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Utta Danella

Der Maulbeerbaum

Roman

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Traum und Tat

Keiner könnte Werner widerstehen, wenn er ihn so erlebt wie während der vierzehn Tage in Badgastein. Matthias, lebenserfahren und nicht ohne Vorurteil Werner gegenüber, kann es nicht und nicht der doch gewiss neutrale Herr Hübner; wie sollte es Ricarda fertigbringen.

Welche Frau würde von solch einem Mann nicht bezaubert sein? Er ist aufmerksam, ritterlich, liebevoll um sie besorgt; höflich und zuvorkommend zu den beiden alten Herren. Und so großzügig. Jeder Wunsch, den Ricarda haben könnte – er hat ihn schon erfüllt.

Er wolle sie besuchen, sagte er, als er von Kitzbühel herüberkam. Aber er bleibt. Das Zimmer im Kitzbüheler Hotel steht leer. Werner wohnt bei ihnen im Bellevue. Und waren vorher diese Urlaubstage schon harmonisch und abwechslungsreich, so werden sie jetzt vollends ein erfüllter Traum.

Er hat den Wagen dabei, er fährt sie, wohin sie wollen. Die schönste Landschaft, die hübschesten Lokale, das beste Essen, alles steht zu ihrer Verfügung. Und immer ist er gut gelaunt, lacht mit ihnen, ein blendender Gesellschafter, ein Kavalier von Format, ein Mann von Welt. O ja, das kann Werner, mühelos verschenkt er seinen Charme und hat selbst die größte Freude daran.

Er geht mit Ricarda durch den Ort, bleibt vor den Schaufenstern stehen. Die eleganten Läden am Platz beim Hotel Straubinger, auf dem Weg zum Wasserfall, Werner findet jedes Mal etwas, was er Ricarda unbedingt kaufen muss.

»Dieses Kleid dort, es würde dir großartig stehen. Gehen wir hinein? Aber warum denn nicht? Du kannst es doch mal probieren.«

»Was für reizende Stiefelchen! Die wären richtig für dich.«

»Also in Brigittes Pelzjacke habe ich dich nun lange genug gesehen. Wir wollen schauen, ob wir nicht etwas Hübscheres für dich finden.«

»Morgen Abend ist ein Ball im Hotel, du hast ja die Plakate gelesen. Wir brauchen für dich ein fesches Abendkleid.«

Und zum Abendkleid bringt er den Schmuck: Kette, Armband, Clips. Einen wertvollen Ring.

Die Geschäftsleute im Ort, durchaus an zahlungskräftige Kunden gewöhnt, schließen ihn allesamt in ihr Herz. Man kennt ihn in den Läden, und natürlich Ricarda auch, und freut sich herzlich, wenn sie die Tür öffnen.

Welche Frau auf dieser Welt bliebe davon unberührt? Auch Ricarda nicht. Anfangs widerspricht sie noch, wehrt ab. Aber dann überkommt es sie wie ein Rausch. Ein Märchen wird wahr, ein Märchen, von dem sie nicht einmal geträumt hat.

Dabei umwirbt er sie auf zarte, behutsame Weise. Keine Zudringlichkeit, kein Drängen. Er hält ihre Hand, streift ihren Arm, er sieht sie an – wie er sie ansieht! Wo sie geht und steht und sitzt. Sie wird täglich schöner davon. Denn eine Frau muss schön werden, wenn ein Mann sie so betrachtet. Noch dazu ein Mann wie Werner, ein Mann, nach dem alle Frauen sich umdrehen.

Sie geht durch die Hotelhalle wie eine Königin. Elegant, schön, bewundert. Und beneidet von allen Frauen. Denn sie ist die Frau, zu der dieser fantastische Mann gehört. Sie spürt das, weiß das. Nie zuvor hat sie so etwas erlebt. Er tanzt mit ihr in der Bar, die Wange an ihre Schläfe geschmiegt, flüstert ihr kleine Zärtlichkeiten ins Ohr, sagt ihr immer wieder, wie schön, wie wunderbar sie ist, wie sehr er sie liebt. Wie glücklich er ist, dass er sie wiederhat. Dass er nie im Leben eine andere Frau so begehrt, so geliebt hat.

Vor einigen Wochen ist Ricarda krank gewesen, hat fiebrig, in eine Traumwelt versponnen, entrückt jeder Wirklichkeit, im Bett gelegen. Jetzt ist es genauso. Nur – sie ist nicht krank. Sie lebt. Sie erlebt etwas, was jede Frau sich wünscht. Geliebt und verwöhnt zu werden. Aber es ist alles unwirklich. Sie ist wie eine Schlafwandlerin, die mit geschlossenen Augen auf einem Seil tanzt. Wird sie jemals wieder festen Boden unter die Füße bekommen? Oder wird das immer so bleiben?

