Romina Gold
Geh deinen Weg
Das Buch:
Bereits bei ihrer ersten Begegnung hinterlässt der charismatische und weltmännische Jason Wingate bei Melanie einen bleibenden Eindruck. Rasch erkennt sie, dass er sich in seiner Arbeit vergräbt, um sich nicht mit seinen Gefühlen auseinandersetzen zu müssen. Hinter der Fassade des knallharten Geschäftsmanns verbirgt sich ein zutiefst einsamer und verletzter Mensch, der sich nach Liebe sehnt. Zu gern würde sie ihm diese Liebe schenken und die Leere in seinem Leben füllen, aber sie fühlt sich ihrer Familie und ihrem schwerkranken Vater gegenüber verpflichtet. Wird es ihr gelingen, die richtige Entscheidung zu treffen und den für sie passenden Weg zu gehen?
Die Autorin:
Romina Gold fand bereits als Jugendliche ihre selbst erschaffene Fantasiewelt spannender als das reale Leben. Damals begann sie, ihre Lieblingsgeschichten aufzuschreiben. Ihre Träume hat sie sich bis heute ebenso bewahrt wie die Leidenschaft fürs Schreiben. Rominas Bücher sind eine Mischung aus Romantik und Abenteuer, mit denen sie ihren Lesern eine unterhaltsame Auszeit schenken möchte. Ihre schriftstellerische Bandbreite reicht von rasanten Thrillern über dramatische Beziehungsromane bis hin zu zauberhafter Fantasy, jedoch immer garniert mit einer wundervollen Liebesgeschichte. Die freiberufliche Autorin und Lektorin lebt mit Mann und Hund im sonnigen Südwesten Deutschlands. Ihr Erlebnishunger sowie ihr Faible für fremde Länder finden sich in ihren Romanen ebenso wieder wie ihr Glaube an die wahre Liebe.
www.romina-gold.de
Romina Gold
Roman
Geh deinen Weg - Solid Rock
Romina Gold
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Urheberrechtlich geschütztes Material
Für Tanja, die tapfer ihren Weg geht.
Danke für deine Freundschaft.
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
Danksagung
Kapitel 1
Bonn – im September
Melanies Telefon läutete im selben Moment, in dem sie das Handelsgesetzbuch zuschlug. Beim Blick aufs Display hob sie erstaunt die Brauen. Alfred von Simmern, der Seniorpartner der Kanzlei, rief sie persönlich an, etwas, das er nie zuvor getan hatte. Üblicherweise sprach er mit den Juniorpartnern und diese gaben seine Anweisungen weiter.
»Kommen Sie sofort in mein Büro, Frau Barenfeld«, sagte er ohne Einleitung, nachdem sie sich gemeldet hatte. Melanie kannte es nicht anders. Von Simmern war grundsätzlich kurz angebunden, und Höflichkeitsfloskeln beschränkte er auf ein Minimum.
Sie schlüpfte in ihre Kostümjacke, überquerte den Flur, lief an der Anmeldung vorbei, an der zwei Assistentinnen saßen, klopfte an seine Bürotür und trat ein. Das Eckzimmer strahlte eine gediegene Atmosphäre aus, die von der Duftmelange aus alten Büchern und teurem Pfeifentabak untermalt wurde. Durch die hohen Bogenfenster ergoss sich die Herbstsonne über die antiken Möbel und brachte den in Rot-, Gelb- und Beigetönen gemusterten Perserteppich, der den Parkettboden schmückte, zum Leuchten.
Alfred von Simmerns feiste Gestalt, die so überhaupt nicht in dieses vornehme Ambiente passte, thronte hinter dem Schreibtisch. Bei Melanies Eintreten sah er hoch und schob eine Akte in ihre Richtung. »Herr Auermann ist krank. Bis zu seiner Rückkehr werden Sie diesen Mandanten betreuen. Unter meiner Führung versteht sich.«
Sie griff nach dem Dossier und wollte es aufschlagen, doch er gebot ihr mit einer ungeduldigen Geste Einhalt. »Der Termin ist für drei Uhr angesetzt. Bereiten Sie sich gründlich vor.« Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Schriftstück, in dem er gelesen hatte.
»Selbstverständlich, Herr von Simmern. Danke«, sagte sie, aber er ignorierte sie.
Zurück in ihrem Büro sank sie auf den Stuhl, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und legte das Gesicht in beide Hände. So sehr sie das Wissen und die langjährige Berufserfahrung von Simmerns zu schätzen wusste, menschlich war er eine komplette Zumutung.
Melanie arbeitete seit sechs Monaten als First-Year-Associate in der angesehenen Großkanzlei für deutsches und internationales Wirtschaftsrecht. Sie hatte sich schnell in die Riege der Partner und Associates eingefügt und ein nettes Verhältnis zu Kathrin Fischer, der Assistentin, die für Stefan Auermanns Team zuständig war, aufgebaut. Nur zum Seniorpartner fand sie einfach keinen Zugang, obwohl sie sich stets um einen freundlichen und verbindlichen Ton bemühte.
Seufzend schlug sie die Akte auf. Sie erkannte Stefans Handschrift, er war einer der Juniorpartner und Fachanwalt für US-Recht. Melanie hatte im vergangenen halben Jahr viel von ihm gelernt, und er profitierte von ihren exzellenten Sprachkenntnissen. Sie beherrschte vier Fremdsprachen und stellte für die Kanzlei mit ihren größtenteils ausländischen Mandanten eine Bereicherung dar, doch im Gegensatz zu seinen Partnern wusste von Simmern das nicht zu würdigen.
Melanie vertiefte sich in das Schriftstück. Sie erinnerte sich an die Besprechung vor rund fünf Wochen, bei der Stefan Auermann sein Team über dieses Mandat informiert hatte. Der Klient hieß Jason Wingate und war Inhaber einer Softwarefirma mit Stammsitz in den Vereinigten Staaten. Er hatte im vergangenen Jahr eine Niederlassung in England errichtet und weitete aktuell seine Firmentätigkeit auf Deutschland aus. Alfred von Simmerns Kanzlei bot ausländischen Investoren rechtlichen Beistand bei Firmengründungen, verfasste und prüfte Verträge, besorgte Genehmigungen, unterstützte in Steuerfragen und half dabei, langwierige Prozesse mit Behörden abzukürzen.
Leider gaben Stefans Notizen nicht allzu viel über das Unternehmen preis, daher suchte Melanie im Internet nach näheren Informationen. Sie klickte sich durch die Firmenwebseite und stieß auf die Vita des Geschäftsführers: Jason A. Wingate, CEO von Win-Gate-Solutions, sechsunddreißig Jahre alt. Spontan kam ihr der Gedanke, dass er recht jung war, um eine Firma von dieser Größe zu leiten, doch in der IT-Branche zählten innovative Ideen mehr als jahrzehntelange Erfahrung. Melanie las weiter. Herr Wingate war in Sausalito, Kalifornien, geboren, in seiner Akte stand allerdings eine Adresse im Londoner Stadtteil South Kensington. Offensichtlich sein zweiter Wohnsitz.
