Throne of Glass

Sarah J. Maas

Throne of Glass

Die Sturmbezwingerin

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Michaela Link

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Sarah J. Maas

© privat

Sarah J. Maas wuchs in Manhattan auf und lebt seit einiger Zeit mit Mann und Hund in Pennsylvania. Bereits mit dem ersten Entwurf zu ›Throne of Glass‹ sorgte sie für Furore: Mit 16 veröffentlichte sie ›Queen of Glass‹ (so der damalige Titel) auf einem Onlineforum für Autoren und initiierte damit eines der frühesten Onlinephänomene weltweit.

 

Michaela Link, geboren 1963, geboren 1963, studierte Chinesisch und lebt seit 1994 als freie Autorin und Übersetzerin in Norddeutschland.

Über das Buch

Neue Feinde.
Neue Verbündete. Neue Geheimnisse.
Eine uralte Bedrohung.

 

Der gläserne Palast ist zerstört und Celaena alias Aelin Ashryver Galathynius ist in ihre Heimat Terrasen zurückgekehrt. Gemeinsam mit dem Fae-Prinzen an ihrer Seite versucht sie, ihr Volk und ihre Freunde um jeden Preis vor der dunklen Macht der Valg zu schützen – und zu verhindern, dass der dritte Wyrdschlüssel in die falschen Hände gerät. Bald wird es zu einem Kampf kommen, bei dem Aelin sich entscheiden muss, was – und vor allem wen – sie zu opfern bereit ist, um ihre Welt zu retten …

 

NOCH SPANNENDER, NOCH SINNLICHER:
BAND 5 DER FASZINIERENDEN SAGA

Impressum

Deutsche Erstausgabe

© 2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2016 Sarah J. Maas

Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Empire of Storms‹

2016 erschienen bei Bloomsbury Publishing

This translation of Empire of Storms is published by dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co.KG by arrangement with Bloomsbury Publishing Inc.

All rights reserved.

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: talexi

© der Landkarte: Kelly de Groot

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43370-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71789-2

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423433709

meinen Champion,
meine Fee und Patin,
meinen weißen Ritter.

 

Danke, dass du von der ersten Seite an
an diese Reihe geglaubt hast.

Abenddämmerung

Von dem steinigen Felsvorsprung aus, auf dem ihr Kriegszelt sich ächzend gegen den trockenen Wind stemmte, hatte Prinzessin Elena Galathynius den ganzen Nachmittag lang die Armee des Schreckensfürsten beobachtet, die diese Berge in ebenholzschwarzen Wellen überflutete. Und nun, da die Sonne längst verschwunden war, flackerten die feindlichen Lagerfeuer über den Bergen und unten im Tal wie eine Decke aus Sternen.

So viele Feuer – so viele verglichen mit denen, die auf ihrer Seite des Tals brannten.

Sie brauchte die Gabe ihrer Fae-Ohren nicht, um die Gebete ihrer menschlichen Armee zu hören, laut ausgesprochene wie stumme. Sie hatte in den vergangenen Stunden selbst einige gen Himmel gesandt, obwohl sie wusste, dass sie unerhört bleiben würden.

Elena hatte nie darüber nachgedacht, wo sie eines Tages vielleicht sterben würde – hatte nie darüber nachgedacht, dass es so weit entfernt von dem felsigen Grün Terrasens geschehen könnte. Dass ihr Leichnam vielleicht nicht verbrannt, sondern von den Bestien des Schreckensfürsten verschlungen werden würde.

Es würde keinen Grabstein geben, welcher der Welt verriet, wo eine Prinzessin Terrasens gefallen war. Es würde für keinen von ihnen einen Grabstein geben.

»Du brauchst Ruhe«, erklang eine raue Männerstimme vom Eingang des Zeltes hinter ihr.

Trotz seines Geredes über Ruhe hatte auch Gavin seine Rüstung nicht abgelegt, als er vor Stunden ihr Zelt betreten hatte. Erst vor wenigen Minuten hatten sich seine Kriegsherren endlich aus dem Zelt geschoben, mit Karten in den Händen und keinem Fünkchen Hoffnung in den Herzen. Sie konnte sie an ihnen riechen – die Furcht. Die Verzweiflung.

Gavins Schritte knirschten kaum auf der trockenen, steinigen Erde, als er sich ihr bei ihrer einsamen Wache näherte, fast lautlos dank der Jahre, in denen er die Wildnis des Südens durchstreift hatte. Elena wandte sich erneut den unzähligen feindlichen Feuern zu.

Er sagte heiser: »Die Streitmächte deines Vaters könnten es immer noch schaffen.«

Die Hoffnung eines Narren. Ihr war kein Wort der stundenlangen Debatte entgangen, die hinter ihr im Zelt getobt hatte. »Dieses Tal ist eine Todesfalle«, erwiderte Elena.

Und sie hatte sie alle hierhergeführt.

Gavin antwortete nicht.

»Bei Tagesanbruch«, fuhr Elena fort, »wird es in Blut getränkt sein.«

Der Kriegsherr an ihrer Seite blieb still. Es war selten bei Gavin, dieses Schweigen. Kein Aufblitzen seiner ungezähmten Wildheit lag in seinen Augen und sein braunes Haar hing ihm schlaff vom Kopf. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann einer von ihnen das letzte Mal gebadet hatte.

Gavin wandte sich ihr mit jenem unverhohlenen Blick zu, unter dem sie sich vom ersten Moment an, als sie ihm vor fast einem Jahr in

Eine solch andere Zeit, eine andere Welt – als das Land noch voller Gesang und Licht gewesen war, als die Magie noch nicht begonnen hatte, im erstarkenden Dunkel Erawans und seiner Dämonensoldaten schwächer zu werden. Wie lange würde Orynth noch standhalten, wenn das Gemetzel hier im Süden erst geendet hatte? Würde Erawan zuerst den glänzenden Palast ihres Vaters auf dem Berg zerstören oder die königliche Bibliothek niederbrennen – das Herz und das Wissen eines Zeitalters? Und dann sein Volk?

