ZWÖLF BRIEFE
ÜBER SELBSTERZIEHUNG
Zum Wiedererscheinen des Buches (E. Bock)
1Erster Brief
Gefahr der Gegenwart − Stunden innerer Erkraftung − Grundbedingungen − Rudolf Steiner: Anregungen zur Meditation − Meditation und Kultus − Beispiel einer Meditation − Innerer Gang des Meditierens
2Zweiter Brief
Kloster und Tempel im Innern − Meditation und Selbstsuggestion − Körperhaltung − Erlangung von Geistesruhe − Einschlafen und Sternenhimmel − Ruhe im Alltagsbetrieb − Religiöser Friede − Morgen und Abendmeditation
3Dritter Brief
Meditation und Gebet – Gebetserhörung − Meditieren lernen − Religion Bildwerke − Physische und geistige Speise − Kultisches Essen − Äußere und innere Taten des Lichts
4Vierter Brief
Häusliche Schwierigkeiten bei der Meditation − Wirkung auf das Unbewusste − »Fürbitte« − Einfluss auf das Schicksal anderer − Veredlung des Verkehrs unter den Menschen − Ichlosigkeit und Selbstlosigkeit − Innere Führung − Das »höhere Ich«
5Fünfter Brief
Heiligung des Erkenntnisstrebens − Meditation und Lebenspraxis − Übertriebenes Meditieren − Christus ist die Zukunft − »Ich bin der Weg« − Tagesrückblick − Christliches Lebensgefühl − Ich-Krankheiten und ihre Heilung
6Sechster Brief
Luther über die Meditation − Erziehung des Gefühlslebens − Läuterungsbedürftigkeit − Das Wesen christlicher Liebe − Das Geheimnis der Fußwaschung − Christlicher Friede − »Erlösung« durch Christus − Umgang mit dem Schicksal − Schmerz und Weisheit − Der wahre Mensch
7Siebter Brief
Der Atem in der Meditation − Vegetarisches Leben − Das Sexuelle − Das Kreuz Christi als Meditationsinhalt − Weltgeheimnis und Alltag − Höllenfahrt in Vergangenheit und Gegenwart − Die Finsternismächte − Liebe und Friede im kosmischen Sinn − Meditation und Kommunion
8Achter Brief
Konzentrationsübung − Die Erde als Grab − Das Bild des Auferstandenen − Himmelfahrt und innere Taufe
9Neunter Brief
Willenserziehung − Manichäer und Magie − Grundeinstellung des Willens zur Welt − Bedingungen für das Wirken − Heilkräfte − Krankheit − Erhabenheit des Willens − Physische Grundlage des Willens
10Zehnter Brief
Willenserkrankungen − Askese − Exerzitien − Sport − Willenserstarkung von innen − Das Böse − Der Blick für die Not − Die innere Kraft der Hilfe − Soziales Christentum
11Elfter Brief
Das Meditieren im Neuen Testament − Das Vaterunser als Meditation − Das Reich der Schwäche − Furcht aller Art − Hilfe dagegen − Weltendunkel und Geistesblindheit − Auftun des Auges − Der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis
12Zwölfter Brief
Krönung der Willensübungen: Leben gegen Tod − Totenauferweckungen − Innere Vorbedingungen dazu − Verhältnis zu den Verstorbenen − Ratschläge zur Willenserziehung − Charakter des Meditierens − Tageszeiten und Jahreszeiten − Das Menschenbild
Zwanzig Jahre nachdem diese »Briefe über Selbsterziehung« in Vervielfältigungsform zum ersten Mal erschienen, zehn Jahre nach dem Tode des Verfassers, sieben Jahre nach der gewalttätigen Unterdrückung und Vernichtung des Buches tritt dieses intimste Lebensvermächtnis Dr. Friedrich Rittelmeyers erneut seinen Weg in die Welt an.
Das reiche literarische Werk, das Friedrich Rittelmeyer uns hinterlassen hat, spannt überall den weiten Bogen eines entscheidenden Schrittes in der christlichen Geschichte. Über den reißend angeschwollenen Strom des Zeitenschicksals ist eine Brücke gebaut worden, die in ein neues christliches Zeitalter hineinführt. Zwischen dem »Jesus«-Büchlein (1912) und dem »Christus«-Buch (1936) liegt der Durchbruch des theologischen Erkennens, das in den Bann der bloß-irdisch-menschlichen Ebene geraten war, zu einer neuen Geist- und Christus-Erkenntnis. Zwischen den zusammen mit D. Christian Geyer herausgegebenen Predigtbüchern (»Gott und die Seele« 1906, »Leben aus Gott« 1910) und dem reichen seelsorgerlichen Schrifttum der letzten Jahre liegt der Schritt vom Pfarrer und berühmten Kanzelredner der evangelischen Kirche zu dem Priestertum, das in der Christengemeinschaft den für unsere Zeit neu aus dem Geiste begründeten Sakramentalismus verwaltet. Zahlreiche Bücher, darunter diejenigen autobiografischen Inhaltes (»Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner« und »Aus meinem Leben«) lenken den Blick auf die Persönlichkeit, der Friedrich Rittelmeyer die größte Geisthilfe verdankte für die Durchbrüche seines Lebens sowie auch für seinen Anteil an der zur Wirklichkeit gewordenen »Neuen Reformation«: Rudolf Steiner. Das Einzigartige, Besondere des Buches »Meditation« liegt darin, dass es in das Geheimnis des Impulses hineinblicken lässt, den Friedrich Rittelmeyer wie von Ewigkeiten her in der eigenen Seele mitbrachte und der ihm von innen her die Kraft gab, die Schicksalsmöglichkeiten zu verwirklichen, die ihm durch den Ruf des Zeitalters und die Hilfe Rudolf Steiners von außen her entgegenkamen.