Es kann nicht immer so bleiben. Das denkt jedenfalls Matthias, der zunächst mit Staunen und Befremden, dann mit wachsendem Unbehagen dies alles miterlebt.

Herr Hübner sagt zu ihm, als sie wieder einmal allein beim Wein sitzen: »Was soll eigentlich daraus werden? Wie soll das weitergehen?«

Matthias hebt verzagt die Schultern. »Ich weiß es nicht. Er sagt, er liebt sie. Er sagt, er hat sie immer geliebt. Vielleicht ist es wahr. Auf jeden Fall hat er sie früher geliebt. Damals. Aber was heute ist …«

»Und – seine Frau? Ihre andere Tochter? Entschuldigen Sie, es geht mich nichts an. Aber wenn man sich das so mit ansieht, macht man sich doch so seine Gedanken, nicht wahr?«

»Es geht mir nicht anders.«

»Er hat zwei Kinder, sagen Sie?«

Matthias könnte ihn aufklären. Aber man kann darüber schlecht sprechen, bei aller Freundschaft, die er für den Kollegen empfindet. Es sind zwei Kinder, das stimmt. Doch Charlott ist nur die Mutter von dem einen. Die Gewichte sind gleich verteilt. Denn Matthias weiß inzwischen, dass Ricarda ihn belogen hat. Dass Brigitte doch Werners Kind ist.

Werner sprach an einem Abend ganz unbefangen von ihrem Zusammentreffen in Krakau, von dem, was daraus entstanden ist. Ricarda blickte ihren Vater nicht an, sah an ihm vorbei, doch ihre Wangen färbten sich ein wenig rot. So lange hat sie das Geheimnis bewahrt.

Die Versuchung ist groß für Matthias, auch das Geheimnis, das er mit Charlott teilt, zu enthüllen. Aber was dann? Wird Werner nicht dann mit noch größerem Recht versuchen, Ricarda festzuhalten? Aber das will er sowieso, er hat es bereits klar und deutlich gesagt.

An einem Nachmittag, Ricarda ist beim Friseur, es ist ein trüber Tag, gegen Abend fängt es an zu schneien, da trifft Werner seinen Schwiegervater in der Hotelhalle.

Werner tritt aus dem Lift, er hat Ricarda zum Friseur begleitet, sich erkundigt, wann sie fertig ist, und wird sie auch wieder abholen. Keinen Schritt lässt er sie allein gehen. Werner setzt sich zu Matthias, sie bestellen ein Viertel Kalterer, und nun stellt Matthias also die Frage, die ihm auf der Seele brennt.

»Werner, wie stellst du dir das eigentlich vor? Was soll daraus werden?«

Werner macht keine Ausflüchte, stellt keine Rückfragen. Unumwunden sagt er, was er will.

»Ich will Ricarda heiraten. Es wird Zeit, dass es ihr besser geht. Dass sie endlich glücklich sein kann. Gibst du mir darin nicht recht?«

Was für eine Frage! Und was soll Matthias darauf antworten? Hat er sich denn jemals etwas anderes gewünscht? Immer dachte er daran, dass es Ricarda gut gehen soll und dass sie glücklich wird. Aber so, wie die Dinge nun einmal liegen – er hat schließlich noch eine zweite Tochter.

»Und Charlott?«, fragt er.

»Wir brauchen das nicht mehr zu analysieren, was damals passiert ist«, antwortet Werner ruhig. »Du weißt es genauso gut wie ich. Wenn jemand Unrecht getan hat, dann war ich es. Ich war mir dessen bewusst damals, und ich bin es heute.

Charlott gegenüber bin ich fair gewesen. Jedenfalls nach außen hin. Ich habe sie geheiratet, es ist ihr gut gegangen. Ricarda hat die Rechnung allein bezahlt. Meinst du nicht, dass es nur gerecht ist, wenn sie jetzt einmal auf die Sonnenseite kommt? Zumal ich sie ja liebe. Und Charlott – verzeih, dass ich das so offen sage –, Charlott habe ich nie geliebt. Und sie weiß es.«

»Ja«, sagt Matthias langsam. »Sie weiß es.« Es lässt sich nichts sagen gegen Werners Darstellung.

