Die Überwindung eines Traumas
Vorwort
Prolog
Umzug ins Paradies
Ankunft im Paradies
Die erste Schlägerei
Der Bauernhof und das Abendessen
Familienwechsel
Mutter Weglar oder der Engel
Vater Weglar
Die Geburt der Freiheit
Der Irrweg
Vom Kräftemessen mit dem Esel
Mama und Papa sagen
Konzentrationslager Dachau
Das Meer sehen
Angekommen am See
Der Mann, der vom Himmel fiel
Schildkröten backen
Die Lehrerin
Erste Schritte der Heilung
Vaterschutz
Weihnachtszeit
Evahülle
Der Lindenhof
Pubertät oder Feuerwerk der Synapsen
Evaglück
Die Jugendhaustaufe
Mutterloses Kind
Das Familientreffen
Liebeseinschlag
Das erste Mal
Die Trennung
Punk’s not dead!
Tod eines vertrauten Freundes
Wie abgezogene Haut
Suchbild meines Vaters
Vatertod
Rückkehr nach St. Niemandsland
Telefonat mit der Peinigerin
Der Ruf des Herzens
Der Nonnenschleier
Das Mutterhaus
Das Gespräch mit der Peinigerin – oder: Der Abschied
Epilog
Danksagung
Dieses Buch ist meinen Kindern
Niclas-Georg,
Anna-Celina,
Samuel-Alexander,
meiner Frau Olga,
meinen Eltern und Geschwistern
sowie den zwischen 1949 und 1975 über 1,2 Millionen vom Missbrauch betroffenen Heimkindern
und den Kindern und Jugendlichen sowie den Mitarbeitern des Pestalozzi Kinderdorfes Wahlwies a. B. gewidmet.
»Auf meiner Suche nach Heilung« – das sind die ersten Worte Clemens Maria Heymkinds in seiner autobiografischen Erzählung Verloren im Niemandsland, seinem ersten Buch.
Ich las das Buch zum ersten Mal nach einem Unterrichtstag für »Achtsames Selbstmitgefühl«, ohne die Lektüre zu unterbrechen. Es berührte mich so tief, dass ich das Buch nicht mehr aus den Händen ließ, bis zur Morgendämmerung. Dann schloss ich die Augen, und vor mir entstand zunächst der Satz und dann auch das Bild vom berühmten vietnamesischen Lehrer Tich Nhat Hanh: »Ohne Sumpf keine Lotosblume.« Lotosblumen entstehen nun mal im Sumpf. Sie werden zu hinreißender Schönheit, nachdem sie mit dem Sumpf Freundschaft geschlossen haben.
Clemens Maria Heymkind erzählt aus dem Niemandsland der Kinderheime. Die mutige Stimme eines Mannes, der uns den Kampf zweier Geschwister schildert – Clemens und Clara – verloren im Niemandsland und auf der Suche nach der tiefsten Sehnsucht des Menschen: der Sehnsucht nach Liebe und Verbundenheit.
Clemens spart dabei nicht an Worten. Er berührt unsere Herzen und schüttelt unseren Geist, gnadenlos. Und lässt uns die Gnadenlosigkeit auch erfahren. Tief und bis zur Seele. Denn nur so können wir verstehen, was ein Kind im Niemandsland der Kinderheime erlebt hat. Folter, sexuellen Missbrauch, Isolation, Angst. Die tiefste Ohnmacht.
Wut, Verzweiflung und Scham werden zum Alltag für Clemens. Aber wie auch die Lotosblume im Sumpf gedeiht, wachsen in Clemens – auf weise Art, voller Neugier, wie eine zarte Pflanze – Bewusstheit, Empathie und Mitgefühl. Und so entdeckt das noch kleine Kind, auf wunderbare und intuitive Art, mitten im Alltagsschmerz, eines Abends in einem imaginären Nachtflug zu einem anderen Planeten die Kraft des Geistes.
»Ich spürte die alles durchdringende Kraft meines Geistes. Er erhob sich im Nachtflug über all die Sorgen und Ängste und Zweifel und über die Wut meiner Existenz. Er durchbrach die Mauern von St. Niemandsland, um mir unendliche Freiheit zuteilwerden zu lassen.«
Und so öffnet Clemens – neben den inneren Stimmen der Selbstkritik, der Wut oder der Ohnmacht – einen neuen inneren Raum für Bewusstheit, Verständnis, Akzeptanz, Mitgefühl und Liebe.
Schattenkind, vergiss mein nicht, Clemens Maria Heymkinds zweites Buch, beschreibt diesen langen Weg aus der Ohnmacht in ein neues Leben: das Pestalozzi Kinderdorf, ein »Paradies« nach der Zeit im Heim. Clara und Clemens erleben zum ersten Mal das Gefühl des Zusammenwachsens in einer Gemeinschaft, mit allem, was so ein Zusammenwachsen mit sich bringt. Clemens wird wahrgenommen mit allen seinen vielen Facetten, und auch er öffnet sich langsam zu seiner inneren Heilung und entdeckt die Kraft des »Willensmenschen« in sich, die Kraft seiner inneren Potenziale.
Nicht alles geschieht reibungslos. Das Buch beschreibt lebhaft und mit treffenden Worten das Schicksal der beiden Kinder und den inneren, aufreibenden Kampf in Clemens’ Gefühlswelt.
Die unsichtbaren Ketten der Treue zur quälenden Vergangenheit von St. Niemandsland und besonders zu Schwester C. werden Clemens noch lange Jahre begleiten. Sei es am Meer, sei es während einer Autofahrt oder in anderen Begegnungen. Das »Schattenkind« der Vergangenheit, das sich im Verlauf des beschriebenen Heilungsweges zum »Glückskind« hin entwickelt, bringt immer wieder in Erinnerung die alte Versagensangst, die Trennungsangst von Eva, der Mutter, Clara, der Zwillingsschwester, oder von Simone, der neuen Freundin. Das unsichtbare Gesicht der folternden Schwester C. erschien in allen Gesichtern, die er traf.
