image

José Mauro de Vasconcelos

MEIN KLEINER ORANGENBAUM

Roman

image

FÜR DIE LEBENDEN:

Ciccillo Matarazzo

Mercedes Cruañes Rinaldi

Erich Gemeinder und

Dorival Lourenço da Silva (Dodô)

außerdem für

Francisco Marins und

Arnaldo Magalhães de Giacomo

und dann noch für

Helena Rudge Miller (Piu-piu!)

und, nicht zu vergessen,

auch für meinen »Sohn«

Fernando Seplinsky

FÜR DIE TOTEN:

Als Ausdruck unauslöschlicher Sehnsucht für meinen Bruder Luís, den König Luís, und meine Schwester Gloria.

Luís starb mit zwanzig Jahren, und auch Gloria fand mit vierundzwanzig Jahren, dass es sich nicht lohne weiterzuleben.

Mit der gleichen Sehnsucht aber auch für Manuel Valadares, der dem Sechsjährigen beibrachte, was echte Zuneigung bedeutet … Mögen sie alle in Frieden ruhen!

INHALT

Erster Teil

MANCHMAL KOMMT ZU WEIHNACHTEN DAS TEUFELSKIND AUF DIE WELT

Allerlei Entdeckungen

Ein gewisses Orangenbäumchen

Die mageren Finger der Armut

Vogel, Blume und Schule

»Im Kerker will ich dich einst sterben sehn«

Zweiter Teil

DAMALS ERSCHIEN IN SEINER GANZEN TRAURIGKEIT DAS GOTTESKIND

Fledermaus spielen

Die Eroberung

Hin-und-her-Gerede

Zweimal eine denkwürdige Tracht Prügel

Eine kleine wunderliche Bitte

Aus vielen Teilen baut sich die Zuneigung auf

Der Mangaratiba

Es gibt so viele alte Bäume

Schlussbekenntnis

Erster Teil

MANCHMAL KOMMT ZU WEIHNACHTEN DAS TEUFELSKIND AUF DIE WELT

ALLERLEI ENTDECKUNGEN

Wir hielten einander bei der Hand und schlenderten die Straße entlang. Totoca erklärte mir, wie es im Leben so zugeht. Und ich war glücklich, weil mein großer Bruder mich festhielt und mir so viel beibrachte. Freilich nur die Dinge, die es außerhalb des Hauses gab. Denn drinnen lernte ich allein und fand alles selber heraus. Aber was ich auch tat, ich machte es verkehrt, und weil ich es verkehrt machte, setzte es Hiebe. Bis noch vor ganz Kurzem hatte mich nie jemand geschlagen. Aber dann entdeckten sie dies und das, was ich angestellt hatte, und sie sagten, ich sei garstig, frech und ungezogen. Das mochte ich gar nicht. Wäre ich jetzt nicht auf der Straße, so würde ich zu singen anfangen. Singen war herrlich. Totoca konnte noch etwas anderes, er konnte pfeifen. Aber sosehr ich mich auch bemühte, ihm das nachzumachen – es kam nichts dabei heraus. Er tröstete mich und sagte, das sei nun mal so und mein Mund sei noch zu klein zum Pfeifen. Weil ich ja nun nicht laut singen konnte, sang ich ganz heimlich in mir drin. Das war ein bisschen sonderbar, aber es machte mir Spaß. Und mir fiel ein Lied ein, das Mama gesungen hatte, als ich noch ganz klein gewesen war. Sie stand an der Waschhütte im Freien, hatte eine Schürze umgebunden und wegen der Sonne ein Tuch um den Kopf. Stundenlang arbeitete sie mit den Händen im Wasser und machte sehr viel Seifenschaum. Später wrang sie dann die Wäsche aus und trug sie zur Leine. Sie klammerte alles an der Leine fest und stützte sie mit Bambusstangen ab. Sie wusch die Wäsche für Dr. Faulhaber, um etwas dazuzuverdienen.