Das Porträtfoto zeigte ein markantes Gesicht. Jason Wingates Blick wirkte intelligent und auf subtile Weise herausfordernd. Neugierig klickte sie zur Google Bildersuche, wo sie einige Aufnahmen von einer Wohltätigkeitsveranstaltung fand, die er besucht hatte. Er trug einen Smoking und sah darin elegant und weltmännisch aus. Sie betrachtete das Bild eine Weile, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte.
Kurz nach fünfzehn Uhr meldete sich Kathrin Fischer über die Gegensprechanlage. »Sie dürfen jetzt ins Allerheiligste, Melanie«, sagte sie.
»Welche Ehre«, griff sie den ironischen Tonfall der Assistentin auf, die ebenfalls unter Alfred von Simmerns harscher Art litt. »Danke.«
Melanie klopfte an und betrat das Büro des Seniorpartners. Ihr erster Blick fiel auf einen hünenhaften Mann in einem dunklen Anzug, der in der Nähe der Tür stand. Er hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und musterte sie aus wachen Augen. Sein kurzes blondes Haar betonte seine maskulinen Züge. Irritiert blieb sie stehen. Bodyguard?, schoss es ihr durch den Kopf.
Der Riese nickte dem Jüngeren der beiden Besucher zu, die am Besprechungstisch saßen, und in dem Melanie Jason Wingate erkannte.
»Das ist Frau Barenfeld«, vernahm sie von Simmerns Stimme. Er sprach Englisch.
Mit einer Geste bedeutete ihr der Blonde, hereinzukommen. Melanie starrte ihn einen Moment lang an. So etwas hatte sie nie zuvor erlebt. Wieso benötigte der CEO einer Softwarefirma einen Leibwächter? Sie riss sich zusammen, schloss die Tür und durchquerte den Raum. Alfred von Simmern saß an seinem Stammplatz am Kopfende des polierten Eichentisches, der Mandant und sein Begleiter rechts von ihm. Sie grüßte in die Runde und wollte Platz nehmen, als Herr Wingate aufstand und ihr die Hand entgegenstreckte.
»Guten Tag, ich bin Jason Wingate«, sagte er in einem stark akzentgefärbten Deutsch. Seine Stimme klang angenehm. Dunkel und etwas rau, ein faszinierender Kontrast zu seinem durchgestylten Äußeren.
Melanie lächelte, erfreut über seine Bemühung, einige Worte in einer Sprache zu sagen, die er offenkundig nicht beherrschte. Während sie seinen Händedruck erwiderte, stellte sie sich auf Englisch vor. »Mein Name ist Melanie Barenfeld und es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mr. Wingate.«
»Sie sind die Dolmetscherin.« Er hörte sich erleichtert an.
Melanies Blick huschte von ihm zum Seniorpartner. Hatte er sie tatsächlich als Dolmetscherin angekündigt?
»Ich bin Juristin, Mr. Wingate«, sagte sie. »Englisch ist meine Muttersprache.«
Ein mahnendes Hüsteln und Alfred von Simmerns mürrischer Gesichtsausdruck verhießen nichts Gutes. Obwohl sie sich keiner Schuld bewusst war, befiel Melanie eine plötzliche Unsicherheit.
»Folglich sind Sie mit den Fachbegriffen in beiden Sprachen vertraut«, rettete Jason Wingate die Situation.
»Wir sollten anfangen«, knurrte von Simmern.
Herr Wingate ignorierte den unhöflichen Einwurf, stattdessen deutete er auf seinen älteren Begleiter, der sich gleichzeitig mit ihm erhoben hatte. »Zuerst möchte ich Ihnen James Cardwell, meinen Firmenanwalt, vorstellen.«
Sie schüttelten sich die Hände. Anschließend warf Melanie einen Blick in Richtung des Bodyguards.
»Vince Hanson, mein Sicherheitschef«, sagte Herr Wingate.
Sie nickte Vince Hanson zu, und er erwiderte die Geste. Chef der Security. Die Information steigerte ihre Nervosität, bedeutete sie doch, dass Jason Wingate außer ihm noch weitere Leibwächter beschäftigte. Melanie war in der Kanzlei einigen Geschäftsführern von großen Unternehmen begegnet, aber keiner hatte seinen Bodyguard mitgebracht. Benötigte Herr Wingate tatsächlich Personenschutz oder war das nur eine Marotte eines übervorsichtigen Amerikaners? Sie verdrängte diesen Gedanken und nahm Platz. Jason Wingate und sein Anwalt setzten sich ebenfalls, James Cardwell schlug eine Dokumentenmappe auf und begann zu sprechen. Melanie hörte interessiert zu.
»Frau Barenfeld, übersetzen Sie«, unterbrach Alfred von Simmern, und der Firmenanwalt verstummte konsterniert.
Melanie sah den Seniorpartner erschrocken an. »Ich wollte Herrn Cardwell nicht ins Wort fallen«, sagte sie.
»Können Sie sich alles merken, was er von sich gibt?«, polterte von Simmern.
Vor Verlegenheit stieg ihr Hitze in die Wangen, und stockend übersetzte sie. Dabei war ihr nur zu bewusst, dass Jason Wingates Blick auf ihr ruhte.
Eine Stunde später waren die Modalitäten besprochen, Jason Wingate und seine Begleiter verabschiedeten sich. Melanie kehrte in ihr Büro zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Missmutig fixierte sie das Telefon, in der Erwartung, gleich zu von Simmern zitiert zu werden, doch der Apparat blieb still. Ärger über sein schlechtes Benehmen kroch in ihr hoch. Er hatte sie wie ein dummes Mädchen behandelt. Wenn er ihr am Morgen bereits gesagt hätte, dass er sie nur als Dolmetscherin brauchte, wäre sie entsprechend vorbereitet in den Termin gegangen. Aber diese Maulfaulheit war so typisch für ihn.
Um sich nicht in ihre Wut hineinzusteigern, schlug sie die Akte auf, mit der Absicht, die Besprechungsnotizen im System zu erfassen. Sie bewegte die Maus, der Bildschirm erwachte zum Leben und die letzte Seite, die sie besucht hatte, erschien: Jason Wingate auf der Wohltätigkeitsveranstaltung. Sie betrachtete die Fotos nun mit anderen Augen und rief sich den Amerikaner noch einmal in Erinnerung. Er war etwa zehn Zentimeter größer als sie, Melanie schätzte ihn auf einen Meter fünfundachtzig. Der anthrazitfarbene Maßanzug hatte seine sportliche Figur betont. Sein dunkelbraunes Haar zeigte einen Anflug von Wellen, hohe Wangenknochen verliehen seinem Gesicht eine aristokratische Note. Am ansprechendsten fand sie jedoch seine Augenfarbe, ein intensives Azurblau mit vereinzelten silbergrauen Tupfen. Es war ihr schwergefallen, ihn nicht ständig anzustarren, denn sein Enthusiasmus und das lebhafte Glitzern in seinem Blick, wenn er von seinem geplanten Projekt sprach, hatten sie fasziniert. Melanie unterdrückte ein Seufzen. Jason Wingate war ein höllisch attraktiver Mann und besaß tadellose Manieren, eine Eigenschaft, die sie sehr zu schätzen wusste.