Ich begegnete Clemens zum ersten Mal in einem buddhistischen Kloster während einem meiner Kurse. Seine kraftvolle und warme Stimme, seine Präsenz und seine Geschichte berührten mich sehr. Seine beiden Bücher bedeuten für mich als Mensch und als Lehrende ein wahres Geschenk. Clemens hat für uns alle das Schweigen durchbrochen und den Gesichtern von Niemandsland einen Ausdruck gegeben.
Wie Clara und Clemens, so tragen wir alle in uns ein Niemandsland. Mehr oder weniger. Unsere tiefste Sehnsucht ist, geliebt zu werden. Unser tiefster Schmerz: der Schmerz der Nicht-Verbundenheit. Gleichzeitig verbindet uns aber dieser Schmerz. Er ist ein Teil unseres gemeinsamen Menschenseins. Wir alle erleben Schmerz. Die Kunst liegt darin, wie wir dem Schmerz begegnen.
Heute zeigt uns Clemens einen erlebten Weg zur Vergebung, zur Akzeptanz, zur Toleranz, zum Mitgefühl, zum Selbstmitgefühl. Er ist ein wunderbarer Vater, beruflich erfolgreich und vor allem Anker und Inspiration für viele Menschen. Er zeigt uns, dass wir alle Schmerz erleben, aber dass wir Leid transformieren können, wenn wir die Fähigkeit entwickeln, für unser »inneres, verwundetes Kind« auf heilsame Weise zu sorgen. Es liegt an uns, die Opferrolle zu verlassen und zu einer eigenständigen Autonomie zurückzufinden. Wir haben die Wahl, wir alle haben die Kraft dafür. Wenn wir unsere innere, wahre Natur kennen, steht uns nichts mehr im Weg.
Buddha sagt: Jedes Leiden hat Heilung. Wir müssen nur den Weg kennen.
Aus tiefstem Herzen: Danke, Clemens!
Dr. phil. Rodica Meyers
Leiterin Yuthok Zentrum für Tibetische Heilkunst
Ich strebe nach Selbsterkenntnis,
denn Erkenntnis beseitigt Unwissenheit.
Ich strebe nach Entfaltung,
denn Entfaltung ermöglicht Wachstum.
Clemens Maria Heymkind
Mein erstes Buch Verloren im Niemandsland – Autobiografische Erzählung eines Heimkindes veröffentlichte ich 2015. In ihm schildere ich meine ersten zwölf Lebensjahre. Meine Zwillingsschwester Clara und ich verbrachten unsere Kindheit vom Säuglingsalter an in verschiedenen Krippen und Heimen. Wie Vieh wurden wir hin und her geschoben. Letztlich landeten wir in einem katholischen Kinderheim einer bayerischen Kleinstadt. In »St. Niemandsland« wurde ich – vornehmlich von einer Nonne, die ich Schwester C. genannt habe – seelisch gequält und körperlich schwer misshandelt. Die Nonnen deckten außerdem den sexuellen Missbrauch von zwei Priestern und einem »Mitarbeiter« des Kinderheimes.
Allein von 1949 bis 1975 waren laut Heimfonds Stuttgart schätzungsweise 1,2 Millionen Heimkinder vom seelischen, körperlichen und sexuellen Missbrauch in kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen in Ost- und Westdeutschland betroffen. Die Dunkelziffer aufgrund verjährter und damit vernichteter Akten dürfte jedoch weitaus höher liegen.
Im Juli 20.. erschien in einer bayerischen Lokalzeitung folgender Artikel, in dem es um die Verabschiedung der Nonnen Schwester C., Schwester A. und Schwester N. aus dem Kinderheim St. Niemandsland geht.
Zum Abschied großen Dank und eine Umarmung
... (fro). Erinnerungen und Danksagungen waren die zentralen Begriffe bei der Verabschiedung der Mühlendorfer Franziskanerinnen. Diese betreuten 118 Jahre die ... Waisenhausstiftung im Pfaffenwinkel. Nun wurden die letzten drei Schwestern mit einem Gottesdienst in der Pfarrkirche ... und einer Feier im Gemeindehaus St. M. verabschiedet. „Sie haben ein Stück Stadtgeschichte geschrieben“, meinte der Stiftungsleiter A. H. Die Waisenhausstiftung wurde von Stadtpfarrer J. L. 1887 gegründet. Um die Kinder adäquat betreuen zu können, bat der Pfarrer damals die Mühlendorfer Franziskanerinnen um Hilfe, und diese sagten zu. In den folgenden 118 Jahren leisteten insgesamt 86 Schwestern in Kinderkrippe, Kindergarten, Kinderhort und Heilpädagogischer Tagesstation der Stiftung karitative Arbeit. Nun werden auch die Oberin, Schwester C. und ihre verbliebenen Mitschwestern, Schwester A. und Schwester N., aus Altersgründen Marienburg verlassen und in ihr Mutterkloster nach Niederbayern zurückkehren. In dem Gedenkgottesdienst sprach Stadtpfarrer A. N., der zugleich Sitzungsvorstand ist, den Schwestern seinen Dank dafür aus, dass sie „von Generation zu Generation“ den Menschen dienten und den Kindern gerecht wurden. N. moderierte auch die anschließende Verabschiedung im Haus St. M. Dort erläuterte H. vor den geistlichen und weltlichen Ehrengästen sowie mittlerweile erwachsenen Besuchern des Kinderheims die Geschichte der Stiftung. Der ehemalige Stiftungspfleger A. N. erinnerte an die Zeit, als er vor dreißig Jahren der Stiftung vorstand:
„Damals waren noch 90 Kinder in dem Kinderheim, heuer sind es nur noch fünf.“ Die Schwestern hätten den Kindern „Heimat, Brot, Erziehung und Liebe“ gegeben. N.s plastische Schilderungen fanden bei den Ehemaligen zustimmendes Kopfnicken. Im Namen der Stadt bedauerte Oberbürgermeister B., dass die Schwestern Marienburg verlassen, schließlich sei die Betreuung der Kinder durchaus „entscheidend für die Stadt“. Auch die Generaloberin des seit 150 Jahren bestehenden Ordens, Schwester M., bedauerte, „dass wir keinen Ersatz schicken können, obwohl sich das Gesicht der Not inzwischen geändert hat“.