»Und«, fährt Werner fort, »ist es nicht gerecht, wenn ich nun Ricarda an die Stelle setzen will, die ich ihr von Anfang an zugedacht habe?«

Ist es gerecht? Ja. Gewiss. Wenn man es so betrachtet wie er – es ist gerecht. Aber in Matthias regt sich rebellischer Widerspruch. Er denkt: Wer bist du, dass du über Recht und Unrecht entscheidest? Wer bist du, Werner Fabian, dass du Gerechtigkeit walten lassen willst auf dieser Erde, die keine Gerechtigkeit kennt? Das Schicksal, Gott, das Leben – man kann es nennen, wie man will, doch im Laufe eines Lebens erfährt man, dass es Gerechtigkeit nicht gibt. Nie gegeben hat. Nie geben wird. Aber hier ist einer, der kann mehr als Gott und Schicksal, er zaubert die Gerechtigkeit aus dem Hut wie ein Magier das weiße Kaninchen.

Für Ricarda also nun ein Leben in Glück als Ausgleich für erlittene Unbill und angetanes Unrecht. Und für Charlott, die den Kuchen bis jetzt allein essen durfte, ein Leben im Schatten. Sie muss abdanken. Weil Werner Ricarda liebt. Man muss schließlich auch Werner gegenüber gerecht sein.

»Denke nicht«, fährt Werner fort, »dass Charlott sehr darunter leiden wird. Wir leben seit vielen Jahren nebeneinander her. Wir hatten uns nie viel zu sagen. Und sie wird von mir großzügig abgefunden werden. Sie bekommt ein schönes Haus in einer Gegend, die sie sich aussuchen kann. Sie bekommt eine ausreichende Apanage. Und wer weiß – sie ist jung genug, vielleicht heiratet sie wieder. Du kannst mir eines glauben: Sie würde mit einem anderen Mann viel glücklicher sein als mit mir. Sie hat manchen Verehrer gehabt in den vergangenen Jahren. Wer weiß, vielleicht ist es gerade ihr Glück, wenn sie von mir frei sein wird und tun kann, was sie will.«

Oh – Werner ist ein geschickter Anwalt seiner Sache. So wie er das alles hervorbringt, klingt es plausibel und überzeugend. »Und die Kinder?«, fragt Matthias schließlich.

»Brigitte hat mir gesagt, dass sie nun doch studieren will. Also wird sie sowieso im kommenden Herbst aus dem Haus gehen. Eines Tages heiratet sie. Vielleicht schon bald. Die Mädchen haben es ja heutzutage sehr eilig mit der Ehe. Auf jeden Fall, ob nun Studium oder Ehe, Brigitte wird kaum bei uns zu Hause sitzen, der Typ ist sie nicht. Und ich werde sie schon im Auge behalten, dessen kannst du gewiss sein. Ich habe sie viel zu gern.

Thomas – nun ich denke, dass er bei seiner Mutter am besten aufgehoben sein wird. Das wird sich alles regeln lassen, so dass keiner zu kurz kommt.

Du, Vater, kannst wählen, was du willst. Bei mir und Ricarda leben, bei Charlott oder für dich allein in einer hübschen, modernen Wohnung. Ganz nach deinem Wunsch.«

Mein Wunsch, was ist mein Wunsch? Und ganz plötzlich kommt Matthias zu der Erkenntnis, dass er seiner Familie müde ist. Sie hätten doch nicht in den Westen kommen sollen. Wird denn dieses Dilemma, seine Töchter und dieser Mann, nie ein Ende haben? Fängt es immer wieder von vorn an?

Er kann nicht entscheiden, was gut und richtig ist in diesem Fall, es ist einfach zu viel verlangt. Aber er wünscht sich, er brauchte nie mehr etwas davon zu hören. Er wünscht sich ganz brennend auf einmal eins: Unabhängigkeit. Von Werners Geld zu leben wird auf die Dauer für ihn unerträglich. Er muss doch einmal sehen, wenn er zurückkommt, ob er nicht doch Anspruch hat auf irgendeine Rente, eine Beihilfe des Staates. Wenn er nur jünger wäre! Wenn er arbeiten könnte! Angenommen, er würde Werner bitten, ihm einen Kredit zu geben. Und er würde eine kleine Buchhandlung kaufen, irgendwo, ganz egal wo. Er traut sich das schon zu.

Der Gedanke elektrisiert ihn. Zwei Tage denkt er darüber nach. Er hat Zeit genug. Das Wetter ist wieder besser geworden, er geht spazieren, meist allein, weil er auch Ricarda und Werner nicht um sich haben will. Und Freund Hübner ist nach Salzburg gefahren. Auch er hat Sorgen mit seiner Tochter. Komisch, immer die Töchter. Ob alle Väter so viele Sorgen mit Töchtern haben?

Er hat Matthias kurz davon erzählt. Sein Schwiegersohn ist vor einem Jahr gestorben. Und die Tochter ist allein mit drei Kindern und dem Geschäft.