Der innerlichste Antrieb zur meditativen Vertiefung der eigenen Seele war von Anfang an die tragende Kraft in seinem Leben und Streben. Was von der Würzburger Vikarszeit an seinen Predigten das Aurisch-Umhüllende, Heilende, Emportragende gab, war, dass sie aus dem Brunnen der Meditation heraufgeholt waren. Was seiner seelsorgerlichen Wirksamkeit schon früh die überpersönliche Väterlichkeit und Gütekraft verlieh, war, dass er durch das meditative Arbeiten an sich selbst sein Persönliches für ein Höheres durchlässig gemacht hatte. Was ihn im letzten Grunde zu Rudolf Steiner führte, war dies: Der Meditierende erkannte und erfuhr, dass ihm hier für die intimste innere Arbeit in Klarheit und Meisterschaft der Weg gewiesen werden konnte. Demgegenüber trat die inhaltliche Verkündigung des Geistesforschers jahrelang für ihn in den Hintergrund, hat er sich doch gerade in jenen ersten Jahren, statt die Vortragsreihen mitanzuhören, in denen Rudolf Steiner unermüdlich die neue Christuserkenntnis herausarbeitete, auf die seltenen Gelegenheiten beschränkt, ihn in Gesprächen um Rat für das meditative Leben zu bitten.
Um recht zu erkennen, auf welche geistige Zukunftsströmung Friedrich Rittelmeyer durch das tief in ihm verwurzelte meditative Streben und schließlich durch das reif-zusammenfassende Buch »Meditation« hinzielte, muss man in ältere Epochen der christlichen Entwicklung zurückgehen. Die Geschichte der Mönchsorden enthält wesentliche Stadien der christlich-meditativen Strömung. Vor der Entstehung der Gotik und der bürgerlichen Städtekultur, als in Mitteleuropa noch alle Klöster und Gotteshäuser, in dem mysterienhaft-wuchtigen romanischen Stil erbaut, inmitten der dämmerdunklen großen Wälder lagen, pflegte der einheitlich christliche Grundorden nach der von Benediktus eingesetzten Mönchsregel sein meditatives Andachtsleben. Darin fasste sich noch einmal die Substanz der überpersönlichen urchristlichen Frömmigkeit zusammen. Dann, als die großen Wälder fielen und den helleren Feld- und Wiesenflächen um die neu entstehenden Städte herum Platz machten, flammte wie ein Gewitter das Erwachen des individuellen Lebens durch die Welt. Die Gotik entstand. In Bernhard von Clairvaux trat eine neue Art von Ordensgründern auf den Plan. Benediktus war als persönlicher Mensch noch ganz zurückgetreten: Durch ihn wirkte eine große objektive Strömung von Weisheit und Güte. Bernhard ist der prophetisch-mächtige Erstling der persönlichen Frömmigkeit. Die Reform-Orden der Cluniazenser und Zisterzienser machen den Weg frei für die bald hervortretende, in sich stark differenzierte Vielheit der Mönchsorden, unter denen Dominikaner und Franziskaner im Vordergrund stehen.
In der Zeit der Gotik musste die Strömung des meditativen Lebens ein völlig neues Gepräge annehmen. Meditation wird zu einem Mittel der persönlichen Verinnerlichung und Ich-Findung. Insofern hat, was nach Bernhard von Clairvaux in den Mönchsorden lebendig ist, vielfach einen vorreformatorischen Charakter; es bereitet die neue Zeit vor. Als schließlich die Reformation Martin Luthers für den vorwärtsstürmenden Teil der Christenheit dem Mönchs- und Klosterleben ein Ende machte, löste sich die meditative Strömung, die bis dahin immer noch eine imposante Geschlossenheit bewahrt hatte, in die Vereinzelung des persönlichen und oftmals allzu-persönlichen Gebetslebens auf. Die Ordensgründung des Ignatius von Loyola, die durch ihr Exerzitienwesen ein überpersönliches meditatives Geistelement wiederherzustellen unternahm, war ausgesprochen gegenreformatorisch eingestellt. Sie lief Sturm gegen das individuelle Prinzip überhaupt, was nicht ohne Verneinung der persönlichen Freiheit auf religiösem Felde möglich war.
Es ist wohl nicht ohne Bedeutung, dass Friedrich Rittelmeyer sich von Jugend auf unter allen Epochen der christlichen Geschichte besonders von der Zeit der Hohenstaufen angesprochen gefühlt hat. Innerlich knüpfte er an die meditative Strömung an, so wie sie zur Zeit der beginnenden Gotik, des Cluniazenser- und des Zisterzienser-Ordens an dem großen Ich-Erwachen, an der Geburt der persönlich-christlichen Frömmigkeit, Anteil gewonnen hatte. Als ob damals, in den Jahrhunderten vor der Reformation, ein Strom versickert und unterirdisch weitergeflossen wäre, um in der Gegenwart wieder an die Oberfläche zu dringen und sich ein neues, unserer Zeit angemessenes Strombett zu suchen. Hier berühren wir etwas von der innersten Lebensmission, um deren Verwirklichung Friedrich Rittelmeyer rang. Auferstehender Mönchsernst von der reifen Höhe des Mittelalters lebt darin. An zwei Stellen konnte Dr. Rittelmeyer auf das wirksamste mit einem Kreise von Schicksalsgefährten an einer neuen Geist-Kultur bauen. Indem er in die Reihen der Schüler Rudolf Steiners trat, wurde er zu einem der gewichtigsten Vorkämpfer der Anthroposophie als einer umfassenden Weltanschauungs- und Erkenntnis-Erneuerungsbewegung. Indem er sich mit dem größtenteils aus viel jüngeren Menschen bestehenden Kreise derer zusammentat, die in dem priesterlichen Wirken der Christengemeinschaft um die neue Ära der christlichen Kirche über Katholizismus und Protestantismus hinaus ringen, trat er an die Spitze einer kultustragenden religiösen Erneuerungsbewegung.
Den allerpersönlichsten Lebensimpuls, den er als führender Träger der meditativen Strömung in sich trug, hätte er nur dann voll auswirken können, wenn es heute möglich und sinnvoll wäre, einen religiösen Orden zu begründen. Mit diesem besonderen Impuls stand er sozusagen auf der Mitte zwischen den Aufgaben, die er auf der einen Seite als Anthroposoph, auf der anderen Seite als der Erste der neuen Priesterschaft zu erfüllen hatte.* Vielleicht wird es einmal ganz besonders zu seiner historischen Bedeutsamkeit gerechnet werden, dass sich in ihm die Meditationsströmung, wie sie dereinst bis zur Gotik hin durch die Mönchsorden geflossen ist, frei in das moderne Leben ausgegossen hat. Das ist die stille, aber ganz gewiss nicht unwichtige Aufgabe des Buches, das hiermit neu vor die Welt hintritt: Es ist die Ordensregel eines nicht an organisatorische Formen gebundenen freien Kreises von Menschen, die einen johanneischen Weg zur persönlichen meditativen Verinnerlichung suchen.
