Inhalt
[Cover]
Titel
Zitat
ERSTER TEIL
4. März
6. März
6. März
8. März
12. März
23. März
28. März
2. April
9. April
10. April
10. April
12. April
14. April
23. April
29. April
1. Mai
6. Mai
11. Mai
12. Mai
I
ZWEITER TEIL
12. Mai
15. Mai
15. Mai
17. Mai
17. Mai
20. Mai
23. Mai
25. Mai
27. Mai
28. Mai
28. Mai
30. Mai
II
2. Juni
4. Juni
4. Juni
DRITTER TEIL
7. Juni
7. Juni
8. Juni
8. Juni
9. Juni
III
10. Juni
10. Juni
10. Juni
10. Juni
10. Juni
10. Juni
11. Juni
11. Juni
16. Juni
17. Juni
18. Juni
20. Juni
23. Juni
IV
24. Juni
Autorenporträt
Über das Buch
Impressum
[Leseprobe – Stern geht]
[Leseprobe – Mama Mafia]
»I believe whatever doesn’t kill you,
simply makes you … stranger.«
– The Joker, The Dark Knight
ERSTER TEIL
4. März
Am Aschermittwoch würde das Gedenken, das Fasten und das Nachsinnen beginnen. Heute wurde gesündigt.
Vor dem Café du Monde standen lange Schlangen; Männer und Frauen, aufgedonnert mit Boas, bunten Perücken, endlos vielen Perlenketten. Etwas weiter oben, in der Bourbon Street, schoben sich Touristen und Einheimische über das nasse Pflaster. Bänder mit roten Lämpchen und Lampions hingen zwischen den Häusern, Cocktails in grünen Bechern gingen von Hand zu Hand, Frauen mit entblößtem Oberkörper ließen ihre Brüste anfassen im Tausch gegen einen Absinth. Und als die soundsovielte Windhose über die Stadt raste, zogen sich alle in die Cafés zurück oder stellten sich unter ein Vordach. Alles Chaos, das man in einem Menschenleben finden kann, kam hier zusammen, an diesem einen Abend. Mardi Gras, Fastnachtsdienstag in New Orleans.
Es war kurz nach elf, als sich Nathalie Underwood in einer weißen Jeans und einem weißen Hemdchen mit Flitter auf den Schultern an einer Gruppe von Studenten vorbei zur Bar des Café du Monde zwängte. Sie bestellte einen Sazerac mit extra Bourbon. Als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte, erstarrte sie und drehte sich um.
Ein paar Sekunden standen sie einander reglos mitten in all dem Lärm gegenüber, Nathalie und der als Skelett verkleidete Mann. Schwarzer Stoff bedeckte seinen Körper, die aufgemalten Knochen waren fluoreszierend weiß. Um seinen Hals hing eine Kette mit abgebrannten Streichhölzern. Langsam zog er sich die Maske ab.
Nathalie sah sich ängstlich um, niemand beachtete sie. »Ich wusste nicht, dass du es warst«, sagte sie.
»Wo ist deine Maske?«
»Da hatte ich keine Lust drauf. Warum wolltest du dich hier treffen?«
»Ich möchte dir etwas in der Gegend zeigen. Ein halbes Stündchen Autofahrt, höchstens. Mein Wagen steht in einer Seitenstraße.«
Um sie her klang »When the Saints Go Marching In«, eine Schunkelfassung.
»In einer Stunde will ich zurück sein«, sagte sie. »Ich will so wenig wie möglich verpassen.«
»Du wirst nichts verpassen, das verspreche ich.« Er zog seine Maske wieder über den Kopf, Nathalie ließ ihren Sazerac auf der Theke stehen und verabschiedete sich von niemandem.
Louisiana. Bäche und Flüsse schlängeln sich wie anschwellende Adern durch die Täler, im Hintergrund die Tag und Nacht rauchenden Fabrikschornsteine. Leere Ackerflächen, Schilf wächst gerade so hoch, bis die Dünung es umknickt. Und ganz selten durchkreuzt ein einsames Auto die Landschaft wie eine Fliege, die über eine Landkarte krabbelt.
»Kannst du mit der Maske überhaupt was sehen?«, fragte sie.
»Meine Augen sind frei.«
Sie ließen die vibrierende Stadt hinter sich, in ihren Ohren rauschte es, als sie auf die Schnellstraße fuhren. Nach zehn Minuten bogen sie auf eine Landstraße ab. Kaum noch Laternenpfähle, blattlose Bäume.
»Ist das ein neues Auto?«
»Geliehen.«
»Wo genau fahren wir hin?« Sie stellte das Radio an: Fats Domino. Aber ehe sie den Song erkannt hatte, schaltete er wieder ab, und es war wieder still.
»Du hast gesagt, dass du mich in Ruhe lassen würdest«, sagte sie. »Daran erinnerst du dich doch wohl noch? Und ich nehme mal an, du weißt auch, dass Erpressung strafbar ist? Eigentlich hätte ich dich anzeigen müssen.«
»Komm, das würdest du nie tun«, sagte er. Seine weißen Finger umklammerten das Lenkrad. »Dann müsstest du viel zu viel erklären, und wer dich kennt, weiß, dass das das Letzte ist, was du willst.«
Das Auto hielt an. Ohne etwas zu sagen, stieg er aus und ging zum Kofferraum. Ein penetranter Modergeruch drang durch die offen stehende Tür herein. Sie wusste nicht, wo sie war, sie wusste nur, dass sie noch niemals zuvor hier gewesen war.
»Wo sind wir?« Sie schaute in den Rückspiegel und sah nichts. Sie beschloss auszusteigen. Er kam gleich auf sie zu und streichelte über ihren Rücken. Seine rechte Hand glitt sanft nach unten, zwischen den Schulterblättern hinunter bis an die Pobacken. Seine linke Hand hielt er schräg hinter den Rücken.
»Was tust du?« Vorsichtig trat sie einen Schritt von ihm weg.
Er machte ihre Bewegung mit, seine Hand weiterhin auf ihren Pobacken. Das einzige Licht kam von seinem Kostüm, dem vollen Mond, der genau über ihnen zu hängen schien, und den hellroten Punkten im Wasser – Alligatoraugen.
Sein Griff wurde fester.
Sie versuchte, sich loszumachen. »Warum sind wir hier?«, fragte sie. »Ich glaube, es fängt gleich wieder an zu regnen.« Sie sah hoch in die dunkle Luft, als ob sie ihre Behauptung damit bekräftigen könnte. »Lass uns zurückgehen.«
Dann sah sie es. In seiner linken Hand, ein metallisches Glitzern. Noch ehe sie wusste, was da genau passierte, entwand sie sich ihm und begann zu rennen – weg von dem Auto, sie musste den Sumpf durchqueren, um wieder auf die Schnellstraße zu gelangen.