Der Abschied von den Schwestern sei die Zeit für zwei „Zauberwörter“, fand R. B., ebenfalls Stiftungspfleger. Vor 118 Jahren habe sich Pfarrer L. das erste Mal an die Mühlendorfer Schwestern gerichtet, als er fragte, ob diese zur Betreuung der Kinder nach Marienburg kommen könnten: „Bitte.“
Nun sei es an ihm, dem Stiftungspfleger, das zweite Zauberwort an die Schwestern zu richten: „Danke oder Vergelt’s Gott.“ Schließlich bedankte sich auch noch der Vertreter der Ehemaligen bei den Schwestern, die sich „unendlich viel Mühe“ mit ihren Schützlingen gegeben hätten. „Durch ihr Vorbild ist auch in uns noch Glauben vorhanden.“ Viele Ehemalige würden deshalb nach wie vor den Kontakt mit den Schwestern suchen, sagte er, um dann die Oberin zum Abschied zu umarmen.
Als unmittelbar Betroffener der Geschehnisse von St. Niemandsland trieb mir dieser Zeitungsartikel die Tränen in die Augen. Ich bin entsetzt darüber, dass die seinerzeit geschehenen Grausamkeiten in der Tagespresse eine solche Würdigung erfahren haben. Ich erlaube mir daher diese Vervollständigung: Viele von uns Schutzbefohlenen wurden damals seelisch und körperlich schwer misshandelt. Die Bettnässer, zu denen auch ich gehörte, wurden mit unerbittlicher Härte bestraft und ausgegrenzt. Dazu gehörten tägliche Demütigungen vor der Gruppe, folterähnliches Abduschen mit eiskaltem Wasser (das sogenannte Waterboarding ist heute als Foltermethode geächtet) sowie Flüssigkeits- und Nahrungsentzug, um nur einige zu nennen. Die Art, wie über das Wirken der Schwestern im besagten Artikel geschrieben wird, demütigt die Opfer erneut.
Ein drittes im Artikel nicht erwähntes »Zauberwort« fällt mir dazu ein:
»Entschuldigung.«
Der Hölle von St. Niemandsland entrannen meine Zwillingsschwester Clara und ich mit dem Umzug in das Pestalozzi-Kinderdorf, Wahlwies am Bodensee.
Von den verheerenden seelischen Auswirkungen der ersten zwölf Lebensjahre auf die Kinderseele sowie von den ersten Schritten der Heilung und dem weiteren Verlauf meines Lebens berichte ich in diesem vorliegenden zweiten Buch.
Auszug aus den Jugendamtsakten vom 25.05.19..
Gründe für den Heimwechsel:
Die Schwester des Vaters, Frau M., die in der Schweiz lebt, hat sich immer sehr viel um die Kinder gekümmert. Sie hat besonders Clara immer in den Ferien zu sich geholt. Clemens kam in den Ferien meist zur väterlichen Großmutter nach J. Für Frau M. war es in all den Jahren doch recht umständlich, die Kinder von Marienburg abzuholen. Eine Verlegung in ein Heim, das näher an der Schweiz liegt, ist schon immer unser Plan gewesen. Bisher haben wir nur immer auf die Mutter Rücksicht genommen. Nun kümmert sich aber die Mutter trotz ihres Aufenthaltes in Marienburg (gemeint ist die Psychiatrie; Anmerkung des Verf.) so wenig um die Kinder, dass wir glauben, dass es für die Kinder besser wäre, wenn sie in der Nähe der väterlichen Verwandten wären.
Frau M. bat uns um eine Verlegung der Kinder in das Kinderheim L. bei Lindau. Nach einer Rücksprache mit dem Jugendamt Wangen möchten wir jedoch die Unterbringung der Kinder in das Kinderheim L. ablehnen. Um aber die Kinder näher bei den Verwandten des Vaters zu haben, wären wir sehr dankbar, wenn die Kinder bei Ihnen im Kinderdorf Aufnahme finden könnten.
Riedlinger, Sozialarbeiterin
Auszug aus den Jugendamtsakten vom 08.07.19..
An das Pestalozzi-Kinderdorf Wahlwies
... Nachdem die Mutter durch den dauerhaften Aufenthalt im Nervenkrankenhaus ganz ausfällt und der Vater sich in Marienburg nicht um die Kinder kümmern kann, ist die Verlegung der Kinder in die Nähe des Vaters und auch näher an die Schweiz, wo die Tante lebt, für die Kinder doch so wichtig. Außerdem haben die Kinder bei Ihnen eine Familie, die sie so sehr entbehren.
Den Kindern hat es auch sehr gut gefallen (gemeint ist der erste Besuch im Kinderdorf; Anmerkung des Verf.), und sie hoffen sehr, dass sie aufgenommen werden können. Frau M., die Tante der Kinder, wäre voll und ganz für die Unterbringung bei Ihnen, sodass mit einer Zusammenarbeit zu rechnen ist.
... Mit der nochmaligen Bitte um Aufnahme der beiden heimatlosen Kinder und dem Dank für den Einblick, den wir durch Ihre Führung erhalten haben,
grüßt herzlich das Stadtjugendamt Keppstadt.
Riedlinger, Sozialarbeiterin
Auszug aus den Jugendamtsakten vom 24.08.19..
An das Stadtjugendamt Keppstadt
Betreff: |
Clemens und Clara Heymkind, |
Sehr geehrte Frau Riedlinger,
wir freuen uns, Ihnen heute den Aufnahmetermin für die Geschwister mitteilen zu können. Unser Vorschlag wäre, wenn Sie die Kinder am Donnerstag, den 29.09.19.., nachmittags zu uns bringen können. Von Frau M. erhielten wir ein Schreiben, dass sich die Geschwister zurzeit bei ihr aufhalten, und wir möchten Sie bitten, uns mitzuteilen, wer die Kinder zu uns bringt und ob dieser Termin eingehalten werden kann.