»Bis zum Tagesanbruch sind es noch ein paar Stunden«, sagte Gavin, »Zeit genug für dich zu fliehen.«

»Sie würden uns in Stücke reißen, bevor wir die Bergpässe hinter uns hätten …«

»Nicht wir. Du.« Der Feuerschein verwandelte sein gebräuntes Gesicht in ein flackerndes Relief. »Du allein.«

»Ich werde diese Menschen nicht im Stich lassen.« Sie strich mit ihren Fingern über seine. »Oder dich.«

Kein Muskel regte sich in Gavins Gesicht. »Das Morgen lässt sich nicht aufhalten. Das Blutvergießen auch nicht. Du hast gehört, was der Bote gesagt hat – ich weiß, dass du es gehört hast. Anielle ist ein Schlachthaus. Unsere Verbündeten im Norden sind fort. Die Armee deines Vaters ist zu weit von uns entfernt. Wir werden alle sterben, noch ehe die Sonne ganz am Himmel steht.«

»Wir werden ohnehin eines Tages alle sterben.«

»Nein.« Gavin drückte ihr die Hand. »Ich werde sterben. Diese Menschen dort unten – sie werden sterben. Entweder durch das Schwert oder durch die Zeit. Aber du …« Sein Blick wanderte zu ihren zarten, spitz zulaufenden Ohren, dem Erbe ihres Vaters. »Du könntest Jahrhunderte leben. Jahrtausende. Wirf das nicht für eine bereits verlorene Schlacht fort.«

Aber Gavin starrte wieder über das Tal. Schaute auf seine Gefolgsleute, die letzte Verteidigungslinie gegen Erawans Horde.

»Zieh dich hinter die Linien deines Vaters zurück«, sagte er mit rauer Stimme, »und setze den Kampf von dort aus fort.«

Sie schluckte hörbar. »Es würde nichts nutzen.«

Langsam sah Gavin sie an. Und nach all diesen Monaten, all dieser Zeit gestand sie: »Die Macht meines Vaters schwindet. Er ist kurz davor – nur noch Jahrzehnte davor – zu erlöschen. Mit jedem verstreichenden Tag erlischt Malas Licht in ihm weiter. Er kann Erawan nicht besiegen.« Die letzten Worte ihres Vaters, bevor sie vor Monaten zu dieser zum Scheitern verurteilten Mission aufgebrochen war, hatten gelautet: Meine Sonne sinkt, Elena. Du musst einen Weg finden, dafür zu sorgen, dass deine immer noch aufgeht.

Alle Farbe wich aus Gavins Gesicht. »Du hast dich entschieden, mir das ausgerechnet jetzt zu sagen?«

»Ich habe diesen Moment gewählt, Gavin, weil es auch für mich keine Hoffnung gibt – ganz gleich, ob ich heute Nacht fliehe oder morgen kämpfe. Der Kontinent wird fallen.«

Gavin schaute zu dem Dutzend Zelte auf dem Felsvorsprung. Seinen Freunden.

Ihren Freunden.

»Keiner von uns wird dem hier morgen entkommen«, murmelte er.

Und es war die Art, wie seine Worte abbrachen, wie seine Augen glänzten, die sie veranlasste, einmal mehr nach seiner Hand zu greifen. Niemals – nicht ein einziges Mal während all ihrer Abenteuer, all der Gräuel, die sie zusammen durchgestanden hatten – hatte sie ihn weinen sehen.

»Erawan wird siegen und bis in alle Ewigkeit über dieses Land und alle anderen herrschen«, flüsterte Gavin.

Eins nach dem anderen, als würde eine große Hand aus Dunkelheit sie fortwischen, erloschen die Feuer im Lager des Schreckensfürsten. Die Knochentrommeln schlugen lauter.

Er war endlich eingetroffen.

Erawan selbst war gekommen, um sich das letzte Aufbäumen von Gavins Armee anzusehen.

»Sie werden nicht bis Tagesanbruch warten«, bemerkte Gavin, dessen Hand dorthin zuckte, wo Damaris an seiner Seite in der Scheide steckte.

Aber Elena hielt seinen Arm fest und spürte die harten Muskeln wie Granit unter seiner ledernen Rüstung.

Erawan war gekommen.

Vielleicht erhörten die Götter sie doch. Vielleicht hatte die feurige Seele ihrer Mutter sie überredet.

Sie betrachtete Gavins herbes, wildes Gesicht – das Gesicht, das ihr im Laufe der Zeit teurer geworden war als alle anderen. Und sie sagte: »Wir werden diese Schlacht nicht gewinnen. Und wir werden diesen Krieg nicht gewinnen.«

Sein Körper bebte, so viel Anstrengung kostete es ihn, nicht umgehend seine Kriegsherren zu informieren, aber aus tiefem Respekt ihr gegenüber blieb er und hörte ihr zu. Einem Respekt, der auf Gegenseitigkeit beruhte.

Mit ihrer freien Hand hob Elena ihre Finger in die Luft zwischen ihnen. Die rohe Magie in ihren Adern tanzte jetzt, von Flamme zu Wasser zu sich schlängelnder Ranke zu brechendem Eis. Kein endloser Abgrund wie der ihres Vaters, sondern eine vielfältige, flinke Gabe der Magie. Von ihrer Mutter verliehen. »Wir werden diesen Krieg nicht gewinnen«, wiederholte Elena. Gavins Gesicht leuchtete

Gavin legte die Stirn in Falten. »Das ist Wahnsinn, Elena. Selbstmord. Seine Leutnants werden dich fangen, du wirst es nicht einmal durch die Verteidigungslinien schaffen.«

»Genau. Sie werden mich direkt zu ihm bringen, jetzt, da er hier ist. Sie werden mich als seine wertvollste Gefangene betrachten – nicht als sein Todesurteil.«

»Nein.« Ein Befehl und eine Bitte.

»Töten wir Erawan, dann geraten seine Bestien in Panik. Lange genug, dass die Streitkräfte meines Vaters eintreffen können, um sich mit unseren zu vereinen, oder dem, was an Kämpfern dann noch übrig ist. Gemeinsam können sie die feindlichen Legionen vernichten.«

»Du sagst ›töten wir Erawan‹, als wäre das eine einfache Aufgabe. Er ist ein Valg-König, Elena. Selbst wenn sie dich zu ihm bringen, wird er dich seinem Willen unterwerfen und du wirst keine Chance haben, auch nur den kleinen Finger gegen ihn zu erheben.«

Ihr Herz krampfte sich zusammen, aber sie zwang sich, die Worte auszusprechen. »Das ist der Grund, weshalb …« Sie konnte ihre zitternden Lippen nicht stillhalten. »Das ist der Grund, weshalb du mich begleiten musst, statt mit deinen Männern zu kämpfen.«

Gavin starrte sie nur an.

