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So sind sie, die

Schweizer

Paul Bilton

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Inhalt

Nationalgefühl & Identität

Charakter

Glaubens- & Wertvorstellungen

Verhaltensweisen & Umgangsformen

Obsessionen

Systeme

Freizeit & Vergnügen

Essen & Trinken

Gesundheit

Sitten & Bräuche

Regierung & Bürokratie

Geschäftsleben

Verbrechen & Strafe

Sprache

Der Autor

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Die Bevölkerung der Schweiz setzt sich aus 64 % Deutschsprachigen, 23 % Französischsprachigen, 8 % Italienischsprachigen und 0,6 % Rätoromanischsprachigen zusammen. Die restlichen 4,4 % äußern sich nur sehr selten. Die Gesamteinwohnerzahl liegt bei knapp 8,5 Millionen – verglichen mit 8,7 Millionen Österreichern, 61 Millionen Italienern, 65 Millionen Briten, 65 Millionen Franzosen, 82 Millionen Deutschen und 326 Millionen Amerikanern.

Die Schweiz hat annähernd die gleiche Größe wie die Niederlande und würde 12-mal ins Staatsgebiet von Spanien hineinpassen.

Nationalgefühl & Identität

Die Physik der Angst

Es gibt kein mathematisches Modell, das eine plausible Erklärung liefert, warum Hummeln fliegen können. Und nach allen Gesetzen der Ökonomie dürfte es auch nicht sein, dass es den Schweizern so unfassbar gut geht. Ein Land ohne Zugang zum Meer, ein Binnenmarkt, der kleiner ist als der von London, eine Bevölkerung, die vier verschiedene Sprachen spricht, keine natürlichen Ressourcen außer Wasserkraft, ein wenig Salz und noch weniger Fisch, keine gesicherten Märkte für einheimische Produkte dank ehemaliger Kolonien oder der Zugehörigkeit zu einem Handelsblock – kurzum, eigentlich hätten sie schon längst höchst unsanft auf dem Boden der Tatsachen landen müssen. Stattdessen bilden die Schweizer die einzige Nation, neben der die Deutschen ineffizient, die Franzosen undiplomatisch und die Texaner arm wirken. Der Schweizer Franken ist eine sicherere Anlage als Gold und die schweizerische Wirtschaft stabiler als die Felswand des Matterhorns.

Beim Pro-Kopf-Einkommen rangieren die Schweizer auf einem der ersten drei Plätze weltweit. Aber trösten wir uns, denn genießen tun sie diesen Reichtum nicht die Spur. Seit dem Zusammenschluss der drei Urkantone im Jahre 1291 werden die Schweizer nicht müde zu behaupten, ihr Erfolg sei nur ein vorübergehender und das schreckliche Ende jederzeit zu erwarten. Störrisch verweigern sie sich der Einsicht, dass sie sich äußerst wacker schlagen, und gehen dabei sogar so weit, die Zahlen anzufechten, die den Beweis dafür liefern. Wie der arme Esel auf der Jagd nach der Möhre ziehen also die Schweizer ihren gemeinsamen Karren immer noch ein Stückchen verbissener voran, stets auf der Jagd nach einem Ziel, das sie schon längst erreicht haben.

Vielleicht ist es einfach selige Unwissenheit, die die Hummel in der Luft hält. Was aber die Schweizer zu Überfliegern macht, ist alles andere als Unwissenheit – es ist die Angst, eines Tages alles zu verlieren, was sie sich so hart erarbeitet haben.

Staatsaffären

Die Schweiz ist ein Bund von 26 Kantonen, von denen drei noch einmal in Halbkantone unterteilt sind (ein halber Kanton ist besser als keiner). Diese Kantone gleichen Miniaturstaaten, haben einen eigenen Haushalt, erheben eigene Steuern und geben diese aus, wie es ihnen passt: für eigene Gerichte und Polizeikräfte, für die Bildung und sogar für die Führerscheinprüfung. Einige von ihnen waren in früheren Zeiten souveräne Staaten, und viele glauben, sie wären es immer noch.

Die Kantone umfassen annähernd 3.000 vollkommen unabhängige Gemeinden, die allesamt ihre eigenen Entscheidungen über Angelegenheiten wie Wohlfahrtswesen, Gas, Strom, Wasser, Straßenbau und sogar Feiertage treffen.

Wer kontrolliert dieses programmierte Chaos? Auf der einen Seite die Bundesregierung, auf der anderen die Schweizer Bürger mit ihrem einzigartigen und machtvollen Instrument der Volksabstimmung. Indem er alle drei Monate über alle nur denkbaren Fragen abstimmt, scheint der schweizerische Hund tatsächlich mit dem eigenen Schwanz zu wedeln.