Lic. Emil Bock
Die Menschheit wird heute überflutet von allen möglichen Ratschlägen zur Meditation. Darin drückt sich die elementare Empfindung aus, dass die Innenkraft des Menschen gestärkt werden muss, wenn er nicht der Außenwelt erliegen soll.
Aber was da geboten wird, ist entweder äußerlich lebenspraktisch, ohne wirkliche Fühlung mit den Tiefen der Welt, oder es stammt wohl aus einer Geistigkeit, aber aus einer Geistigkeit, die den starken Willen zur Erde nicht in sich trägt. Was aus dem Westen kommt, besonders aus dem amerikanischen Westen, ist meist von der ersteren Art. Aber auch Coué gehört dazu. Was aus dem Osten kommt, besonders aus dem indischen Osten, zeigt die andere Art. Aber auch die Athosschwärmerei liegt in dieser Richtung. In der Mitte bietet sich vom Süden her eine Menschheitserziehung an, die wohl Geistwissen und Lebenspraxis verbindet, aber die Entwicklung der Neuzeit zu Erkenntnis und Freiheit nicht mitgemacht hat und den Menschen mit Vergangenheitskräften durchdringt: die Exerzitien der katholischen Kirche. Wie sehr sie heute begehrt werden, sei es in der jesuitischen Art oder in anderer ähnlicher Gestalt, darin offenbart sich wieder das Bedürfnis der heutigen Menschen.
Was in diesem Buch versucht wird, ist von dem allen unterschieden. Es strebt in einer zeitgemäßen Art nach dem Christusgeist, der den »Himmel« in sich hat, aber die Erde sucht. So will es die Gefahren aus Westen und Osten vermeiden, aber auch die Gefahr der Vergangenheit. Aus dem Johannes-Evangelium ist alles entnommen. Dadurch scheint es zunächst vielen fern, die noch nicht wissen, was sie im Johannes-Evangelium haben. Aber das ließ sich nicht vermeiden, wenn beste Hilfe geboten werden sollte. Und überall ist Rücksicht genommen auf die Menschen, die aus dem Heidentum der Gegenwart an diese Welt herankommen. Denn volle Wahrhaftigkeit und Freiheit sind die ersten Bedingungen, unter denen allein eine gegenwartsgemäße Geisteserziehung sich vollziehen darf. So hat es Rudolf Steiner gehalten, dem der Verfasser auf diesem Gebiet das Beste verdankt, der die größte Erfahrung in der Geistesentwicklung hatte, dem alles daran gelegen war, dass die europäische Mitte ihre Aufgabe zur rechten Zeit erkennt und erfüllt.
Die nachfolgenden Betrachtungen sind zunächst als Briefe erschienen für Menschen, die solche Hilfe sich wünschten. Diese Briefgestalt wurde auch in der Buchausgabe nicht getilgt, weil in ihr der Charakter eines persönlichen Rates am besten zum Ausdruck kommt. Manchen Rat, den einer von Anfang an brauchte, findet er vielleicht erst in späteren Briefen. Die Inhaltsangabe kann ihm da Führer sein. − Die neue Auflage ist überarbeitet, doch wenig verändert.
*Wie Dr. Rittelmeyer selbst darauf bedacht war, diesem Meditationsbuch eine ganz freie eigene Aufgabe zuzuweisen, zeigen am besten die Stellen, an denen er den Lebensbereich desselben einerseits gegen den des in der Christengemeinschaft gepflegten Kultus und Gebetes, andererseits gegen den der esoterischen Schulung im Sinne des Buches »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« von Dr. Rudolf Steiner (Seite 25 ff.) in deutlicher Unterscheidung abgrenzt.
Der erste dieser Briefe will zunächst klarlegen, was in der Absicht des Verfassers liegt.
Das Motiv zur Ausgabe dieser Briefe ist die Überzeugung, dass die Menschheit in der Gegenwart in allergrößter Gefahr steht. Wir meinen nicht einen Giftgaskrieg, auch nicht eine allgemeine wirtschaftliche Katastrophe. Das alles mag drohen. Aber das Gegenwartsleben selbst hat solche Formen angenommen, dass die Menschheit auf dem Wege ist, den Menschen selbst zu verlieren. Wie wir heute Tag für Tag durch unseren Beruf in Anspruch genommen werden, besonders in den technischen Berufen, aber keineswegs bloß in ihnen, das ist das Zerstörende. Es droht, den Menschen in uns auszulöschen, das echte Menschentum unmöglich zu machen, die wahre Zukunft der Menschheit zu vernichten, ja das menschliche Leben selbst zu ertöten. Wenige Menschen sehen mit klaren Augen, wie sie eigentlich leben. Sie leben nicht, sie werden gelebt, durch den ganzen Tag hindurchgelebt von irgendwelcher unbekannten Macht, die über ihnen die Peitsche schwingt. Zu irgendeiner Stunde ruft der unerbittliche Wecker der Pflicht. Und dann jagt eine Pflicht die andere, und alle miteinander jagen den Menschen. Was ist das für eine Gewalt, die über uns Herr geworden ist?
In jenen Jahren, als mein Leben selbst diesem modernen Leben am ähnlichsten war, hatte ich als protestantischer Vikar in Würzburg, neben den anderen Pflichten der Predigt und Gemeindetätigkeit, sieben Jahre lang wöchentlich 22 Unterrichtsstunden zu geben. Es waren Religionsstunden, und ich war aus freiem Willen mit Begeisterung Diener der Religion geworden. Aber wie da Tag um Tag morgens die vier Religionsstunden herankamen und gehalten werden mussten, das war, um einem Menschen jede Freude auch an einem idealen Beruf auszurotten. Wollte man hier als Mensch immer mit der Seele dabei sein, so wurde man krank. Damals schwebte ein Bild über mir, das für viele Menschen der Gegenwart gelten mag. Ich sah, wie ich alle Tage einen Eisenpanzer anziehen und in ihm einhergehen musste. Er trug mich auch bis zu einem gewissen Grad und schützte mich, aber er erdrückte den verborgenen, werdenden Menschen, der nach Leben rief.
