3William T. Vollmann
Arme Leute
Reportagen
Aus dem Englischen von Robin DetjeMit Fotografien des Autors
Suhrkamp
5Dieses Buch ist meinen Dolmetscherinnen und Dolmetschern gewidmet, ohne die ich noch tauber und dümmer geblieben wäre, als ich es mit ihnen war. Weil ich meine Gesprächspartner in den Mittelpunkt stellen wollte, ohne dabei ganz vermeiden zu können, Sie mit diversen Interpretationen und Missverständnissen abzulenken, habe ich die Anwesenheit der Dolmetscherinnen und Dolmetscher wo immer möglich unterschlagen. Nur wo deren Reaktionen ein Schlaglicht auf die armen Leute warfen, sind sie im Bild geblieben. Ich bin ihnen allen sehr dankbar. Ihre Geduld, oft auch ihr Wagemut und vor allem, dass sie sich vor Ort auskannten, haben dieses Buch möglich gemacht.
Vor Kurzem habe ich ein eher umfangreiches Buch über die Gewalt abgeschlossen. Ich wollte, dass es theoretisch keine Lücken hatte ‒ es sollte in der Lage sein, die mannigfaltigen, dabei nicht zahllosen Ausreden für die Anwendung von Gewalt in Kategorien zu fassen.
Dieser Essay über arme Leute ist in anderem Geist entstanden ‒ er will weder die Armut nach irgendeinem System erklären noch ihnen neben dem Kapital auf dem Friedhof abgenagter Gedanken ein zweites Mahnmal errichten. Ich habe mich eindeutig nicht in der Lage gesehen, die Betrachtung irgendeiner bestimmten Erscheinungsform der Armut durchzuhalten, wie es so glutvoll in Preisen will ich die großen Männer1 versucht worden ist. Ich sage »versucht«, weil selbst dieses Meisterwerk sein eigenes Ungenügen wiederholt zum Ausdruck bringt, und daher und vor allem seine Schuld.
Ich kann mit einiger Berechtigung sagen, dass ich die Gewalt analysiert habe, ihr Zeuge und gelegentlich ihr Opfer geworden bin. Arm gewesen zu sein kann ich nicht von mir behaupten. Das erzeugt in mir kein Gefühl von Schuld, sondern eines einfacher Dankbarkeit. Jack London und George Orwell haben beide in Armut gelebt und konnten uns dennoch Die Menschen des Abgrunds und Erledigt in Paris und London schenken, gerade weil sie diesem Zustand entkommen waren. Gute Bücher können aus der Armut und der Erinnerung an sie entstehen, das zu Unrecht in Vergessenheit geratene Manchild 12in the Promised Land2 zum Beispiel. Meisterwerke wurden von Menschen verfasst, die sich von allem Weltlichen abgekehrt hatten (von christlichen Mönchen, buddhistischen Einsiedlern und Weisen), oder von solchen, die in relative Armut abgestürzt waren, so wie Ovid im Exil. Aber wie viele dieser Letzteren befassen sich mit unfreiwilliger und lebenslanger Armut? Die Früchte des Zorns, eines der besten Bücher über arme Leute, das ich je gelesen habe, woran Steinbecks ärmliche Herkunft gewiss ihren Anteil hat, konnte glücken dank einer Mischung aus der Großherzigkeit des Autors, seinen Besuchen bei den Okies, den von Dürre und Wirtschaftskrise betroffenen Einwohnern des US-Bundesstaates Oklahoma, über die er schreibt, seiner Bildung und nicht zuletzt der Ruhe zum Schreiben und Denken, die er sich leisten konnte.