Mama war groß und mager, aber sehr hübsch. Sie hatte bräunliche Haut und glattes schwarzes Haar. Wenn sie das Haar offen trug, reichte es ihr bis zum Gürtel. Es war wunderschön, wenn sie sang und ich bei ihr stand und mitlernte.

Seemann, Seemann,

Weil ich bittren Kummer hab,

Deinetwegen, Seemann

Sinke ich ins Grab.

Die Wellen, die rauschten

Und rollten zum Strand,

Doch der Seemann ist fort,

An den Liebe mich band.

Matrosenliebe

Hat keinen Bestand.

Das Schiff stach in See,

Und mein Seemann verschwand.

Die Wellen, die rauschten

Dieses Lied machte mich immer traurig, ohne dass ich wusste, warum.

Totoca gab mir einen Schubs. Ich fuhr zusammen.

»Was ist denn, Sesé?«

»Nichts. Ich hab gesungen.«

»Gesungen?«

»Ja.«

»Dann muss ich ja wohl taub sein.«

Ob er wirklich nicht wusste, dass man innerlich singen kann?

Ich hielt den Mund. Wenn er das nicht kannte, warum sollte ich es ihm beibringen?

Wir waren bis zu der Landstraße gekommen, die von Rio nach São Paulo geht. Hier fuhr alles vorbei. Lastwagen, Autos, Pferdewagen und Fahrräder.

»Pass gut auf, Sesé, das ist wichtig. Erst einmal genau gucken.

Nach der einen Seite, dann nach der anderen Seite. Jetzt!«

Wir rannten über die Straße.

»Hast du Angst gehabt?«

Eigentlich hatte ich. Aber ich schüttelte den Kopf.

»Nun noch einmal zusammen. Dann will ich sehen, ob du es allein kannst.«

Wir liefen zurück.

»Jetzt du allein. Keine Angst, du bist doch ein großer Junge.«

Das Herz schlug mir bis zum Hals.

»Jetzt. Lauf!«

Ich sauste ab und kam atemlos drüben an. Dann wartete ich, bis er winkte, ich solle zurückkommen.

»Das erste Mal hast du es sehr gut gemacht. Aber du hast etwas vergessen. Du musst nach beiden Seiten schauen, ob ein Wagen kommt. Ich werde nicht immer da sein, um für dich aufzupassen. Auf dem Rückweg wollen wir es noch einmal üben. Nun komm, ich will dir was zeigen.« Er nahm mich an der Hand, und wir gingen langsam weiter. Ich dachte an etwas, worüber Onkel Edmundo mit mir gesprochen hatte.

»Totoca.«

»Ja?«

»Ist es sehr schwer, vernünftig zu sein?«

»Was ist denn das für ein Quatsch?«

»Onkel Edmundo hat es gesagt. Er hat gesagt, dass ich ›altklug‹ bin und dass ich bald vernünftig werde. Aber ich merke noch gar nichts.«

»Onkel Edmundo ist blöd. Er stopft dir den Kopf voll mit dummem Zeug.«

»Er ist nicht blöd. Er ist gelehrt. Und wenn ich groß bin, möchte ich auch gelehrt sein und ein Dichter und keinen Schlips tragen, sondern eine Schleife. Und dann will ich einmal damit fotografiert werden.«

»Warum denn mit einer Schleife?«

»Weil niemand ein Dichter ist, wenn er nicht eine Schleife trägt. Wenn Onkel Edmundo mir Bilder von Dichtern in einer Zeitschrift zeigt, dann haben sie immer große Schleifen um.«

»Sesé, du darfst nicht alles glauben, was er dir erzählt. Onkel Edmundo ist ein bisschen plemplem. Manchmal flunkert er auch.«

»Ist er dann ein Scheißkerl?«

»Du hast wohl noch nicht genug auf den Mund gekriegt für all deine Schimpfwörter, was? Nein, das ist Onkel Edmundo nicht.