Wenn man heute oft ausspricht, dass der Mensch in Gefahr ist, Maschine zu werden, so nimmt man diese Gefahr noch lange nicht ernst genug. Die Maschine frisst sich von außen in uns hinein, zehrt uns auf und setzt sich an unsere Stelle. Dies gilt nicht nur für viele Alltagsberufe, sondern auch für höhere und höchste. Es gibt zum Beispiel ganz feine menschliche Präzisionsmaschinen. Man nennt sie Gelehrte. Die Stunden, wo die Arbeit wirklich Freude und Leben ist − so hat einmal einer von ihnen bekannt −, sind auch bei ihnen selten. Forscherarbeit, wenn sie nach den strengsten Methoden getan wird, kann den Charakter des Mechanischen und Mechanisierenden annehmen und lässt dann dem freien Geistesspiel nur wenig Raum. Wie geht es erst den anderen! Man kann das Maschinenhafte bei vielen Menschen, die im Arbeitsleben stehen, schon deutlich auf den Gesichtern sehen. Es sind geprägte, geformte Gesichter, in denen das Geistige wie in Schienen läuft. Nach dem leuchtend Lebendigen, nach dem unergründlich Menschlichen, nach dem sprießend Schöpferischen sucht man vergeblich. Die Tragik des Menschen im Maschinenzeitalter steht auf diesen Zügen wie mit sprechenden Buchstaben geschrieben.
Redet man solchen Menschen zu, sie möchten sich doch auf jeden Fall irgendein persönliches Interessengebiet außerhalb ihres Berufes erhalten, so bekommt man die Antwort, wie sie mir einmal ein hochbegabter Ingenieur gegeben hat: Ja sehen Sie, das habe ich manchmal versucht; aber wenn ich dann abends nach Tisch ein Buch lese, dann fällt mir plötzlich ein, dass ich die neuesten technischen Zeitschriften noch nicht durchgesehen habe und dass meine Konkurrenten einen Vorsprung vor mir gewinnen, wenn ich nicht alle meine Zeit und Kraft auf meinen Beruf verwende − und dann lege ich das Buch wieder hin. So entstehen die Menschen, die in ihren freien Stunden überhaupt nichts Rechtes mehr mit sich anzufangen wissen. Außer dem Schlaf und der ganz blöden Ruhe ist nur die Sensation noch eine Erholung. Man sucht nach der Aufregung im Sport oder Sportbericht, man überlässt sich dem wechselnden Nervenkitzel des Kinos, des Radios, des Fernsehens, man liest Detektivgeschichten, man verfällt dem Spiel. Oft kann man von diesen Menschen den Eindruck haben, dass sie eigentlich Leichen sind, die nur durch künstliche Mittel noch einen Schein des Lebens erhalten.
Das Wort der Menschenweihehandlung vom »ersterbenden Erdendasein« ist zu dem überlebendigen Treiben der Gegenwart der grausame Wahrheitshintergrund.
Hin und wieder macht man die Erfahrung, wie das unterdrückte Seelenleben an irgendeiner Stelle gewaltsam auspufft, als schaffe es sich selbst ein Ventil. Dann ergehen sich solche Menschen plötzlich in schwüler Mystik oder in kindischer Sentimentalität. Sie suchen spiritistische Sitzungen auf und genießen den Schauer. Sie flüchten sich in die Düsternis und Unergründlichkeit einer Kirche und überlassen sich dort ihrer Rührung. Sie lesen alberne Dichtungen und lernen sie auswendig. Sie schwelgen gefühlsmäßig in der Natur, ohne doch wirklich etwas von ihr zu haben.
Dies alles mag übertrieben erscheinen. Und es ist auch übertrieben, wenn man die volle Breite des Lebens ansieht. Aber es ist nicht übertrieben, mit keinem Wort übertrieben, wenn man die innere Tendenz dieses Lebens ins Auge fasst. Wofür hat man, wenn man dreißig Jahre lang mit allen möglichen Menschenschicksalen intim zu tun hatte, seine Erlebnisse, wenn man sie nicht zum Nutzen anderer Menschen ausspricht? So sei es geradeheraus ausgesprochen: Oft kann man hinter alledem die Geisteskrankheit deutlich heraufkommen sehen. Nicht nur den Seelentod, wie ihn Nietzsche in seinem Zarathustra am »letzten Menschen« schildert, sondern die dämonische Verrücktheit.
Von dem allen soll hier nur andeutungsweise gesprochen werden. Mag jeder sehen, welche Illustrationen ihm das Leben dazu bringt. Aber nur wenn wir für die Gefahren des Gegenwartslebens − auch bei uns selbst − klare Augen haben, wird das Bemühen, stille Stunden der inneren Erkraftung in dieses Leben hineinzubauen, nicht bloß ein egoistisches Streben sein oder eine persönliche Liebhaberei, sondern eine Tat der Verantwortung für das Leben, eine Hilfe für das bedrohte Menschentum, ein Erlöserwerk an uns selbst und an der Menschheit. Man möchte sich für den Inhalt dieser Briefe Leser wünschen, die von der Empfindung durchdrungen sind: Der Mensch ist verloren, wenn es nicht gelingt, ihm von innen her neue Stärke zuzuführen, damit er der äußeren Gewalt nicht erliegt.
Viele Menschen fühlen heute, dass eine neue Geistigkeit kommen muss, wenn der Mensch aus der Gegenwart heraus die Welt verstehen und zu den Rätseln des Daseins vordringen soll. Man sucht diese neue Geistigkeit auch bald hier, bald da, nur selten dort, wo sie wirklich zu finden ist.
Aber auch eine neue Innenerziehung ist notwendig, wenn die Menschheit gerettet und einer starken Zukunft entgegengeführt werden soll. In früheren Jahrhunderten hatten die Menschen in der religiösen Weltanschauung, in dem regelmäßigen Kultus, in den alten Geistigkeiten, die noch in den Berufen walteten, in der Geschütztheit des Familienlebens vieles, was sie hielt und trug. Dies alles ist heute im Zerbröckeln und Zusammenbrechen. Damals war auch der Mechanismus des Berufs noch nicht so tyrannisch und tötend, außer in der untersten Arbeiterschicht, die dumpf dahinvegetierte. Nur wenn heute die Menschen ihre Selbsterziehung und Selbsterkraftung während ihres ganzen Lebens energisch und bewusst in die Hand nehmen, werden sie der drohenden Weltgefahr gewachsen sein.