Am Tage nach Hübners Rückkehr spazieren die beiden Herren nach Böckstein. Die Sonne scheint wieder, die Kaiserin-Elisabeth-Promenade liegt im hellen Licht, Spaziergänger nach beiden Richtungen bevölkern den Weg. Matthias erzählt von seinem Plan. »Irgend so ein hübscher kleiner Laden. Könnte ja auch in einer Kleinstadt sein. Ich denke, dass Werner mir das Geld geben würde. Oder halten Sie mich für verrückt, in meinem Alter noch solche Gedanken zu haben?«

»Hm«, meint Herr Hübner, »gerade bei Ihnen würde ich das nicht sagen. Sie sind durchaus der Mann, dem ich so etwas zutrauen würde. Aber – warten Sie noch ab, ich hätte vielleicht eine andere Idee.«

»Mich betreffend?«, fragt Matthias erstaunt.

»Sie betreffend. Ich habe mich gestern auf der Fahrt von Salzburg hierher schon damit beschäftigt. Nur so am Rande, denn ich dachte mir, ich kann Ihnen damit nicht kommen. Schwiegervater eines reichen Mannes, alles in bester Butter. Warum sollen Sie arbeiten? Wenn es natürlich nun so ist und wenn Sie mir mit solchen Plänen kommen – also, mein Lieber, dann hören Sie sich erst mal meinen Vorschlag an.«

Matthias ist maßlos gespannt. »Also los! Was ist es?«

»Ich habe Ihnen von meiner Tochter in Salzburg erzählt, nicht wahr? Sie hat vor fünf Jahren geheiratet, aus Liebe. Mein Schwiegersohn hat ein Sortiment in Salzburg, ein sehr hübsches Geschäft in guter Lage. Die beiden haben sich auf der Buchmesse kennengelernt. Meine Tochter wollte gar nicht Buchhändlerin werden. Sie half wohl mal im Laden mit, aber eigentlich hatte sie künstlerische Ambitionen. Sie wollte malen. Und sie hat auch wirklich ein hübsches Talent. Finde ich jedenfalls. Vielleicht bin ich bloß ein stolzer Vater. Sie besuchte eine Zeit lang die Kunstakademie in München, aber nachdem meine Frau gestorben war, kam sie dann wieder zu mir, kümmerte sich um mich, nun ja, wir verstehen uns recht gut.

Sie war noch sehr jung damals, sie ist ein bisschen zerfahren, ein bisserl schlampert würden es unsere österreichischen Freunde nennen. Eine Künstlerin halt. Und Sinn fürs Geschäft hat sie nicht im Geringsten. Kurz und gut, die beiden trafen sich in Frankfurt bei der Messe, wohin meine Tochter mich begleitet hatte. Da ist immer so ein Ball zum Abschluss und da ist es passiert. Meine Tochter ist ein sehr hübsches Mädchen. Finde ich nun wieder. Und mein späterer Schwiegersohn war ein so richtig charmanter, liebenswerter Österreicher. Es war Liebe auf den ersten Blick. Mein Gott, sie war damals neunzehn.

Ich sagte: ›Warte noch, es eilt ja nicht so. Ich denke, du willst Malerin werden. Wie wäre es, wenn du ein bisschen weiterstudiertest?‹«

Herr Hübner unterbricht sich und bleibt stehen. »Ich langweile Sie doch nicht mit meiner Familiengeschichte?«

»Aber keineswegs«, ruft Matthias. »Ich bin froh, dass endlich mal eine andere Familiengeschichte und nicht nur immer meine eigene zur Sprache kommt. Also wie ging’s weiter? Sie wollte natürlich nicht mehr auf die Kunstakademie?«

»Sehr richtig. Malen könne sie auch in Salzburg. Dort gebe es den besten Unterricht überhaupt. Na, was soll ich viel erzählen. Sie haben schon im Sommer darauf geheiratet. Und ich war meine Tochter los. Schließlich ist es meine einzige, da fällt einem das nicht so leicht. Aber jedenfalls war sie glücklich in dieser Ehe. Für meinen Geschmack kamen die Kinder ein wenig rasch. Drei sind es. Vier und drei Jahre, das Kleinste ist eben acht Monate alt, es wurde erst nach dem Tode meines Schwiegersohns geboren. Es war schlimm, sehr schlimm für meine Tochter.«

»Und was passierte mit Ihrem Schwiegersohn?«

»Es war ein Bergunfall. Er war leidenschaftlicher Skiläufer. Und auch meine Tochter hatte angefangen, große Touren zu machen, was mich immer sehr beunruhigte. Wie ich schon sagte, ist sie keine sehr besonnene und umsichtige Frau. Aber, wie Sie sehen, mein Schwiegersohn kannte sich in den Bergen aus und trotzdem – es passiert eben.