»Denn ich brauche …« Tränen rollten ihr über die Wangen. »Ich brauche dich als Ablenkung. Du musst mir Zeit verschaffen, an seiner inneren Verteidigungslinie vorbeizukommen.« Genauso, wie die Schlacht morgen ihnen Zeit verschaffen würde.

Denn Erawan würde sich zuerst Gavin vornehmen. Den menschlichen Krieger, der so lange eine Bastion gegen die Streitkräfte des Dunklen Herrschers gewesen war, der Krieger, der gegen ihn gekämpft hatte, als niemand sonst es hatte tun wollen … Erawans Hass

Gavin musterte sie lange Sekunden, dann hob er die Hand, um ihr die Tränen von den Wangen zu streichen. »Man kann ihn nicht töten, Elena. Du hast gehört, was das Orakel deines Vaters geflüstert hat.«

Sie nickte. »Ich weiß.«

»Und selbst wenn es uns gelingt, ihn gefangen zu nehmen, ihn irgendwie einzusperren und zu bannen …« Gavin dachte über ihre Worte nach. »Du weißt, dass wir den Krieg so nur jemand anderem aufbürden – wer auch immer eines Tages dieses Land regieren wird.«

»Dieser Krieg«, antwortete sie leise, »ist nichts weiter als der zweite Zug in einem Spiel, das vor Äonen jenseits des Meeres begann.«

»Wir zögern ihn bloß hinaus, damit jemand anderer ihn erbt, falls Erawan befreit wird. Und es wird diese Soldaten dort unten nicht vor dem Gemetzel morgen retten.«

»Wenn wir nicht handeln, wird es niemanden geben, der diesen Krieg erben kann«, wandte Elena ein. Zweifel tanzten in Gavins Augen. »Schon jetzt«, drängte sie weiter, »versagt unsere Magie, lassen uns die Götter im Stich. Wenden sich von uns ab. Wir haben keine Fae-Verbündeten, abgesehen von denen in der Armee meines Vaters. Und ihre Macht schwindet, genau wie seine. Aber wenn dieser dritte Zug kommt … vielleicht werden die Spieler in unserem unbeendeten Spiel dann andere sein. Vielleicht wird es eine Zukunft sein, in der Fae und Menschen Seite an Seite kämpfen, erfüllt von Macht. Vielleicht werden sie einen Weg finden, dies zu beenden. Also werden wir diese Schlacht verlieren, Gavin«, fügte sie hinzu. »Unsere Freunde werden mit dem Morgengrauen auf diesem Schlachtfeld sterben und wir werden es als Ablenkung benutzen, um Erawan zu bannen, damit Erilea vielleicht eine Zukunft hat.«

Seine Lippen wurden schmal und seine saphirfarbenen Augen weiteten sich.

Der Zweifel grub tiefe Linien in sein Gesicht. Sie packte seine Hand fester. »Niemand, Gavin.«

Ein gequälter Ausdruck huschte über seine Züge. Aber er nickte.

Hand in Hand schauten sie in die Dunkelheit, die über den Bergen lag, während die Knochentrommeln des Schreckensfürsten wie Hämmer auf Eisen dröhnten. Allzu bald würden diese Trommeln von den Schreien sterbender Soldaten übertönt werden. Allzu bald würden Ströme von Blut die Felder des Tals durchziehen.

Gavin sagte: »Wenn wir es tun, müssen wir jetzt aufbrechen.« Wieder blieb sein Blick auf den nahen Zelten hängen. Kein Lebewohl. Keine letzten Worte. »Ich werde Holdren den Befehl geben, morgen die Führung zu übernehmen. Er wird wissen, was er den anderen sagen soll.«

Sie nickte, und das war Bestätigung genug. Gavin ließ ihre Hand los und schritt auf das Zelt zu, das ihrem eigenen am nächsten war, wo sein teuerster Freund und treuester Kriegsherr wahrscheinlich das Beste aus seinen letzten Stunden mit seiner frischgebackenen Ehefrau machte.

Elena riss den Blick von Gavins breiten Schultern los, bevor er sich durch die schweren Zeltlaschen schob.

Sie schaute über die Feuer, über das Tal, in die Dunkelheit, die auf der anderen Seite hauste. Sie hätte schwören können, dass die Dunkelheit zurückstarrte, hätte schwören können, dass sie die tausend Wetzsteine hörte, an denen die Bestien des Schreckensfürsten ihre giftbenetzten Krallen schärften.

Sie hob den Blick zu dem rauchgeschwängerten Himmel, und als die Schwaden sich für einen Moment teilten, offenbarten sie einen mit Sternen gesprenkelten Nachthimmel.

Der Herr des Nordens spähte flackernd auf sie herab. Vielleicht das

Denn für Terrasen, für Erilea, würde Elena in die ewige Dunkelheit schreiten, die auf der anderen Seite des Tals lauerte, um ihnen allen eine Chance zu verschaffen.

Elena sandte ein letztes Gebet auf einer Rauchsäule empor, die sich vom Talboden erhob. Mochten die ungeborenen, fernen Nachkommen dieser Nacht, Erben einer Bürde, die Erilea verdammen oder retten würde, ihr das verzeihen, was sie zu tun im Begriff stand.

Die Feuerbringerin

Elide Lochan brannten mit jedem keuchenden Atemzug die Lungen, während sie die steile, bewaldete Bergflanke hinaufhumpelte.

Unter dem durchweichten Laub, das den Boden des Oakwald Forest bedeckte, machten lose, graue Steine den Hang trügerisch, und die turmhohen Eichen ragten zu hoch über ihr auf, als dass sie sich an ihren Ästen hätte festhalten können, falls sie stolperte. Elide erreichte schließlich den zerklüfteten Kamm und ihr Bein zitterte vor Schmerz, als sie auf die Knie sackte.

Bewaldete Hügel erstreckten sich in alle Richtungen, die Bäume wie die Gitterstäbe eines nimmer endenden Käfigs.