Er kam ihr sofort nach. Seine Schritte klangen dumpf auf dem Sumpfboden. Sie sah flüchtig hinter sich, um abzuschätzen, wie viele Meter Vorsprung sie hatte. Aber sie sah nur die leuchtende Gestalt im Dunkel, die Knochen auf dem Kostüm.
Sie zerrte ihr Handy aus der Hosentasche. Es gelang ihr nicht, das Gerät zu entsperren, und als es dann endlich doch geglückt war, rutschte es ihr aus der Hand. Sie war unschlüssig, ob sie sich bücken und es suchen sollte, denn das würde sie wertvolle Sekunden kosten.
Links und rechts von ihr tauchten die hellroten Augenkreise auf. Sie rannte weiter, schob Zweige beiseite, riss ihre Arme auseinander. Er rief. Eine harte, schrille Stimme, die zwischen beruhigend und feindselig schwankte. Sie verstand nichts von dem, was er sagte, nur ihr Name drang bis zu ihr durch, erschallte zwischen den Bäumen und dem Wasser.
Nichts zurückrufen. Nicht umsehen. So schnell wie möglich rennen.
Er beschloss, Abstand zu halten, den richtigen Moment abzuwarten. Seine Kondition war gut genug, und er kannte die Gegend. Sie war schnell, wusste aber nicht, wo sie hinrannte. Sie sah sich um. Ihr Gesicht, das gewöhnlich gute Laune ausstrahlte, war verkrampft vor Angst. Er spürte eine Welle von Erregung durch seinen Körper gehen und fasste die Klinge fester.
An einigen Stellen hatte sich der Boden mit Wasser vollgesaugt. Das abgelaufene Profil ihrer Turnschuhe bot den glatten Blättern wenig Widerstand. Ihr Fuß glitt weg, sie taumelte und versuchte dennoch, ihr Tempo zu halten. Er verminderte seine Geschwindigkeit nicht, sie hörte ihn springen und weiterlaufen.
Vier, fünf Meter zwischen ihnen, mehr konnten es nicht sein. Sie hatte recht gehabt, es fing an zu regnen. Harte, große Tropfen.
Von der Schnellstraße noch immer keine Spur; nirgendwo brennende Scheinwerfer in der Ferne.
Sie hätte niemals mit ihm hierhin gehen dürfen. Sie hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmte mit dieser Abmachung. Sie hatten so viele.
Ihr Fuß blieb hängen. Sie verlor ihren rechten Turnschuh. Sie lief weiter, aber es wurde immer mühsamer. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie wusste, dass sie zu langsam war, dass sie es nicht schaffen würde.
Der erste Stich verursachte einen schreienden Schmerz in ihrer Schulter. Blut rann, unvermutet kalt, an ihrem Arm entlang. Alle Kraft floss aus ihr heraus, jeder Schritt bedeutete mehr Anstrengung. An einem dicken Baum, dessen Wurzeln im Wasser verschwanden, blieb sie stehen. Sie drehte sich um und sah das Skelett an.
Sie streckte ihre blutige Hand nach ihm aus, mit der anderen umklammerte sie hinter ihrem Rücken einen spitzen Ast. Die roten Augen waren jetzt rechts von ihr, glühend, lauernd.
»Warte«, sagte sie. Ihre Stimme klang schrill, sie kam ihr vor wie die von jemand anderem, so hoch und fremd. »Ich werde niemandem etwas verraten. Echt nicht. Du kannst noch zurück.«
Sie beachtete seine Maske kaum noch. Sie hörte nur noch seine tonlosen Worte. »Ich weiß, dass du es niemandem erzählen würdest.«
In dem Moment, als er näher kam, streckte sie ihren Arm aus und versuchte, ihn zu verletzen. Aber er schlug ihren Ast einfach weg. Ihre fuchtelnde Hand brach ein Streichholz von seiner Kette, und mit ihren letzten Kräften presste sie es in ihre Handfläche. Sie brach zusammen. »Sie werden herauskriegen, wer du bist«, keuchte sie.
Der nächste Messerstich traf ihre Lunge, riss ihre Stimme entzwei. Vom dritten und vierten Messerstich spürte sie nur noch wenig.
6. März
So vorsichtig, als wolle er an seinem Peugeot keine Fingerabdrücke hinterlassen, öffnet Aron Mulder die Autotür. Er dreht den Schlüssel und fährt aus dem Bungalowpark. Bald erreicht er Egmond-Binnen. Ein Dorf mit mehr Bremsschwellen als Ausschanklizenzen. Ein Dorf, in dem die Außenwelt keine Bedeutung hat, wo keine Vergangenheit existiert.
Übermorgen, zwischen sechs und halb sieben, werden die Gäste eintreffen. Er ist es nicht mehr gewöhnt, für andere einzukaufen. Normalerweise geht er einmal in der Woche zum Supermarkt, um das Allernötigste zu kaufen. Brot. Kaffee. Gemüse. Und natürlich Leber für den Hund.
Aber diesmal muss er sich ins Zeug legen, Imbiss und Getränke besorgen, von denen er annimmt, dass die anderen sie mögen. Damit sie zufrieden essen und trinken können, ein bisschen zu viel vielleicht. Damit sie sich hinterher bei Aron bedanken für den Abend, dass sie ihn als einen ganz gewöhnlichen Mieter sehen und ansonsten in Ruhe lassen.
Der grauhaarige Eigentümer der Snackbar sitzt auf der Türstufe vor seinem Geschäft. Der Mann nickt Aron zu, wie das hier üblich ist. Aron nickt zurück, vermeidet aber Blickkontakt. Er biegt um eine Ecke und parkt sein Auto in einer leeren Straße, schräg vor der Kirche, die er nie besucht.
Zweimal kontrolliert er, ob er das Auto auch abgeschlossen hat. Dann geht er, den Kopf gesenkt, in den Supermarkt.
In den letzten Jahren hat er sich angewöhnt, seine unberechenbaren Launen zu verbergen. Er hat sich immer als freundlicher, loyaler Nachbar gezeigt. Er hat Werkzeug und Olivenöl geborgt. Aber er merkte, dass es den Nachbarn nicht gelingen wollte zu vergessen. Für unschuldig befunden zu werden ist etwas anderes, als unschuldig durchs Leben zu gehen. Die Anwohner, die Angestellten in den Geschäften – sie sahen ihn immer noch misstrauisch an. Selbst wenn sie fragen, wie es ihm geht: Ihr Blick wahrt Abstand. Als ob sie ihn nicht sähen, sondern auf die Geschichten achteten, die über ihn die Runde machen. Über ihn, über Nora, über den Mord.