Es war eine Lawine. Meine Tochter war nicht dabei, denn sie erwartete ja damals wieder ein Kind. Nun, um es kurz zu machen: jetzt ist sie allein. Die Kinder, das Geschäft, sie hat gutes Personal, aber trotzdem, sie schafft es nicht. Ich fahre jeden Monat einmal nach Salzburg und sehe nach dem Rechten. Aber das hilft nicht viel. Und darum habe ich gestern im Zug an Sie gedacht.«

Jetzt bleibt Matthias mit einem Ruck stehen. »Sie haben an mich gedacht?«

»Ja. Ich dachte: Schade, der Wolff, dass der so warm und sicher da bei seinem Schwiegersohn sitzt und gar nicht nötig hat, einen Schritt zu viel zu tun – das wäre der richtige Mann, der könnte sich in Salzburg ansiedeln, hübsche Gegend, hübsche Stadt, sehr anregendes Pflaster, nette Leute, jedenfalls für meinen Geschmack, und da könnte der Wolff bei meiner Inge nach dem Rechten sehen. Man könnte ihn anstellen als Geschäftsführer, vielleicht wäre auch eine Beteiligung möglich, darüber müsste man reden, das ergäbe sich wohl auch mit der Zeit, man muss sich ja erst mal beschnuppern. Aber der Wolff hat selber Kinder und Enkelkinder, dem geht es gut, der hat so etwas gar nicht nötig. So ungefähr habe ich gedacht, gestern im Zug.«

»Menschenskind!«, sagt Matthias. Er steht, hebt den Blick hinauf zum blauen Himmel, lässt ihn über die Berge gleiten, atmet tief.

»Wissen Sie, was Sie mir damit antun? Das können Sie nicht wissen. Noch einmal eine Aufgabe haben! Arbeiten können und noch dazu in meinem Fach. Ahnen Sie überhaupt, was das bedeuten würde für mich?«

»Und Sie würden das tun? Wirklich?«

»Mit tausend Freuden. Ich wäre der glücklichste Mensch, wenn ich wieder etwas tun könnte!«

Da stehen sie mitten auf der Promenade, zwei alte Herren mit wintergeröteten Wangen und leuchtenden Augen, reichen sich die Hände, schütteln sie sich mit Nachdruck und haben soeben mit einem kurzen Gespräch die Weichen für Matthias’ zukünftiges Leben gestellt.

»Und was werden Ihre Kinder dazu sagen? Ricarda? Was soll sie ohne Sie tun?«

»Ricarda wird sich bald entscheiden müssen. Entweder sie heiratet Werner, dann habe ich dabei nichts verloren. Oder sie arbeitet, dann wohnt sie sowieso in der Klinik, dann würden wir uns trennen. Ich kann ihr auch nicht viel helfen. Sie muss nun endlich selbst mit ihrem Leben fertigwerden. Aber Ihre Tochter? Was wird die dazu sagen?«

»Inge? Die wird selig sein. Wir haben erst dieser Tage davon gesprochen, dass sie das Geschäft verkaufen muss. Sie tut’s nicht gern, es ist schon lange in der Familie ihres Mannes. Und man muss ja auch an die Kinder denken. Es wäre gut, wenn man ihnen den Besitz erhalten könnte. Mir ginge es auch gegen den Strich. Aber meinen Laden will ich auch nicht hergeben, das verstehen Sie sicher. Aber so wäre es die Ideallösung. Sie ziehen nach Salzburg, sie können bei meiner Tochter wohnen, da ist Platz genug im Haus. Sie können eine eigene Wohnung haben, ganz nach Belieben, und Sie übernehmen die Leitung des Geschäfts.«

»Es ist unvorstellbar!« Matthias’ Augen sind auf einmal so blau wie der Himmel. Er denkt an alles, was hinter ihm liegt. Die bitteren, die schweren Jahre. Demütigungen, Leid, Ausgestoßensein. Und nun doch noch einmal sesshaft werden, noch einmal eine Aufgabe, ein Heim zu haben. Wie lange noch? Wie viel Zeit bleibt ihm? Es ist gleichgültig. Wie viel Zeit auch immer, sie würde nicht leer sein. Wenn Anna-Maria das wüsste … Nun, vielleicht weiß sie es. Vielleicht ist gerade sie es gewesen, die ihm diesen Johannes Hübner über den Weg geschickt hat. Kann man das wissen? Gar nichts kann man wissen.