Wochen. Es waren Wochen vergangen, seit Manon Blackbeak und die Dreizehn sie in diesem Wald zurückgelassen hatten, Wochen, seit die Schwarmführerin ihr befohlen hatte, nach Norden zu gehen. Um ihre verlorene Königin zu finden, die jetzt erwachsen und mächtig war – und auch um Celaena Sardothien zu finden, wer immer sie war, damit Elide die Lebensschuld begleichen konnte, in der sie bei Kaltain Rompier stand.

Noch Wochen später wurden ihre Träume von jenen letzten Augenblicken in Morath heimgesucht: den Wachen, die versucht hatten, sie fortzuschleppen, um ihr Valg-Nachkommen einzupflanzen, das Massaker, das die Schwarmführerin unter ihnen angerichtet hatte, und

Unmittelbar bevor Kaltain Morath in eine schwelende Ruine verwandelt hatte.

Elide legte eine schmutzige, beinahe zitternde Hand auf den harten Klumpen in der Brusttasche der ledernen Flugkleidung, die sie noch immer trug. Sie hätte schwören können, dass ein schwaches Pochen auf ihrer Haut widerhallte, ein Gegenrhythmus zu ihrem eigenen rasenden Herzen.

Elide schauderte unter dem milchigen Sonnenlicht, das durch das grüne Blätterdach drang. Der Sommer lastete schwer auf der Welt und die Hitze war jetzt so drückend, dass Wasser zu ihrem kostbarsten Gut geworden war.

Das war es von Anfang an gewesen – aber jetzt drehte sich ihr ganzer Tag, ihr ganzes Leben darum.

Zum Glück gab es nach der Schneeschmelze in den Bergen im Oakwald Forest genug Flüsse und Bäche. Elide hatte auf die harte Tour lernen müssen, welches Wasser sie trinken durfte und welches nicht.

Drei Tage lang war sie dem Tod nah gewesen und hatte sich erbrochen und hohes Fieber gehabt, nachdem sie einmal von stehendem Teichwasser getrunken hatte. Drei Tage hatte sie so heftig gezittert, dass sie dachte, ihre Knochen würden bersten. Drei Tage hatte sie leise und in jämmerlicher Verzweiflung darüber geweint, dass sie hier sterben würde, allein in diesem endlosen Wald, und dass niemand es je erfahren würde.

Und während alledem hatte dieser Stein in ihrer Brusttasche gesummt und gepocht. In ihren Fieberträumen hätte sie schwören können, dass er flüsternd zu ihr sprach und Schlaflieder in Sprachen sang, von denen sie nicht glaubte, dass menschliche Zungen sie hervorbringen konnten.

Fragte sich, ob sie einen Segen oder einen Fluch nach Norden trug. Und ob diese Celaena Sardothien wissen würde, was damit zu tun war.

Sag ihr, dass man mit diesem Schlüssel jede Tür öffnen kann, hatte Kaltain gesagt. Wann immer Elide für eine dringend benötigte Pause innehielt, studierte sie den schimmernden, schwarzen Stein. Er sah jedenfalls nicht aus wie ein Schlüssel: grob gehauen, als wäre er aus einem größeren Steinbrocken geschlagen worden. Vielleicht waren Kaltains Worte ein Rätsel, das nur für seine Empfängerin bestimmt war.

Elide nahm ihren allzu leichten Rucksack von den Schultern und riss die Leinwandlasche auf. Ihr war vor einer Woche das Essen ausgegangen und seither suchte sie nach Beeren. Sie waren ihr alle fremd, aber das Wispern einer Erinnerung an die Jahre mit ihrer Amme, Finnula, hatte sie gemahnt, die Beeren zuerst über ihr Handgelenk zu reiben – um festzustellen, ob sie irgendeine Reaktion hervorriefen.

Viel zu oft taten sie es.

Aber ab und an stolperte sie über einen Busch, der sich unter der Last der richtigen Beeren bog, und sie tat sich an ihnen gütlich, bevor sie ihren Rucksack damit füllte. Elide stöberte in der rosa und blau befleckten Tasche und holte die letzte Handvoll Beeren heraus, eingewickelt in ihr Ersatzhemd, dessen weißer Stoff jetzt rot und purpurn verfärbt war.

Eine Handvoll Beeren, die reichen musste, bis sie ihre nächste Mahlzeit fand.

Hunger nagte an ihr, aber Elide aß nur die Hälfte. Vielleicht würde sie weitere finden, bevor sie für die Nacht Rast machte.

Sie wusste nicht, wie man jagte – und der Gedanke, ein anderes Lebewesen zu fangen, ihm das Genick zu brechen oder ihm mit einem Stein den Schädel einzuschlagen … so verzweifelt war sie noch nicht.

Elide leckte sich den Beerensaft von den Fingern, mit Dreck und allem, und stöhnte, als sie sich auf ihre steifen, schmerzenden Beine erhob. Sie würde ohne Nahrung nicht lange durchhalten, aber sie konnte es nicht riskieren, sich mit dem Geld, das Manon ihr gegeben hatte, in ein Dorf zu wagen oder sich einem der Feuer der Jäger zu nähern, die sie während der letzten Wochen entdeckt hatte.

Nein – sie hatte genug von der Freundlichkeit und Gnade von Männern gesehen. Sie würde nie die lüsternen Blicke vergessen, mit denen diese Wachen ihren nackten Körper betrachtet hatten, würde nie vergessen, warum ihr Onkel sie an Herzog Perrington verkauft hatte.

Unter Schmerzen warf sie sich ihren Rucksack über die Schultern und stieg vorsichtig den Hang jenseits des Hügels hinab, einen Weg zwischen den Felsen und Wurzeln suchend.

Vielleicht war sie irgendwo falsch abgebogen. Woher sollte sie überhaupt wissen, wann sie die Grenze nach Terrasen überquerte?

Und wie sollte sie jemals ihre Königin finden – ihren Hof?

Elide schob die Gedanken von sich, hielt sich im Zwielicht des Waldes und mied die sonnenbeschienenen Lichtungen. Das würde sie nur noch durstiger machen.

Sie musste dringend Wasser finden, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Das war noch wichtiger, als etwas zu essen.

