Helme Heine, 1941 in Berlin geboren, zählt zu den größten Bilderbuchkünstlern der Gegenwart. Seine Bücher wurden in 35 Sprachen veröffentlicht und erhielten zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Heute lebt er in Neuseeland. Bei Beltz & Gelberg sind zahlreiche Bilderbücher von Helme Heine erschienen, darunter Zum Glück gibt’s Freunde, Freunde wie du und ich, Die Perle, Toto der Schatzsucher, Das schönste Ei der Welt und der Bildband Traum und Wirklichkeit. Helme Heine – ein Porträt.
Gisela von Radowitz, 1941 in Hamburg geboren, studierte Sprachen und Kunstgeschichte, ehe sie 12 Jahre lang in Südafrika lebte, zwei Kinder bekam, Theater spielte und Regie führte. Zurück in Deutschland veröffentlichte sie Romane, Kinderbücher, Übersetzungen, schrieb Drehbücher und arbeitete für das Fernsehen. Heute lebt und arbeitet sie zusammen mit Helme Heine in Neuseeland.
Wie eine Ritterburg lag das Nest der Kolkraben auf dem kahlen Fels. Fast senkrecht stürzte die Steilwand zu Tal. Dicht über dem Horst verlief die Schneegrenze. Ein riesiges Schneebrett bedeckte die Bergflanke und verschmolz mit den Nebelschwaden, die hoch oben die Gipfel der Drakensberge fast ganzjährig verhüllten. »Was für ein Tag!«, krächzte der Kolkrabe und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf seinen Deckfedern, die wie dunkles Metall schimmerten.
»Der Unglückshäher hat schon drei Mal gerufen!«, wandte seine Frau ahnungsvoll ein. »Trschrräh! Trschrräh! Trschrräh!« Unruhig rückte sie auf dem Gelege hin und her.
»Aberglaube«, behauptete der Kolkrabe abschätzig. Er erinnerte sie daran, dass er nur ihretwegen das Tal verlassen hatte. Sie waren auf den Fels gezogen, weil sie hier oben keine Milben vermutete. Er klapperte mit dem Schnabel und wiederholte ärgerlich: »Aberglau…«
Weiter kam er nicht. Eine plötzliche Druckwelle riss ihn von den Beinen. Wie Herbstblätter wurden sie beide samt Nest und Gelege fortgeblasen. Sie taumelten, stürzten in die Tiefe. Der Luftdruck war so stark, dass sie ihre Flügel nicht zu öffnen vermochten. Rasend schnell kam das Tal auf sie zu. Erst knapp über den Baumwipfeln riss ihnen ein Luftwirbel die Schwingen auseinander. Der Sturz wurde zum Gleitflug.
Sie waren noch einmal davongekommen.
Kurz darauf vernahmen sie ein Grollen wie von tausend Löwen, die auf eine Herde Elefanten stießen. Fürchterlich fuhr es in Ohr und Herz: der weiße Tod. Zuletzt kam die Lawine. Wie ein gewaltiger Wasserfall stürzte der Schnee ins Tal und riss mit, was im Wege war. Bäume, Blumen, Felsen, Getier – alles begrub die Lawine unter sich und verschlang das eigene Chaos. Als sie sich satt gefressen hatte, fiel sie friedlich in sich zusammen und schlief ein.
Einen Herzschlag lang war Stille – Totenstille. Die Natur hielt den Atem an.
Als Erste fanden die Grillen ihre Stimme wieder. Sie kreischten vor Freude. Der Specht trommelte Entwarnung und lockte die Überlebenden aus ihrer Starre. Die Bienen summten und brummten wie zuvor und die Mücken stachen wieder. Das Leben ging weiter.
*
Eine meisterliche Sprengung!«, lobte Arktos, der Herr des Eises, der das Lawinenunglück befohlen und auf einem großen Monitor gespannt verfolgt hatte. »Einfach köstlich!«
Er lachte und rieb sich vor Freude die Hände. Seine gelben Augen funkelten durch die Sehschlitze des schwarzen Zylinders, der sein Gesicht über der Karottennase wie eine Maske bedeckte. Er hob die Lederpeitsche und auf sein Kommando sprang flackernd das gleißende Neonlicht im weiß gefliesten Kino an. Unzählige Seehunde erhoben sich von ihren Sitzen und applaudierten ihrem Herrn und Meister.
Ein Pinguin kam mit einem Bauchladen eilig herbeigewatschelt und bot Arktos ein Vanilleeis an. Zur Belohnung bekam er eine tiefgefrorene Fischgräte mit Kopf, für die er sich ergeben bedankte.