Oliven, Käsestangen. Chipstüten und Wein, ausreichend Wein: Alles legt er sorgsam in seinen Einkaufswagen. Heute Morgen, als er im Garten saß, hat er eine Einkaufsliste gemacht, die er jetzt fest in der Hand hält. Klammheimlich hofft er, dass die anderen ihn sehen würden, wie sie ihn früher gesehen haben. Ruhig, verantwortlich, vielleicht zuverlässig. Jemand, der nicht bei irgendetwas erwischt werden kann.
»Mann, Sie lassen sich heute nicht lumpen.« Das Mädchen an der Kasse hat blondes Haar, hellrote Wangen und ein kantiges Gesicht. Routiniert zieht sie Arons Einkäufe über den Scanner. »Feiern Sie eine Party?«
»Ja«, sagt er. »So was ähnliches.«
Zurück im Bungalowpark parkt er den Peugeot am Waldrand, wie immer. Mit drei vollen Einkaufstaschen überquert er den Kiesweg, vorbei an Dutzenden Holzhäusern, die durch Hecken und Eichenbäume voneinander getrennt werden. Das ist sein Haus. Nachmittags dreht er mit dem Hund immer dieselbe Runde im Wald, am Wochenende sieht er manchmal stundenlang spielenden Kindern zu, und am Freitagabend sieht er jetzt schon seit mehr als einem Jahr dieselbe Frau. Marie.
Sie ist die Einzige, mit der er regelmäßig spricht. Vergangene Woche sagte sie noch, als er ausnahmsweise für sie gekocht hatte, dass sie sich benähmen »wie ein normales Paar«. Obwohl ihn die Bemerkung rührte, sagte er nichts dazu. Verbundenheit kann sich auch in Stille ausdrücken.
Marie stellt keine schmerzenden Fragen nach früher, sie schneidet keine Themen an, die er lieber ruhen lässt. Sie kennt ihre Rolle. Vielleicht kennt sie ihre Rolle sogar besser als er, der noch immer nicht ganz begreift, warum eine attraktive, geistreiche, gesellschaftlich erfolgreiche Brünette wie sie sich die Mühe macht, ihn jede Woche zu treffen.
Ihre etwas nasale Stimme beruhigt ihn; ihr Körper wärmt ihn, wenn die Winterkälte hereinbricht und der Ofen des Ferienhäuschens nicht ausreicht. Und sie hat die angenehme Gewohnheit, am Ende des Tages zwei Gläser Famous Grouse einzuschenken, eins für ihn und eins für sich selbst. Es ist eine Ermunterung, von seinem Tag zu berichten, sie fängt an, er macht weiter. Und es funktioniert. An einem solchen Abend verliert die Welt ihre Bedrohung, eine Stunde lang, länger muss es auch nicht sein. Als würde sie ihm zeigen, wie ein normales Leben aussehen könnte, sollte er jemals bereit sein, sich dafür zu entscheiden.
In weniger als achtundvierzig Stunden werden die ersten Gäste an die Tür klopfen: die anderen Mieter. Freunde sind es nicht. Eher halbe Bekannte. Sie kommen nur in den Ferien in den Park oder, wie jetzt, an einem sonnigen Winterwochenende. Aron ist der Einzige, der tatsächlich hier wohnt, was gegen die Vorschrift ist. Der Aufseher duldet das stillschweigend, aber wenn er wollte, könnte er Aron rausschmeißen. Dann würde Aron sich eine neue Wohnung suchen müssen, raus aus seiner Isolation – ein Gedanke, den er nicht ertragen kann.
Hinten am Weg liegt seine Wohnung. Ein dunkelbraunes, ebenerdiges Haus mit drei Zimmern. Kein Internet, Fernsehen oder Telefon. Natürlich ist es eher ein Provisorium, in einem Ferienhäuschen zu leben, mit den ganzen Erinnerungen, wie er eigenhändig das Haus gestrichen und seine schwangere Frau ihm dabei zugesehen hat. Aber diese Bilder bedrängen ihn immer weniger.
Manchmal träumt Marie laut vom Zusammenwohnen, sie sagt, dass sie ihr Haus umbauen wird, damit er ein eigenes Zimmer hat. Was spricht dagegen? An manchen Tagen hat Aron nichts mehr dagegen, aber wenn er am nächsten Tag aufwacht, scheint alle Tatkraft aus seinem Körper geflossen zu sein.
Der Wind säuselt, Kinderstimmen kommen aus einigen Häusern, weiter entfernt ruft eine Mutter, ob jemand den Tisch decken wolle. Niemand bemerkt, dass Aron sein Haus betritt und die Einkäufe auf der Arbeitsplatte ausbreitet. Nur der Hund kommt auf ihn zugetrottet. Aron streicht ihm sanft durch das dicke, braune Fell und gibt dem Tier Futter. »Hier, Milo«, sagt er. »Hier, nimm, so viel du willst.«
Schon seit fünf Jahren lebt er so, wie ein zurückgelassenes Urlaubssouvenir.
6. März
Der Linoleumfußboden des forensischen Instituts in der Tulane Avenue gibt bei jedem ihrer Schritte ein gedämpftes Geräusch von sich. Sieben Uhr morgens, Hanna Vincennes ist höchstens seit einer halben Stunde wach. Sie hatte noch im Bett gelegen, als das Telefon klingelte. Sie sollte ihre Termine Termine sein lassen und gleich ins Büro kommen. Die Verabredung mit dem Chief Inspector am Mittag, um die sie vor Wochen gebeten hatte, wurde bis auf Weiteres verschoben.
Das ist einer der unangenehmsten Aspekte ihrer Arbeit, auch wenn sie inzwischen gegen die grauenhaftesten Fotos abgehärtet ist und kaum noch auf durchgeschnittene Kehlen oder auf in Fetzen geschossene Gesichter achtet. Aber es bleibt problematisch: Was mal ein Mensch war, ist nun ein vielfach verstümmeltes Opfer. Sie streicht eine Locke hinter ihr Ohr – es ist immer öfter eine Neufärbung nötig, um dieses Blond zu behalten – und geht durch den fensterlosen Korridor. An dessen Ende wartet der Pathologe auf sie. Steve, mit zurückweichendem Haaransatz, und selbst bei dieser Leichentemperatur Crocs an den Füßen.