Zur Aufnahme benötigen wir noch je ein Passbild, Kinderausweis, Krankenscheine, polizeiliche Abmeldung sowie eine Kostenzusage.
Mit freundlichen Grüßen aus dem
Pestalozzi-Kinderdorf
Auszug aus den Jugendamtsakten vom 29.08.19..
An das Pestalozzi-Kinderdorf Wahlwies
Kinder Clemens und Clara Heymkind,
geb. 07.09.1965
Wir danken vielmals für die Mitteilung bezüglich der Aufnahme der beiden Kinder Heymkind. Die Tante der Kinder hat nur Clara bei sich. Wir haben sie entsprechend verständigt und hoffen, dass sie Clara am 29.09.19.. zu Ihnen bringen wird. Clemens befindet sich auf einem Bauernhof hier bei uns in der Nähe und wird dann zu Ihnen überstellt. Da ich bis Ende September im Urlaub bin, wird ein Kollege von mir die Fahrt mit Clemens übernehmen.
Die angeforderten Unterlagen werden bei der Überstellung noch mitgebracht.
Mit freundlichen Grüßen,
Riedlinger
Es war wieder so weit.
Aufbruch.
Neuanfang.
Den Tag der Abreise ins Pestalozzi-Kinderdorf hatte ich, der Zwölfjährige, seit dem Auszug aus St. Niemandsland herbeigesehnt. Schon bald würde ich meine Zwillingsschwester wiedersehen, die die Sommerferien bei meiner Tante Gerda in der Schweiz verbracht hatte, während ich auf einem Bauernhof gewesen war. Mit einem Gefühl von Anspannung und Neugier packte ich am Tag vor der Abreise meine Koffer. Während des Packens versuchte ich mir vorzustellen, wie es wohl im Kinderdorf sein würde. All die vielen Kinder, die Familien, die neue Schule …
Jochen, ebenfalls ein Heimkind, das die Ferien auf dem Bauernhof verbracht hatte, war schon Tage zuvor vom Hof abgefahren. Nun war ich an der Reihe! Weg von diesem Bauernhof, direkt ins Paradies. Das fühlte sich gut an, denn der bevorstehende Abschied von den Besitzern des Hofes, den Hofbaurs, bedeutete für mich tatsächlich eine Erleichterung. Nicht ganz so groß wie die, die ich empfunden hatte, als ich St. Niemandsland verlassen hatte, aber deutlich spürbar. Den Hofbaurs allerdings schien der Abschied zuzusetzen: Frau Hofbaur setzte sich, nachdem ich mich bettfertig gemacht hatte, an den Rand meines Bettes und sah mich schweigend an. Ich glaube, sie war sehr traurig, wie damals Schwester C., als sie in St. Niemandsland Abschied von mir nahm. Ich jedoch fühlte pure Vorfreude.
»Wenn du möchtest, kannst du bei uns bleiben«, sagte sie, während sie mir in die Augen sah und mir mit ihren Händen durchs Haar strich. Dieses Angebot hatten mir die Hofbaurs in den zurückliegenden Wochen mehrmals gemacht.
»Ich will Clara wiedersehen, weil ich sie so sehr vermisse«, erwiderte ich.
Da öffnete sich die Zimmertür und Herr Hofbaur trat ein. Schwerfällig, wie es seine Art war, bewegte er sich auf mein Bett zu, schnalzte in der für ihn typischen Art mit der Zunge und sagte: »Clemens, wenn du möchtest, kannst du bei uns bleiben.«
»Der Bub will aber nicht«, sagte Frau Hofbaur mit trauriger Stimme, ehe ich reagieren konnte.
Ich konnte es deutlich riechen: Herr Hofbaur war wieder einmal stark alkoholisiert. Sicherlich fängt er gleich wieder an zu weinen, dachte ich, wie er es oft tat, wenn er unter Alkoholeinfluss stand. Dann begann er tatsächlich, bitterlich zu weinen, wie ein kleines Kind. Das war mir peinlich. Nicht weil er weinte, sondern weil er wegen mir weinte. Das gab mir zu denken: Schwester C. war traurig gewesen, und nun waren es auch Frau und Herr Hofbaur. Die Trauer vermochte ich nicht so recht mit meiner Person in Verbindung zu bringen. Sie war mir fremd, wie dieser Bauernhof, auf dem ich die Sommermonate verbracht hatte.
Gewiss, ich hatte in den zurückliegenden Monaten deutlich gespürt, dass mich die Hofbaurs in ihr Herz geschlossen hatten. Ich mochte ihre Kinder Laura und Erhart. Aber ich traute mich nicht auszusprechen, dass ich während der ganzen Ferienzeit immer dieses mulmige Gefühl in mir hatte, auch bei ihnen in der Fremde zu sein. Dieses Gefühl wurde auch durch die fremden Gerüche und die fremde Umgebung auf dem Land hervorgerufen. Und in der Tat, ich war bei den Hofbaurs nicht heimisch geworden. Im Kinderdorf aber würde ich mich sehr wohl fühlen, das spürte ich, obwohl ich nur einmal dort gewesen war. Auch mochte ich mich nicht mit der Rolle eines Pflegekindes auf dem Bauernhof identifizieren, dazu war ich zu sehr Heimkind.
Am schwersten wog aber, dass ich meine Zwillingsschwester Clara so sehr vermisste. Dieses innige Band, das mich mit Clara auch dann spürbar verband, wenn sie nicht in meiner Nähe war, war zu stark, als dass es jemand hätte trennen können. Während der Ferienzeit auf dem Bauernhof hatte ich oft gespürt, dass Clara an mich gedacht hatte. In diesen Momenten wehte, dem Hauch eines Windes gleich, frischer Atem in meine Seele. Auch von mir schien ein Strom der Sehnsucht zu ihr zu gehen. So berührten sich unsere Herzen. Ich spürte ihre Vorfreude auf unser Wiedersehen, auf unsere bevorstehende Kinderdorfzeit, die sich so sehr von den dunklen und kalten Mauern von St. Niemandsland unterscheiden sollte. All das war stärker als meine Gefühle zu den Hofbaurs. Ich hatte Angst, dass sie meine Vorfreude auf meine Zwillingsschwester und das Kinderdorf nicht verstehen würden. Deshalb schwieg ich.