»Bald haben wir es geschafft, Johann«, schnarrte Arktos und schaute seinen Diener prüfend an. »Dann gehört uns die Welt.«
»Euch«, verbesserte Johann demütig, und die tausend Seehunde wiederholten unisono: »Euch, Herr, gehört die Welt.«
Selbstzufrieden und gut gelaunt lehnte sich Arktos in seinem weißen Plastiksessel zurück, schnippte mit den Fingern und befahl: »Und jetzt das Ganze noch einmal in Zeitlupe!«
*
Die Kolkrabin trieb ihren klobigen Schnabel tiefer und tiefer in den schweren, matschigen Schnee, räumte ihn zur Seite und scharrte wie besessen nach ihrem Nest, bis ihre Zehen bluteten. Ein tiefes »Kroock« oder ein raues »Kraak« begleitete jeden ihrer Schnabelhiebe. Ihr Mann hockte tatenlos, wie benommen daneben. Das Unglück hatte ihn gelähmt. Erst als sie eine grau-grün gesprenkelte Eierschale fand, kam wieder Leben in ihn. Doch die Hoffnung trog, es waren bloß zerbrochene Eierschalenreste.
»Arktos hat ganze Arbeit geleistet«, stellte er bitter fest, »er hat unsere Zukunft zerstört.«
Doch daran wollte die Kolkrabin nicht glauben. Sie grub und kratzte und kratzte und grub. Er saß still dabei und pflegte seine Trauer.
Später am Nachmittag stieß sie auf einen Widerstand. Vorsichtig räumte sie den Schnee beiseite. Als sie die unversehrte Kuppe eines grünen Eies sehen konnte, glaubte sie, eines ihrer Kinder wiedergefunden zu haben. Schwankend zwischen Hoffnung, Glück und Unsicherheit, lösten beide Raben einander bei der Arbeit ab. Immer wieder mussten sie ihre halb erfrorenen Zehen wärmen. Der Frost raubte ihnen das Gefühl, und sie trugen große Sorge, dass die Schale nicht zerbrach. Am frühen Abend hatten sie es geschafft. Vor ihnen lag ein riesiges Ei. Grün-gelb gesprenkelt. Unversehrt. Ein Wunder!
Der Kolkrabe betrachtete es aufmerksam.
»Das ist nicht unser Kind«, keuchte er.
»Na und?«
Zärtlich strich sie mit dem Flügel über das Ei und wollte es nicht wieder hergeben. Nur der Ruf des Kuckucks in der Nähe irritierte sie.
»Vielleicht gehört es denen da«, argwöhnte der Kolkrabe.
»Quatsch!«, widersprach die Kolkrabin. »›Kuckuck‹ rufen nur die Kuckucksmänner. Ihre Frauen zwitschern ›Quickwick-wick‹. Außerdem ist es egal, die geben ihre Kinder freiwillig zur Adoption fort und sind froh, dass sie sich nicht selbst um die Aufzucht ihrer Brut kümmern müssen. Wir Rabeneltern würden so etwas nie tun! Komm, steh nicht herum, hilf mir lieber.«
Der Kolkrabe kannte sich in diesen Dingen nicht so genau aus. Doch da er seiner Frau keinen Wunsch abschlagen konnte, trugen sie das Ei gemeinsam auf ihren Schwingen zum Felsplateau, wo ihr altes Nest gelegen hatte. Es erschien ihnen als der sicherste Ort am Fuße der Drakensberge. Die Bergflanke über ihnen war wie leer gefegt, voraussichtlich würde es keine zweite Lawine am selben Abhang geben.
*
Vier lange Monde brüteten die Kolkraben auf dem Ei. Sie verloren viel Gewicht, ihr glänzendes Federkleid wurde stumpf wie altes Silber. Ihre Kehlfedern zerschlissen, ihre leuchtenden Augen wurden trübe.
»Es muss schon lange im Eis gelegen haben«, sagte der Kolkrabe schließlich, und als seine Frau nichts erwiderte, fügte er flüsternd hinzu: »Zu lange, vielleicht.«
Die Kolkrabin stellte sich weiter taub und brütete unbeirrt fort. Noch viele Male sollte der Mond rund werden, ohne dass sich etwas rührte. Schließlich stellten sich auch bei ihr Zweifel ein. Zuerst war es nur ein vager Gedanke, doch er setzte sich fest und wuchs. Langsam wurde er zur Möglichkeit. Wahrscheinlichkeit. Angst. Nur die Gewissheit schloss sie aus. Ihre Liebe zu diesem Kind war zu groß.