»So, und jetzt kehren wir um«, schlägt Herr Hübner vor. »Ich kriege langsam Hunger. Wo werden wir essen? Im Stiftskeller? In den Zipfer Stuben? Oder sind wir leichtsinnig, mieten wir uns ein Auto und fahren zum Grünen Baum? Auf jeden Fall versetzen wir heute die jungen Leute. Wir müssen das alles noch in Ruhe besprechen. Und einen guten Schoppen darauf trinken.«

Und damit wenden sich die beiden alten Herren und marschieren im Eilschritt Richtung Badgastein.

Alte Herren? Alt? Altsein ist in diesem Fall eine Fiktion. Solange ein Mensch eine Aufgabe zu erfüllen hat, solange er Pläne machen kann, ist er nicht alt. Siebzig Jahre? Lächerlich. Darauf pustet der Matthias Wolff. Thermalbäder, Wintersonne, Luxusleben – alles gut und schön. Aber was der Mensch vor allem haben muss, um jung zu bleiben: Er muss etwas zu tun haben.

Das wird er seinen beiden Mädchen jetzt einmal vorexerzieren. Sie können das von ihrem alten Vater lernen: Leben ist Tat.

Zur gleichen Stunde, in der das entscheidende Gespräch zwischen Matthias und Johannes Hübner stattfindet, liegt Ricarda oben auf der Bellevue-Alm in einem Liegestuhl in der Sonne. Allein. Sie ist selten allein in diesen Tagen. Darum genießt sie es doppelt. Sie braucht einfach einmal eine ruhige Stunde, um über alles nachzudenken. Die Tage sind so ausgefüllt, und immer Werners Nähe, die jeden vernünftigen Gedanken unmöglich macht. Es wird meist spät, bis sie zu Bett gehen, Werner will tanzen, will mit ihr in der Bar sitzen oder noch irgendwohin gehen, sie trinken viel, und dann ist Ricarda so müde, dass sie einschläft, kaum dass sie das Licht gelöscht hat.

Nicht nur die Luft, die Bäder und der Alkohol sind daran schuld, es ist, als fliehe sie davor, als wehre sich alles in ihr, zu einer Entscheidung zu kommen. Ja zu sagen zu Werner und seiner Liebe oder Nein zu sagen und damit diesen neuen, unverhofften Glanz aus ihrem Leben wieder zu entfernen.

Sie schläft allein. Werner, wenn er sie in der Nacht an ihre Zimmertür bringt, blickt sie fragend an, fasst die Klinke, drückt sie nieder und bleibt unter der geöffneten Tür stehen. »Du schickst mich wieder weg, Ricarda?«

»Bitte, Werner …«, sagt sie. Es ist keine alberne Ziererei, sie will sich nicht interessant oder kostbar machen, es ist der Rest, der geblieben ist, der Rest ihres Hasses, ihrer Bitterkeit.

Er ist zu mir gekommen, hat mich geliebt – oh, wie er mich geliebt hat, mit welchen Worten, welchen Küssen, welchen Zärtlichkeiten –, und zuvor, nur wenige Tage zuvor hat er meine Schwester in Breslau umarmt. Es ist lange, lange, lange her. Das sagt sie sich immer wieder. Aber sie hat es nicht vergessen. Charlott hat recht gehabt: Sie kann nicht verzeihen.

Er hat ihre Schwester geheiratet und sie hat nichts davon gewusst. Sie hat es durch die Mutter erfahren. Er hätte genauso gut sie, Ricarda, heiraten können. Dann hätte eben Lottel das uneheliche Kind bekommen, und sie hätte ihr Kind zu Hause in Ruhe zur Welt bringen können, keine Frühgeburt in einem polnischen Dorf, und das Kind wäre am Leben geblieben.

Es ist lange her, warum kann sie es nicht endlich vergessen? Sie ist hartherzig, nachtragend, sie kann nicht verzeihen.

Es wäre so leicht. Sie braucht ihn bloß nicht wegzuschicken jede Nacht. Er kann zu ihr kommen, er kann bei ihr bleiben. Denn er liebt sie, das sagt er und beweist es mit tausend Kleinigkeiten. Er wird sie heiraten. Und Charlott, ihre Schwester? Sie hat keinen Grund, Rücksicht zu nehmen.

Ricarda liegt in der Sonne. Es ist so warm, dass sie nicht nur die Pelzjacke, auch den Pullover ausgezogen hat. Sie hat nur die Bluse an, und manche, die neben ihr liegen – denn vor dem Almhaus stehen dicht bei dicht mehrere Reihen von Liegestühlen, jeder besetzt –, tragen sogar ausgeschnittene Oberteile, um möglichst braun zu werden. So warm ist es hier oben in der Sonne.

Ricarda richtet sich auf. Sie ist Sonnenbäder nicht gewöhnt, bekommt leicht Kopfschmerzen davon. Als sie die Augen öffnet, stürzt das Licht machtvoll in sie hinein. Die starke, ungezähmte Hochgebirgssonne, der weiße Schnee – sie muss die Sonnenbrille aufsetzen.