Ich habe gesagt plemplem. Ein bisschen übergeschnappt.«

»Du hast gesagt, er flunkert auch.«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«

»Doch. Neulich hat Papa mit Senhor Severino geredet. Das ist der, mit dem er immer ›Argolo‹ spielt. Und da hat er über Senhor Labonne gesagt: ›Der alte Scheißkerl lügt wie gedruckt …‹ Und niemand hat ihm deswegen eins auf den Mund gegeben.«

»Große Leute dürfen so was sagen, da macht das nichts.«

Wir schwiegen eine Weile.

»Onkel Edmundo ist aber nicht … Was heißt eigentlich plemplem, Totoca?«

Er tippte mit dem Finger auf die Stirn.

»Nein, nein, das ist nicht wahr. Er ist nett, und er erklärt mir so viel, und bis jetzt hat er mich nur einmal verhauen, und da auch bloß ein bisschen.«

Totoca fuhr auf.

»Er hat dich verhauen? Wann denn?«

»Als ich mich danebenbenommen habe und Gloria mich zur Großmama geschickt hat. Da wollte er Zeitung lesen und konnte seine Brille nicht finden. Er suchte und suchte und war ganz außer sich. Er fragte Großmama, und die wusste es auch nicht. Die beiden stellten das ganze Haus auf den Kopf. Da sagte ich, ich weiß, wo sie ist, und ich sage es auch, wenn du mir einen Zehner für Murmeln gibst. Er holte einen Zehner aus seiner Westentasche. ›Bring sie mir, dann kriegst du ihn.‹

Ich ging an den Korb mit der Schmutzwäsche und nahm sie raus.

›Das hast du getan, du Nichtsnutz!‹

Er gab mir eins hintendrauf und steckte den Zehner wieder ein.« Totoca lachte.

»Da läufst du zu ihnen, damit du zu Haus keine Prügel kriegst, und dann beziehst du sie erst recht. Geh jetzt etwas schneller, sonst kommen wir nie an.«

Ich dachte immer noch an Onkel Edmundo.

»Totoca, bekommen Kinder Pension?«

»Was?«

»Onkel Edmundo tut nichts, verdient aber Geld. Er arbeitet nicht, und die Behörde bezahlt ihm jeden Monat Pension.«

»Na und?«

»Kinder tun auch nichts, essen, schlafen und kriegen Geld von ihren Eltern.«

»Pension ist was anderes, Sesé. Pensioniert wird man, wenn man sehr viel gearbeitet hat und schlohweiß ist und nur ganz langsam gehen kann, so wie Onkel Edmundo. Aber wir wollen nicht von so was reden. Meinetwegen lass dir das alles von ihm erklären. Ich tu’s nicht. Sei doch wie andere Kinder! Sag ruhig mal ein Schimpfwort, aber denk nicht über solchen Kram nach. Sonst nehme ich dich in Zukunft nicht mehr mit.«

Ich war ein bisschen gekränkt und mochte nichts mehr sagen. Der kleine Vogel, der in mir gesungen hatte, war davongeflogen. Wir blieben stehen und Totoca zeigte auf ein Haus.

»Das ist es. Gefällt es dir?«

Es war ein ganz gewöhnliches Haus. Weiß mit blauen Fensterläden. Verschlossen und sehr still.

»Doch. Aber warum müssen wir hierherziehen?«

»Es ist doch gut, wenn man immer mal wieder umzieht.«

Durch den Gartenzaun sahen wir, dass auf der einen Seite ein Mangobaum, auf der anderen eine Tamarinde stand.

»Du bist immer so neugierig, aber von dem, was zu Hause wirklich los ist, davon hast du keine Ahnung. Du weißt doch, dass Papa arbeitslos ist! Vor einem halben Jahr hat er mit Mister Scottfield Krach bekommen, und da haben sie ihn auf die Straße gesetzt. Hast du nicht gemerkt, dass Lalá jetzt in der Fabrik arbeitet? Weißt du nicht, dass Mama in der Stadt arbeitet, in der englischen Weberei? Na also, du Trottel. Warum tun sie das? Um die Miete für das neue Haus zusammenzukriegen. Für das andere ist Papa sie schon seit acht Monaten schuldig. Ich werde auch aufhören müssen, Messdiener zu sein, damit ich zu Hause mithelfen kann. Du bist noch viel zu klein, um das alles zu begreifen.«

Eine Zeit lang waren wir still.