In der Vergangenheit hatte sie schon vielen Kindern das Leben geschenkt. Immer hatte sie gespürt, wann es im Ei rumorte, wann ein Kind seine Lage veränderte; wann es von innen gegen die Schale klopfte, als suchte es die Zwiesprache mit der Mutter; wann es wütend gegen die Kalkwand seiner immer enger werdenden Kinderstube trat. Immer hatte sie genau gewusst, wann ihre Stunde gekommen war. Nur diesmal war alles anders. Seit Langem wartete sie auf ein Zeichen, ein winziges Rühren. Schon die geringste Bewegung hätte sie bemerkt, selbst im tiefsten Traum. Sie wäre bereit gewesen. Doch nichts geschah. Das Ei lag wie ein Findling. Schwer und kalt. Dennoch gab sie die Hoffnung nie auf.
Eines Nachts spürte sie unter sich im Nest eine ungewohnte Wärme. Zunächst glaubte sie, es sei ihre eigene Körpertemperatur, die das Ei gespeichert hatte. Sie stand auf, um sich abzukühlen, doch die Wärme nahm zu.
»Das Kind hat Fieber«, sorgte sie sich und fächelte ihm mit ihren Flügeln Kühlung zu. Trotzdem stieg die Temperatur stetig weiter. In der darauffolgenden Nacht dampfte das Ei wie die Moortümpel im Tal. In der Mittagssonne wurde es heiß und begann so zu glühen, dass sie fürchteten, das Nest könnte Feuer fangen.
Der Kolkrabe holte eilig einen Schnabel voll Schnee und deckte das Ei damit zu. Feuer. Eis. Dampf. Zischen. Die Schale zersprang in tausend Stücke wie kostbares Porzellan und ein kleines grünes Wesen mit verklebten gelben Flügeln kullerte aus der Schale. Erschrocken, doch überglücklich verfolgten die Eltern die seltsame Geburt. Neugierig beugten sie sich über den Rand des Nestes und betrachteten ihr Kind. Der Kolkrabe meinte: »Ein Kuckuck ist das nicht!«
Das Neugeborene erhob sich auf wackeligen, schwankenden Beinen und drohte, rücklings vom Felsgrat in die Tiefe zu fallen. Verzweifelt ruderte es mit seinen Ärmchen, um das Gleichgewicht zu halten. Mit einem Satz war die Kolkrabin da, nahm ihr Kind schützend in den Arm, herzte, schnäbelte und wiegte es. Sie lachte und weinte vor Glück. Das Wunder war geschehen.
*
Arktos hatte die Geburt von der Kommandobrücke seines Eisbergs aus durch ein großes Fernrohr beobachtet.
»Seltsamer Vogel«, murmelte er zu sich selbst. »Kommt mir aber irgendwie bekannt vor.«
Er nahm eine Sofortbildkamera mit Teleobjektiv zur Hand, schoss ein Foto und warf es einem Schneehuhn hin, das diensteifrig auf seine Befehle wartete.
»Unbekanntes Subjekt. Identifizieren!«
Das Schneehuhn trippelte zu einem Computer, der neben dem Kreiselkompass stand, und gab die Daten ein:
Tiergattung: |
Vogel |
Eltern: |
Kolkraben |
Farbe: |
grün |
Flügel: |
gelb |
Besondere |
|
Das Ergebnis ließ auf sich warten. Es dauerte und dauerte und dauerte. Der Computer durchsuchte verzweifelt seine Datenbank, während das Schneehuhn nervös auf dem Hocker hin und her rutschte. Arktos wurde ungeduldig:
»Na, was ist?«, fauchte er. »Ist dieser verdammte Computer mal wieder abgestürzt? Oder stellst du dich nur dämlich an? Der grüne Vogel sollte doch schon längst eingespeichert sein!«
Das Schneehuhn war solche Wutausbrüche gewohnt. Es zog die Schultern hoch, kündigte eine technisch bedingte Verzögerung an und dachte bei sich: »Der sieht mal wieder grün!«
Arktos hasste alle Farben bis auf das Rot seiner Karottennase. Das musste sein, sonst wäre er schließlich kein richtiger Schneemann.
Seine Lieblingsfarbe war Weiß. Alles um ihn herum musste weiß sein, schneeweiß, nebelweiß, elfenbeinweiß, perlweiß.