Sie ist gern hier oben. Vor einer Stunde ist sie heraufgefahren mit dem kleinen Sessellift, der dicht hinterm Hotel seine Talstation hat. Es entzückt sie immer wieder, das schwerelos lautlose Schweben den Berg hinauf. Oben steht ein kräftiger junger Mann, der sie mit einem fröhlichen »Grüß Gott«, in die Arme nimmt und auf den Boden stellt. Dann die paar Schritte bis zum Haus – was für ein bezauberndes Haus mit seinen dunklen Holzbalkonen, dem steinbeschwerten Dach, wie reizend eingerichtet innen, gemütlich, warm, Häuser, wie sie nur in den Bergen stehen. Sie blickt hinüber zum Graukogel, dessen Hang noch im Schatten liegt, zu den Tauern, weiß und mächtig und fern, so schön ist es hier – man muss einfach glücklich sein, wenn man das sieht.

Bin ich glücklich? Ich bin glücklich. Sehr glücklich. Jetzt wird Werner bald kommen. Er hat heute wieder einmal seine Skier mitgenommen, sie hat ihn dazu gedrängt.

»Du bist schließlich zum Skifahren hergekommen.«

»Macht mir keinen Spaß ohne dich. Warum willst du es nicht doch noch probieren? Wenn du doch früher schon gelaufen bist …«

»Nicht dieses Jahr. Du weißt doch, dass ich arbeiten muss in wenigen Tagen.«

»Ach was.« Er winkt ungeduldig ab. »Arbeitest du eben nicht. Komm, wir kaufen Skier für dich und ich gebe dir Unterricht.«

Sie schüttelt den Kopf.

Er gibt sich zufrieden. »Aber nächsten Winter, das weißt du ja. Dann geht es los. Ich mache eine großartige Skiläuferin aus dir.«

Nächsten Winter, du lieber Himmel!

Er wollte hinauffahren zum Stubnerkogel, die schnellste Abfahrt wählen, und sie solle ihn auf der Bellevue-Alm erwarten, so ist es abgemacht.

Also wird er nun wohl bald kommen.

Sie schiebt sich vorsichtig aus dem Liegestuhl, zieht den Pullover wieder über und quetscht sich durch die Reihen, verlässt die Veranda.

Unten, vor der Liegeterrasse, ist die Eisbar errichtet. Dort steht Herr Schuster, der Barkeeper aus dem Hotel, hantiert mit den bunten Flaschen und unterhält sich dabei mit seinen Gästen, die auf den hohen, rustikalen Hockern balancieren.

Er sieht sie gleich, ihm entgeht nichts. Er lacht ihr zu, sie geht langsam zur Bar und sagt »Grüß Gott« – das hat sie sich schon angewöhnt. Er sagt: »Küss die Hand, gnä’ Frau. Einen Drink gefällig? Hier hätt ich grad noch ein hübsches Platzerl für Sie.«

Sie klettert gehorsam auf den hohen Sitz, wirklich ein guter Platz, gleich an der Ecke, sie kann den Hang sehen, auf dem Werner herunterkommen wird.

Sie denkt: Er müsste längst hier sein. Vielleicht ist er gestürzt, hat sich ein Bein gebrochen. Man hört ja immer so viel von diesen Skiunfällen, außerdem kann man hier im Ort jede Menge Gipsbeine bewundern, die ungeniert und mit unvermindert guter Laune am Winterleben teilnehmen. Offenbar gehört es dazu, bei diesem Sport gelegentlich ein Gipsbein zu haben.

Wenn er sich ein Bein gebrochen hat, kann sie ihn pflegen. Der Gedanke erscheint ihr sehr verlockend. Gleich darauf muss sie über sich selbst lachen.

Werner bricht sich kein Bein. Er nicht.

»Gnä’ Frau?«, fragt Herr Schuster.

Sie blickt ihn zweifelnd an. »Vielleicht einen Campari?«

»Bitt’ schön, gnä’ Frau. Einen Campari.«

Mit größter Selbstverständlichkeit geht sie nun schon mit den Getränken der großen Welt um. Campari, Whisky, Martini, Kirsch zum Kaffee, einen Negroni vor dem Essen, nach dem Essen einen Kognak, zum Essen der Wein, einen leichten Weißen zum Fisch, einen kräftigen Weißen zum Fleisch, einen Roten zum Wild, abends in der Bar Champagner, und wenn sie den nicht mehr mag, einen Orangenflip. Das hat sie alles schnell gelernt. Sie weiß zum Beispiel, dass sie jetzt am Vormittag keinen Whisky hier bestellen darf. Das tut man eben nicht. Es ist gar nicht so schwer, man begreift das alles in Windeseile. Und gewöhnt sich sogar daran. Manchmal hat sie ihre Schwester bewundert in den vergangenen Monaten, wie die so leicht und selbstverständlich mit all diesen Requisiten des Wohlstandslebens hantiert. Nun, es ist wirklich nicht schwer. Was das betrifft – sie könnte Charlott sicher bald ersetzen. Ihre und Werners Gäste bekämen stets die richtigen Getränke, das passende Menü.