Endlich erreichte sie den Fuß des Hügels. Vor ihr erstreckte sich ein ausgetrocknetes Flussbett, das sich durch das Tal schlängelte. Es machte eine scharfe Biegung – nach Norden. Sie seufzte erleichtert. Anneith sei gedankt. Zumindest hatte die Herrin der Weisheit sich noch nicht von ihr abgewandt.

Sie würde dem Flussbett so lange wie möglich folgen, sich gen Norden halten und dann …

Dennoch. Als wäre ein Faden in einem großen Bildteppich gerissen, spannte sich ihr Körper an.

Einen Moment später verstummten das Summen und Rascheln des Waldes.

Elide suchte mit Blicken die Hügel ab, das Flussbett. Die Wurzeln einer nahe gelegenen Eiche ragten aus der grasbewachsenen Hügelflanke heraus und formten ein Dach aus Holz und Moos über dem toten Fluss. Perfekt.

Sie humpelte darauf zu; ihr zerstörtes Bein schrie, Steine klapperten und rissen an ihren Knöcheln. Sie konnte schon fast die Spitzen der Wurzeln berühren, als das erste hohle Dröhnen widerhallte.

Kein Donner. Nein, dieses spezielle Geräusch würde sie nie vergessen – denn es verfolgte sie ebenso in ihren Träumen, im Wachsein wie im Schlaf.

Das Schlagen mächtiger, ledriger Flügel. Wyvern.

Und womöglich noch tödlicher: die Ironteeth-Hexen, die sie ritten, mit Sinnen, so scharf und fein abgestimmt wie die ihrer Reittiere.

Elide stürzte auf den Überhang dicker Wurzeln zu, als die Flügelschläge näher kamen, der Wald so still wie ein Friedhof. Steine und Stöcke zerkratzten ihre bloßen Hände und sie schlug sich die Knie auf dem steinigen Boden auf, als sie sich in den Hang drückte und durch das Gitterwerk der Wurzeln zum Blätterdach hochspähte.

Ein Flügelschlag – dann ein weiterer, nicht einmal einen Herzschlag später. So synchron, dass jeder andere vielleicht dachte, es wäre nur ein Echo, aber Elide wusste Bescheid: zwei Hexen.

Sie hatte in ihrer Zeit in Morath genug mitbekommen, um zu wissen, dass die Ironteeth Befehl hatten, ihre Zahlen geheim zu halten.

Aber diese zwei waren nachlässig. Oder so nachlässig, wie eine der unsterblichen, todbringenden Hexen es sein konnte. Zirkelmitglieder aus den unteren Rängen vielleicht. Auf Kundschaftermission.

Oder sie machen Jagd auf irgendjemanden, flüsterte eine kleine, verängstigte Stimme in ihrem Kopf.

Elide drückte sich fester in die Erde und Wurzeln bohrten sich in ihren Rücken, während sie die Baumkronen nicht aus den Augen ließ.

Da. Der Schatten einer sich schnell bewegenden, massigen Gestalt glitt direkt über den Baumwipfeln entlang und ließ die Blätter rascheln. Ein ledriger Flügel, der in eine gebogene, giftbenetzte Klaue mündete, blitzte im Sonnenlicht auf.

Nur selten waren sie jemals bei Tageslicht unterwegs. Worauf auch immer sie Jagd machten – es musste wichtig sein.

Elide wagte es nicht, zu laut zu atmen, bis diese Flügelschläge in nördlicher Richtung verklangen.

Auf die Ferianschlucht zu – wo, wie Manon erwähnt hatte, die zweite Hälfte der Heerschar lagerte.

Elide bewegte sich erst, als das Summen und Zwitschern des Waldes wieder einsetzte. Nachdem sie so lange stillgehalten hatte, waren ihre Muskeln verkrampft und sie stöhnte, als sie die Beine ausstreckte, dann die Arme und die Schultern kreisen ließ.

Endlos – diese Reise war endlos. Sie hätte alles gegeben für ein sicheres Dach über dem Kopf. Und eine warme Mahlzeit. Vielleicht war es das Risiko wert, danach zu suchen, und sei es auch nur für eine einzige Nacht.

Elide bahnte sich einen Weg durch das knochentrockene Flussbett und kam genau zwei Schritte weit, bevor dieser Sinn-der-kein-Sinn-war wieder anschlug, als hätte eine warme, weibliche Hand ihre Schulter ergriffen, damit sie stehen blieb.

Keine Hexen oder Wyvern oder Bestien. Aber irgendjemand – irgendjemand beobachtete sie.

Irgendjemand folgte ihr.

Elide zog unauffällig einen der Dolche aus der Scheide, die Manon ihr gegeben hatte, als sie diesen erbärmlichen Wald verlassen hatte.

Sie wünschte, die Hexe hätte ihr beigebracht, wie man tötete.

***

 

Lorcan Salvaterre lief jetzt seit zwei Tagen vor diesen götterverdammten Biestern davon.

Er machte ihnen keinen Vorwurf. Die Hexen waren sauer gewesen, als er sich in tiefster Nacht in ihr Waldlager geschlichen hatte. Er hatte drei ihrer Wächterinnen niedergemetzelt, ohne dass sie oder ihre Reittiere es bemerkt hatten, und er hatte eine vierte zwischen die Bäume geschleppt, um sie zu befragen.

Zwei Stunden hatte er gebraucht, um die Yellowlegs-Hexe zu brechen, so tief in den Gängen einer Höhle versteckt, dass nicht einmal ihre Schreie zu hören gewesen waren. Zwei Stunden, und dann hatte sie für ihn gesungen.

Zwillingsarmeen der Hexen standen jetzt bereit, um den Kontinent einzunehmen: eine in Morath, eine in der Ferianschlucht. Die Yellowlegs wusste nichts von der Macht, über die Herzog Perrington gebot – wusste nichts von dem, worauf Lorcan Jagd machte: die beiden anderen Wyrdschlüssel, die Geschwister desjenigen, den er an einer langen Kette um den Hals trug. Drei Steinsplitter, abgeschlagen von einem unheiligen Wyrdtor, jeder dieser Schlüssel befähigte zu gewaltiger und schrecklicher Macht. Und wenn alle drei Wyrdschlüssel vereint waren, konnten sie dieses Tor zwischen den Welten öffnen. Konnten

Lorcan hatte der Hexe die Gnade eines schnellen Todes gewährt.

