigeschirr geschenkt. Eigentlich fand er das eine gute Idee, denn bei Berta war bisher sämtliches Geschirr zu Bruch gegangen.
Eine Teekanne setzte nahe eines zweiten Pakets auf, das noch gar nicht ausgepackt war, und schoss wieder hoch.