Sie ertappte sich dabei, wie sie durch die Bilderanzeige scrollte, auf der Suche nach dem Foto, auf dem er zusammen mit einer Frau abgebildet war. Schließlich wurde sie fündig. Die Blondine trug ein tief dekolletiertes rubinrotes Abendkleid, das ihrer weiblichen Figur schmeichelte. Jason Wingates Hand lag auf ihrer Taille und beide strahlten in die Kamera. Linda Wingate stand unter der Aufnahme. Melanie starrte sie sekundenlang an. Klar, dass ein Mann wie er mit einer solchen Schönheit verheiratet war. Sie schloss den Internetbrowser mit einem Klick und konzentrierte sich auf ihre Arbeit.
Kurz vor Feierabend rief Kathrin Fischer an. »Herr von Simmern will Sie sprechen«, sagte sie.
Melanie unterdrückte ein Stöhnen. Sie hatte umsonst gehofft, dass der Kelch an ihr vorübergehen würde, aber dieses Verhalten war bezeichnend für den Seniorpartner. Er ließ seine Mitarbeiter gern schmoren. »Danke, Kathrin.«
Mit einem unguten Gefühl griff sie nach der Akte Wingate und betrat zum dritten Mal an diesem Tag von Simmerns Büro. Er saß hinter seinem Schreibtisch, die Ellenbogen auf den Lehnen des Drehstuhls aufgestützt, und balancierte einen Füllfederhalter zwischen seinen Zeigefingern. Bei ihrem Eintreten fixierte er sie mit einem scharfen Blick. Melanie durchquerte den Raum und blieb vor dem massiven Möbelstück stehen.
»Ich nehme an, Sie wissen, wieso ich Sie sprechen will?«, begann er.
Melanie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen, während sie nach einer passenden Antwort suchte. Sie hatte ihre Arbeit gut gemacht, und sie würde sich nicht selbst schlechtreden, nur weil er es erwartete.
Er legte den Stift auf die Tischplatte und beugte sich vor. »Nun?«
»Offensichtlich habe ich Sie falsch verstanden. Ich dachte, ich sollte Herrn Auermann vertreten.«
Von Simmern schnaubte. »Wie lange sind Sie jetzt bei uns?«
Er wusste es ganz genau, aber er veranstaltete gern diese Fragespielchen.
»Sechs Monate«, antwortete Melanie.
»Sechs Monate«, wiederholte er gedehnt. »Und da bilden Sie sich sein, Sie könnten einem versierten Anwalt wie Herrn Auermann das Wasser reichen?«
»Natürlich nicht … Ich dachte, ich sollte Ihnen zuarbeiten, solange er krank ist.«
»Ich habe Sie wegen Ihrer Fremdsprachenkenntnisse eingestellt. Wollen Sie mir erzählen, dass Sie das vergessen haben?«
»Nein, Herr von Simmern, aber außer meinen Sprachkenntnissen besitze ich auch einen Abschluss in Jura.«
»Ihr Grünschnäbel«, bellte er. »Kommen frisch von der Uni und meinen, alles besser zu wissen.« Sein Gesicht lief rot an, sein Doppelkinn bebte. »Sollten Sie es noch einmal wagen, mich vor einem Mandanten bloßzustellen, sind Sie gefeuert. Betrachten Sie dies als Abmahnung!«
Obwohl sie wusste, dass seine Drohung haltlos war und er sie nur mit einer fristgerechten Kündigung entlassen konnte, wurden Melanies Knie weich. Am liebsten wäre sie in einen der Sessel gesunken, die vor seinem Schreibtisch standen. Keine Kanzlei würde sie nehmen, wenn Alfred von Simmern sie nach so kurzer Zeit rauswarf. Dabei brauchte sie diesen Job dringend. Ihre Finger umklammerten die Akte fester. Sie unterdrückte das Verlangen, ihm zu widersprechen und zwang sich zu einer Entschuldigung.
»Es tut mir leid, Herr von Simmern. Bitte glauben Sie mir, dass ich nichts Böses im Sinn hatte. Ich war verunsichert …«
Mit einer unwirschen Handbewegung brachte er sie zum Schweigen. »Ich will keine Ausflüchte hören. Halten Sie sich zukünftig zurück mit Ihren vorlauten Äußerungen.«
»Ja … Selbstverständlich.«
Sie suchte seinen Blick, doch er ignorierte sie und griff sich stattdessen die oberste Akte eines Stapels, der auf dem Sideboard hinter ihm lag. Melanie kam sich vor wie eine Schülerin, die zum Rektor zitiert worden war. Fast hätte sie ihn gefragt, ob sie gehen durfte. Wortlos wandte sie sich ab und verließ das Büro. Im Flur blieb sie stehen, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Als sie die Lider wieder öffnete, begegnete sie Kathrin Fischers mitleidigem Blick.
»Wir waren alle schon mal dran.«
Melanie trat näher. »Macht ihm das Spaß?«, fragte sie.
»Es gibt Menschen, die sich nur wohlfühlen, wenn sie anderen das Leben schwermachen können. Von Simmern gehört zu dieser Spezies.«
Die zweite Assistentin nickte.
»Mir reicht es für heute, ich gehe nach Hause.« Melanie zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Bis morgen.«
»Schönen Feierabend.«
»Ein unsympathischer Typ, dieser von Simmern«, bemerkte Vince beim Abendessen im Yunico, dem japanischen Restaurant des Kameha Grand.
Jason hatte seinem langjährigen Freund und dessen Frau Kelly den Aufenthalt in einer der stylishen Themensuiten des Hotels spendiert, damit sie ihre Flitterwochen, die sie in Paris und London verbracht hatten, entspannt ausklingen lassen konnten. Nach den turbulenten Monaten vor ihrer Heirat genossen die beiden diesen Luxus in vollen Zügen. Vince’ Anwesenheit bei Jasons heutigem Termin war eine Ausnahme gewesen. Er hatte sich die Kanzlei und die Anwälte, mit denen Jason in den kommenden Wochen zu tun haben würde, persönlich ansehen wollen. Selbst im Urlaub gelang es ihm nicht, seine übliche Wachsamkeit abzulegen.
»Ein unangenehmer Zeitgenosse«, stimmte James Cardwell zu. »Er hat die junge Frau sehr in Verlegenheit gebracht.«
Jason stellte sein Weinglas ab und sah Vince an. »Was wissen wir über Mrs. Barenfeld?«
»Nicht viel. Dylan hat zwar die Anwälte und Mitarbeiter der Kanzlei durchleuchtet, aber sein Hauptaugenmerk lag auf deinen direkten Ansprechpartnern Auermann und von Simmern. Melanie Barenfeld, übrigens eine Miss Barenfeld, ist erst seit sechs Monaten dort beschäftigt. Vor ihrem Jurastudium arbeitete sie einige Jahre als Flugbegleiterin. Sie beherrscht fünf Sprachen fließend, Englisch und Deutsch sind Muttersprachen.«
»Dylan soll noch ein wenig tiefer graben, ich hätte sie gern als meine Ansprechpartnerin. Im Gegensatz zu Mr. von Simmern spricht sie perfekt Englisch und sie hat sich im Vorfeld mit dem Geschäftsmodell von Win-Gate-Solutions intensiv vertraut gemacht. Sie wirkte auf mich sehr engagiert.« Ihr Eifer erinnerte Jason an seine Anfangszeit als Juniorchef. Sie hatte jedes seiner Worte förmlich aufgesogen, war auf seine Fragen eingegangen und hatte ihm konstruktive Vorschläge unterbreitet. Mehrmals war sie dabei Alfred von Simmern zuvorgekommen, was dieser zwar schweigend zugelassen, jedoch mit finsteren Blicken quittiert hatte.