Selbst seine Hauptstadt, Metropolis, war weiß. Alle Wolkenkratzer, Straßen, Brücken, Landeplätze, Aufenthaltsräume, alles war aus weißem Eis. Er hatte diese Stadt auf einem riesigen, schwimmenden Eisberg erbaut, der durch die Weltmeere kreuzte und auf und ab tauchen konnte, wo immer es dem Kapitän gefiel.
Am meisten hasste Arktos die Farbe Grün. Zu sehr erinnerte sie ihn an das Paradies, an die kleine Oase am Fuße der Drakensberge, wo seine Feinde ihr Unwesen trieben. Während es ihm unlängst gelungen war, die ganze übrige Welt mit einem weißen Tuch aus Eis und Schnee zu bedecken, hatte ihm dieser letzte kleine grüne Flecken bis zum heutigen Tag widerstanden. Und da sollte ihn die Geburt eines Grünen nicht aufregen?!
Er wartete gereizt auf das Ergebnis, das der Computer gleich ausspucken würde, und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf einer Eisplatte, als sich plötzlich ein kleiner Regenbogen über die Oase spannte. Seine Stimmung sank noch tiefer.
Der Steuermann von Metropolis, ein Eisbär mit einem weißen Glasauge, der den Eisberg sicher durch die Meere manövrierte, versuchte, seinen Kapitän zu beruhigen:
»Herr, die Farben des Regenbogens entstehen doch nur, weil das weiße Licht gebrochen wird.«
»Spar dir deine vorwitzigen Belehrungen!«, blitzte Arktos ihn an. Er war fest entschlossen, auch diese letzte grüne Oase endlich unter seinem Eis zu begraben. Dann wäre er der alleinige Herrscher dieser Welt und hätte keine Gegner mehr. Das Problem mit dem Regenbogen würde sich dann von allein erledigen.
Das Schneehuhn unterbrach ihn in seinen Machtträumen. Ängstlich gackerte es:
»Keine Identifikation des grünen Vogels möglich, Herr. Wir benötigen ein Stück Eierschale für eine chemische und genetische Analyse.«
Arktos runzelte die Stirn und hob die Peitsche. Das Schneehuhn duckte sich und erwartete den Schlag. Als nichts geschah, schaute es verstört am Boden kauernd auf. Der Herr des Eises registrierte mit Genugtuung den gelungenen Einschüchterungsversuch und näselte grinsend: »Na? Worauf wartest du? Hol sie dir, deine Eierschale.«
Dann wandte er sich an den Steuermann und kommandierte: »Abtauchen!«
Der Eisbär flutete die unterseeischen Grotten und Metropolis versank wie ein gigantisches U-Boot im Eismeer.
*
Der Alltag, die Gewohnheit und die Erschöpfung kehrten in das Nest der Kolkraben ein. Alle paar Stunden, Tag und Nacht, riss ihr Kind den Schnabel auf und verlangte Essen. Sie brachten ihm kostbare Leckerbissen, tote Feldmäuse, Kellerasseln und Regenwürmer. Aber je mehr sie sich mühten, desto lauter tönte sein angewidertes Geschrei, und sein Gesicht wurde immer grüner. Endlich fanden sie heraus, dass es Erdbeeren lieber mochte als Kartoffelkäfer und Spinat einem Spinnenragout vorzog.
Wenn es schlief, suchten die Eltern einen Namen für ihr Kind. Der Kolkrabe, der die Heldensagen verehrte, dachte an »Hugin« oder »Munin« – so hießen die beiden Raben von Wotan, dem Gott der Winde. Seine Frau fand das altmodisch. Sie wünschte sich einen zeitgemäßen Namen, wie Hans-Peter oder Detlef. Dann stritten sie sich ein wenig und kamen trotzdem zu keinem Ergebnis. Bis ihr Kind eines Tages mitten aus dem Schlaf hochfuhr und laut und deutlich Tabaluga sagte. Die Eltern nickten. Dagegen gab es nichts einzuwenden und so blieb es dabei.
Tabaluga wuchs seinen Eltern bald über den Kopf. Die Mutter war sehr stolz auf ihren großen Sohn. Der Vater wunderte sich. Wenn sie Rücken an Rücken ihre Größe maßen, musste er sich auf die Zehenspitzen stellen, um nicht überragt zu werden. Als auch das nicht mehr half, resignierte er: »Seltsam, im Alter wird man wieder kleiner!«
Die Rabeneltern erzogen ihren Sohn liebevoll und er wurde ein bisschen wie sie. Seine Haut allerdings blieb glatt. Nirgendwo zeigte sich der Ansatz eines Flaumes, eines einzigen Federkiels. Selbst seine kleinen Flügel blieben ledern wie die der Fledermäuse.