»Totoca, werden der schwarze Panther und die beiden Löwinnen mit hierherkommen?«

»Natürlich nehmen wir die mit. Und mein kleiner Sklave hier wird den Hühnerstall abreißen müssen.«

Er sah mich freundlich und ein wenig mitleidig an.

»Keine Sorge! Ich werde den Zoo selber abbauen und wieder aufstellen.«

Erleichtert atmete ich auf. Denn sonst hätte ich ein neues Spiel für meinen kleinen Bruder Luís erfinden müssen.

»Also, Sesé, nun hast du gesehen, dass ich dein Freund bin. Jetzt musst du mir auch endlich erzählen, wie du das fertiggebracht hast.«

»Ich schwöre dir, Totoca, ich weiß es nicht. Ich weiß es ganz bestimmt nicht.«

»Du lügst. Du hast es von irgendwem gelernt.«

»Nein, ich hab es nicht gelernt. Niemand hat es mir beigebracht. Höchstens der Teufel. Jandira sagt, der ist mein Pate und hat es mich im Schlaf gelehrt.«

Totoca konnte die Sache nicht verstehen. Anfangs hatte er mir sogar Ohrfeigen gegeben, um mich zum Reden zu bringen. Aber ich wusste es ja wirklich nicht.

»Keiner kann so was von allein.«

Aber schließlich hatte niemand irgendwen gesehen, der mir irgendwas beibrachte. Und so war und blieb es ein Rätsel.

Ich dachte an das zurück, was sich vor einer Woche zugetragen hatte. Die ganze Familie war außer sich gewesen. Es hatte damit angefangen, dass ich mich in Großmamas Haus dicht neben Onkel Edmundo setzte, der eben die Zeitung las.

»Onkel?«

»Was willst du, mein Junge?«

Er schob seine Brille auf die Nasenspitze, wie es alle großen Leute tun, wenn sie alt werden.

»Wann hast du lesen gelernt?«

»So ungefähr mit sechs oder sieben Jahren.«

»Und darf man schon mit fünf Jahren lesen lernen?«

»Natürlich darf man. Aber keiner sieht das gern, denn da sind die Kinder noch zu klein.«

»Wie hast du lesen gelernt?«

»Wie alle Welt, aus der Fibel. Erst ein B und dann ein A, und das gibt zusammen BA

»Muss man das denn so machen?«

»Soviel ich weiß, ja.«

»Muss man wirklich?«

Nachdenklich sah er mich an.

»Ja, Sesé, das ist nun mal so. Jetzt lass mich aber fertig lesen. Du kannst nachgucken, ob du hinten im Garten Guajaven findest.«

Er rückte die Brille zurecht und versuchte, sich wieder in seine Lektüre zu vertiefen. Aber ich wich nicht von der Stelle.

»Wie schade …«

Dieser Seufzer gelang mir mit so viel Ausdruck, dass er seine Brille noch einmal nach vorn schob. »Du gibst einfach keine Ruhe, wenn du was im Kopf hast …«

»Ja, sieh mal, ich bin von zu Hause gekommen, bin wie ein Wilder hergerannt, bloß weil ich dir was erzählen wollte.«

»Also dann schieß los!«

»Nein, nicht so. Erst muss ich wissen, wann du Geld kriegst.«

»Übermorgen.«

Er musterte mich lächelnd.