Vince zog vielsagend die Augenbrauen hoch. »Ihr Engagement ist mir auch aufgefallen. Ich dachte mir, dass du zukünftig mit ihr zusammenarbeiten willst. Die Mail an Dylan ist bereits raus.«
»Danke.« Jason zwinkerte Kelly zu. »Ein guter Mann.«
»Der Beste.« Sie lächelte verliebt.
Kapitel 2
Am folgenden Montag betrat Stefan Auermann im Lauf des Vormittags Melanies Büro und legte eine Mappe auf ihren Schreibtisch. »Das gehört dir.«
Interessiert zog sie die Akte zu sich heran. »Win-Gate-Solutions?« Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihr aus, als ihr Alfred von Simmerns Zurechtweisung in den Sinn kam. »Das ist doch dein Mandant.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Herr Wingate wünscht, dass du ihn exklusiv betreust.«
»Wie bitte? Mir fehlt die Erfahrung für ein solches Projekt und ich … Vermutlich sind meine Englischkenntnisse der Grund. Herr von Simmern hat mich als Dolmetscherin hinzugezogen, als du krank warst«, erklärte sie, weil sie den Eindruck hatte, Stefan einen Mandanten weggeschnappt zu haben.
»Als klar war, dass wir Win-Gate-Solutions vertreten würden, hatte ich ihm vorgeschlagen, dich das Mandat führen zu lassen, aber er war dagegen. Er meinte, es wäre zu früh, um dir diese Verantwortung zu übertragen.« Stefan grinste. »Herr Wingate sieht das offensichtlich anders.«
»Mhm …« Nachdenklich strich Melanie über die Akte. »Was sagt Herr von Simmern dazu?«
»Du kennst ihn doch. Sobald etwas nicht so läuft, wie er es sich vorstellt, meckert er.«
»Ich weiß.« Sie seufzte. »Danke, Stefan.«
»Falls du Hilfe brauchst, sprich mich an. Bevor du zu von Simmern gehst.«
»Mach ich.«
Er nickte ihr zu und verließ das Büro.
Glücklich schlug Melanie die Mappe auf. Ihr erstes Mandat. Endlich! Im Gegensatz zum Seniorpartner hatte Jason Wingate ihr Potenzial erkannt. Sie blätterte durch die Seiten und las von Simmerns handschriftliche Notizen, dabei glitten ihre Gedanken zurück zum zweiten Win-Gate-Solutions-Termin in der vergangenen Woche. Alfred von Simmern war erstaunlich höflich gewesen, Melanie hatte routiniert übersetzt und Herr Wingate war im Anschluss kurz in ihr Büro gekommen, um sich für ihre Unterstützung zu bedanken. Die Zusammenarbeit mit ihm würde gewiss angenehm verlaufen. Bei der Vorstellung, ihn öfter zu sehen, verspürte sie Freude.
Die Sonne schien, zum offenen Bürofenster strömte eine warme Brise herein und Melanie beschloss, ihre Mittagspause im Freien zu verbringen, denn sie hielt sich ungern den ganzen Tag in geschlossenen Räumen auf.
Nachdem sie die Pumps gegen flache Schuhe getauscht hatte, verließ sie die Kanzlei und spazierte durch die Gartenanlagen der nahegelegenen Poppelsdorfer Allee. Voller Euphorie dachte sie an Jason Wingate. Dass er von ihr betreut werden wollte, gab ihrem Selbstvertrauen einen immensen Schub und vertrieb das dumpfe Gefühl, versagt zu haben, das sie seit Alfred von Simmerns Maßregelung begleitete. Herr Wingate war ein Mandant, der vieles kritisch hinterfragte, doch es war ihr gelungen, diesen anspruchsvollen Geschäftsmann von ihrer Qualifikation zu überzeugen.
Auf dem Rückweg kaufte sie sich einen Coffee to go und gönnte sich zur Feier des Tages eine Eistüte. Als sie die Treppe zur Kanzlei hinaufging, vernahm sie Stimmen auf dem Absatz über sich und erblickte Jason Wingate, der sich in Begleitung seines Bodyguards befand. Die beiden standen vor der gläsernen Eingangstür. Melanie erschrak. Hatte sie einen Termin vergessen? Im selben Moment drehte sich Herr Wingate um. Er wirkte kurz überrascht, dann jedoch verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln.
»Guten Tag«, grüßte sie und leckte schnell das Rinnsal Vanilleeis weg, das ihr über die Finger lief.
Die Männer erwiderten den Gruß.
»Kann ich Ihnen helfen?«, wandte sie sich an Jason Wingate.
Er betrachtete sie amüsiert, und eine plötzliche Verlegenheit befiel sie. Momentan sah sie nicht aus wie eine seriöse Anwältin, sondern eher wie eine Göre, die vom Spielen nach Hause kam.
»Ich habe einige Unterlagen bei Ihrer Assistentin abgegeben«, sagte er. »Wir können gern kurz darüber sprechen, falls es Ihnen zeitlich passt.«
»Selbstverständlich.«
Sie brachte die letzten Stufen hinter sich, Jason Wingate öffnete die Tür und hielt sie ihr auf. Melanie huschte an ihm vorbei, und ein Hauch seines exklusiven Eau de Toilette streifte ihre Nase.
»Kommen Sie bitte rein. Ich bin sofort bei Ihnen.« Sie lächelte entschuldigend und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung ihres Büros, während sie auf die Damentoilette zusteuerte.
Jason und Vince warteten im Flur, bis Melanie Barenfeld wieder erschien. Sie ließ sich von der Assistentin die Dokumente geben, die er mitgebracht hatte, und führte ihn und Vince in ihr Büro. Die Grünpflanzen, die eleganten Schreibutensilien und diverse Fotos verliehen dem Raum eine freundliche und weibliche Note. Jason fiel das gerahmte Bild auf dem Sideboard hinter ihrem Schreibtisch ins Auge. Das Familienfoto zeigte ein älteres Paar, vermutlich ihre Eltern, sechs junge Erwachsene – drei Männer und drei Frauen – zwei kleine Mädchen und einen Hund. Ein hochgewachsener blonder Typ mit einem jungenhaften Grinsen stand neben Miss Barenfeld, sein Arm lag auf ihren Schultern und sie lehnte sich an ihn. Jason durchfuhr ein Stich der Enttäuschung. Verwundert horchte er in sich hinein. Er traf Melanie Barenfeld heute zum dritten Mal, und bisher hatte er in ihr nur die engagierte Junganwältin gesehen. Eine – zugegebenermaßen – attraktive Frau, die ihn jedoch mehr mit ihrer Leidenschaft für ihren Beruf und mit ihrem Engagement für seine Belange beeindruckt hatte als mit ihrem Aussehen. Plötzlich interessierte es ihn brennend, in welcher Beziehung sie zu dem blonden Mann stand. Jason fiel ein, dass er noch auf Dylan Gabriels Bericht wartete. Wenn jemand Näheres über Melanie Barenfeld herausfinden konnte, dann dieser begnadete Hacker. Er war froh, ihn in seinem Team zu haben.