Das Folgende ist so offensichtlich, dass es noch einmal dargelegt werden muss:
Preisen will ich die großen Männer ist ein elitärer Ausdruck egalitärer Neigungen. Die Spannung zwischen Absicht und Mitteln trägt entscheidend zur Größe des Buches bei. Seine Sympathien für den Kommunismus, die, wie ich leider anmerken muss, mitten während der stalinistischen Schauprozesse zum Ausdruck kamen, stellen eine Naivität aus, ohne die solche Größe nicht denkbar wäre; denn all seiner grimmigen Intellektualität zum Trotz bleibt das Buch in seinem Kern ein Aufschrei kindlicher Liebe, der Art Liebe, die ein Kind treibt, sich an die Beine eines Fremden zu klammern. Was kann der Fremde anderes tun, als dem Kind lächelnd über den Kopf zu streicheln? Nur wenige der Menschen, die Gegenstand des Buches sind, hätten es lesen, geschweige denn schreiben können. James Agee wollte mit ihnen vertraut werden, erleben, wie eingeschränkt auch immer, was sie trieben; er war ihnen von Herzen zugetan und kämpfte mit seiner ganzen 13schlauen, hoffnungslos unerwiderbaren Leidenschaft um unsere Sympathie für sie. Was erklärt, warum die Fotografien von Walker Evans hinzugestellt werden mussten, auf denen die Armut dieser Farmpächterfamilien ruhig, unanfechtbar und herzzerreißend festgehalten wird. Das Projekt der beiden bringt sich mehr als ein Mal selbst zu Fall. Es glückt, weil es scheitert. Es scheitert, weil hier zwei reiche3 Männer das Leben der Armen betrachten. Die Beine des Fremden mögen erreichbar sein, aber der Fremde selbst in seiner riesenhaften Gänze bleibt in seiner Armut unerreichbar und lässt sich nicht so leicht wahrnehmen, wie unsere beiden Beobachter einander wahrnahmen. Hätte das Buch seinen Gegenstand mit dieser Leichtigkeit erfasst, wäre es herablassend ausgefallen. Und so steigert Agee seine Aufrichtigkeit bis an den Rand der Selbstverachtung, und Evans flüchtet sich in die enthüllende Einsilbigkeit der Fotografie. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, gewiss, aber als welche tausend? Ist deine Bildunterschrift die gleiche wie meine? Ein armer Mann starrt dich von der Buchseite an. Du wirst ihm nie begegnen. Ist er hart, bedrohlich, traurig, abstoßend, entschlossen, zermürbt, unbeugsam, stolz oder alles zusammen? Was kann man aus seinem Gesicht wirklich ablesen? Was den Fotografen angeht, der muss sich nie wirklich einlassen.
Agee lässt sich ein. Er will, dass wir alles fühlen und riechen, was die von ihm Beschriebenen fühlen und riechen müssen, und kommt dieser Wirkung so nahe, wie es möglich ist, wenn einem als Mittel nichts als das Alphabet zur Verfügung steht; also scheitert er und verachtet sich und uns dafür, dass es nicht anders sein kann, entschuldigt sich bei den Familien mit so absurd prachtvollen Unterwerfungsgesten, dass nur die Reichen die Muße haben werden, sie zu verstehen ‒ und wie viele von ihnen werden das wollen? Denn die Lektüre von Preisen will ich die großen Männer ist ein Schlag ins Gesicht.
Die Früchte des Zorns sind ein populistischeres Werk. Die Okies haben es gründlich gelesen und den schmerzlichen Genuss erlebt, sich selbst darin wiederzufinden. Doch was der Roman an schöner 14Wirkung erzielte, war das Ergebnis langer Plackerei.4 Die Migranten in den kalifornischen Lagern mögen Stunden der Untätigkeit durchlebt haben, aber Freizeit war ihr Müßiggang nie: Bei all den Sorgen, Unterernährung, Überfüllung, Analphabetentum und vergleichbaren Schäden, sämtlich Folgen der Armut, war es »kein Zufall« (wie Marxisten sagen würden), dass dieses stärkste je über die Okies geschriebene Werk nicht aus der Feder eines Okie stammt.
Ich möchte Armut nicht am eigenen Leib erleben, denn das wäre mit Angst und Hoffnungslosigkeit verbunden. Ich kann nur von außen einen Blick auf sie werfen. Dieser Essay wurde nicht für arme Leute geschrieben oder für eine andere bestimmte Gruppe. Mein ganzes Wagnis besteht darin, dass ich gewisse Ähnlichkeiten und Unterschiede vermerke, von denen ich glaube, dass sie für die Erfahrung der Armut Geltung haben. Ich begann damit, dass ich ein paar meiner Mitmenschen die Frage stellte: Warum bist du arm? Die Antworten finden sich im Folgenden. Auch wenn sie regionale Unterschiede aufweisen, kann es gut sein, dass die Einzelheiten und besonderen Umstände ohne Bedeutung sind. Die Leute können arm an allem sein, auch an Bedeutung. Und deshalb hat ein großer Schriftsteller, der sich mit Armut wahrlich auskannte, geschrieben: Nie oder so gut wie nie fragen die kleinen Leute nach dem Warum all dessen, was sie erdulden müssen. Sie hassen einander, das reicht.