Von morgens bis abends war Tabaluga auf den Beinen. Er hüpfte, kletterte und sprang ununterbrochen im Felsgestein herum und wurde niemals müde. Nur für das Fliegen zeigte er zum Kummer seines Vaters kein Interesse.
»Es wird Zeit, dass du flügge wirst«, entschied der Kolkrabe eines Tages.
»Flügge? Was ist das?«, wollte Tabaluga wissen.
»Ich werde es dir zeigen«, versprach der Vater, und Tabaluga freute sich, denn er war von Natur aus abenteuerlustig und neugierig auf das Leben.
Der Kolkrabe war ein gründlicher Lehrer. Er beschrieb die Luftströmungen; unterschied die Winde, Stürme, Flauten und Orkane; warnte vor Turbulenzen und Böen; sprach von Föhn, Mistral, Bora, Monsun und Passat. Er erklärte, dass die Windstärken mit den Brustfedern zu messen waren, die Windrichtung dagegen mit den Schwanzfedern. Tabaluga hörte aufmerksam zu, nickte brav und fragte: »Fliegt man eigentlich mit dem Kopf oder mit den Flügeln?«
Da wusste der Kolkrabe, dass die Zeit reif war, mit der Praxis zu beginnen. Sie stellten sich zusammen auf den Nestrand.
»Gestartet und gelandet wird immer gegen den Wind, mein Sohn. So. Die Nasenspitze in den Wind. Das ist die Startausrichtung. Breite die Flügel weit aus, geh leicht in die Hocke und warte auf eine Bö. Sie wird unter deine Flügel greifen, und du wirst spüren, wie du leichter und leichter wirst. Dann richte dich auf, flattere mit den Flügeln und schon hebst du ab.«
Das hörte sich einfach an. Tabaluga versuchte es. Er wollte seinem Vater gefallen, wollte, dass er stolz auf ihn sein konnte. Wollte so sein wie er. Aber es gelang ihm nicht, auch nur einen Millimeter von der Stelle zu kommen. Er stand da wie angewurzelt. Er schlug wild mit den Flügeln und hüpfte gleichzeitig in die Luft. Wie ein nasser Sack fiel er zurück ins Nest. Wieder und immer wieder.
Geduldig begann der Kolkrabe noch einmal von vorn und erklärte alle Funktionen: »Die Flügel, das sind die Tragflächen und das Triebwerk. Die Schwingfedern an den Flügelenden sind die Querruder. Und die Schwanzfedern sind das Höhen- und Leitruder.«
Tabaluga schaute an sich herab und sagte kleinlaut: »Aber ich habe doch gar keine Federn.«
Da wurde der Kolkrabe gereizt und verlangte, er solle sich nicht so anstellen.
Tabaluga versuchte alles. Er wollte seinen Vater wirklich nicht enttäuschen, aber es sollte einfach nicht klappen. Am Abend gaben beide erschöpft auf.
Die Kolkrabin brachte ihren Sohn ins Nest, gab ihm einen Gutenachtkuss und versuchte ihn zu trösten: »Hab Geduld. Du wirst es schon lernen. Und wenn nicht … es gibt Vögel, die überhaupt nicht fliegen können. Wir lieben dich trotzdem.«
In der Nacht hatte er einen Traum. Schwerelos flog er durch die Wolken, schwebte über Berge und Täler, als wäre es ein Kinderspiel. Er war überglücklich. Als er erwachte, wusste er, dass es keine Ausrede und kein Zurück mehr gab. Er kletterte aus dem Nest und stieg den Abhang hinauf. Auf dem Gipfel blieb er nicht einfach nur stehen, sondern nahm Anlauf auf dem schmalen Pfad, wurde schnell und schneller und breitete seine kleinen Flügel aus. Plötzlich fuhr der Wind unter seine Schwingen und hob ihn hoch wie eine Feder. Seine Lederflügel knatterten. Der Fahrtwind rauschte und berauschte.
»Ich bin flügge!«, jubelte er in den Morgenhimmel.
Als die Kolkraben das sahen, blieb ihnen der Schnabel vor Staunen offen stehen. Angst und Freude mischten sich und nahmen ihnen den Atem.
»Tabaluga, sei vorsichtig!«