Seither dürsteten ihre Schwestern nach seinem Blut.

Während er in einem Dickicht an der Seite eines steilen Abhangs hockte, beobachtete Lorcan, wie das Mädchen sich zwischen den Wurzeln herauswand. Er hatte sich als Erster hier versteckt und dem Lärm ihres unbeholfenen Herannahens gelauscht, und er hatte mitbekommen, wie sie stolperte und humpelte, als sie endlich gehört hatte, dass etwas auf sie zugerauscht kam.

Sie war von zarter Statur, so klein, dass er vielleicht gedacht hätte, sie wäre noch ein Kind, wären da nicht die vollen Brüste unter ihrer eng anliegenden Ledermontur gewesen.

Diese Kleider hatten sofort sein Interesse geweckt. Die Yellowlegs hatten ähnliche Gewänder getragen – genau wie alle anderen Hexen. Doch dieses Mädchen war menschlich.

Und als sie sich in seine Richtung umwandte, suchten ihre dunklen Augen den Wald mit einem so prüfenden Ausdruck ab, der zu alt, zu geübt war, um einem Kind zu gehören. Mindestens achtzehn – vielleicht älter. Ihr bleiches Gesicht war schmutzig und ausgezehrt. Wahrscheinlich war sie schon seit einer ganzen Weile hier und hatte Mühe, Nahrung zu finden. Und das Messer in ihrer Hand zitterte so sehr, dass die Vermutung nahelag, dass sie keine Ahnung hatte, was sie damit anstellen sollte.

Lorcan blieb in seinem Versteck und beobachtete, wie sie den Blick über die Hügel wandern ließ, den Fluss, die Baumkronen.

Irgendwie wusste sie, dass er hier draußen war.

Interessant. Wenn er versteckt bleiben wollte, konnten ihn normalerweise nur wenige finden.

Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt – aber sie hörte auf, die Schlucht abzusuchen, zwang einen leisen Atemzug durch ihre

Jeder Schritt war ein Humpeln; sie hatte sich wahrscheinlich verletzt, als sie durch die Bäume gekracht war.

Ihr Zopf hüpfte gegen ihren Rucksack, ihr seidiges Haar dunkel wie sein eigenes. Noch dunkler. Schwarz wie eine sternlose Nacht.

Der Wind drehte und wehte ihren Duft zu ihm herüber und Lorcan atmete ihn ein, gestattete seinen Fae-Sinnen – den Sinnen, die er von seinem Mistkerl von Vater geerbt hatte –, abzuschätzen und zu analysieren, wie sie es seit über fünf Jahrhunderten taten.

Menschlich. Definitiv menschlich, aber …

Er kannte diesen Geruch.

Während der vergangenen Monate hatte er viele, viele Kreaturen abgeschlachtet, die den gleichen Gestank verströmten.

Nun, war das nicht günstig? Vielleicht ein Geschenk von den Göttern: jemand Nützliches, den er befragen konnte. Aber später – sobald er Gelegenheit gehabt hatte, sie zu studieren. Ihre Schwächen kennenzulernen.

Lorcan löste sich aus dem Dickicht und nicht einmal ein Zweig raschelte bei seiner Bewegung.

Das von Dämonen besessene Mädchen humpelte das Flussbett entlang, das nutzlose Messer immer noch in der Hand. Gut.

Und so begann Lorcan seine Jagd.

Das Plätschern des Regens, der auf das Blätterdach des nebelverhangenen Oakwald Forest trommelte, übertönte beinahe das Gurgeln des angeschwollenen Flusses, der sich seinen Weg zwischen den Erhebungen und Kuhlen hindurchbahnte.

Aelin Ashryver Galathynius, die neben dem Bach hockte, leere Wasserschläuche vergessen auf dem moosbewachsenen Ufer, streckte eine vernarbte Hand über das schnell fließende Wasser aus und ließ das Lied des frühmorgendlichen Sturms über sie hinwegfluten.

Das Dröhnen der vom Donner zerrissenen Gewitterwolken und die sengenden Blitze hatten seit einer Stunde vor Morgengrauen einen rasenden Takt vorgegeben, der sich jetzt allmählich beruhigte, ebenso wie Aelins lodernder Kern an Magie.

Sie atmete den kühlen Nebel und den Geruch des frischen Regens ein, sog sie tief in die Lungen. Ihre Magie reagierte mit einem Flackern, als gähnte sie ein Guten Morgen, und rollte sich dann auf die Seite, um weiterzuschlafen.

In der Tat schliefen ihre Gefährten im Lager noch, vor dem Sturm geschützt durch einen unsichtbaren Schild, den Rowan beschworen hatte, und gegen die nördliche Kälte gewärmt, die selbst auf der Höhe des Sommers vorherrschte, von einer fröhlichen, rubinroten Flamme, die Aelin die ganze Nacht über hatte brennen lassen. Diese Flamme

Aelin öffnete und schloss die Finger über dem Fluss.

Am anderen Ufer, auf einem moosbewachsenen Felsbrocken, der sich an eine Eiche schmiegte, öffneten und schlossen sich zwei winzige, knochenweiße Finger, ein Spiegel ihrer eigenen Bewegungen.

Aelin lächelte und sagte so leise, dass ihre Worte im Rauschen des Flusses und des Regens kaum hörbar waren: »Wenn du irgendwelche Tipps hast, Freund, würde ich sie liebend gern hören.«

Die spindeldürren Finger huschten oben über den Felsen zurück – in den, wie in so viele Steine in diesen Wäldern, Symbole und Wirbel eingeritzt waren.

Das Kleine Volk war ihnen gefolgt, seit sie die Grenze nach Terrasen überquert hatten. Unsere Eskorte, hatte Aedion behauptet, wann immer sie große, unergründliche Augen entdeckten, die aus einem Gewirr von Dornensträuchern blinzelten oder durch das dichte Blätterdach eines der mächtigen Bäume des Oakwalds spähten. Sie waren jedoch nie so nah herangekommen, dass Aelin sie auch nur ein einziges Mal hätte deutlich sehen können.

Aber sie hatten kleine Geschenke gleich außerhalb der Grenzen von Rowans nächtlichen Schilden hinterlassen, ohne demjenigen von ihnen, der gerade Wache hielt, aufzufallen.