Frau Hofbaur hatte ihren volltrunkenen und heulenden Mann inzwischen ins Bett gebracht. Ich ging hinüber in Lauras Zimmer. Auch sie war sehr traurig. Wir hatten oft miteinander gespielt und mit Jochen die Wälder und Wiesen durchstreift. Hatten zusammen gelacht, als wir den Nachbarn Streiche spielten. All diese Erlebnisse verbanden mich mit ihr. Als ich bei Laura auf dem Bett saß, konnte auch ich meine Trauer über den Abschied von ihr nicht verbergen, obgleich ich fühlte, dass der bevorstehende Neuanfang Licht und Freude in mein Leben bringen würde. Laura konnte das verstehen, und dieses Verstehen bestärkte mich in meinem Entschluss, endgültig Abschied von den Hofbaurs zu nehmen.
Am nächsten Morgen – es war ein Spätsommertag und wir saßen gerade beim Frühstück – hörte ich das Geräusch eines Autos. Ruckartig schob ich den Stuhl zurück, stürzte aus dem Haus und kam vor einem orangefarbenen VW-Käfer zum Stehen. Zwei Herren in Anzug und Krawatte stiegen aus dem Auto und fragten mich nach Frau Hofbaur.
»Gell, ihr seid doch wegen mir gekommen, um mich abzuholen?«, schoss es aus mir hervor.
»Wenn du der Clemens bist, dann sind wir wegen dir gekommen«, erwiderte einer der Herren mit einem aufgesetzten, amtlichen Lächeln.
»Gell, und ihr bringt mich jetzt zu meiner Zwillingsschwester ins Kinderdorf?«, fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach.
Der andere Herr nickte und blickte mich dabei verschmitzt an.
Dann schob mich Frau Hofbaur zur Seite, ich hatte sie nicht bemerkt. Nachdem sie einige Worte mit den Herren vom Stadtjugendamt Keppstadt gewechselt hatte, wuchtete schon einer der beiden meine Siebensachen in den Kofferraum. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen und sehr aufgeregt. Frau Hofbaur mahnte mich zur Ruhe, die Herren vom Jugendamt auch.
Das Wissen, dass wir nicht zurück nach Marienburg, sondern in das Kinderdorf am Bodensee, also in die Nähe meines Vaters fahren würden, löste in mir eine unbeschreibliche Freude aus. In dem Augenblick, als ich mich von den Hofbaurs verabschiedet hatte, geschah etwas Merkwürdiges: Ich musste plötzlich an Schwester C. denken. Es fühlte sich an, als würde ich in diesem Moment auch Abschied von Schwester C. nehmen, obwohl sie gar nicht da war. Es war ein Abschied der besonderen Art: Die völlig irrationale und mich immer wieder verwirrende Sehnsucht nach Schwester C., die mich während des Aufenthalts bei den Hofbaurs oft überkommen hatte, wurde weniger und weniger. Von Augenblick zu Augenblick schien sie sich weiter von mir zu entfernen.
Das Gesicht von Schwester C. verblasste, die Erinnerungen an Marienburg – all das konnte ich nun hinter mir lassen.
Als wir das Ortsschild Wahlwies passierten, drückte ich neugierig meinen Kopf an die Seitenscheibe. Ich war nervös und mein Herz pochte vor Aufregung. Ich erkannte die schmale Dorfstraße wieder, an der sich die Häuser so niedlich eins an das andere reihten, sah den Traktoren nach, die die erste Apfelernte auf Anhängern hinter sich herzogen. Dann gelangten wir zum Postbuckel, und als wir seine Anhöhe erreicht hatten, sah ich das Schild »Pestalozzi Kinder- und Jugenddorf«. Gleich würde ich Clara wiedersehen und Tante Gerda!
Langsam fuhren wir am Bauernhof des Kinderdorfes vorbei, der etwas außerhalb lag. Der Anblick der Hofscheunen und der Kühe erinnerte mich an die Hofbaurs. Eine alte Bauersfrau war mit einer jüngeren Bäuerin im Geschwätz vertieft. Ein Bauer machte sich an einem großen Scheunentor zu schaffen. Dann bogen wir in das Kinderdorf ein und kamen am Dorfzentrum zum Stehen. Da standen sie und warteten bereits auf mich: Clara und Tante Gerda. Mit aller Kraft drückte ich beide Hände gegen den Vordersitz. Die Herren vom Jugendamt wussten nicht so recht, wie sie mich beruhigen sollten. Als Clara mich sah, lief sie geradewegs auf unser Auto zu. Nun konnte mich niemand mehr halten.
»Clara!«, rief ich, und trommelte dabei mit den Händen gegen die Scheibe.
Einer der Herren vom Jugendamt schien zu verstehen. Hastig stieg er aus, klappte den Sitz nach vorn, und ehe er sich versehen konnte, lagen Clara und ich uns in den Armen. Nun konnte uns niemand mehr trennen. Wir hatten uns wieder! Tante Gerda hatte Recht behalten, mit diesem Wiedersehen gehörten St. Niemandsland und mit ihm die Buben aus der Bubengruppe und Schwester C. endgültig der Vergangenheit an. Ich war überglücklich. Nachdem ich Tante Gerda begrüßt hatte, nahm ich die Kinderschar wahr, die sich um uns gebildet hatte. Neugierig sahen sie uns an und stellten Fragen.
»Zieht ihr heute bei uns ein? Und in welches Haus, zu welcher Familie?«
»Clara und ich ziehen heute in das Kinderdorf ein«, antwortete ich stolz.
Zwar wusste ich nicht, in welches Haus und zu welcher Familie, aber das sollte mir Herr Weglar bald mitteilen, einer der Dorfleiter und später mein Pflegevater, der sich inzwischen den Weg durch den Kinderhaufen gebahnt hatte. Er begrüßte zunächst die Herren vom Jugendamt, dann Tante Gerda. Kurz darauf forderte er die umherstehenden Kinder auf, zurück zu ihren Familien zu gehen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich in Jeans, T-Shirt und giftgrünen Gummistiefeln, die mir die Hofbaurs zum Abschied geschenkt hatten, vor ihm stand. Nachdem er Clara begrüßt hatte, reichte er mir die Hand.