Was hier zur Hilfe geboten wird, das wird aus dem Zentral-Religiösen dargereicht. Hier ist eben die stärkste Quelle aller Kraft. Aber niemand lasse sich fernhalten, dem die Wahrheiten, von denen aus hier geredet und geholfen wird, für den Augenblick noch nicht innerlich zugänglich sind und darum auch noch nicht unmittelbar anwendbar. Er möge sich zu eigen machen, was ihm gemäß ist. Alles, was dem Inhalt nach hier vorgeschlagen wird, mag man nur als Beispiel betrachten. Und man mag sich den Inhalt, der dem eigenen Geist entspricht, bei Goethe suchen oder wo man will. Alles, was der Form nach hier vorgetragen wird, kann dennoch dienlich sein. Zwei Bedingungen − das sei zu Anfang für immer ausgesprochen − wollen jedenfalls erfüllt sein, wenn diese Ratschläge wirklich zum Segen werden sollen: Wahrhaftigkeit und Freiheit. Nur was man vor seiner eigenen Wahrhaftigkeit verantworten kann, soll man auf sich wirken lassen. Das schließt nicht aus, dass man probeweise und unter allem Vorbehalt einem Gedanken oder einer Wahrheit innerlich nähertritt. Aber das Bewusstsein, dass hier ein Versuch gemacht wird, darf uns dann nicht verlassen. Alles, was wir auf dem Wege der Suggestion, auch der Selbstsuggestion, in uns einlassen, würde verheerend wirken. Es ist im Grund Diebstahl, auf den die Strafe folgt. Das andere Erfordernis aber ist, dass man in voller Freiheit das Dargebotene persönlich sich erarbeitet. Gewiss handelt es sich um Ratschläge, die aus der Erfahrung stammen. Aber die Erfahrungen anderer können uns die eigene Erfahrung wohl erleichtern, aber nicht ersetzen. Wer uns vorangegangen ist, kann uns erzählen, dass in dieser Richtung ein Weg geht und wohin er führt. Aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, selbst auf den Weg zu achten und ihn unter Umständen für uns zu ändern. Je freier geübt wird, was hier empfohlen werden soll, umso mehr wird es zum Gewinn sein. Selbst dort, wo man es dem vollen Wortlaut nach zu befolgen vermag, sollte die Empfindung der reinsten Freiheit in jedem Augenblick in uns erhalten bleiben.
Das Beste auf dem Gebiet, das hier betreten werden soll, verdanke ich meinem Lehrer Rudolf Steiner. Aber es ist doch nicht so, dass ich erst durch Rudolf Steiner den Wert der inneren Arbeit an sich selbst, die Bedeutung auch der Meditation erfahren hätte. Wie ich zuerst zur Meditation kam, sei hier eingehender erzählt, weil daran wohl manches zu lernen ist. Als Gymnasiast und Student hatte ich oft in der Nacht Anfälle von unbändigem Herzklopfen. Ich wusste nicht aus und ein. Obwohl mir klar war, dass nichts Lebensgefährliches vorliegt, war ich doch in einem solchen Zustand der Lebensangst, als ob ich vergehen müsste. Einen Arzt fragte ich nicht, sondern suchte selbst nach einem Mittel, mit diesen Zuständen fertig zu werden. Da half mir der Entschluss, in solchen Stunden irgendeinen harmlos fröhlichen Lebenstag an mir vorüberziehen zu lassen. Nur wenn es konsequent und ohne Abschweifung gelang, immer mit dem Blick auf die frohe Grundstimmung des Tages, hatte es vollen Erfolg. »Jetzt stehst du auf, jetzt gehst du an den Waschtisch, jetzt nimmst du den Schwamm in die Hand … jetzt gehst du ins andere Zimmer, jetzt nimmst du den Stuhl aus der Ecke und stellst ihn an den Tisch, jetzt setzt du dich darauf« usw. usw. Nach einer guten halben Stunde war die Herrschaft über den Körper wiedergewonnen, und ich konnte einschlafen. Ähnlich habe ich mir später in Seelenzuständen geholfen, die man als Schwermutsanfälle bezeichnen könnte. Ganz konsequent wurde ein Erlebnis in allen Einzelheiten durchgedacht oder nacherlebt, bis man fühlte, dass der Boden im Gemütsleben nicht mehr schwankend war, sondern wieder trug. Diese Beispiele mögen zeigen, wie man selbst in Fällen, für die mancher Arzt nur ein Beruhigungsmittel oder einen Erholungsurlaub zur Hand hätte, sich aus dem Willen heraus durch rein geistige Möglichkeiten helfen kann. In wie vielen Krankheiten vermag man die Heilung herbeizuführen, wenn man es versteht, einen ruhigen, gleichmäßig heiteren Gemütszustand in sich hervorzurufen.
Das Beispiel möge zugleich zeigen, dass es nicht immer ein weltentiefer Spruch zu sein braucht, den sich die Seele zum Inhalt macht. Dazu ist der Mensch in manchen Lagen gar nicht imstande. Eine harmlos anregende, vielleicht sogar recht gleichgültige Bilderfolge hilft hier oft viel besser. Man tastet sich von Bild zu Bild, wie wenn man sich Griff um Griff an einem Geländer vorwärtsbewegt. Man achtet auf jeden Schritt, wie wenn man auf einem schmalen Weg geht und keine Zeit hat, um sich zu schauen. Gelingt es nicht und ertappt man sich dabei, dass man in Gedanken abgeschweift ist, so ruft man sich, sowie man es bemerkt, auf den Weg zurück, ohne aufregende Ärgerlichkeit über sich selbst und die eigene Schwäche. Allmählich lernt man es. Durch Rudolf Steiner habe ich später erfahren, welchen Wert es hat, wenn der Mensch dahin kommt, sich selbst von außen zu sehen, wenn er täglich wenigstens einige Augenblicke darauf verwendet, sein Leben am vergangenen Tage von außen und oben zu betrachten, wie er sich dadurch auf den Lebensrückblick nach dem Tode vorbereitet. Nach Rudolf Steiners Angabe geschieht dies am besten so, dass der Mensch versucht, seinen Tagesablauf ganz oder teilweise rückwärts zu gehen, nicht weil man ein Geistesakrobat werden möchte, wie übelwollende Kritiker sagen, sondern weil man dadurch viel mehr in den inneren Gang seines Lebens hineinblickt, so wie man auch nach dem Tode sein Leben nach rückwärts überschaut und prüfend noch einmal durchwandert. Damals wusste ich von dem allem noch nichts. Ich empfand nur das Lebenswohltätige und Geisterziehende einer solchen Betrachtungsart. Man lernt, seinen Geist in die Gewalt zu bekommen, und fühlt sich wohl in der inneren Zucht, die man sich selbst angedeihen lässt.