Thoreau hat einmal gesagt, die meisten von uns führten ihr Leben in stiller Verzweiflung; aber wenn dies so ist, dann gelingt es den Menschen, die so leben, diese Verzweiflung zu verleugnen. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, sind die Protagonisten dieses Buches nicht 15verzweifelt. Sie sind glücklich oder traurig; sie haben ihre guten Tage, und ihre große Not wird je nach Lage der Dinge fast barmherzig durch deren reine Alltäglichkeit gemildert.5 Die russische Bettlerin Oksana zum Beispiel verrichtete ganz fröhlich ihr Tagwerk, aber immer wenn sie die Lage ihrer Familie mit mir erörterte, wurde sie sich des Ausmaßes ihrer Not bewusst und musste weinen. Ich habe gezielt versucht, arme Leute zu finden, deren Umstände etwas Gewöhnliches hatten, zumindest ein Muster erkennen ließen, damit sich daraus etwas verallgemeinern ließ. Die Drogensüchtigen, Straßendirnen und Kriminellen, die in so vielen meiner anderen Bücher auftauchen, stehen hier weniger im Mittelpunkt. Menschen, die arm sind, ohne unmittelbar vom Tod bedroht zu sein, können leichter Atem holen und ihre Armut auf einen Begriff bringen.
Dass meine eigene Interpretation der Selbstbilder der Helden und Heldinnen dieses Buches ihre Grenzen in der Kürze unserer Bekanntschaft findet, muss nicht extra betont werden. Es handelte sich meist nur um eine Woche oder weniger. Ich weiß, wie wenig ich weiß. Dennoch haben diese Schnappschüsse zufälliger Augenblicke in der Armutserfahrung armer Leute für mich Bedeutung von unschätzbarem Wert. Ich konnte über ihnen brüten, als meine Gesprächspartner mich schon lange vergessen hatten und das Geld, das ich ihnen gegeben hatte, ausgegeben war. Dass es unmöglich war, ein Verständnis ihres Lebens über längere Zeit zu gewinnen, gerade, dass ich für sie unbedeutend geblieben bin, mag die Wahrhaftigkeit dieser Darstellung durchaus erhöhen ‒ denn was habe ich schon zu beweisen? Wie hätte ich so albern sein können zu glauben, ich könnte etwas »bewirken«? Es gibt nichts, was ich ehrenhaft versuchen könnte, als nach besten Kräften zu zeigen und zu vergleichen.
Jede Primärquelle ist kostbar, weil sie so nah an der Wirklichkeit 16ist. Obwohl dieses Buch prallvoll mit Spekulation und Interpretation ist, ist es doch nur ein aufrichtiger Versuch, mir einen Reim auf Phänomene zu machen. Noch einmal Céline: Sie hassen einander, das reicht. Das mag ihr Privileg sein. Meines ist es nicht.
ARM Mangel leiden und besitzen wollen, was ich besitze; unglücklich mit seiner oder ihrer Normalität.
FALSCHES BEWUSSTSEIN Ein Vorwurf an die Wahrnehmung und Erfahrung anderer, wann immer wir bekräftigen möchten, dass wir besser wissen, was für sie gut ist, als sie selbst.
GEMEINSCHAFT Ein Traum. Manchmal wissen wir erst, dass wir sie hatten, wenn wir erwachen.
DER MARKT Für die Marxisten Ort des »nackten Interesses«, der »gefühllosen baren Zahlung«. Allgemeiner eine Ideologie, die den Wert aller Dinge nach deren vermeintlichem Geldwert bemisst.
NORMALITÄT Der lokale Kontext, aus dem relative Armut, individuelles Wohlergehen und andere Abstraktionen dieser Art beurteilt werden sollten. Ich stelle das Wort oft kursiv, um mich an seine Beliebigkeit zu erinnern. Normalität kann Anteil an Mangel, Verzweiflung, Überfluss und vielen anderen Befindlichkeiten haben.
REICH Zufrieden mit der eigenen Normalität und ausreichend befähigt, sich dessen bewusst zu sein.
RESPEKT Ein Ausdruck fürsorglicher Zärtlichkeit oder selbstloser Ehrbezeugung. Alternativ eine gedankenlose oder gar heuchlerische Methode, jemanden zu Unsichtbarkeit zu verdammen.