»Hallo Clemens, herzlich willkommen im Kinderdorf.«
Clara und ich waren »herzlich willkommen«, das konnte ich nicht fassen. Früher hatte man uns mit kalter Routine von einem Heim zum nächsten verfrachtet, wie Vieh. Damals fielen zur Begrüßung keine freundlichen Willkommensworte. Das war neu.
Herr Weglar sah ein wenig aus wie Prinz Eisenherz. Er hatte einen Bart, der seinen Mund komplett umschloss und leicht über sein Kinn ragte. Seine schwarzen Haare waren topfschnittartig frisiert. Seine braunen Augen strahlten Warmherzigkeit aus, seine tiefe Stimme war sanft. Ich mochte ihn, das hatte ich bereits bei unserer ersten Begegnung gespürt. Das lag daran, dass er offen und warmherzig und für jeden Spaß zu haben war. Ihm konnte ich mein Vertrauen schenken. Er hatte nichts Bedrohliches.
»Was willst du denn mal werden?«, fragte er mich, während er mich in meinen Gummistiefeln musterte.
»Metzger!«, schoss es aus mir heraus.
Ja, Metzger wollte ich werden. Ich erzählte ihm auch, warum: Bei den Hofbaurs hatte ich zugesehen, wie wöchentlich am Schlachttag ein Metzger kam, eine Sau zwischen die Beine nahm und ihr mit einem Vorschlaghammer mit voller Kraft auf die Stirn schlug. Die Sau quiekte, fiel um und zitterte am ganzen Leib (Betäubung auf Bayerisch sozusagen). Danach schnitt er ihr den Hals auf, trieb ihr die Fleischerhaken durch die Hinterläufe und hängte sie auf. Anschließend zog er ihr die Haut ab. Die Herren vom Jugendamt und Tante Gerda sahen mich erschrocken an. Herr Weglar aber bewahrte die Ruhe und lächelte. Er schien mich zu verstehen: St. Niemandsland hatte deutliche Spuren hinterlassen. Sie drückten sich in meinem Berufswunsch aus.
»Nun besuchst du erst einmal die Waldorfschule und machst deinen Schulabschluss«, meinte er.
Ein wenig beschämt nickte ich. Das war mir auch in St. Niemandsland so gegangen, wenn ich glaubte, etwas »Falsches« gesagt zu haben. In diesen Momenten fühlte ich mich unsicher, wie damals, als Schwester C. mir glauben machte, mit mir sei etwas von Grund auf nicht in Ordnung. Dieser stille Selbstzweifel sollte noch viele Jahre in meiner Seele spuken.
Tante Gerda stimmte Herrn Weglar zu. Auf sie war ich immer noch sauer, weil sie mich in den Sommerferien nicht zu sich genommen hatte. Auch bevorzugte sie immer Clara, was in mir das Gefühl auslöste, nicht geliebt zu werden, obwohl ich ihr Neffe war.
Nachdem sich die Herren vom Jugendamt und Tante Gerda verabschiedet hatten, brachte uns Herr Weglar zur Familie T. ins Haus 10. Das Haus 10 lag in unmittelbarer Nähe der Waldorfschule und des Bolzplatzes. Ich erinnere mich noch genau daran, dass die Sonne schien und das Kinderdorf in helles Licht getaucht war – es war so ganz anders als das in Marienburg. Als wir das Haus betraten, hing ein handgemaltes Schild an der Haustür, auf dem stand:
»Herzlich willkommen Clara und Clemens.«
Und in der Tat, ich fühlte mich willkommen. Frau T. öffnete uns die Tür. Sie war, wie sich später herausstellen sollte, selbst Mutter von zwei Kindern. Ihr Mann arbeitete in der Druckerei des Kinderdorfes und war bei unserer Ankunft nicht zugegen. Herr Weglar verabschiedete sich, und Frau T. führte uns durch das Haus. Ich staunte nicht schlecht. Im Erdgeschoss befanden sich zwei Flure, die durch eine Zwischentür miteinander verbunden waren, ein größerer und ein kleiner. Vom großen Flur aus, der im Eingangsbereich lag, gelangte man in das Wohnzimmer, das Elternschlafzimmer, die Küche und die Gästetoilette. Im Wohnzimmer befand sich ein offener Kamin. Ihm gegenüber lagen großflächige Fenster, durch die das Spätsommerlicht drang. Man hatte einen weiten Blick auf den Dorfteich und die angrenzenden Häuser, denn das Haus lag auf einer Anhöhe. Der Fenstersims war mit schönen Pflanzen und Mineralien dekoriert. Ein großer Holztisch stand neben der Durchreiche zur Küche. Um ihn herum gab es zwölf Stühle. Dort wurden in familiärer Atmosphäre die Mahlzeiten eingenommen.
Dann führte uns Frau T. hinüber zum kleinen Flur. An diesen grenzten drei Zimmer, in denen je zwei Pflegekinder untergebracht waren. Sie klopfte behutsam an eine der Türen. Das war die erste Regel, die ich zu lernen hatte: Man dringt nicht einfach in das Zimmer eines anderen ein, so wie Schwester C. es immer tat, wenn sie den Schlafsaal betrat.
»Herein«, erwiderte eine junge Männerstimme.
Ich durfte die Tür öffnen. Ich sah Uwe, meinen künftigen Pflegebruder, auf dem Bett sitzen, das neben dem Fenster stand.
»Hallo, ich bin der Uwe«, begrüßte er mich freundlich.
»Ich heiße Clemens«, erwiderte ich.
Uwe war mir auf Anhieb sympathisch. Er war ein ruhiger Typ, so ganz anders als ich. Er hatte halblanges, dunkles Haar. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Sein Blick war freundlich und er war von kräftiger Statur.