Als junger Theologe kam ich dann auf den Wert der religiösen Meditation, auf die Lebensbedeutung stiller Stunden. Was ich da erlebte und dann auch vielen Menschen immer wieder riet, davon steht einiges in der Predigt »Vom Alleinsein« in dem Buch »Gott und die Seele«, das im Jahre 1906 erschien, lange vor meiner ersten Berührung mit Rudolf Steiner.
Dennoch kam durch ihn in dieses ganze Gebiet erst hellere Klarheit und zielbewusste Folgerichtigkeit. Die einfache Wahrhaftigkeit und Dankbarkeit fordern es, dies auszusprechen. Und in der Rückerinnerung ist es mir merkwürdig, wie Rudolf Steiner, ohne dass ich das Geringste davon erzählt hätte, weder ihm noch anderen, von denen er es hätte hören können, gleich im ersten Gespräch von der Meditation zu sprechen begann und mir Ratschläge gab.
Damit keine Missverständnisse oder Unklarheiten entstehen, muss indessen deutlich unterschieden werden zwischen dem, was Rudolf Steiner auf diesem Gebiet tun und raten konnte, und dem, was hier möglich ist. Es sind ja so viele verkehrte Vorstellungen über Rudolf Steiner und seine Übungen verbreitet, dass ein Wort darüber vielen willkommen sein wird. Soviel ich beobachten konnte, gab er in etwa siebenfacher Art Meditationen:
1. Er empfahl Menschen, die zu ihm kamen, irgendeinen Spruch oder eine Spruchfolge zu meditieren, die der Bibel entnommen war. So hat er viele auf den Anfang des Johannes-Evangeliums hingewiesen. In Vorträgen, die er schon bald nach Beginn seiner Wirksamkeit hielt, sprach er aus: Wenn jemand die ersten fünf Verse des Johannes-Evangeliums regelmäßig täglich morgens nur etwa fünf Minuten lang ernsthaft in der Seele dasein lässt, so wird sich im Lauf einiger Jahre sein ganzes Seelenleben verwandeln. Soweit meine Kenntnis reicht, waren es Menschen, die noch religiöse Möglichkeiten in sich hatten, denen diese und ähnliche Meditationen gegeben wurden. Besonders auch Russen wies Rudolf Steiner in diese Richtung. Die ersten mächtigen Sätze des Johannes-Evangeliums können vor allem dazu dienen, dem Menschen eine gewisse Größe des Lebens, eine überpersönliche Weltentiefe, einen weiten Lebensatem, einen einheitlichen großen Lebensstil zu geben. Dies ist in der verwirrenden Fülle der Einzelheiten des Lebens eine hohe Wohltat.
2. Rudolf Steiner gab allgemeine Meditationen, wie sie etwa in seinen Wahrspruchworten veröffentlicht sind oder wie sie in seinen Mysteriendramen sich finden. Sie wenden sich mehr an Menschen, die aus dem Gegenwartsleben kommen, setzen nicht wie die Meditationen aus dem Johannes-Evangelium eine innere Beziehung zur Bibel voraus, führen aber immer in zentrale Tiefen.
Bei allen von ihm gegebenen Sprüchen legte Rudolf Steiner großes Gewicht auf Laut und Rhythmus, auf Gedankenfolge und Wortfolge und betonte, dass nichts in der Gestaltung solcher Sprüche bedeutungslos sei.
Viele dieser Sprüche, die mehr den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft gegeben wurden, setzen schon die Bekanntschaft mit den Wahrheiten der Geisteswissenschaft voraus. Andere Sprüche beziehen sich auf einzelne Lebensumstände und Verhältnisse wie auf die Beziehung zu den Verstorbenen, zu den Kindern, zu den Kranken, zu den draußen Kämpfenden, zur Mahlzeit usf. Andere Meditationssprüche wurden besonderen Ständen gegeben.
3. Rudolf Steiner gab in großer Anzahl einzelnen Menschen Meditationen, die eigens für diese Menschen verfasst worden waren. Diese Sprüche werden allermeist vermutlich niemals bekannt werden. Denn die Empfänger bewahren sie als ein ihnen persönlich vermachtes und anvertrautes Lebensgut. Wenn man in die Welt dieser Ratschläge gelegentlich einen Einblick erhält, so ist man erstaunt über die große Fülle und Mannigfaltigkeit, über die individuelle Genauigkeit und liebende Fürsorge, die hier den Menschen zuteilwurde.
4. Handelte es sich bisher immer noch um Wesensbildung, so gab Rudolf Steiner auch Anweisungen, wie der Mensch im Sinn der Menschheitszukunft an seinem eigenen Geistwerden arbeiten kann. Solche Ratschläge finden sich öffentlich in dem Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« und in der »Geheimwissenschaft im Umriss«. Zu ihnen gehören die sogenannten Vorübungen für Gedankenkontrolle, Gefühlszucht, Willensbildung usf. (Geheimwissenschaft 1925, S. 289 ff.). Zu ihnen gehört auch die Rosenkreuzmeditation in der »Geheimwissenschaft« (S. 269).
5. Im letzten Jahre seiner Wirksamkeit war Rudolf Steiner an der »Freien Hochschule für Geisteswissenschaft« in Dornach in besonderer Weise tätig für einen schon bewährten Kreis von Anthroposophen. Das Ziel dieser Wirksamkeit war, die Geburt des Geistesmenschen im Sinn des michaelischen Zeitalters zu fördern.
6. Wenn Rudolf Steiner einzelne Menschen aufgrund ihrer Begabung und ihres Schicksals für geeignet hielt, näher an die Offenbarungen der Geisteswelt herangeführt zu werden, so gab er ihnen Geistesübungen, die miteinander ein genaues System bildeten, das diesem einzelnen Menschen angepasst war. Wenn hier überhaupt davon gesprochen wird, so geschieht es nur, um gegenüber allen Verdrehungen und Verleumdungen ein Doppeltes festzustellen. Diese Übungen enthalten keine anderen Geheimnisse, als sie von Rudolf Steiner in seinen Vorträgen und Schriften öffentlich vertreten worden sind. Sie schonen aufs Strengste die innere Freiheit des Menschen und wollten nach Rudolf Steiners ausdrücklichem Willen immer ganz frei angeeignet und persönlich verarbeitet werden.