»Nehmen Sie bitte Platz«, riss sie ihn aus seinen Gedanken und deutete auf die beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch.
Jason folgte ihrer Aufforderung, Vince blieb neben der Tür stehen.
»Möchten Sie sich nicht setzen, Mr. Hanson?«, fragte sie.
»Nein danke, Ma’am, das ist in Ordnung.«
Sie hatte sich Vince’ Namen gemerkt. Jason war beeindruckt, denn die meisten Geschäftspartner ignorierten seine Angestellten.
Melanie Barenfeld nahm ebenfalls Platz und blätterte durch die Dokumente, während Jason erklärende Worte dazu abgab.
»Ich werde mit Herrn von Simmern darüber sprechen.« Sie hob den Kopf und sah ihn an.
Er bemerkte die Neugier in ihrem Blick und kam ihrer Frage zuvor. »Sie wundern sich sicher, warum ich die Unterlagen persönlich vorbeigebracht habe.«
»Ein wenig. Es ist unüblich, dass ein Geschäftsführer Botengänge übernimmt.«
»Ich habe zufällig in der Nähe eine Immobilie besichtigt, die sich als Verkaufsbüro eignen würde, und am Nachmittag will ich mir endlich einmal die Stadt ansehen.«
»Sie werden es nicht bereuen«, griff sie das Thema auf. »Bonn ist sehr geschichtsträchtig. Eine der ältesten Städte Deutschlands, ehemalige Hauptstadt während der Trennung von Ost- und Westdeutschland, Geburtsstadt von Ludwig van Beethoven. Kulturell wird eine Menge geboten. Es gibt diverse Museen und Galerien, zwei Schlösser hier in der Nähe, eine Sternwarte, den botanischen Garten, Theater, Oper oder Klubs mit Livemusik. Außerdem eine große Auswahl an guten Restaurants, und im Zentrum kann man wunderbar shoppen gehen. Da ist bestimmt etwas für Ihren Geschmack dabei.«
Melanie Barenfelds Begeisterung für ihre Heimatstadt wirkte ansteckend, und Jason packte die Gelegenheit spontan beim Schopf. »Ein abwechslungsreiches Angebot. Leider fehlt mir ein ortskundiger Führer.«
»Was möchten Sie denn sehen?«
Er zögerte. Museumsbesuche und die Stadtgeschichte interessierten ihn wenig. »Ich steh nicht so auf alte Dinge, außer sie befinden sich in einer Whiskyflasche«, scherzte er.
Melanie lachte.
»Ich habe in London den Spaß an Flohmarktbesuchen entdeckt«, fuhr er fort. »Außerdem gehe ich gern shoppen, ich mag gutes Essen und Musik. Livekonzerte oder auch mal ein Musical.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Ich kenne keinen Mann, der gern shoppen geht.«
»Jetzt kennen Sie einen.«
Sie sah zu Vince und lehnte sich ein wenig vor. »Dürfen Sie denn allein raus?«, raunte sie Jason verschwörerisch zu, wobei sie gleichzeitig vergnügt zwinkerte.
Er schmunzelte. Ihm gefiel ihre erfrischende Art. »Ich kann versuchen, mich an Vince vorbeizuschleichen.« Über die Schulter warf er seinem Freund einen Blick zu und bemerkte dessen gutmütiges Grinsen.
»Wie wär’s mit einem Treffen am Samstag? Ich hole Sie morgens ab, wir gehen zusammen frühstücken und anschließend zeige ich Ihnen die Innenstadt. Fußgängerzone und Shoppingmeile.«
»Einverstanden, aber ich hole Sie ab.«
»Lassen Sie besser mich fahren. Die Stadt ist für Fremde eine Prüfung. Zu viel Verkehr und zu enge Straßen.«
»Okay, überredet. Ich wohne im Kameha Grand.«
»Ach, das Designerhotel direkt am Rhein. Darauf hätte ich glatt fünfzig Euro gewettet.«
»Schnell gewonnenes Geld. Wie es scheint, bin ich leicht zu durchschauen.«
»Das ist bei Männern doch keine Kunst«, neckte sie ihn.
Bei ihrer Bemerkung musste Jason an seine Cousine denken. »Dieser Spruch kommt mir irgendwie bekannt vor.«
Er vernahm Vince’ leises Lachen in seinem Rücken.
Melanie Barenfelds Telefon unterbrach ihre Unterhaltung, sie warf einen Blick aufs Display, nahm ab und hörte einen Moment zu. »Ich bin noch in einem Gespräch mit meinem Mandanten, Stefan, aber ich komme gleich«, sagte sie.
Bedauernd schaute sie Jason an. »Tut mir leid, ich muss zu einem Termin.«
»Ich wollte Sie auch nicht länger aufhalten. Wir sehen uns am Samstag. Passt es Ihnen um zehn Uhr?«
»Einverstanden.«
Er erhob sich, reichte ihr die Hand und verließ mit Vince das Gebäude.
Dieser blieb auf dem Bürgersteig vor der Kanzlei stehen. »Was war denn das eben?«
Jason strahlte ihn an. »Ich habe ein Date.«
»Mhm … Okay.«
»Hast du etwas dagegen?«
»Nein.«
»Aber?«, hakte er nach. Er kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass dieser sich seine Gedanken machte.
»Sie ist nett. Und hübsch …«
»Ich gehe nur mit ihr frühstücken. Alles ganz unverbindlich.«
»Schon klar.« Vince’ zweideutiges Zwinkern entlockte ihm ein Schnauben.
»Was du wieder denkst, Hanson.«
»Komm, verschwinden wir von hier.« Vince klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Ganz unverbindlich.«
Jason stöhnte. »Wieso habe ich dich eigentlich mitgenommen?«
»Damit ich Kelly die neusten Geschichten aus deinem Leben erzählen kann.«
Lachend boxte Jason ihm auf den Oberarm.
»Hast du etwas von Dylan gehört?«, fragte er, sobald sie in dem Mietwagen, einem Porsche Cayenne, saßen.
Vince schüttelte den Kopf, Jason zog sein iPhone hervor und scrollte durch die E-Mails, die in der letzten Stunde hereingekommen waren. Momentan wurde er regelrecht überflutet mit Informationen zu seinen Projekten. Die Niederlassung in England begann, Profit zu erwirtschaften, und die Makler, die ihm passende Räumlichkeiten für das Verkaufsbüro in Deutschland anbieten sollten, überschütteten ihn mit Exposés.
»Hier, ich hab was.« Er las Dylans Notiz.
»Was schreibt er?«, fragte Vince.