Man muss erst das von Vielfalt und Unabhängigkeitsstreben geprägte Wesen des föderalen Systems und die sprachlichen und kulturellen Unterschiede innerhalb des Landes geistig verinnerlicht haben, um die oft gehörte Wendung „in Wirklichkeit existieren die Schweizer gar nicht“ auch nur annähernd zu verstehen. Dennoch gibt es sie, verborgen in der Mitte Westeuropas, in einem Land, das eine ganze Reihe von Namen trägt – Schweiz, Suisse, Svizzera, Svizra und auf Lateinisch Helvetia. Das Völkchen, das dort lebt, versucht mit aller Macht, uns davon zu überzeugen, dass sie keine „Schweizer“ sind, sondern vielmehr Züricher, Berner, Vaudois (Waadtländer), Luganesi (Luganer) oder Genevois (Genfer) – die Liste ist so lang wie die der Täler. Gemeinsam ist ihnen der rote Schweizer Reisepass und die feste Entschlossenheit, nicht so zu sein wie die seltsamen Einwohner des Nachbartals. In ihrem Willen zum Anderssein sind sich die Schweizer bemerkenswert gleich.

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Drei sind zwei zu viel

Röstigraben ist der von den Schweizer Medien geprägte Ausdruck für die imaginäre Nord-Süd-Trennlinie zwischen den Französisch- und den Deutschsprachigen. Rösti bezeichnet dabei die rund um Bern bevorzugte Art der Kartoffelzubereitung und wird vom Rest der Schweiz als Symbol für die behäbige, solide und verlässliche, aber auch steife Mentalität der Schweizerdeutschen angesehen. Die Französischsprachigen sprechen ihrerseits von den „Outre-Sarine“, also denen jenseits des Flusses Sarine (Saane), der durch den Röstkartoffelgraben fließt, womit sie sagen wollen, dass die Deutschsprachigen auf der anderen Seite des Flusses jenseits dessen sind, was noch als akzeptabel durchgehen kann.

Eine andere Trennlinie, die von Westen nach Osten zwischen den Deutsch- und den Italienischsprachigen verläuft, wird als „die Alpen“ bezeichnet.

Der Widerstreit zwischen Teutonen, Galliern und Lateinern birgt ein Konfliktpotenzial, wie es auch den belgischen oder kanadischen Zwiespalt befeuert, von Nordirland oder dem ehemaligen Jugoslawien gar nicht zu reden. Gelegentlich zeigen sich Risse in der schweizerischen Rüstung, etwa 1978, als die nach Unabhängigkeit strebenden Separatisten im frankophonen Teil des Kantons Bern sich per Abstimmung zum eigenständigen Kanton Jura erklärten – nicht ohne zuvor die eine oder andere Bombe geworfen zu haben.

Unterschiede offenbaren sich auch bei den vierteljährlich angesetzten Volksabstimmungen. Die Deutschsprachigen verteidigen den Status quo und sind eifrige Verfechter des Umweltschutzes. Das übrige Land, einschließlich des deutschsprachigen Basels (das erst seit fünfhundert Jahren zur Schweiz gehört), ist radikaler in seinem Abstimmungsverhalten. Das Geheimnis der schweizerischen Einheit liegt darin, dass die Bevölkerung wenig zu nörgeln und für den Fall, dass es doch einmal Beschwerden gibt, in der direkten Demokratie eine praktische Lösung zur Verfügung hat. Um es klar zu sagen: Eventuell auftretende Reibungen werden durch das beste Schmiermittel behoben, das der Menschheit bekannt ist, nämlich durch Geld.

Wie sie sich selbst sehen

Die Schweizer hängen gern dem Glauben an, das Beste komme zuverlässig aus dem eigenen Land, besser noch: der eigenen Gegend, insbesondere der Menschenschlag. Daher kauft der Schweizer, auch wenn der Supermarkt italienische Erdbeeren zum halben Preis im Angebot hat, unbeirrt die aus heimischem Anbau, fest überzeugt von ihrer überlegenen Qualität.

Für ihre Landsleute haben sie kaum einmal ein gutes Wort übrig. Stadtbewohner verachten ihre Vettern vom Lande als vorsintflutlich und hinterwäldlerisch, während sie anderen Stadtbewohnern wiederum mit tiefem Misstrauen begegnen, weil diese ihrer Ansicht nach oft allzu protzig und glatt daherkommen.

Es herrscht eine starke Rivalität zwischen den Städten. Mit seinem internationalen Flughafen, der Hightechindustrie und dem reibungslos funktionierenden Finanzsektor betrachtet Zürich sich als einzigen Schweizer Standort von Weltgeltung. Dennoch ist Zürich, worauf die Einwohner von Bern jederzeit mit Freuden hinweisen, nicht die Hauptstadt.