Nachdem ich die Koffer in meinem Zimmer abgestellt hatte, führte uns Frau T. in Claras Zimmer, das neben meinem lag. Auch ihre Freude über unser neues Zuhause war nicht zu übersehen. Nun durften wir ankommen im Schoß einer Familie. Wenn es auch nicht die eigenen Eltern und Geschwister waren, so war es doch immerhin eine Familie, nach der ich mich all die Jahre in St. Niemandsland gesehnt hatte.
Im Untergeschoss befanden sich der gemeinsame Wasch- und Duschraum sowie der Fahrrad- und der Waschkeller. Sie grenzten an den Bastelraum. Als Frau T. das Wort Bastelraum in den Mund nahm, erschrak ich. Erinnerungen an St. Niemandsland tauchten auf. Aber dieser Bastelraum war so ganz anders als der im Kinderheim: In der Mitte des Raums stand ein großer Holztisch mit Mal- und Bastelsachen darauf. Und es roch auch nicht nach Terpentin oder Kernseife. Die Wände waren mit Nadelholzpaneelen bestückt, die einen angenehmen Duft verbreiteten. Vom Bastelraum aus kam man ins Freie, direkt zum Teich. In diesem Bastelraum gab es also keine Bambusstöcke, die auf Kinderhände einschlugen.
Auch im Dachgeschoss lebten Pflegekinder, die wir begrüßten. Ich fühlte mich in unserem neuen Zuhause sofort heimisch. Über dem ganzen Kinderdorf lag eine Aura von Geborgenheit und Sein-Dürfen. Diese Atmosphäre ermöglichte das Ankommen. All das stellte einen großen Kontrast zu meinen früheren Erfahrungen in Kinderheimen und Krippen dar.
Auszug aus den Jugendamtsakten vom 10.05.19..
An das
Stadtjugendamt Keppstadt
Betreff: Pflegkostenrechnung I / 7.. vom 10.01.19.. Clemens und Clara Heymkind, geboren 07.09.1965
Sehr geehrte Damen und Herren,
bei der Überprüfung Ihres Kontos stellten wir fest, dass der Rechnungsbetrag für die beiden o.g. Rechnungen bei uns noch nicht verbucht ist.
Wir bitten Sie daher zu überprüfen, wann die Beträge an uns überwiesen wurden.
Mit freundlichen Grüßen
aus dem Pestalozzi-Kinderdorf
Nachdem Clara und ich unsere Koffer ausgepackt und unsere Zimmer eingerichtet hatten, durften wir noch raus zum Spielen. Es war wunderbar, es gab keine Nonnen, die uns argwöhnisch beobachteten, keine Spielverbote wegen des Bettnässens. Auf der Spielwiese, die in unmittelbarer Nähe unseres Hauses lag, bolzten Kinder. Clara schien sich während der Sommerferien verändert zu haben. Ihr sonst stilles und verträumtes Wesen schien einem draufgängerischen Verhalten gewichen zu sein. Wie sich herausstellte, wollte Clara fortan sein wie wir Jungs, wild und ungezogen.
Als wir die Spielwiese erreichten, trat ein Junge auf mich zu. Markus war in derselben Pflegefamilie wie wir, was ich aber bei dieser Begegnung noch nicht wusste. Er war ein Jahr älter und etwa einen Kopf größer als ich. Er war kräftig, und seine schwarzen Haare und stechend braunen Augen flößten mir Respekt ein. Als ich vor ihm stand, fragte er uns, ob wir mitbolzen wollten.
Ich bemerkte allerdings, dass Markus mehr im Schilde führte. Aufgrund zahlreicher Prügeleien in St. Niemandsland war ich erfahren genug zu spüren, wenn sich eine Prügelei anbahnte. So auch bei Markus. Er wollte sich mit mir messen. Das lag auch daran, dass ich während des Bolzens den Coolen markierte, der sich vor nichts zu fürchten schien. Auf diese Provokation sprang er an. Obwohl ich wusste, dass Markus stärker als ich war, scheute ich vor einer Prügelei nicht zurück. Das konnte ich schon deswegen nicht, weil Clara mich anfeuerte, nicht den Schwanz einzuziehen. Clara glaubte tatsächlich, dass ich stärker sei als Markus.
Die Spannung stieg, und ich begann, nach einem nichtigen Anlass zu suchen, der die Bombe zum Platzen bringen würde. In St. Niemandsland hatte ich ein gewaltiges Aggressionspotenzial aufgebaut, das mir Kraft und Mut verlieh. Ich dachte in Momenten wie diesen mit Markus oft an Schwester C. und an die Kraft, die aus ihr herausbrach, bevor sie auf mich einschlug. Es war eigenartig: Obwohl ich Markus sympathisch fand und mich eigentlich nicht mit ihm prügeln wollte, trieb mich eine ungeheure Kraft dazu, es doch zu tun. Diese Kraft, diese Aggression, konnte ich nicht kontrollieren, ich wurde von ihr beherrscht. In diesen Momenten »fühlte« ich Schwester C. Dieses Spannungsgefühl war verbunden mit dem Bild ihrer Fratze, die dann vor meinem inneren Auge auftauchte.
Markus trat entschlossen auf mich zu, ohne jegliche Angst. Ich holte mit der Faust aus. Sie fand ihr Ziel nicht. Er lachte, während meine Schläge weiterhin nicht trafen. Inzwischen hatte sich eine Traube von Kindern um uns herum gebildet, die dem Spektakel zusahen. Ich versuchte es erneut, konzentrierte mich auf sein Gesicht. Wieder ein Faustschlag, der nicht traf. Markus reagierte schnell, wich aus – und was das Schlimmste für mich war: Er lachte dabei immer wieder. Clara feuerte mich an, die anderen Kinder stellten sich hinter Markus.
Angst stieg in mir auf. Meine Erinnerung gab Bildfetzen aus St. Niemandsland frei: Ich erblickte in Markus’ Gesicht die hautlose Fratze, wie ich sie bei Schwester C. und anderen Menschen oft gesehen hatte. Dieses Bild verstärkte meine Angst und lähmte mich. Ehe ich reagieren konnte, hatte Markus mich mit seinen Händen zu Boden gedrückt und in den Schwitzkasten genommen. Ich schrie vor Angst, weil ich glaubte zu ersticken, wie damals in der Badewanne von St. Niemandsland, als Schwester C. mir den kalten Duschstrahl ins Gesicht gedrückt hatte.