»Und wann ist übermorgen?«

»Freitag.«

»Könntest du mir am Freitag vielleicht einen ›Mondstrahl‹ aus der Stadt mitbringen?«

»Nun aber langsam, Sesé. Was ist denn ein ›Mondstrahl‹?«

»Das ist das weiße Pferdchen, das ich im Kino gesehen habe. Es gehört Fred Thompson. Und es ist dressiert.«

»Möchtest du ein Pferdchen mit Rädern haben?«

»Aber nein. Ich möchte so eins, das einen Kopf aus Holz hat, an dem Zügel festgebunden sind. Hinten tut man einen Stecken dran, und dann reitet man damit. Ich muss nämlich üben, weil ich später zum Film will.«

»Ich verstehe. Und was kriege ich, wenn ich es dir mitbringe?«

»Ich tu etwas für dich.«

»Gibst du mir einen Kuss?«

»Ich mag nicht so gern Küsse geben.«

»Umarmst du mich?«

Ich schaute Onkel Edmundo sehr liebevoll an. Denn der kleine Vogel in mir drin sagte etwas, und es fiel mir ein, wovon ich so viele Male hatte reden hören. Onkel Edmundo lebte von seiner Frau und von seinen fünf Kindern getrennt. Er war ganz allein und ging so langsam, so langsam … Ob das nicht daher kam, dass er so viel Sehnsucht nach seinen Kindern hatte? Und die Kinder kamen nie zu Besuch. Ich ging um den Tisch herum und legte meine Arme fest um seinen Hals. Ich fühlte sein weißes Haar weich meine Stirn streifen.

»Das tu ich nicht für das Pferdchen. Was ich dafür machen will, ist etwas ganz anderes. Ich werde lesen.«

»Du kannst lesen, Sesé? Erzähl mir keine Märchen. Wer hat dir denn das beigebracht?«

»Niemand.«

»Du flunkerst.«

Ich stand auf und erklärte von der Tür aus:

»Bring mir das Pferdchen am Freitag mit, dann wirst du schon sehen, ob ich lesen kann.«

Später, als es Abend war, zündete Jandira die Petroleumlampe an, denn das Elektrizitätswerk hatte uns den Strom gesperrt, weil die Rechnung nicht bezahlt worden war. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um den »Stern« zu betrachten. Das war ein Papier mit einem Stern drauf, und darunter stand der Haussegen.

»Jandira, nimm mich auf den Arm, ich möchte das lesen.«

»Red keinen Unsinn, Sesé. Ich hab anderes zu tun.«

»Heb mich doch hoch, dann siehst du’s ja.«

»Hör zu, Sesé, wenn du mich an der Nase herumführst, dann kannst du was erleben.«

Sie nahm mich auf den Arm und trug mich hinter die Tür.

»So, lies! Das möcht ich mal sehen.«

Ich las.

Las das ganze Gebet, dass Gott das Haus segnen und schützen und alle bösen Geister von ihm fernhalten möge.

Jandira stellte mich auf den Boden zurück. Ihr Mund stand offen.

»Sesé, das hast du auswendig gelernt. Du hast mich angeschmiert.«

»Nein, Jandira, ich schwör es dir. Ich kann alles lesen.«

»Keiner kann lesen, ohne es gelernt zu haben. Wer war es? Onkel Edmundo? Großmama?«

»Niemand.«

Sie nahm ein Stück Zeitung, und ich las ihr vor. Las es ganz richtig. Sie rief Gloria. Gloria war ganz aufgeregt und rief Alaide. Zehn Minuten später war die halbe Nachbarschaft versammelt, um das Wunder zu bestaunen …

Und das war es, was Totoca jetzt wissen wollte.

»Er hat es dir beigebracht und dir das Steckenpferd versprochen, wenn du es könntest.«

»Nein, nein, nein.«

»Ich werde ihn fragen.«

»Dann frag ihn doch. Ich weiß wirklich nicht, wie es gekommen ist. Wenn ich es wüsste, würde ich es dir ja erzählen.«

»Na, gehen wir jetzt. Aber du wirst schon noch sehen. Wenn du etwas von mir brauchst …«

Er nahm mich verärgert an der Hand und zerrte mich nach Hause zurück. Dabei überlegte er offenbar, womit er sich rächen könnte.

»Das hast du davon! Hast es zu früh gelernt, du Dummkopf. Dafür wirst du nun schon im Februar in die Schule kommen.« Das war Jandiras Idee gewesen. Dann würde sie den ganzen Vormittag lang Ruhe im Haus haben, und gleichzeitig sollte ich lernen, mich anständig zu betragen.