In den Augen der Berner wird Zürich allzu sehr von seinen abgebrühten Bankern geprägt. Sowohl die behäbigen Berner als auch die schnittigen Züricher aber blicken auf die Baseler (genauer: die Basler) herab. Gefährlich nahe an Frankreich und Deutschland gelegen und Standort einiger eher geruchsintensiver Industrien, gilt Basel als tendenziell verunreinigt und folglich nicht wahrhaft schweizerdeutsch. Die Basler revanchieren sich mit ihrem funkensprühenden Humor und nutzen jede Gelegenheit, sich über ihre Landsleute in den anderen Städten lustig zu machen. Hunderte von Baslern und Zürichern, allesamt fest davon überzeugt, am besten Ort der Welt zu leben, pendeln lieber Tag für Tag in die jeweils andere Stadt, als einen Umzug ins Auge zu fassen.

Genf hat ebenso wie Basel den Ruf, „nicht ganz schweizerisch“ zu sein. Jeden Tag strömen Tausende Franzosen zum Arbeiten über die Grenze, und ein Viertel der Genfer Bevölkerung sind englische Muttersprachler. Was Schweizer Kolorit angeht, ist Genf dem kleineren Lausanne deutlich unterlegen.

Ähnliche Rivalitäten werden zwischen den tessinischen Städten Lugano und Locarno ausgetragen – von Touristen gern verwechselt, für die Tessiner aber Welten voneinander entfernt. Der Konkurrenzkampf wird allerdings dadurch gemildert, dass beide hinter Bellinzona zurückstehen müssen, das, obwohl kleiner, Hauptstadt des Kantons ist.

Wie sie andere sehen

So zufrieden die Schweizer mit ihren Erdbeeren auch sein mögen, plagen sie doch ständig Zweifel bei fast allem anderen. Die größte Angst ist die, dass irgendjemand einen Weg gefunden hat, alles noch besser zu machen. Aus diesem Grund spähen sie immer wieder sehnsuchtsvoll ins nächste Tal und von dort dann zu allen anderen Nationen auf der Erde.

Nach intensiver nationaler Selbstbefragung trat die Schweiz im Jahr 2002 schließlich den Vereinten Nationen bei, doch Mitgliedschaften in der EU oder der NATO liegen nach wie vor in weiter Ferne. Die offizielle Begründung lautet, dass damit das einzigartige demokratische System und die Neutralität der Schweiz in Frage gestellt würden. Inoffiziell haben die Schweizer das Gefühl, es stehe ihnen nicht zu, solch ehrwürdigen Organisation beizutreten, ihnen, die unerschütterlich an ihrer Unabhängigkeit und ihrem Schweizer Franken festhalten. Die Wählerschaft sagte Nein zur EU, nachdem niemand sie davon überzeugen konnte, dass es von Vorteil sei, einem Klub der Armen beizutreten. Seitdem aber zermartern sie sich unablässig den Kopf, ob dies nicht doch die falsche Entscheidung gewesen sein könnte.

Die Schweizer pflegen eine langjährige Liebesaffäre mit Amerika. Das liegt daran, dass die USA alles das sind, was die Schweiz nicht ist. Amerika ist groß und gleichförmig, die Schweiz ist klein und vielfältig. In der Vorstellung der Schweizer sind alle Amerikaner ungebundene, extrovertierte Cowboys, die ungehindert durch riesige Gebiete intakter Natur streifen, während sie selbst einem strengen bürokratischen System und sozialen Verhaltensregeln unterworfen sind, die jedem Bürger schwere Lasten der Verantwortung auferlegen. Ein amerikanisches Auto zu kaufen, ist das Wildeste, was ein Schweizer sich vorstellen kann – und viele tun genau das.

Die Briten bewundert man dafür, dass sie die halbe Welt eroberten, ohne ein schlechtes Gewissen deswegen zu haben. Und dann alles wieder verloren, ohne sich als Versager zu fühlen. Die Schweizer betrachten sie immer noch als teetrinkende Gentlemen, obwohl Horden von britischen Fußballhooligans eine Spur der Verwüstung durch die Stadien Europas ziehen.

Die Deutschen mag man nicht, weil sie so selbstbewusst sind, ganz zu schweigen davon, dass sie so gut Deutsch sprechen. Gleichzeitig sind die Schweizer insgeheim neidisch auf das deutsche Selbstbewusstsein. Die Franzosen rauben den Schweizern den Atem mit ihrem Charme, ihrer Kultiviertheit und ihrem savoir vivre. Und die Österreicher sind bequeme Nachbarn, auf deren Kosten viele Witze gehen.