»Melanie Barenfeld ist dreiunddreißig Jahre alt und in Bonn geboren. Ihre Mutter ist Engländerin, ihr Vater Deutscher.« Jason hielt inne. Das erklärte, warum sie beide Sprachen perfekt beherrschte. »Nach dem Abitur arbeitete sie als Flugbegleiterin, um ihr Jurastudium zu finanzieren.«
Vince pfiff leise durch die Zähne. »Dylan war mal wieder in Höchstform.«
»Zum Glück. Vor sechs Monaten trat Miss Barenfeld in von Simmerns Kanzlei ein«, las Jason weiter. »Sie hat drei Geschwister. Sebastian ist der Älteste. Verheiratet, zwei Kinder. Eine jüngere Schwester namens Annika, ebenfalls verheiratet. Der jüngste Bruder heißt Julian.« Insgeheim atmete er auf, als er an das Familienfoto dachte. Zwei Ehepaare, Melanie und ihr jüngerer Bruder. »Ich wüsste gern mehr über die Eltern«, sagte er, während Vince den Cayenne durch den dichten Verkehr lenkte. »Den finanziellen Hintergrund.«
»Das kann Dylan garantiert herausfinden, aber vermutlich sind sie nicht wohlhabend, sonst hätte Miss Barenfeld ihr Studium nicht selbst finanziert.«
Vince’ Äußerung versetzte Jason einen Stich. »Vielleicht wollte sie es so.«
Sein Freund sah kurz zu ihm herüber. »Du musst keine Entschuldigung für sie suchen. Ich finde es beeindruckend, wie zielstrebig sie ist.«
»Ich suche keine Entschuldigung für sie, eher für mich«, entgegnete er nach einem Moment leise. »Ich hätte mich ebenfalls frühzeitig auf eigene Beine stellen sollen.«
Jason war in einer begüterten Familie aufgewachsen und hatte von Kindesbeinen an unter dem Einfluss seines patriarchalischen Großvaters gelitten. Dieser regierte mit strenger Hand und erinnerte sämtliche Familienmitglieder ständig daran, dass das Vermögen von den Generationen vor ihnen verdient worden war und entsprechend sorgsam verwaltet werden musste. Jasons Vater Leonard führte die Tradition fort. Er mischte sich selbst heute noch in Jasons Belange ein, obwohl er bereits vor Jahren die Leitung der Firma an ihn übergeben hatte.
Vince stoppte den Porsche an einer roten Ampel und warf ihm erneut einen Blick zu. »Vergiss deinen Vater«, sagte er. »Überleg dir lieber, was du am Samstag mit Miss Barenfeld unternehmen willst.«
»Gute Idee.« Bei dem Gedanken an Melanie stahl sich ein Lächeln in seine Mundwinkel. »Das war echt cool, wie sie das Date mit mir klargemacht hat.«
Vince lachte leise. »Dürfen Sie denn allein raus?«, wiederholte er ihre Frage.
»Bei den Terminen kam sie mir sehr steif vor, aber privat scheint sie locker und humorvoll zu sein.«
»Dieser von Simmern hat sich ihr gegenüber dermaßen rüpelhaft benommen, da ist ihre Zurückhaltung nur zu verständlich. Sie war ja förmlich erstarrt in seiner Gegenwart.« Vince besaß eine gute Menschenkenntnis, und seine Worte bestätigten Jasons Vermutung.
»Ich freu mich auf das Treffen mit ihr«, sagte er.
»Es wird dir mal guttun, etwas anderes zu sehen als ewig nur deinen Schreibtisch oder die Bilanzen von Win-Gate-Solutions.«
»Zumal bei einem solch angenehmen Anblick, wie ihn Miss Barenfeld bietet.«
»Sie ist eine Hübsche, da gebe ich dir recht, obwohl sie eigentlich nicht deinem bevorzugten Frauentyp entspricht.« Vince nahm die Hände vom Lenkrad und hielt sie ein Stück vor seine Brust, um anzudeuten, welchen Typ Frau Jason im Allgemeinen favorisierte.
»Ach, lass den Quatsch!« Jason grinste, wurde jedoch rasch wieder ernst. »Es ist nicht nur ihr Aussehen, Vince. Melanie ist …« Er verstummte. In Gedanken sah er sie vor sich. Ihre graziöse Gestalt mit den langen Beinen, die filigranen Gesichtszüge, die von schwarzen Haaren umrahmt wurden, und vor allem ihre kobaltblauen Augen, die so viel Lebensfreude, Interesse und Neugier ausstrahlten. »Melanie ist etwas Außergewöhnliches … Sie ist …«
»Apart«, half Vince aus.
»Genau das wollte ich sagen.«
Kapitel 3
Melanie blickte dem Samstag mit gemischten Gefühlen entgegen. Ein wenig bereute sie ihre Spontaneität, und sie fragte sich zum wiederholten Mal, ob sie mit ihrem Angebot nicht übers Ziel hinausgeschossen war. Obwohl Jason Wingate es förmlich darauf angelegt hatte, dass sie sich ihm als Stadtführerin anbot, hätte sie sich professioneller verhalten müssen. Immerhin war er ihr Mandant und außerdem verheiratet.
Sie beschloss, den Tag mit ihm zu genießen und in das Treffen nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Er besaß angenehme Umgangsformen, Humor und sah gepflegt aus. Eine unwiderstehliche Kombination und die ideale Basis für ein paar nette Stunden. Was wollte sie mehr?
Ihre Zweifel verflogen, als am Freitagmittag in der Kanzlei ein Blumenstrauß für sie abgegeben wurde. Es war ein hübscher Herbststrauß in warmen Farben, nicht übertrieben groß und ohne Rosen. Neugierig zog sie die weiße Karte mit der goldenen Prägung aus der Folie und las.
Liebe Miss Barenfeld,
besten Dank für die konstruktive Zusammenarbeit und Ihr Engagement. Ich freue mich auf unser Treffen.
Herzlichst, Ihr Jason Wingate
Die netten Worte freuten sie, und erneut fiel ihr auf, wie höflich und verbindlich er war.
Am nächsten Morgen gab sie sich besondere Mühe mit ihrem Äußeren. Sie schminkte sich dezent, wählte ihr teuerstes Parfum und sportlich-elegante Kleidung. Schwarze Jeans, eine burgunderrote Bluse, die ihren dunklen Haaren und den blauen Augen schmeichelte, dazu einen hellgrauen Blazer. So würde sie auf jeden Fall zu Jason Wingate passen, ob er nun Jeans trug oder einen Anzug. Sie warf einen letzten Blick auf den Blumenstrauß, der auf der Kommode stand, und verließ das Haus.
»Hier«, sagte Vince und hielt Jason ein Smartphone hin.
Er sah von seinem Notebook auf.
»Ich habe dir ein zweites Handy mit einer Prepaid-Karte besorgt. Falls du mit Miss Barenfeld in Kontakt bleiben willst, gib ihr diese Nummer.«
»Danke.« Jason nahm das Mobiltelefon und studierte kurz das Display. Seine letzte Freundin hatte ihn nach dem Ende ihrer Beziehung wochenlang terrorisiert und seine Arbeitsabläufe dadurch massiv gestört. »Du denkst mal wieder an alles.«
»Einer muss ja einen kühlen Kopf bewahren.«
Jason lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Hände im Nacken und warf Vince einen Blick zu. »Bist du nicht eigentlich auf Hochzeitsreise?«
»Kelly und ich waren shoppen, und bei der Gelegenheit habe ich das Handy für dich gekauft.«
Jason erwiderte Vince’ Feixen, fuhr das Notebook herunter, stand auf und schlüpfte in sein Jackett. »Bis später«, verabschiedete er sich.