»Wir wollen noch mal üben, wie man über die Straße geht. Denk bloß nicht, dass ich auf dem Schulweg dein Diener sein und dich immer rüberbringen werde. Du bist ja sonst so gescheit, da kannst du das gleich dazulernen.«

»Hier ist das Steckenpferd. Nun wollen wir mal sehen.«

Onkel Edmundo breitete die Zeitung aus und wies auf die Reklame für ein Medikament.

»›Dieses Mittel ist in allen Apotheken und einschlägigen Geschäften zu haben.‹«

Onkel Edmundo rief Großmama aus dem Garten herbei.

»Mama, sogar ›Apotheke‹ hat er richtig gelesen.«

Nun gaben mir beide alles Mögliche zu lesen, und ich las vor. Großmama murmelte etwas von Weltuntergang oder so. Ich bekam das Pferdchen und umarmte Onkel Edmundo aufs Neue. Dann fasste er mich unterm Kinn und sagte gerührt:

»Du wirst es noch weit bringen, du Schlingel. Du heißt nicht umsonst José. Du wirst die Sonne sein, und die Sterne werden um dich leuchten.«

Verständnislos guckte ich ihn an und dachte, er müsse wohl doch etwas plemplem sein.

»Das kannst du nicht verstehen. Es ist die Geschichte von Joseph im Ägypterland. Wenn du etwas größer bist, werde ich sie dir erzählen.«

Ich war versessen auf Geschichten. Je ausgefallener sie waren, desto lieber mochte ich sie.

Ich streichelte mein Steckenpferd, und nach einer Weile schaute ich zu Onkel Edmundo auf und fragte:

»Glaubst du, dass ich nächste Woche schon groß bin?«

EIN GEWISSES ORANGENBÄUMCHEN

Bei uns zu Hause war es so, dass jedes ältere Kind immer ein kleineres betreute. Jandira versorgte Gloria und noch eine andere Schwester, die dann weggegeben wurde, damit sie irgendwo weiter im Norden was Besseres werden sollte. Antonio war ihr Hätschelkind.

Auf mich hatte bis vor Kurzem LaIá aufgepasst. Solange sie mich gern mochte, nämlich; dann wurde sie meiner überdrüssig oder sie hatte sich allzu sehr in ihren Freund verliebt, einen richtigen Gecken mit weiter Hose und sehr kurzer Jacke. Wenn wir sonntags beim Bahnhof »flanierten« (ihr Freund nannte das so), kaufte er mir Bonbons, so viel ich wollte. Damit ich zu Hause nichts ausplauderte. Ich konnte Onkel Edmundo nicht einmal fragen, was das komische Wort bedeutete, denn sonst hätten sie ja was gemerkt.

Meine beiden nächsten Geschwister starben ganz klein, und ich hörte nur von ihnen reden. Sie sollen wie Indianer ausgesehen haben, mit brauner Haut und glattem schwarzem Haar. Deshalb hieß das Mädchen Aracy und der Junge Jurandyr. Danach kam mein Bruder Luís. Um ihn kümmerte sich vor allem Gloria, später aber auch ich. Er machte überhaupt keine Mühe, denn netter, lieber und ruhiger als er konnte niemand sein.

Er brauchte nur um etwas zu bitten, und schon stieß ich alle meine Pläne um, auch wenn ich gerade auf die Straße wollte. Er sprach fehlerlos.

»Sesé, gehst du mit mir in den Zoologischen Garten? Heute wird es doch bestimmt kein schlechtes Wetter geben, nicht?«

Es war zu köstlich, wie gut er sich ausdrückte. Aus dem konnte etwas werden, der würde es noch weit bringen.

Ich betrachtete den wolkenlosen blauen Himmel und brachte es nicht übers Herz zu lügen. Denn manchmal, wenn ich gar keine Lust hatte, sagte ich wohl:

»Du bist nicht recht gescheit, Luís. Sieh doch mal das Unwetter, das da hinten aufzieht …«

Diesmal nahm ich ihn also an der Hand, und wir zogen auf Abenteuer in den Garten.

