Vorwort
Warum wir trinken und warum dieses Buch
Auf die Frage, ob er an Gott glaube, antwortete Frank Sinatra einst: »Ich bin für alles zu haben, was einen durch die Nacht bringt, sei es ein Gebet, Tranquilizer oder eine Flasche Jack Daniel’s.«
Sehen wir die Nacht als Hort des Düsteren, Sitz alles Unsichtbaren und Ungewissen, die Zeit, in der wir Zweifeln, Ängsten und Vorbehalten ohne Ablenkung ausgesetzt sind, wird schnell klar, warum sich Alkohol trotz aller mit ihm verbundenen Gefahren noch immer nicht aus unserer Kultur verabschiedet hat. Mit Einbruch der Dämmerung wird der Lockruf der Drinks lauter. Seit Jahrhunderten tobt der Kampf zwischen Tun und Lassen, zwischen Katharsis und Kater. Es steht unentschieden. Euphorie und Rausch fordern ihren Preis. Kopfschmerz am Morgen danach, eine schwellende Leber oder eine veritable Suchterkrankung drohen, und doch sind wir nicht in der Lage, die Finger vom Alkohol zu lassen.
Er lässt unsere Zweifel verstummen und entkoppelt uns vom unbarmherzigen Verrinnen der Zeit. Im freudig ekstatischen Rauscherlebnis spielen weder Uhren noch Sorgen eine Rolle. Als euphorische Versionen unseres Selbst landen wir bedingungslos im Hier und Jetzt. Vergangenheit und Zukunft werden ausgeblendet, frei schweifen die Gedanken.
Das antike Griechenland kannte das Symposion, eine ritualisierte Form des Gelages, bei dem sich exzessiver Weingenuss mit geistreicher Reflexion festgelegter Themen verband. Bei Herodot heißt es, die alten Perser hätten wichtige Angelegenheiten gewöhnlich im Rausch besprochen, um sie dann am nächsten Tag noch einmal nüchtern zu beurteilen. Umgekehrt würden Entscheidungen, die nüchtern zustande gekommen waren, noch einmal in trunkenem Zustand beraten. Diese zunächst einmal ziemlich vernünftig klingende Nutzung des Alkohols geriet in den folgenden Jahrtausenden immer wieder in Vergessenheit.
Orte eines kultivierten Trinkens sind nah am Abgrund des Exzesses gebaut. Einen Ausweg aus dem Dilemma weist uns eine ehrwürdige gastronomische Einrichtung, welche die Amerikaner zur Weltausstellung von 1889 erstmalig nach Europa brachten. Zu Füßen des neu errichteten Eiffelturms präsentierten sie mit der American Bar sowohl einen bis dahin nicht gekannten Umgang mit gemixten Alkoholika als auch ein gastronomisches Konzept, das die festen Tischordnungen der Restaurants hinter sich ließ und die freie Wahl wechselnder Gesprächspartner ermöglichte. Erwartete man bisher von den Damen, dass sie nach beendetem Dinner unter sich blieben, während sich die Herrenrunde zur gepflegten Zigarre in die Bibliothek zurückzog, stand mit der American Bar ein Ort der Kommunikation zwischen den Geschlechtern offen. Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass der Alkohol als Treibstoff des gesellschaftlichen Fortschritts diente. Obwohl nicht verschwiegen werden sollte, dass er nicht selten auch seine Bremsflüssigkeit war.
Der Tresen, englisch: the bar, eigentlich nichts anderes als der Arbeitsplatz des Wirtes, wurde in diesem neuen Konzept des Schankraums einerseits zur Grenze, die den Gast von Barpersonal und Spirituosen trennte; andererseits wurde aber gerade diese Trennlinie zum inszenierten Mittelpunkt und namensgebenden Markenzeichen der gastronomischen Novität. Der nunmehr in den Fokus gerückte Barkeeper avancierte zum Zeremonienmeister. Er wurde bei Bedarf zum Beichtvater, Trostspender, Freund und Komplizen, aber auch zur Autorität, die manchem Gast beschied, dass er für diesen Abend genug getrunken hatte und dabei war, die Würde, die eine Bar auch ihren Gästen abverlangt, im letzten Glas zu ertränken.
Vor zehn Jahren begannen wir, das sind der Barchef der Victoria Bar, Stefan Weber, seine Teilhaberin Kerstin Ehmer, der Barkeeper Goncalo de Sousa Monteiro, mittlerweile mit dem Buck and Breck selbständig geworden, und die Seele des Betriebs, die Barfrau Beate Hindermann, der Geschichte des Alkohols nachzuspüren. Bei genauerer Betrachtung der Entwicklung unserer gebräuchlichsten Barspirituosen, erweitert noch durch die fünfhundert Jahre dauernde wechselvolle Geschichte des Champagners, staunten wir über die enge Verzahnung von politischen und wirtschaftlichen Prozessen mit der Ausprägung der einzelnen Spirituosen. Jede Machtverschiebung, jeder Krieg, jede technische Neuerung prägte auch Aussehen und Geschmack der Brände, bis hin zu ihrem heutigen Zustand. Neue Absatzmärkte wurden geschaffen, alte brachen ein, exotische Zutaten wurden in entlegenen Weltgegenden entdeckt, Weinberge und Industrien gingen in Flammen auf und entstanden neu, Alkoholsteuern machten manchen Krieg erst möglich, finanzierten aber auch Schulen und Eisenbahnen. Politiker und Generäle, Literaten, Schauspieler und Musiker fanden in ihm Inspiration und Untergang. Alkohol und Zivilisation entwickelten sich parallel zueinander, unterstützten und blockierten sich.
Die Ergebnisse unserer Recherchen flossen in die »Die Schule der Trunkenheit«. An einem nebligen und kalten Novembersonntag des Jahres 2003 hielten wir in der Victoria Bar, flankiert von einem fünf Cocktails umfassenden Menü, die erste Vorlesung dieser mittlerweile legendären Veranstaltungsreihe, die seitdem in regelmäßigen Wintersemestern wissbegierige Trinker und Barflys in die Geheimnisse der Spirituosen einweiht. Da über dem flüssigen Part der Vorlesung am nächsten Morgen manches in Vergessenheit geraten war, gab es schon lange das Bedürfnis nach einem Werk, das dieses gesammelte Wissen für den Hausgebrauch bündelt. So setzten wir uns hin, überarbeiteten und erweiterten das Vortragsmaterial zu dem nun vorliegenden Band.
Dringend empfehlen wir zur Lektüre einen jeweils adäquaten Drink. Einen, höchstens zwei. Dann Schluss, schlafen und morgen weitermachen mit dem nächsten Kapitel.
Cheers. Prost. Skål. Salud. Na sdorowje und à votre santé!
Kerstin Ehmer und Beate Hindermann