»Viel Spaß mit Miss Barenfeld.«
»Den werde ich garantiert haben. Grüß Kelly von mir und genießt den Tag.«
»Wir wollen ins Siebengebirge.«
»Schon wieder eine Testfahrt?«, zog Jason ihn auf. Vince war ebenso ein Autonarr wie er und nutzte jede Gelegenheit, um den Porsche zu fahren.
»Klar doch. Und jetzt verschwinde endlich. Man soll hübsche Frauen nicht warten lassen.«
Jason trat aus dem Fahrstuhl und sah Melanie in der Nähe des Eingangs stehen. Unauffällig warf er einen Blick auf seine Patek Philippe. Er war auf die Minute pünktlich und hoffte, dass sie nicht schon länger auf ihn wartete. Lächelnd ging er auf sie zu. Ihre Kleiderwahl gefiel ihm, elegant und durch die Jeans gleichzeitig lässig. Er trug ebenfalls Jeans in einem dunklen Blau, dazu ein hellgraues Hemd und ein marineblaues Jackett. Ein Seidenschal in Silbergrau und Blautönen rundete die Garderobe ab. Er war nicht eitel, doch er legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres und war sich stets bewusst, dass er seine Firma repräsentierte.
»Guten Morgen«, grüßte er und streckte ihr die Hand entgegen. »Warten Sie schon lange?«
»Nein, ich bin eben gekommen.« Sie ergriff seine Hand. »Hallo, Mr. Wingate.«
»Nennen Sie mich bitte Jason«, bot er ihr an.
»Gern. Und Sie sagen Melanie zu mir. Herzlichen Dank auch für die schönen Blumen.«
»Es freut mich, dass sie Ihnen gefallen. Eine kleine Aufmerksamkeit für die erstklassige Arbeit, die Sie leisten.«
Ihre Augen begannen bei seinem Lob zu strahlen. »Wollen wir los?«, lenkte sie von sich ab.
Er nickte und sie verließen das Hotel. Als Melanie auf einen roten Mini zusteuerte, entfuhr ihm ein amüsierter Laut.
Schulterzuckend warf sie ihm einen Blick zu. »Ich weiß, das ist nichts Besonderes, aber ich liebe dieses Auto.«
»Ich fahre auch einen Mini, deswegen musste ich lachen.«
»Ernsthaft?« Sie sah ihn ungläubig an. »Welches Modell?«
»Einen John Cooper Works.«
»Wow, das Flaggschiff.« Melanie grinste. »War ja klar. Darauf hätte ich jetzt spontan fünfzig Euro gewettet.«
»Wieso?«
»Mein Bruder Julian behauptet, echte Männer wählen immer die stärkste Maschine. Er arbeitet in einem Autohaus als Kundenberater.«
»Dann muss er es wissen.« Jason zwinkerte. »Aber höre ich da einen Hauch Ironie mitschwingen?«
Sie blieb stehen, musterte ihn von oben bis unten und sah ihm anschließend in die Augen. Ihr taxierender Blick bescherte ihm einen angenehmen Schauder.
»Keine Ironie«, sagte sie leise, bevor sie sich ihrem Wagen zuwandte, die Fahrertür öffnete und hinter das Steuer glitt.
In der Innenstadt parkte Melanie in einer Tiefgarage und führte Jason durch die Fußgängerzone.
»Das ist der Remigiusplatz«, äußerte sie, als sie einen kleinen Marktplatz erreichten. »Auch Blumenmarkt genannt.« Sie deutete auf ein Gebäude. »Und hier werden wir frühstücken.«
»Bonngout«, entzifferte er die senkrecht an der Hauswand angebrachten Buchstaben rechts neben dem Eingang.
»Eigentlich bon goût. Das ist französisch. Bon bedeutet gut und goût Geschmack. Das mit dem zweiten N ist ein Wortspiel …«
»Wegen des Stadtnamens«, ergänzte er.
»Gut kombiniert.« Sie strahlte ihn an, und ihre Augen leuchteten. Sein Interesse an ihrer Heimatstadt gefiel ihr offensichtlich.
Die Sonne schien warm auf sie herunter an diesem Septembermorgen, daher nahmen sie draußen Platz. Jason reichte Melanie die Speisekarte, die auf dem Tisch stand, und griff sich eine vom Nachbartisch.
»Frühstück Englisch. Da fühle ich mich direkt heimisch.«
Sie blickte von der Karte auf. »Ist das Essen in Großbritannien wirklich so ungenießbar, wie allgemein behauptet wird?«
Ihre Frage wunderte ihn. »Ich habe bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht. Aber das müssten Sie doch besser wissen als ich.«
Irritiert sah sie ihn an. »Wie kommen Sie darauf?«
»Haben Sie denn nicht dort gelebt?«
»Nein.«
»Ihr Englisch ist perfekt, deswegen bin ich davon ausgegangen, dass Sie längere Zeit in Großbritannien verbracht haben.«
»Meine Mutter ist Engländerin.« Melanie schmunzelte. »Wir sind eine sprachliche Mix-Familie. Mum spricht Englisch, Dad Deutsch und wir Kinder, wie wir gerade Lust haben. Das hört sich manchmal merkwürdig an, aber wir verstehen uns.«
Ihre Bemerkung entlockte Jason ein Lächeln.
»Ich war noch nie in England, die Flughäfen ausgenommen«, fuhr sie fort. Sein fragender Blick veranlasste sie zu einer Erklärung. »Ich habe vor meinem Jurastudium einige Jahre als Flugbegleiterin gearbeitet.«
»Interessanter Werdegang.«
»Ja, auf Umwegen zum Traumberuf. Ich fing nach dem Abitur bei der Airline an, um mir mein Studiengeld zu verdienen. Außerdem wollte ich die Welt sehen.«
»Welche Routen sind Sie geflogen?«
»Meistens Südeuropa. Spanien, Portugal, Türkei, Kanarische Inseln. Im letzten Beschäftigungsjahr wurde ich auf Transatlantikflügen eingesetzt.«
»Hat Ihnen der Job Spaß gemacht?«
Melanie zuckte mit den Schultern. »Ja …«, antwortete sie zögernd. »Die Arbeit war okay, ich wurde gut bezahlt und konnte meine Sprachkenntnisse anwenden. So hatte ich relativ schnell mein Studiengeld verdient. Nur an dieses Gefühl, dauernd unterwegs zu sein und aus dem Koffer zu leben, musste ich mich gewöhnen.«
»Das kenne ich. In der ersten Zeit als CEO war ich ständig auf Geschäftsreise.«
»Am schlimmsten fand ich, dass ich meine Eltern und Geschwister kaum noch gesehen habe. Auch wenn man sich bemüht, Kontakte zu pflegen, ist es auf die Distanz schwierig. Wir stehen uns sehr nahe und vermissen uns schnell.«
Jason verspürte leise Melancholie bei ihren Worten. »Wie viele Geschwister haben Sie?«, fragte er, obwohl er es bereits wusste. Er konnte schlecht zugeben, dass er Dylan auf sie angesetzt hatte.