Im Garten gab es den Zoo und Europa, dicht beim Zaun, der unseren Garten von Senhor Julios trennte. Warum es Europa hieß, das hätte nicht einmal mein kleiner Vogel zu sagen gewusst. Da spielten wir Seilbahn. Ich nahm die Knopfschachtel und zog die Knöpfe alle auf eine Schnur. (Onkel Edmundo nannte das Strippe. Ich meinte, Strippe sei Schaufel. Und er sagte, das klinge nur ähnlich, aber Schaufel sei Schippe.) Also, wir knoteten ein Ende am Zaun fest, das andere an Luís’ kleinen Fingern. Alle Knöpfe fuhren los, ganz langsam, einer nach dem anderen. In jeder Gondel saßen Bekannte. Es war eine große dunkelschwarze dabei, das war die Gondel vom Neger Biriquino. Während wir so spielten, erklang nicht selten eine Stimme aus dem Nachbargarten:

»Du machst mir doch wohl nicht meinen Zaun kaputt, Sesé?«

»Nein, Dona Dimerinda, Sie können nachsehen.«

»So ist es recht. Spiel nur mit deinem Brüderchen. Findest du das nicht auch besser?«

Vielleicht war es wirklich besser. Aber sobald mich der Teufel, mein »Pate«, ritt, gab es nichts Schöneres, als jemandem einen Streich zu spielen …

»Werden Sie mir wieder einen Kalender zu Weihnachten schenken wie voriges Jahr?«

»Was hast du denn mit dem gemacht, den ich dir letztes Jahr geschenkt habe?«

»Den können Sie drinnen bei uns sehen, Dona Dimerinda; der hängt über dem Brotsack.«

Sie lachte und versprach mir einen. Ihr Mann war im Geschäft von Chico Franco angestellt.

Ein weiteres Spiel war das mit Luciano. Anfangs hatte Luís viel Angst vor ihm gehabt und mich an der Hose gezupft und gebeten umzukehren. Aber Luciano war mein Freund. Wenn er mich sah, stieß er ein schrilles Gekreisch aus. Auch Gloria mochte ihn nicht und behauptete, Fledermäuse seien Vampire und saugten den Kindern das Blut aus.

»Aber nein, Gloria, Luciano nicht. Er ist mein Freund. Er kennt mich doch.«

»Du mit deinem Tierfimmel und mit deiner fixen Idee, dich mit allen Dingen unterhalten zu müssen …«

Es dauerte lange, bis ich ihnen klargemacht hatte, dass Luciano nicht irgendeine Fledermaus war! Luciano war doch ein Flugzeug, das über den Flugplatz schwebte.

»Guck mal, Luís.«

Luciano zog lustig seine Kreise um uns herum, als hätte er verstanden, was wir sagten. Er verstand es wohl auch wirklich.

»Er ist ein Kunstflieger. Er macht …«

Ich stockte. Ich musste erst Onkel Edmundo bitten, mir noch einmal das Wort zu sagen. Ich wusste nicht mehr, hieß es nun Akorbatik, Akrobatik oder Arkobatik. Eins davon musste es sein, nur durfte ich meinem kleinen Bruder nicht das falsche beibringen.

Aber jetzt wollte er in den Zoo.

Wir gingen bis dicht an den alten Hühnerstall. Darin scharrten die beiden fast weißen Hähne; die alte, schwarze Henne war so zahm, dass man sie am Hals kraulen konnte.

»Erst wollen wir die Eintrittskarten kaufen. Gib mir die Hand. Bei diesem Gedränge kann ein Kind leicht verloren gehen. Siehst du, wie voll es hier am Sonntag ist?«

Er guckte und entdeckte auf einmal eine Menge Leute ringsum. Ganz fest packte er meine Hand.