Wenig später ließ Markus ab von mir. Er hatte mir nicht ins Gesicht geschlagen, hatte mich nicht getreten, nur in den Schwitzkasten genommen. Mit diesem Kampf waren die Fronten geklärt. Ich hatte erneut zu akzeptieren, dass es stärkere Buben gab als mich. Es fiel mir schwer, dieser Tatsache ins Auge zu sehen. Ich fühlte mich ohnmächtig, wie in der Badewanne oder wenn der Tatzenstock von Schwester C. auf mich einschlug. Auch hatte ich oft das Gefühl, in Claras Gegenwart stark und unverwundbar sein zu müssen. Sicherlich war diese Haltung auch meiner Erziehung in St. Niemandsland geschuldet, die ich im Laufe der Jahre verinnerlicht hatte: Dort durften wir Buben nicht weinen, keine Schwäche zeigen. Wir hatten die täglichen Gewaltausbrüche und Demütigungen von Schwester C., die wir wegen des Bettnässens einzustecken hatten, klaglos auszuhalten. Mit diesem Gefühl der inneren Isolation, das ich mit niemandem teilen konnte, steckte ich auch die Niederlage gegen Markus ein, hielt sie aus und schämte mich dafür. Markus war nicht nachtragend. Ich erinnere mich noch genau, wie überrascht ich war, als wir später gemeinsam am Abendbrottisch saßen, den Mutter T. liebevoll für uns gedeckt hatte.
Am nächsten Tag begleitete mich Markus in die nahegelegene Schule und zeigte mir unser Klassenzimmer. Er war zwar eine Klasse über mir, aber seine und meine Klasse teilten sich einen Raum, und wir hatten auch dieselben Lehrer. Markus war eine Frohnatur, und er fragte mich, wie es mir ginge, als ich auf meinem Stuhl Platz nahm. Ich spürte, dass Markus keine Feindschaft gegen mich hegte, obwohl ich die Prügelei angezettelt hatte. Das war ungewohnt. Schwester C. hatte oft tagelang nicht mit mir gesprochen, wenn ich ins Bett gemacht oder mich in der Schule danebenbenommen hatte. Sie behandelte mich wie Luft, entzog mir die ersehnte Liebe. Nicht so Markus.
Ich hatte das Bedürfnis, mich für mein Verhalten bei ihm zu entschuldigen, was ich auch tat. Er reichte mir seine Hand und so wurden wir Freunde. Das war ein gutes Gefühl.
Auszug aus den Jugendamtsakten vom 23.07.19..
An das
Pestalozzi-Kinderdorf
Betreff: |
Bekleidungsbeihilfe |
Wir erklären uns in stets widerruflicher Weise damit einverstanden, dass für die ab dem 01.07.19.. bei Ihnen von Seiten des Stadtjugendamtes im Rahmen der öffentlichen Jugendhilfe untergebrachten Jugendlichen
Heymkind Clara; geb. 07.09.1965
Heymkind Clemens; geb.07.09.1965
die angefallenen Bekleidungskosten pauschal bis zu einem Betrag von je 750 DM jährlich von Ihnen, d.h. vom Heimträger mit dem Stadtjugendamt mit der jeweiligen Heimkostenrechnung abgerechnet werden.
... Des Weiteren gehen wir davon aus, dass die Heimleitung dafür Sorge trägt, dass die notwendige Bekleidung nach den Grundsätzen der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit beschafft wird.
Stadtjugendamt Keppstadt
H. (Jugendamtsleiter)
Mittlerweile waren einige Monate vergangen. Wir hatten uns bei Familie T. gut eingelebt, Clara und ich genossen unsere Freiheit, und wir lernten rasch neue Freunde kennen, mit denen wir in der Waldorfschule eine Klasse besuchten und unsere Freizeit gestalteten. So bolzten wir an den Nachmittagen oft auf dem Platz, fuhren mit unseren Fahrrädern Rennen oder besuchten uns gegenseitig in den Familienhäusern. Diese Unbeschwertheit, die ich in St. Niemandsland manchmal während der Ausflüge zum Ferienhaus empfunden hatte, wurde hier im Kinderdorf innerhalb kurzer Zeit zum Grundgefühl. Das ermöglichte Verbindlichkeit, erzeugte Vertrauen und bot Geborgenheit. Die Umgebung tat das Ihrige: Ich liebte die Ausflüge mit dem Fahrrad in die Obstplantagen, in denen wir uns die Taschen mit Äpfeln vollstopften, liebte den Geruch, den die satten Wiesen und Felder verströmten, liebte die Frische der Luft und das gleißende Licht, das der Bodenseegegend so eigen ist. Clara und ich hatten in jeder Hinsicht Neuland betreten.
Und das war noch nicht alles. Eines Tages wurde ich auf den dorfeigenen Bauernhof aufmerksam. Clara, einige Mitschüler und ich kamen gerade von einer Fahrradtour zurück, als wir vor dem Bauernhof anhielten.
»Ich muss noch die Milchkanne abholen«, sagte David.
Im Kinderdorf war es eine Zeit lang üblich, die Milchkannen direkt am dorfeigenen Bauernhof befüllen zu lassen. Dazu benutzte jede Kinderdorffamilie eine eigene Kanne. Im Rahmen der Hausdienste übernahmen die Kinder abwechselnd den Milchdienst. Dazu brachte man die leere Milchkanne zum Bauernhof und ließ sie dort befüllen. Oder man brachte sie am Morgen hin und holte sie abends wieder ab. In St. Niemandsland hatte es nie frische Milch gegeben. Hier im Kinderdorf jedoch schien alles im Überfluss vorhanden zu sein: Frisches Gemüse, Gebäck, Obst, Milch, Käse … All diese Leckereien wurden selbst hergestellt. Ich fühlte mich wie im Schlaraffenland.