7. Zur unmittelbaren Entwicklung der in dem Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« geschilderten höheren Erkenntnisorgane hat Rudolf Steiner nur ganz selten und nur unter strengen moralischen Voraussetzungen einigen wenigen Menschen Ratschläge gegeben. Auch von diesen Ratschlägen gilt das im vorigen Absatz Gesagte im vollen Umfang. Diese Menschen sind zwar nicht entfernt so weit gekommen, dass sie Rudolf Steiner in all seinem Forschen nachprüfen könnten. Sie haben wohl ohne Ausnahme erlebt, dass der Weg länger und strenger ist, als sie selbst zu Beginn gedacht hatten. Aber unter ihnen und neben ihnen gibt es doch nicht wenige Anthroposophen, die auf den verschiedensten Gebieten Anfänge von Erfahrungen gemacht haben und mit Recht sagen können: Die Welt, von der Rudolf Steiner erzählt, gibt es; wir wissen aus eigenen Eindrücken, in wie hohem Grad sich als Wahrheit erweist, was er gesagt hat; ein Beweis, dass hier von Suggestion und Autosuggestion keine Rede sein kann, ist gerade dies, dass wir sehr vieles trotz aller Mühe nicht erreicht haben und dass das, was wir erreichten, immer anders war, als wir vorher erwarteten − und dass es trotzdem Rudolf Steiners Mitteilungen bestätigte.
Von den angeführten sieben Möglichkeiten der Meditation kann hier nur die erste in Betracht kommen. Wer für die übrigen Interesse hat, muss sich an die Anthroposophische Gesellschaft wenden oder an führende Anthroposophen. Übungen, wie unter 3, 6, 7 genannt, können gewissenhafterweise nur gegeben werden, wenn die ganze Wesensart eines Menschen mit wirklichem Seherblick überschaut wird. Und nach Rudolf Steiners Tod lebt meines Wissens niemand, der dazu die Möglichkeit hat, auch selbstverständlich der Verfasser dieser Briefe nicht. Doch darf gesagt werden, dass die biblischen Meditationen, von denen hier gesprochen werden soll, den Menschen nicht nur moralisch erziehen, sondern ihn auf dem Weg zu aller Geisteszukunft viel weiter bringen können, als man vorher zu ahnen vermag. Auch wer nicht mit Seherblick auf die Menschen und auf sich selbst schaut, wird bald die Sicherheit gewinnen, dass er auf einem richtigen Geisteswege geht, wenn er den Winken dieser höchsten Menschheitsurkunde folgt.
Die Bibel ist der Menschheit von den göttlich führenden Mächten nicht zum flüchtigen Lesen gegeben, sondern zum innersten Verarbeiten. Sie enthält tatsächlich die Wege zu allen höchsten Höhen des Menschentums. Sie kann und sollte von der Menschheit in viel gründlicherer und zugleich freierer Weise zum Eigenleben gemacht werden, als in der Vergangenheit je geschehen ist. Dies wird hier versucht, indem für die Gestaltung der Meditation im Einzelnen die Anregungen und Erfahrungen Verwendung finden, die durch die Anthroposophie gewonnen sind. –
Haben wir so unsere Arbeit unterschieden von der anthroposophischen Wirksamkeit Rudolf Steiners, so müssen wir sie auch noch in die rechte Beziehung setzen zur Tätigkeit der Christengemeinschaft. Das große Unternehmen der Christengemeinschaft eint die Menschen durch den gemeinsam gefeierten Kultus. Jeder ist ein vollberechtigtes Glied, der sich den christlichen Kultus irgendwie als Hilfe zum Leben dienen lässt. Sein inneres Leben mag er ganz anders gestalten, als es hier geschildert wird. In der Auswirkung der Menschenweihehandlung, im persönlichen Gebet, besonders im Vaterunser kann er alles finden, dessen er bedarf. Ist ja doch jeder selbst in der Art, wie er sich den Kultus beim Mitfeiern innerlich zu eigen macht, völlig in die eigene Freiheit gestellt.
Was hier getan wird, geschieht also nicht offiziell von der Christengemeinschaft aus. Eben darum ist es auch möglich, dass an diesen Besprechungen Menschen Anteil nehmen, die mit dem Kultus Schwierigkeiten haben oder aus anderen Gründen der Christengemeinschaft organisatorisch nicht nähergetreten sind. Für jeden, der sich für die innere Pflege seines Lebens eine Hilfe wünscht und der anhören will, was ihm in der Welt des Christentums dafür dargereicht wird, sind diese Briefe geschrieben.
Es dient aber der Erkenntnis und dem Verständnis, wenn hier auf die inneren Zusammenhänge zwischen Meditation und Kultus hingewiesen wird. Man kann geradezu sagen: Der Meditationsvorgang verläuft dann richtig, wenn der innere Weg dem Gang der Menschenweihehandlung ähnlich ist. Die Menschenweihehandlung kann neben allem anderen, was sie auch ist, angesehen werden als eine große gemeinsame Meditation, die nicht der bloß persönliche Mensch, sondern der Erdenmensch, nicht der isolierte Einzelmensch, sondern der Menschheitsmensch, nicht der subjektiv-egoistische Mensch, sondern der Christusmensch vollzieht. Umgekehrt kann die rechte Meditation verstanden werden als eine Weihehandlung, die nicht in der Außenwelt, sondern in der Innenwelt, nicht in der Gemeinschaft, sondern in der Einsamkeit, nicht im Priesterwort, sondern im Eigengedanken vollzogen wird. Jeder muss selbst entscheiden, was ihn am meisten fördert oder auch, wie ihm vielleicht das eine zum anderen und das andere zum einen hilft. Sicher ist, dass der Blick auf die Menschenweihehandlung, auch auf ihre Einzelheiten, aber mehr noch auf ihren inneren Gang und ihre innere Haltung, hilfreichen Aufschluss gibt über eine rechte Gestaltung der Meditation.
Der erste Versuch, eine Meditation zu empfehlen, oder sagen wir: der inneren Arbeit unserer stillen Stunden einen wirksamen Inhalt zu zeigen, sei hier im Anschluss an die vier Glieder der Menschenweihehandlung unternommen.