Hanna schüttelt seine Hand, sie begrüßen sich und beugen sich über den Körper.
»Nathalie Underwood«, liest der Pathologe von einem Clipboard ab. »Mindestens vor vierundzwanzig Stunden ermordet. Fünfundzwanzig Jahre alt, heute früh von einem neunjährigen Mädchen, das mit ihrem Vater spazieren war, in einem der Bayous bei Lake Lery aufgefunden.« Er legt das Clipboard weg und zeigt auf die Leiche. »Ihr Portemonnaie steckte noch in der Hosentasche, ihr Handy wurde ein Stück weiter im Morast gefunden. Aber wegen des Wasserschadens können wir keine Daten auslesen.«
»Ein außer Kontrolle geratener Raubüberfall ist also ziemlich unwahrscheinlich.«
Sie ziehen Latexhandschuhe an, die ein kurzes klatschendes Geräusch in der Stille des Raumes hinterlassen.
Es gelingt Hanna immer besser, bei solcherart Verrichtungen nicht an frühere Opfer zu denken. Oder an den Fall, der ihre Karriere fast beendet hätte. Das ist inzwischen drei Jahre her. Das Gesicht des Opfers, Anna Morales, eine vierzigjährige Frau mit eingeschlagenem Schädel – Hanna hat es noch immer nicht von sich abgeschüttelt.
»Gibt es Besonderheiten?« Sie betrachtet die Stichwunden.
Der Pathologe geht zu einer Leuchtwand, an der vier Röntgenfotos hängen, zwei von Nathalies Körper – seitlich und von vorn – und zwei von ihrem Schädel und ihrem Gehirn. »Die Lunge ist durchlöchert«, sagt er. »Das Opfer ist erstickt. Das geht auch aus den Hirnscans hervor.«
»Weiß man schon mehr über die Schnittwunde? Was für ein Messer?«
»Die Stichwunden haben kurze ausgefranste Ränder: Es handelt sich um ein Messer mit Wellenschliff, nicht übertrieben groß.«
»So ein Messer kann man überall kaufen. Gibt es Spuren von Gewaltanwendung?«
»Nein.« Er zeigt auf die Arme des Opfers. »Sie wurde nicht geknebelt oder gewürgt, sie war bei Bewusstsein. Außerdem: kein Hinweis auf Raub oder Vergewaltigung.
»Vermutlich hat sie ihren Verfolger gekannt.«
»Es war auf jeden Fall jemand, der sie quälen wollte. Er hat insgesamt achtmal zugestochen. Die Wunde an der Schulter ist die älteste. Danach erhielt sie noch einige Stiche in den Rücken, und dann ist sie sehr schnell erstickt.« Der Finger des Pathologen gleitet über das Foto des Schädels. Er hält am Hals an. »Wahrscheinlich konnte sie nach den Messerstichen nicht mehr rufen oder schreien, soll heißen, sich verteidigen, aber sie lebte noch.«
»Toxikologie?«
»Wird noch untersucht. Ein Teil des DNA-Materials ist vom Regen weggespült worden. Ich habe am Körper Samenspuren, Fingerabdrücke und ein paar Haare gefunden. Die laufen gerade durch die Datenbank. Und dann ist da noch das hier, das habe ich entdeckt, kurz bevor du reinkamst.« Steve hebt die linke Hand des Opfers an und beugt sich nach vorn. »Guck, hier unter dem Nagel ihres Zeigefingers. Nicht länger als vier, fünf Millimeter.« Mit einer Pinzette holt er einen kleinen dunklen Gegenstand hervor. »Es ist fast ganz schwarz, nur am Ende sieht man noch eine hellbraune Färbung.«
»Kommt das nicht einfach vom Morast?«
Der Pathologe schüttelt entschieden den Kopf. »Nein, dann würde es nicht so tief unter dem Nagel sitzen. Das ist höchstwahrscheinlich von Hand hinzugefügt.«
»Bewusst?«
»Allem Anschein nach, ja.«
»Was könnte das bedeuten? Warum sollte der Mörder das dahin getan haben?«
»Wir schicken es ins Laboratorium. Das kann ein paar Wochen dauern. Ich würde auch eine genauere Blutuntersuchung machen. Weißt du übrigens, dass der Täter im Internet schon einen Namen hat?«
»Jetzt schon?«, fragt Hanna. »Die Leiche ist gerade erst gefunden worden.«
»Es ist die Rede vom Mardi Gras-Mörder. Und dann der Vollmond … So was stachelt die Phantasie an. Sie reden vom Loop garoo.«
»Märchen interessieren mich nicht. Wenn du was hörst, ruf mich an. Niemanden sonst.«
Im Büro wird eine provisorische Zentrale eingerichtet, wo auch das erste Briefing stattfindet. Die unübersichtliche Menge an halben Fakten, Aussagen von Spinnern und unzuverlässigen Tipps von Leuten, die ihren Nachbarn oder Kollegen verdächtigen, wird aufgeteilt in sachdienlich und nicht sachdienlich. Alles, was sachdienlich ist, landet im Tagesrapport. Es werden Informationswege festgelegt, der älteste Polizist des Büros fährt Pinnwände in den Raum. Halb zwei am Mittag ist der Mord an Nathalie Underwood ein Fall mit einer eigenen Nummer geworden.
Hanna Vincennes wird vom Chief Inspector zur Chefermittlerin ernannt. Seit dem letzten Abgang von zwei herausragenden Kollegen, beide entlassen wegen Suffs, ist sie die Einzige im Büro, die Erfahrungen mit einem Fall dieses Ausmaßes hat. Sie beschließt, nicht mehr an die Gründe ihres Termins zum Mittagessen mit dem Chief zu denken. Heute wollte sie eigentlich um Versetzung bitten. Das ist es, worauf Chris und sie sich geeinigt haben. Sie würde nicht ganz bei der Polizei aufhören, aber nicht mehr als Detective arbeiten. Und jetzt kann sie nicht mehr zurück: Der Fall dieser ermordeten jungen Frau, die, wie die Kollegen meinen, ihr ähnlich sieht, erfordert auf einmal ihre ganze Aufmerksamkeit. Außerdem hat sie etwas gutzumachen.
Die übrigen Polizisten werden in Zweier-Einheiten eingeteilt. Der Chief Inspector selbst wird den Fall koordinieren – New Orleans ist eine Stadt, die ihre Probleme selbst löst.
Entlassen.
Es gibt Gescharre mit den Stühlen, nervöse Blicke machen die Runde. Vor allem Connor, ein junger Polizist mit mehr Ambition als Talent, wirkt unzufrieden über die Aufgabenverteilung. Hanna geht direkt auf ihn zu, »Gibt’s Probleme?«
Er will ausweichen, aber sie versperrt ihm den Weg.