Eines Morgens war es ein Kranz aus Waldveilchen gewesen. Aelin hatte ihn Evangeline gegeben, die den Kranz auf ihrem rotgoldenen Schopf getragen hatte, bis er auseinandergefallen war. Am nächsten Morgen warteten zwei Kränze: einer für Aelin und ein kleinerer für das vernarbte Mädchen. An einem anderen Tag hinterließ das Kleine Volk eine Nachbildung von Rowans Habichtgestalt, gefertigt aus gesammelten Spatzenfedern, Eicheln und den leeren Panzern von Käfern. Ihr Fae-Prinz hatte gelächelt, als er sie gefunden hatte – und trug sie seither in seiner Satteltasche mit sich.

Und was ihr gegenwärtiges Publikum betraf …

Aelin spreizte die Finger über dem Fluss und ließ ihr Herz so still werden wie ein sonnengewärmter Waldteich, ließ ihren Geist seine normalen Fesseln sprengen.

Ein Band aus Wasser flatterte aus dem Fluss nach oben, grau und klar, und Aelin wand es zwischen den gespreizten Fingern hindurch, als fädelte sie einen Webstuhl ein.

Sie drehte das Handgelenk und bewunderte, wie sie ihre Haut durch das Wasser sehen konnte, ließ es an ihrer Hand hinunterfließen und sich um ihr Handgelenk winden. Sie sagte zu dem Feenwesen, das von jenseits des Felsens zuschaute: »Das gibt nicht viel her, um deinen Gefährten davon zu berichten, wie?«

Hinter ihr waren plötzlich Schritte zu hören. Aelin wusste, dass Rowan das absichtlich tat; wenn er wollte, war er völlig lautlos. »Vorsicht, sonst legen sie dir beim nächsten Mal etwas Feuchtes und Kaltes in deinen Schlafsack.«

Aelin zwang sich, das Wasser in den Strom zurückfließen zu lassen, bevor sie über eine Schulter schaute. »Glaubst du, man kann sich etwas von ihnen wünschen? Denn inzwischen würde ich mein Königreich für ein heißes Bad hergeben.«

Sie verdrehte die Augen und wandte sich dem Felsen zu, auf dem das Feenwesen Aelins lausige Versuche, Wasser zu meistern, beobachtet hatte. Aber nur regennasse Blätter und wabernder Nebel waren geblieben.

Rowans starke Hände strichen über ihre Taille, zogen sie von hinten in seine Wärme hinein, und seine Lippen streiften ihren Hals, direkt unter ihrem Ohr.

Aelin schmiegte sich mit dem Rücken an ihn, während sein Mund über ihre Kehle wanderte und ihre vom Nebel gekühlte Haut erwärmte. »Dir auch einen guten Morgen«, hauchte sie.

Das Brummen, mit dem Rowan antwortete, ging ihr durch Mark und Bein.

Sie hatten es nicht gewagt, in einem Rasthaus haltzumachen, selbst nachdem sie vor drei Tagen Terrasen erreicht hatten. Nicht solange noch immer so viele feindliche Augen auf die Straßen und Schankräume gerichtet waren. Nicht solange endlich Ströme von adarlanischen Soldaten aus Aelins von den Göttern verdammtem Reich hinausmarschierten – dank Dorians Erlassen.

Vor allem da diese Soldaten genauso gut wieder hierher zurückmarschieren konnten, sollten sie sich dafür entscheiden, dem Ungeheuer in Morath zu folgen statt ihrem wahren König.

»Wenn du so dringend ein Bad nehmen willst«, murmelte Rowan dicht an ihrem Hals, »ich habe ungefähr eine Viertelmeile hinter uns einen Teich entdeckt. Du könntest ihn erhitzen – für uns beide.«

Sie strich mit den Fingernägeln über seine Handrücken, an seinen

»Zumindest hätten wir dann ein fertig zubereitetes Frühstück.«

Sie lachte leise und Rowans Eckzähne kratzten über die empfindliche Stelle zwischen ihrem Hals und ihrer Schulter. Aelin grub die Finger in die kräftigen Muskeln seiner Unterarme und genoss die ihnen innewohnende Kraft. »Die Lords werden nicht vor Sonnenuntergang hier sein. Wir haben noch Zeit.« Ihre Worte waren atemlos, kaum mehr als ein Flüstern.

Als sie die Grenze überquert hatten, hatte Aedion Boten zu den wenigen Lords geschickt, denen er vertraute, und das Treffen vorbereitet, das heute stattfinden sollte – auf dieser Lichtung, die Aedion all die langen Jahre über selbst für heimliche Rebellentreffen genutzt hatte.

Sie waren frühzeitig eingetroffen, um das Gelände zu erkunden. Es gab keinerlei Spuren irgendwelcher Menschen: Aedion und die Bane hatten immer dafür gesorgt, dass alle Hinweise auf heimliche Treffen beseitigt wurden, bevor unfreundliche Blicke darauf fielen. Ihr Cousin und seine legendäre Legion hatten während des vergangenen Jahrzehnts so viel dazu beigetragen, die Sicherheit Terrasens zu gewährleisten. Und sie gingen noch immer keine Risiken ein, nicht einmal mit den Lords, die einst Gefolgsleute unter der Fahne ihres Onkels gewesen waren.

»So verführerisch das auch sein mag«, sagte Rowan, der an ihrem Ohr knabberte und ihr das Denken damit schier unmöglich machte, »aber ich muss in einer Stunde aufbrechen.« Um den Weg vor ihnen auf mögliche Gefahren abzusuchen. Federzarte Küsse streiften ihr Kinn, ihre Wange. »Und was ich gesagt habe, gilt immer noch. Unser erstes Mal soll nicht an einen Baum gepresst stattfinden.«

»Es wäre nicht an einem Baum – es wäre in einem Teich.« Ein dunkles Lachen auf ihrer nun brennenden Haut. Es kostete sie

»Glaub mir, mir fällt es auch nicht leicht.« Er zog sie von hinten ein wenig fester an sich und ließ sie den Beweis für seine Worte eindrucksvoll auf ihrem Rücken spüren.