»Drei. Sebastian ist der Älteste, Annika und Julian sind jünger als ich. Haben Sie Geschwister?«
»Nein, ich bin ein Einzelkind.«
»Oh, der Kronprinz.« Sie zwinkerte ihm zu. »Sie und Ihre Eltern stehen sich besonders nahe.«
Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Vermutung aussprach, berührte ihn. Kurz überlegte er, wie viel er ihr anvertrauen sollte. »Das Verhältnis zu meinem Vater ist … manchmal etwas angespannt.« Dies war eine glatte Untertreibung, doch Jason wollte nicht weiter ins Detail gehen, dafür kannten sie sich zu wenig. »Er hat die Firma gegründet, die ich jetzt leite, und ist bis heute der Meinung, mir sagen zu müssen, was richtig und falsch ist. Das führt ab und an zu Spannungen und Diskussionen.«
»Bei uns fliegen auch des Öfteren die Fetzen, vor allem zwischen Sebastian und mir. Er ist wie Ihr Vater, für ihn bin ich die kleine Schwester, die nach seiner Pfeife tanzen soll. Dabei meint er es nur gut.«
Jason lächelte. »Vermutlich werden Sie die auch mit achtzig noch sein.«
»Davon gehe ich aus. Aber es gehört in einer Familie dazu, dass man sich aneinander reibt. Wir versöhnen uns jedoch immer schnell wieder.«
»Ich habe eine Cousine und einen Cousin, die sind fast wie Geschwister für mich.«
»Ihr Bodyguard, Vince Hanson, kommt mir auch eher wie ein Freund vor.«
»Wir sind seit Langem befreundet«, bestätigte Jason. »Ich habe ihn vor über fünfzehn Jahren beim Football kennengelernt. Vince war ursprünglich Cop, doch nach der Geburt seines Sohnes wollte er nicht mehr im Schichtdienst arbeiten. Seitdem ist er bei mir.«
Melanie zog die Brauen zusammen. »Mr. Hanson hat Familie und reist trotzdem mit Ihnen durch die Welt? Oder hat er Frau und Kind dabei?«
Jason schwieg, in Gedanken bei der Tragödie, die seinen Freund vor einigen Jahren komplett aus der Bahn geworfen hatte.
»Tut mir leid, ich frage zu viel«, entschuldigte sie sich mit einer verlegenen Geste. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
»Das sind Sie nicht, Melanie, es fällt mir nur schwer, darüber zu reden.« Er atmete tief ein. »Vince’ erste Frau und sein Sohn starben bei einem Autounfall. Er ist an diesem Verlust beinahe zerbrochen. Für mich war es ebenfalls ein Schock. Janet war mir eine gute Freundin und Ben habe ich aufwachsen sehen …«
Melanie sah ihn betroffen an.
»Momentan sind Vince und seine zweite Frau auf Hochzeitsreise, und nebenbei passt er ein wenig auf mich auf.«
»Sie wirken nicht, als brauchten Sie einen Aufpasser«, ging sie auf seinen Themenwechsel ein.
»Nun, es geht auch nicht primär um Personenschutz, sondern darum, einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, Risiken im Vorfeld auszuschalten und Ähnliches. Ich bin zwar eine öffentliche Person, aber kein Politiker oder Promi, die ja eher mal Leute verärgern oder von Stalkern verfolgt werden.«
»Wieso war Mr. Hanson bei unserem ersten Treffen eigentlich so angespannt?«
»Wegen der kurzfristigen Planänderung. Mir war als Ansprechpartner ein Mr. Auermann genannt worden und an seiner Stelle erschienen Sie. Ihr Boss hatte Sie als Dolmetscherin angekündigt. Das war nicht vereinbart gewesen. Vince ist sehr vorsichtig bei solchen Abweichungen, er überprüft für gewöhnlich im Vorfeld meine Kontaktpersonen.«
»Im Ernst?« Melanie klang erstaunt.
Jason nickte. »Reine Routine.«
»Und? Was haben Sie herausgefunden? Wie viele unbezahlte Strafzettel gehen auf mein Konto?« Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt. Der Gedanke, dass ein Fremder in ihrem Privatleben herumschnüffelte, missfiel ihr offensichtlich.
»Bitte nehmen Sie das nicht persönlich.« Jason hatte auf einmal das Gefühl, sich auf dünnem Eis zu bewegen. »Bei solchen Recherchen geht es lediglich darum, finanzielle Risiken zu vermeiden. Alfred von Simmerns Kanzlei genießt international einen exzellenten Ruf, und ich fühle mich dort gut aufgehoben.«
Melanie musterte ihn. »Ich habe da wohl etwas in den falschen Hals bekommen, tut mir leid.«
»Sie haben jedes Recht, zu fragen.«
Sie unterbrach den Blickkontakt und winkte die Bedienung heran. »Was möchten Sie essen?«
»Ich nehme das Frühstück Mediterran. Wie wär’s mit einem Glas Sekt?«
»Nein danke, wenn ich fahre, trinke ich nichts.«
»Super Einstellung. Falls Vince jemals bei mir aufhören sollte, engagiere ich Sie als Chauffeur.«
»Scherzkeks.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Das war kein Scherz. Wer hätte nicht gern einen juristisch versierten Chauffeur, der mehrere Fremdsprachen spricht?«
»Sie haben meine Erfahrung im Servicebereich vergessen.«
»Stimmt.« Er beugte sich zu ihr. »Wann könnten Sie bei mir anfangen?«
In ihren Augen zeigte sich das neckische Funkeln, mit dem er schon einmal Bekanntschaft gemacht hatte. »Sofort. Allerdings verlange ich das dreifache Gehalt.«
Jason schüttelte amüsiert den Kopf. »Das kann ich mir nicht leisten.«
Die Kellnerin trat an ihren Tisch und Melanie bestellte.
»Ich habe ebenfalls ein wenig herumgeschnüffelt, und zwar auf Ihrer Firmenwebseite«, sagte sie anschließend. »Sie sind Amerikaner und leben in London.«
»Zur Zeit ja. London bietet sich als Wohnsitz an, solange ich im europäischen Markt expandiere. Außer in Deutschland plane ich ein weiteres Verkaufsbüro in Luxemburg, eventuell auch in Frankreich.«
»Folglich ist das ein befristeter Aufenthalt?«
»Darüber entscheide ich demnächst. Ich kann mir durchaus vorstellen, mich dauerhaft in Europa niederzulassen. Mir gefällt es in London, und in den USA gibt es nicht viel, was mich hält. Ich besitze zwar ein Haus in Sausalito, habe einige Freunde und Familie, doch meine Firma könnte ich von überall auf der Welt leiten. Das ist mir das Wichtigste.«
Sie schwieg einen Moment. »Das Wichtigste in Ihrem Leben ist die Firma?«, fragte sie leise, und ihr fassungsloser Gesichtsausdruck berührte ihn.
Jason zuckte mit den Schultern. »Für Sie hört sich das vermutlich ziemlich schräg an.«
»Eher traurig«, gab sie offen zu. »Ich bin eben ein Familienmensch.«
»Es hat auch Vorteile, wenn man sich an nichts und niemanden fest bindet.«