»Hör zu«, sagt er mit niedergeschlagenen Augen. »Jeder hat viel Respekt vor deinem Standing in der Dienststelle. Aber der letzte große Fall ist lange her, und wir wissen alle, wie er ausgegangen ist. Über dich wird geredet.«
»Wer redet? Und was sagen sie?«
»Die Jungs halt. Sie sagen, dass du es vielleicht nicht mehr drauf hast.«
Hanna durchforstet das System, ob in den zurückliegenden Jahren weitere Morde bei Vollmond verübt wurden. Sie sucht nach dem Alter des Opfers, dem Fundort der Leiche, der Anzahl der Messerstiche. Aber keiner der Fälle, die sie findet, gleicht dem jetzigen grundlegend.
Die weitaus meisten Morde werden mit Schusswaffen verübt und ereignen sich in großen Städten, der Sumpf ist eine Ausnahme. Ein Mord wie dieser, bei dem eine Frau so zugerichtet wird, ist in der Regel immer das Werk eines Mannes, und Hanna sieht keinen Grund zu der Annahme, dass dieser Fall eine Ausnahme darstellt. Die Pause zwischen dem ersten Messerstich und dem Todeszeitpunkt verrät Wollust. Er wollte sehen, dass sie leidet. Hanna kennt die Theorien – hinter so einem Mord stecken vermutlich pathologische Motive, Minderwertigkeits- oder Rachegefühle, vielleicht Groll auf Frauen.
Die Wahl des Opfers kann willkürlich gewesen sein, aber das ist unwahrscheinlich. Das undeutliche Autobahnfoto, aufgezeichnet von einer Überwachungskamera, das gestern auftauchte, zeigt zwei Personen in einem schwarzen Toyota Corolla. Sie sitzen ruhig nebeneinander, Nathalie Underwood auf dem Beifahrersitz, am Steuer ein Mann in Voodookostüm, um seinen Hals eine Kette mit Streichhölzern. Menschen, die einander kannten. Er wollte sie.
*
Einen Tag später wird der schwarze Toyota ausgebrannt auf einem Parkplatz im Norden der Stadt, beim South-Shore-Hafen, aufgefunden. Wie sich herausstellt, ist der Wagen in der Woche zuvor in der derselben Gegend gestohlen worden, auf dem Parkplatz eines Walmart. Die Polizei hat das Autobahnfoto inzwischen im Internet verbreitet, sie hofft auf verwertbare Reaktionen. Und natürlich spricht Hanna auch mit so vielen Mitarbeitern der Bars und Mardi Gras-Feiernden wie möglich. Aber niemand hat konkrete Hinweise: Jeder kennt natürlich jemanden, der sich als Skelett verkleidet hat, solche Voodooanzüge gibt es überall. Nathalies bescheidene Aufmachung ist gleich gar keinem aufgefallen – und Erinnerungen, die jemand möglicherweise hätte haben können, sind eingetrübt durch Gedränge oder Alkohol.
Am Ende des Nachmittags wird Hanna angerufen. Die Fingerabdrücke und Samenspuren, die auf Nathalie Underwoods Körper gefunden wurden, sind nicht in der Datenbank aller Verdächtigen früherer Verbrechen in Louisiana registriert. Aber über die FBI-Datenbank, die auch Informationen von Bürgern speichert, die nicht mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, gibt es einen perfect match. Hanna Vincennes hat ihren ersten Namen: Alexander van Zandt.
8. März
Egmond bietet nicht viele Gelegenheiten für Sozialkontakt, außer den täglichen Ritualen, die die Dorfbewohner absolvieren, vom Bäcker bis zur Kirche. Und es gibt das abgelegene Nachbarschaftszentrum, wo Anfang 2012 eine Reihe von sechs Vorträgen über Witwen- und Witwerschaft gehalten wurden, Aron las darüber zufällig im Lokalblatt. Er war unschlüssig, ob er da hingehen sollte, einmal wenigstens, um es zu auszuprobieren. Er gehörte zwar in eine Sonderkategorie von Witwern – eigentlich gab es für das, was er hinter sich hatte, überhaupt keine Kategorie –, aber was er mit anderen Witwern und Witwen gemein hatte, war das Bedürfnis nach einem neuen Leben. Neu anfangen, diese beiden Worte waren in dem Artikel mehrmals zu lesen. Endlich, nach langem Zögern, schrieb er sich ein.
Aron verteilt Käsestangen auf zwei Schälchen. Marie, die neben ihm steht, Mozzarellakügelchen in Parmaschinken. Ihre Handgelenke sind schlank und zierlich, mit dem Zubereiten von Delikatessen vertraut.
Die erste Zusammenkunft hatte er geschwänzt. Es hatte geregnet, und Milo war krank gewesen. Bei der zweiten Zusammenkunft saß er ihr, Marie, gegenüber, einer Frau, die drei Jahre jünger als er war. Lederstiefel, eine elegante Regenjacke. Sie sprach ihn an, und sie kamen ins Gespräch. Sie tranken Rotwein aus Plastikbechern und witzelten darüber, wie erbärmlich es war: eine Zusammenkunft von Witwen und Witwern als erstes Date. Es war Jahre her, dass jemand über Aron gelacht hatte. Im gleichen Moment schnitt etwas in seinen Kummer hinein, irgend etwas zwischen Frust und Erleichterung.
Es war fast zwei Uhr nachts, als sie sich auszog und sich auf dem Bett an seiner Taille festklammerte. Sie nahm sein Gesicht in die Hände, als er in sie eindrang.
Wenn Marie neben ihm lag, konnte er seine Tränen kaum zurückhalten. Er hatte tatsächlich wieder jemanden gefunden, der es wagte, in seiner Nähe einzuschlafen. Marie war die Erste nach Nora, mit der er ins Bett gegangen war.
Beim Frühstück mit braunen Butterbroten und Senseokaffee erzählte sie ihm, dass sie in Egmond-Binnen als Beraterin arbeitete. Sie wohnte am Dorfrand, keine zehn Minuten zu Fuß von Arons Haus entfernt. Ungefragt erzählte sie, dass sie immer besser klarkam mit dem Verlust ihres Mannes, der vor Jahren an Knochenkrebs gestorben war. Sie hatte gelernt, die Einsamkeit zu ertragen, aber es war doch angenehm, wenn sie manchmal jemand verscheuchte. Aron wollte dasselbe von ihr: in regelmäßigem Turnus eine Injektion aufrichtiger lieber Worte, um ihn daran zu erinnern, wie es einst gewesen war, wie es vielleicht irgendwann einmal wieder sein konnte.