An der Kasse streckte ich den Bauch heraus und räusperte mich, um gewichtig zu erscheinen. Ich tat die Hand in die Hosentasche und fragte die Verkäuferin:

»Bis zu welchem Alter haben Kinder freien Eintritt?«

»Bis zu fünf Jahren.«

»Dann ein Erwachsener, bitte.«

Zwei Orangenblätter dienten als Eintrittskarten und wir gingen hinein.

»Zunächst, mein Kind, wirst du sehen, wie wunderschön die Vögel sind. Guck dir die Papageien an, die Wellensittiche, die Aras in allen Farben. Die ganz bunten sind Regenbogenaras.« Verzückt riss er die Augen auf.

Wir schlenderten gemächlich weiter und sahen alles. Im Hintergrund sahen wir sogar Gloria und Lalá, die auf der Holzbank saßen und Orangen schälten. Lalás Augen folgten mir auf eine Weise … Hatte sie mich schon wieder erwischt? Wenn ja, dann würde der Ausflug in den Zoo mit einer gewaltigen Tracht Prügel auf das Hinterteil eines gewissen Jemand enden. Und der Einzige, der dieser Jemand sein konnte, war ich.

»Und jetzt, Sesé? Wohin gehen wir jetzt?«

Ich tat wieder wichtig und räusperte mich.

»Jetzt gehen wir zu den Käfigen mit den Affen. Onkel Edmundo sagt immer ›Makaken‹.«

Wir kauften ein paar Bananen und warfen sie den Tieren zu. Wir wussten genau, dass das verboten war, aber bei dem Gedränge achteten die Wärter nicht darauf.

»Geh bloß nicht zu nah ran, sonst werfen sie mit den Schalen nach dir, Kleiner.«

»Ich möchte so gern zu den Löwen.«

»Da gehen wir auch gleich hin.«

Ich warf einen schnellen Blick auf die Stelle, wo die beiden ›Makaken‹ Orangen auslutschten. Vom Löwenkäfig aus würde ich ihre Unterhaltung wohl hören können.

»Da sind wir.«

Ich zeigte auf die beiden gelben Löwinnen aus dem innersten Afrika. Aber dann wollte Luís den Kopf des schwarzen Panthers streicheln.

»Wo denkst du hin, Kleiner! Dieser schwarze Panther ist der Schrecken des Zoos. Man hat ihn hierhergebracht, weil er achtzehn Dompteuren den Arm ausgerissen und aufgefressen hat.«

Luís machte ein ängstliches Gesicht und zog entsetzt den Arm zurück.

»Ist er denn aus dem Zirkus?«

»Ja.«

»Aus welchem Zirkus, Sesé? Das hast du mir noch nie erzählt.«

Hastig dachte ich nach. Wer von den Leuten, die ich kannte, hatte bloß einen geeigneten Namen? Ach ja!

»Er stammt aus dem Zirkus Rozemberg.«

»Aber das ist doch der Bäcker, oder?«

Es war wirklich schwierig, ihm etwas vorzuschwindeln.

Er wurde immer gewitzter.

»Das ist ein anderer. Komm, wir setzen uns jetzt lieber ein bisschen hin und essen unser Frühstück. Wir sind schon so viel gelaufen.«

Wir setzten uns und taten, als ob wir äßen. Dabei spitzte ich die Ohren, um die Unterhaltung mitzukriegen.

»Wir könnten was von ihm lernen, Lalá. Sieh doch nur, wie viel Geduld er mit seinem kleinen Bruder hat.«

»Das schon, aber was er sonst alles ausheckt! Das ist schon fast Bösartigkeit. Nicht einfach Unart.«

»Stimmt, er hat den Teufel im Leib, aber er ist doch so drollig. Niemand aus der ganzen Straße kann ihm richtig böse sein, so viel er auch anstellt …«

»Diesmal kommt er nicht ohne eine tüchtige Tracht Prügel davon. Er muss es einmal lernen.«

Ich warf einen flehenden Blick zu Gloria hinüber. Sie hatte mich so oft gerettet, und immer versprach ich ihr, ich würde es nie wieder tun …

»Später. Nicht jetzt. Sie spielen gerade so schön.«