Dann zog Rowan sich zurück und sie runzelte die Stirn bei dem Verlust seiner Wärme, dem Verlust seiner Hände, seines Körpers und seines Mundes. Als sie sich umdrehte, fand sie den Blick seiner kieferngrünen Augen auf sich gerichtet und die Erregung blitzte heller als jede Magie durch ihr Blut.

Aber er sagte: »Warum bist du so früh bei so klarem Verstand?«

Sie streckte ihm die Zunge heraus. »Ich habe die Wache für Aedion übernommen, da Lysandra und Fleetfoot laut genug geschnarcht haben, um Tote zu wecken.« Rowans Mundwinkel huschten nach oben, aber Aelin zuckte die Achseln. »Ich konnte ohnehin nicht schlafen.«

Sein Kiefer verspannte sich, als er dorthin schaute, wo das Amulett unter ihrem Hemd und der dunklen Lederjacke verborgen war. »Stört dich der Wyrdschlüssel?«

»Nein, das ist es nicht.« Sie hatte sich angewöhnt, das Amulett zu tragen, nachdem Evangeline einmal ihre Satteltaschen geplündert und die Halskette angelegt hatte. Sie hatten es nur entdeckt, weil das Kind, nachdem es sich gewaschen hatte, stolz mit dem Amulett von Orynth über seinen Reisekleidern zurückgekehrt war. Den Göttern sei Dank, dass sie damals tief im Oakwald gewesen waren, aber – Aelin ging keine weiteren Risiken ein.

Vor allem da Lorcan immer noch glaubte, das echte Amulett in seinem Besitz zu haben.

Sie hatten von dem unsterblichen Krieger nichts mehr gehört, seit er Rifthold verlassen hatte, und Aelin fragte sich oft, wie weit nach

Nicht Perrington – Erawan.

Ein Frösteln kroch ihr den Rücken hinunter, als hätte der Schatten Moraths hinter ihr Gestalt angenommen und ihr mit einem krallenbewehrten Finger über die Wirbelsäule gestrichen.

»Es ist bloß … dieses Treffen.« Aelin wedelte mit der Hand. »Hätten wir es in Orynth abhalten sollen? Sich hier draußen im Wald zu treffen, kommt mir wie eine schäbige Nacht-und-Nebel-Aktion vor.«

Rowans Blick wanderte abermals zum nördlichen Horizont. Es lag noch mindestens eine Woche zwischen ihnen und der Stadt – dem einst glorreichen Herzen ihres Königreichs. Dieses Kontinents. Und wenn sie dort ankamen, würde ein endloser Strom von Ratsversammlungen und Vorbereitungen und Entscheidungen warten, die nur Aelin fällen konnte. Dieses Treffen, das Aedion arrangiert hatte, würde nur der Anfang sein. Immerhin hatte er sie während der vergangenen Wochen bereits mit den Lords, die daran teilnehmen würden, vertraut gemacht.

»Besser, mit klar benannten Verbündeten in die Stadt einzuziehen, als sie zu betreten, ohne zu wissen, was uns dort erwartet«, sagte Rowan schließlich. Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln und richtete einen vielsagenden Blick auf Goldryn, das quer über ihren Rücken geschnallt war, und auf die verschiedenen Messer, die sie gegürtet hatte. »Außerdem«, fügte er hinzu, »dachte ich immer, dass du Nacht-und-Nebel-Aktionen liebst.«

Sie beantwortete diese Aussage mit einer unmissverständlichen Geste.

Aedion war nicht nur vorsichtig bei der Wahl des Treffpunkts gewesen, sondern auch bei seinen Nachrichten an die Lords. Obwohl er

Auch wenn Aelin die Trägerin einer Waffe war, die dieses ganze Tal hätte auslöschen können, zusammen mit den grauen Staghorns, die darüber wachten. Und das war nur ihre Magie.

Rowan spielte mit einer Strähne ihres Haares – das ihr wieder bis über die Schultern reichte. »Du machst dir Sorgen, weil Erawan sich noch nicht gerührt hat.«

Sie sog scharf die Luft ein. »Worauf wartet er? Sind wir Narren, dass wir eine Einladung erwarten, gegen ihn loszuziehen? Oder erlaubt er es uns, unsere Kräfte zu bündeln, erlaubt er es mir, mit Aedion zurückzukehren, um die Bane zu holen und daneben noch eine größere Armee auszuheben, nur damit er sich an unserer maßlosen Verzweiflung weiden kann, wenn wir scheitern?«

Rowans Finger in ihrem Haar erstarrten. »Du hast Aedions Boten gehört. Diese Explosion hat einen ordentlichen Teil von Morath vernichtet. Er baut es vielleicht selbst wieder auf.«

»Niemand hat sich zu dieser Explosion bekannt. Ich traue der Sache nicht.«

»Du traust nichts und niemandem.«

Sie sah ihm in die Augen. »Ich traue dir.«

Rowan strich ihr mit einem Finger über die Wange. Der Regen war wieder stärker geworden, sein leises Plätschern meilenweit das einzige Geräusch.

Aelin stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie spürte die ganze Zeit Rowans Blicke auf sich, spürte, wie sein Körper mit raubtierhafter Konzentration ganz reglos wurde, als sie seinen Mundwinkel küsste, die Wölbung seiner Lippen, den anderen Mundwinkel.

Sanfte, quälende Küsse. Dazu gedacht herauszufinden, wer von ihnen beiden als Erster einknickte.

Er schnappte scharf nach Luft, packte ihre Hüften und zog sie an sich, während er seinen Mund auf ihren drückte und den Kuss vertiefte, bis ihre Knie unter ihr nachzugeben drohten. Seine Zunge streifte ihre – sanfte, sichere Bewegungen, die ihr ganz genau verrieten, wie es sich mit ihm anfühlen würde.

Ihr Blut fing Feuer und das Moos unter ihnen zischte, als der Regen sich in Dampf verwandelte.

Aelin löste sich aus dem Kuss, schwer atmend und zufrieden, festzustellen, dass Rowans Brust sich in einem ungleichmäßigen Rhythmus hob und senkte. So neu – diese Sache zwischen ihnen war immer noch so neu, so roh. Es verzehrte sie vollkommen. Das Verlangen war nur der Anfang.

Rowan ließ ihre Magie singen. Und vielleicht war es das Carranam-