»Hast du Lust drauf?«, fragt sie.
Er schreckt hoch. »Auf das Fest? Nicht wirklich. Aber ich tue alles, um die anderen Bewohner bei Laune zu halten. Ich muss hierbleiben können.«
»Das weiß ich.«
Draußen geht die Sonne hinter dem Blätterwerk unter. Aron weiß, dass ihn dieser Anblick nie langweilen wird, wie lange er hier auch wohnen wird.
Halb sieben. Die Gäste können jeden Moment kommen. Unwillkürlich gleiten Arons Gedanken zurück in die Vergangenheit – sein Haus in Amstelveen, das Leben, das er geführt hatte, so angenehm und übersichtlich, bis eines Abends zwei Polizisten vor der Tür standen. Ein kurzer, heftiger Stich geht durch seinen Magen. Er atmet tief ein, schluckt eine Magentablette und rührt sich keinen Millimeter vom Fleck. Er kennt diesen Schmerz, der bei jedem Geburtstag und bei jedem Jahreswechsel wieder aufflammt. Niemand kennt diesen Schmerz so gut wie er.
Eine Stunde später stehen zwischen fünfzehn oder zwanzig Leute in Arons Haus herum. Die meisten kennt er nur gerade so vom Sehen, mit einigen er plaudert er auch manchmal. Auch jetzt bemüht er sich um Gespräche – tastende Fragen und höfliche Gemeinplätze. Eine grau gewordene Frau, die ein paar Häuser weiter wohnt, macht ihm Komplimente für die Einrichtung, die sie »authentisch« nennt. Er schaut sich um, sieht genau denselben Raum, den er vor fünf Jahren bezogen hat. Dieselben Stühle und Bilder, dieselben Strandklamotten im Wandschrank: alte Schwimmsachen, einst liebevoll von Nora zusammengelegt, ein paar kaum gebrauchte Slipper, ein verblichener Strandball, mit dem er früher mit seinem Sohn gespielt hat.
»Ach ja: Noch herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagt die Frau.
»Danke.« Es ist ihm nicht die Mühe wert zu sagen, dass sein Geburtstag schon Monate zurückliegt, als fast alle Häuser im Bungalowpark dunkel und leer waren. Siebenundfünfzig ist er geworden. Keiner, der Argwohn hegte, für die Leute hier existiert er sowieso erst wenige Jahre – alle, die etwas von seiner Vergangenheit wissen, Freunde, Familie, Frau, Kind, sind aus seinem Leben verschwunden. Nora kannte ihn seit seiner Studentenzeit. Nach dem Tod von Arons Mutter war sie die älteste Zeugin. Die einzige Zeugin, denkt er manchmal.
»Schön, dass du endlich auch mal feierst. Erik und ich«, sie zeigt auf einen ergrauten Mann an der anderen Seite des Zimmers, »waren uns schon fast sicher, dass du am liebsten alle Tag allein durchbringst.« Bei den letzten Worten bricht sie in Gelächter aus.
Milo streicht an Arons Beinen entlang, der in die Knie geht, um den Hund zu streicheln, und als er dann wieder hochkommt, ist die Frau mit jemand anderem im Gespräch. Während er sich ein Glas Wein einschenkt, lauscht er den Gesprächsfetzen um sich herum; irgendwer redet über das Trainingsspiel der niederländischen Mannschaft, ein anderer erzählt mit großem Enthusiasmus von der Scheune, die er kürzlich ausgebaut hat.
Aron betrachtet seine Gäste der Reihe nach. All die sich bewegenden Münder, in die Wein gegossen wird, die ölige Oliven essen, die reden, vielleicht nun auch über ihn. Er spürt es, sie wollen wissen, was von den Geschichten stimmt. Wozu er fähig ist. Manchmal fragt er sich das selbst. In dem Moment sieht er Noras Gesicht vor sich. Die Wochen in der Untersuchungshaft sind Aron noch immer im Gedächtnis geblieben, die zuschlagenden Türen, die nächtlichen Schreie aus anderen Zellen. Er weiß, wie es ist, alles in ein paar Stunden zu verlieren.
Er schenkt Marie, die sich mit dem Aufseher des Bungalowparks unterhält, ein Glas Wein ein. Aber bevor er es ihr geben kann, schrickt er von einem lauten, klirrenden Geräusch zusammen. Zuerst glaubt er, dass jemand ein Tablett mit Maries Häppchen hat fallen lassen. Dann sieht er in der Zimmerecke, dass es einer seiner Bilderrahmen ist, der kaputt auf dem Boden liegt. Im Rahmen eine alte Zeitung, die vorn ein großes Foto eines inzwischen vergessenen Politikers zeigt. Die Zeitung vom 15. Mai 1987.
»Sorry«, sagt ein Mann mittleren Alters. Aron hat keinen Schimmer, wer das ist. »Ich habe es nicht gesehen.« Ohne Arons Reaktion abzuwarten, geht der Mann zur Spüle, nimmt einen Besen und fegt die Scherben zusammen. In Aron kocht eine plötzliche Wut hoch. Wie unachtsam der Mann mit anderer Leute Sachen umgeht, wie nachlässig er dieses greifbare Stück Vergangenheit zerstört hat.
Aron räuspert sich. »Ich räume es schon weg«, sagt er so ruhig wie möglich.
»Nein, nein«, sagt der Mann. »Ich mach das schon.«
»Ich räume es schon weg«, sagt Aron jetzt lauter. Um ihn herum verstummen die Gespräche. Er spürt, wie die Gäste ihn anschauen, wahrscheinlich versuchen sie, an seinem Gesicht abzulesen, was in ihm vorgeht. Der Mann kommt aus der Hocke hoch. »Noch mal sorry«, sagt er, zeigt auf den Scherbenhaufen und die Zeitungsseite neben sich.
Aron nickt. Als er merkt, dass die Leute ihn weiter anstarren, sagt er: »Kann passieren. Kein Problem.« Er hebt die Zeitung vom Boden auf und legt sie ins Schlafzimmer, entzieht sie dem Blick der Gäste.
Als er wieder im Wohnzimmer ist, sagt der Mann: »Noch mal Entschuldigung. Ich habe einen langen Tag hinter mir. Ich sollte jetzt gehen.«
Vielleicht ist es der Versuch, Aron sagen zu lassen: Bleib doch noch. Aber der schweigt. Und in diesem Moment machen andere Gäste auch Anstalten, aufzubrechen, sie flüstern miteinander und suchen ihre Jacken. Aron versucht nicht, jemanden aufzuhalten. Er steht an der Tür und nimmt einige Dankeschöns entgegen. Er isst zwei von Maries Mozzarellakügelchen mit Parmaschinken und sieht zu, wie die Gäste aufbrechen.