Wir wählen das Wort aus den Johannesbriefen, in dem sich das johanneische Christentum zusammenfassen lässt: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
Wir richten unser Augenmerk zunächst auf den ersten Satz: Gott ist die Liebe. Für wen dieses Wort noch nicht das volle Gewicht einer Wahrheit hat, der mag sich einen anderen ähnlichen Gedanken wählen, etwa den Satz: Die Liebe ist der Sinn der Erdenwelt, oder noch zurückhaltender: Reine Liebe ist ein Lebensziel des Menschen. Andererseits kann der, dem die Wahrheiten des Christentums die letzte Wirklichkeit aussprechen, sich das Wort noch dadurch verstärken, dass er es sich von Christus selbst gesprochen denkt: Ich bin die Liebe. Ist dieser Satz auch nicht im Wortlaut von Christus gesprochen worden, so ist er doch der Lebensinhalt, der aus ihm spricht.
Unsere Absicht ist, dass ein solcher Geistesinhalt so stark wie irgend möglich eine Zeit lang in uns dasein möge. Da müssen wir zunächst lernen, über das bloße Herumdenken an einem solchen Wort hinauszukommen. Gerade der Gegenwartsmensch hat es damit allermeist recht schwer. Er fängt an zu reflektieren, wenn er meditieren soll. Vor lauter Gedanken kommt er nicht zum Geist. Oder wenn es ihm gelingt, die irrlichterlierenden Gedanken abzustellen, so sinkt er in die Welt der bloßen Gefühle, schwelgt darin und nennt es Mystik. Beide Abirrungen müssen überwunden werden. Man kann es, wenn man eine gewisse innere Aktivität, über den bloßen Gedanken hinaus, entfaltet. Nur bei solcher inneren Aktivität wird es auch möglich werden, ein solches Wort eine Viertelstunde lang zu erleben, ohne dass man in ein totes Anstarren oder in ein dumpfes Hinbrüten hineingerät. Solange man nicht längere Zeit betrachtend auf einem Geistesinhalt verweilen kann, mag man ihn sich durch verschiedene Gedankenreihen immer neu beleben − wenn man nur den Hauptgedanken niemals aus der Blickrichtung verliert. Später kann man dann den Hauptgedanken oder Hauptinhalt dadurch festhalten, dass man sich einfach bemüht, ihn immer stärker werden zu lassen.
Mancher wird vielleicht gut daran tun, um das Wort Liebe in der rechten Weise in sich zu beleben, zunächst in seiner Erinnerung zu suchen, wo ihm Liebe in reinster und höchster Art begegnet ist. Er blicke auf ein solches Erlebnis, indem er ganz auf das Wesen der Liebe, den Geist der Liebe schaut, der sich ihm offenbarte. Man braucht dann nicht immer die Empfindung, die dadurch in uns erweckt worden ist, bewusst festzuhalten. Aber man kann sich das Wort Liebe immer wieder von daher beleben, indem man für einen Augenblick zurückdenkt: Solches Wesen, nur viel reiner, geistiger, vollkommener − ist Gott, ist Christus.
Um genügend innerlich aktiv zu werden und doch nicht in bloße Gedanken sich zu verirren, mag man sich etwa vorstellen und nachzuempfinden suchen, wie dieses Wort in der Seele des Jüngers Johannes als große Offenbarung aufleuchtet, wie es in ihm belebt wird durch die Erinnerung an das, was er an Christus erlebt hat, wie es von ihm empfunden wird im Gegensatz zu der ganzen antiken Welt, die ihn umgibt. Solche Bemühungen werden dem Menschen sehr lieb werden. Sie werden ihn über den Egoismus des üblichen Christentums hinausheben. Man erlebt die mächtige Gottesoffenbarung mit, so gut man kann, die damals in der Seele eines Menschen aufging. Natürlich, wenn wir uns dann plötzlich dabei ertappen, wie wir über das üppige Leben der römischen Kaiserzeit allerlei einzelne Leseerinnerungen in unserer Seele auf- und abfluten lassen, dann sind wir abgeirrt. Es gilt, immer auf das Zentrale zu schauen und eben dieses auf jede Weise zu beleben.
Eine weitere, sehr wirkungsvolle Art, das Wort in uns stark werden zu lassen, kann auch die sein, dass wir uns vorstellen, dieses Wort werde zu uns gesprochen aus allen Weiten der Welt, aus allen Tiefen des Himmels. In höheren und immer höheren Engelchören erklingt es. Es ist wie die verborgene Weltmusik, die, trotz aller Übel und Nöte, aus den göttlichen Reichen herniederklingt. Wir lauschen dieser Musik, bis sie unsere eigene Seele geworden ist.
Wieder eine andere Art, sich dieses Wort zu eigen zu machen, könnte darin bestehen, dass man sich das Ende der Erdenentwicklung vorstellt. Da ist eine Fülle von Menschen, denen dieses Geheimnis aufgegangen ist, in denen dieses Wort lebt als ihre eigene Seele. In ihnen schaut die erlöste Menschheit zum göttlichen Weltenvater auf und bringt ihm ihr Christusbekenntnis dar. Viel größere und bessere Menschen als wir sind da, aber auch wir sind unter ihnen. Wie im Spiegel dieser Menschenseelen schaut sich die Gottheit selber in Freude an. Menschen, die an der Tatsache einer weltentragenden göttlichen Liebe zweifeln, könnten dennoch ein solches Ende, ohne Sentimentalität, als Menschheitsziel in sich beleben.
Man kann eine dieser drei Arten, das Wort groß und stark werden zu lassen, für sich wählen, wie sie jedem gerade liegt, oder man kann auch alle drei Arten nacheinander durch die Seele ziehen lassen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und bei jedem Bild so lange verweilen, wie es zunächst ohne viel Abschweifen möglich ist.
Alles bisher Gesagte entspricht dem ersten Geschehen in der Menschenweihehandlung: der Evangelienverkündigung. Die Hilfen, die wir vorschlagen und die ja auch auf andere Weise gewonnen werden können, sollen dazu dienen, uns vor dem Dumpf-Gefühlsmäßigen zu bewahren und uns zu einem geistigen Fühlen hinzuleiten. Die große Wahrheit im Hintergrund der Welt, die göttliche Liebe, soll möglichst zu einer Klarheit und Kraft gebracht werden, die ihrem Rang im Reich der Wahrheit gemäß ist.
Man könnte nun auch an diesem Punkt stehen bleiben und sich nur um dieses Erste bemühen. Dann würde alles andere unbewusst doch schon mitgeschehen. Soll aber die Meditation noch lebenswirksamer werden, so kann nun das Folgende vor sich gehen.