»Geht es?«, fragt Marie, als alle weg sind.
»Ich bin nur müde.« Mit Handfeger und Kehrblech, die er zitternd festhält, beseitigt er die letzten Scherben vom Boden.
»Hey, ich habe es doch gesehen. Du bist ganz still geworden. Und du hast geschaut wie … wie du in letzter Zeit öfter schaust. Starr, jedem ausweichend. Auch mir. Das ist nicht schön.«
»Ich bin so viele Menschen nicht mehr gewöhnt, das ist alles. Lass mich einfach.«
»Wir können doch einen neuen Rahmen kaufen.«
Darum geht es nicht, denkt er, aber er möchte kein Gespräch, bei dem jede Antwort eine neue Frage provoziert, über früher, über Amstelveen. Deshalb sagt er: »Gut. Ja, ja, natürlich, du hast recht.«
Später am Abend, als sie in seinem Bett liegen, sagt Marie: »Dein Haus ist kein Museum.«
»Das weiß ich, das weiß ich.« Aron gibt ihr einen Kuss, sie schließt die Augen. Er spürt, dass er nicht so bald einschlafen wird und nimmt sich ein Kreuzworträtsel vor. Das einzige Wort, das er einträgt, ist »Ehe«. 15. Mai 1987. Er erinnert sich noch so gut daran, wie sie dastanden an diesem Tag, wie hübsch Nora in ihrem Rock aussah, gebrochenes Weiß – noch vor ihrer Schwangerschaft, noch vor diesem Haus, ehe sich alles veränderte. Sie war auf die Idee gekommen, die Zeitung dieses Tages einzurahmen.
Und da ist er wieder, der scharfe Schmerz in seinem Magen. Aron nimmt eine weitere Tablette und bleibt ruhelos liegen. Seine Augen geschlossen, seine Gedanken auf vertrautem, aber dunklem Gebiet. Er muss abwarten. Er weiß, dass nichts dagegen auszurichten ist – nichts außer warten, warten und hoffen, dass der Schmerz nachlässt.
12. März
Der Highway 301 führt über den Mississippi, vorbei an verfallenen Industriebauten und dichter Bewaldung. Zweige hängen bis auf den Asphalt, das spiegelnde Sonnenlicht hängt so tief, dass es im Fluss zu verschwinden scheint. Mit Route 90 senkt sich die Autobahn langsam Richtung Sumpfgebiet, wo die Luft immer feuchter wird.
Hanna Vincennes parkt ihren bordeauxroten Chrysler, den sie vor einem Jahr zusammen mit Chris auf Raten gekauft hat, am Anfang der Straße. Letzte Woche war ein Kollege von Hanna bei Nathalies Eltern, um die schlimme Nachricht zu überbringen, jetzt ist es an ihr, die erforderlichen Fragen zu stellen.
Die Eltern wohnen in Houma, einem stillen Städtchen, eine Stunde von New Orleans entfernt. Kinder verkaufen Wassermelonenschiffchen auf der Straße, die Sonne bescheint die Dächer der Veranden. Hanna nimmt die Times-Picayne, die sie heute Morgen an einer Tankstelle gekauft hat. Wer ermordete Nathalie Underwood? titelt das Blatt. Mehrere Artikel beschäftigen sich mit dem Mord, einer tendenziöser als der andere. Hanna studiert alles sorgfältig. Reaktionen alteingesessener Nachbarn, ein Foto von Nathalie auf der weiterführenden Schule, ein kurzes Profil, das ihre überdurchschnittlichen, aber nicht außergewöhnlichen akademischen Leistungen beleuchtet. Und natürlich die beiden Details, die gleich nach dem Mord durchgesickert sind und mit denen jeder Journalist seinen Bericht zu würzen versucht. Das Skelettkostüm und der Tag des Mordes: Mardi Gras, das Fest, das New Orleans in der ganzen Welt bekannt gemacht hat.
Zum Glück haben die Medien von der Verhaftung van Zandts noch keinen Wind gekriegt. Nicht allein wegen der Fingerabdrücke und der Samenspuren, auch bei den Haaren hat sich schnell erwiesen, dass sie von ihm stammen. Heikel ist, dass van Zandt Nathalies Freund gewesen zu sein scheint, schon jahrelang. Sie kannten einander von der Universität, wo er Geschichte studierte und sie Philosophie. Er hatte gute Noten, so steht es im Dossier.
Hanna hatte van Zandt zu einem Gespräch ins Büro gebeten, aber er war nicht aufgetaucht. Als sie zu seiner Wohnung auf dem Campus kam, stellte sie fest, dass er unauffindbar war. Schließlich wurde er an der Grenze zwischen Louisiana und Texas aufgegriffen, leichenblass und ängstlich. Eine Vorstrafe hatte er nicht, aber sein Alibi stand auf schwachen Füßen. Er erklärte, dass er zur Zeit des Mordes im Café Cabanaz in der Nähe des Campus’ einen Film gesehen hatte. Doch niemand hatte ihn dort gesehen.
Langsam begannen sich die Konturen eines Motivs abzuzeichnen: eine zerbrechende Liebe. Freunde und Freundinnen von Nathalie erzählten von wachsenden Spannungen zwischen Alexander und Nathalie. Campusnachbarn behaupteten, »regelmäßig heftigen Streit« gehört zu haben, »wobei Drohungen ausgestoßen wurden«. In Nathalies Kalender stand für den Tag des Mordes nur ein Termin, eigentlich nur ein Name, aufgeschrieben in kleinen blauen Buchstaben: Alexander. Van Zandt selbst blieb bei seiner Behauptung, dass Nathalie und er einander an diesem Abend nur kurz gesehen hatten, weil sie plötzlich etwas »erledigen« musste und deshalb eher als geplant ins Zentrum der Stadt aufgebrochen war.
Gestern, am Tag nach der Festnahme von van Zandt, wurde ein zweiter Verdächtiger festgenommen: Kemal Johnson. Ein praktizierender Moslem mit Familie in Saudi-Arabien. Er ist der Letzte, mit dem Nathalie gesehen wurde, am Nachmittag des Mordes in der Raststätte The Big Cajun, wo sie nach Aussagen der Bedienung »einen verliebten Eindruck machten«, unter anderem weil sie »sich wiederholt gegenseitig fütterten«. Zuerst behauptete Johnson, Nathalie noch nie gesehen zu haben, aber, mit diesen Aussagen konfrontiert, passte er bei der zweiten Vernehmung seine Geschichte an: Nathalie und er waren Freunde, sie hatten einander zufällig kennengelernt und verstanden sich gut. Während er das alles preisgab, fing Johnson an zu schwitzen, seine Stimme klang zunehmend nervöser. Er sagte, dass er den Mord nicht begangen haben konnte, weil er an diesem Abend gar nicht in der Stadt gewesen war – denn sein neues Auto musste eingefahren werden. Also kein Alibi, schlussfolgerte Hanna, worauf Johnson um einen Anwalt bat. »Bis dahin sage ich nichts mehr.«
Johnsons Vorstrafenregister sprach nicht für ihn. Vor Jahren, als er noch bei seinen Eltern in Georgia wohnte, war er wegen Misshandlung verurteilt worden. Das Opfer: seine damalige Freundin. Die Strafe: sechs Monate auf Bewährung, eine stattliche Geldbuße und eine Anzahl von Pflichtbesuchen beim Psychiater. Bei keinem Verbrechen ist die Rückfallquote so hoch wie bei häuslicher Gewalt.
Vorerst leugnen beide Verdächtige.
Hanna steigt aus dem Wagen. Der Zettel, den sie in der Hand hält, hilft nicht weiter: die Häuser haben keine Nummern. Auf der anderen Seite läuft ein Mann mit einem ausgefransten Cowboyhut, Hanna fragt ihn nach der Familie von Nathalie. Er murmelt, dass sie am Ende der Straße wohnen. »In der Bruchbude.«
Der Kinderlärm nimmt ab, die Lücken zwischen den Häusern werden größer. Zwei Hunde tauchen neben Hanna auf, laufen mit ihr mit. Der älteste, am schlimmsten zugerichtete Hund, blafft sie an.
Die Gittertür knarrt, als wäre sie jahrelang nicht geöffnet worden. Hanna steigt die Veranda hinauf. Im Garten gibt es keine Pflanzen – nur harte Erde, kahle Flecken und dürr gewordene Grasbüschel.
Neben der halb eingesackten Tür, die hauptsächlich aus Gaze besteht, hängt ein großes vergoldetes Kreuz. Sie versucht, sich vorzustellen, wie beklemmend es für Nathalie gewesen sein muss, hier aufzuwachsen, wie schnell sie wahrscheinlich aus dem Haus gewollt hatte. Für Hanna war der Glauben einer der wichtigsten Gründe gewesen, so schnell wie möglich in die große Stadt zu ziehen, weg von ihren texanischen Eltern und den sonntäglichen Kirchgängen. Sie hatte einen Pick-up gekauft und war zu einer Freundin in New Orleans gefahren. Sie träumte von einem Leben ohne Bibel, sah sich schon in einem zentral gelegenen Appartement mit Holzfußboden, einer guten Kaffeemaschine, Blick über den Mississippi.
Die Polizeischule schien der beste Platz, um irgendwohin zu flüchten. Nie war für sie das Elternhaus weiter weg, als wenn sie sich in Verbrechen und Mörder vertiefte.
Sie klopft an die Haustür. Nathalies Mutter kommt, Hanna sieht Augen, die denen von Nathalie gleichen. Weiter: runde Wangen, dicke Adern am Hals.
Die Tür wird nur einen Spalt geöffnet: »Was wollen Sie?«
»Nur reden.« Sie hält ihre Dienstmarke hoch. Einen Moment denkt sie an das Motto des Police Departments von New Orleans, get behind the badge. »Hanna Vincennes. Detective der Mordkommission.«
»Einer Ihrer Kollegen war schon da. Ich habe nichts zu sagen. Unser Glaube …«
»Darf ich kurz hereinkommen?«
Gepolter im Hintergrund. Die Mutter schaut nach drinnen. »Wieder die Polizei«, sagt sie, wahrscheinlich zu ihrem Mann. Offensichtlich macht er ein zustimmendes Zeichen, auf einmal öffnet sich die Tür, die Mutter geht zurück in den Flur.
Der Flur riecht nach Wasserleitungen, die lange nicht gereinigt wurden. Die Mutter führt Hanna ins Wohnzimmer. Fotos von ihrer Tochter hängen an allen Wänden. Als Baby, als Kleinkind, als Kindergartenkind, als Schülerin, als junge Frau. Aber das wichtigste Foto, das seit Tagen bei Hanna auf dem Schreibtisch liegt und auf dem Nathalie bleich und blau ist, werden sie nie zu sehen bekommen.
Nathalies Vater, ein stämmiger Mann mit zotteligem Bart und einer abgetragenen Truckermütze, holt die Kaffeekanne, schenkt, ohne Hanna etwas angeboten zu haben, drei Tassen ein und stellt die Kanne ab. Auf dem runden Esstisch liegt eine Bibel aus schmuddeligem Leder und gelbem Papier.
»Was wollen Sie?« Der Ton der Mutter ist weicher als an der Tür.
»Zuallererst möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen. Es tut mir leid, dass ich Sie noch einmal stören muss, auch wenn mein Kollege schon hier war.«
»Was ist das: Leid?« Der Mann zieht einen Stuhl nach hinten, setzt sich zu ihnen. Etwas unverkennbar Aggressives drückt sich in seinen Bewegungen aus. Früher hätte Hanna ihre Hand vorsichtig in Richtung Holster geführt. Aber aggressiv ist etwas anderes als gewalttätig. Diese Leute hier trauern. Schmerz und Wut schaukeln sich gegenseitig hoch. Hanna weiß nicht, was sie sagen soll, die Mutter kommt ihr nicht zu Hilfe. »Haben Sie auch Kinder?«, fragt der Vater.
Natürlich muss sie nicht darauf antworten, vermutlich ist es sogar besser, es nicht zu tun. Professioneller. Aber sie sagt: »Nein.« Die Geschichte zu diesem »nein« geht die Leute nichts an.
»Erst, wenn es so weit ist und Sie Ihr Kind unter die Erde bringen müssen, dürfen Sie etwas über Leid und Schmerz sagen.« Die Verbissenheit seiner Worte. So viel Wut. Mit einem Ruck steht der Mann auf und geht in ein anderes Zimmer, ohne etwas zu sagen.
»Achten Sie nicht auf ihn«, sagt die Mutter. »Es ist eine so merkwürdige Zeit. All die Journalisten, die anrufen oder einfach vorbeikommen, so unverschämt. Und sie ist noch nicht einmal beerdigt. Warum sind Sie hier?«