»Der Herr Gemahl macht heute eine Skitour?«, fragt Herr Schuster.

Unwillkürlich errötet sie. So wirkt das also. Es muss so wirken. Und zweifellos weiß Herr Schuster ganz genau, dass der Herr Gemahl nicht der Herr Gemahl ist. Was für ein Leben in dieser Welt, in die sie da geraten ist!

Sie nickt stumm und nippt an dem roten Getränk. Lässt sich Feuer geben für ihre Zigarette. Und schaut auf die Berge. Zu denken, dass man in Zukunft immer so leben könnte! Im Winter in den Bergen, im Sommer am Meer. Werner hat schon davon gesprochen, die Côte d’Azur, die Adria, Capri, Mallorca, Teneriffa, die belgische Küste, er kennt das alles, er will es ihr zeigen.

»Du wirst das alles sehen. Ich werde wieder Freude daran haben zu reisen, wenn ich es dir zeigen kann.«

Früher hatte er es Charlott gezeigt.

Was wird aus Lottel?

Sie denkt Lottel, ein wenig mitleidig, ein wenig zärtlich. Und sie denkt: Nein. Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Es wäre so billig. Erst ich, dann sie, dann wieder ich. Einer von uns bleibt immer zurück mit einem zerstörten Leben. Ich kann das nicht.

Gestern Nachmittag hat sie es gesagt. Sie sind vom ›Grünen Baum‹ aus mit einem Schlitten hinten in die Prossau gefahren, sie beide allein. Warm verpackt unter einer Decke, er hat unter der Decke ihren Handschuh heruntergezogen, ihre Hand fest mit seiner großen warmen Hand umschlossen, sie spürt seine Schulter an ihrer, die Pferde traben durch den Schnee, sie tragen Glöckchen, es klingt lustig durch die stille Landschaft, ihre Mähnen wehen im Lauf, es ist ein Brauner und ein Fuchs, trab, trab, trab, die breiten, dick vermummten Schultern des Mannes auf dem Bock stehen unbewegt vor den Bergen.

Werners andere Hand kommt unter der Decke hervor, er biegt ihr Gesicht zu sich herüber, er küsst sie auf die Nasenspitze. »Du hast ja eine kalte Nase, Liebling!« Dann küsst er sie auf den Mund. »Aber warme Lippen. Warme, süße Lippen, genau wie damals.«

Dann hat er davon gesprochen, wie es sein wird, wenn sie zurückkommen, was er alles gleich unternehmen wird. Die Scheidung wird in wenigen Wochen erledigt sein. »Im Sommer können wir heiraten. Und dann fahren wir weg. Vielleicht nach Korsika? Da bin ich noch nie gewesen. Da ist es schön, wild und warm. So wie du bist. Dort werden wir ganz allein sein.«

Und sie: »Ich kann es Charlott nicht antun.«

»Du tust Charlott nichts an. Ich bleibe sowieso nicht bei ihr. Wenn ihr nicht gekommen wärt, dann wären wir schon längst geschieden.«

Das weiß sie nun, er hat es oft genug gesagt. Und sie denkt, dass da doch eine Frau gewesen sein muss, eine Frau in seinem Leben. Wo ist diese Frau nun?

Sie hat gefragt und er hat geantwortet. »Keine Frau, mein Baby. Ich wollte auf jeden Fall von Charlott weg. Ich kann sie nicht mehr ertragen.«

Sybille? Sybille, die er geliebt hat, die zu ihm gepasst hat wie keine Frau zuvor, die er heiraten wollte – er hat sie schon vergessen. Er hat sie wirklich vergessen, ganz und gar.

Es müsste Ricarda zu denken geben, wenn sie es wüsste. Aber sie weiß es nicht. Charlott hat ja immer gesagt, er kann nicht lieben. Aber vielleicht tut sie ihm unrecht. Vielleicht ist es eben doch die eine, die er liebt, die zu ihm gehört, die er nicht vergisst, nur die eine – Ricarda.

»Noch einen Campari, gnä’ Frau?«

Noch einen Campari? Warum nicht? Sie nickt.

Und dann ist Werner plötzlich da. Mit einem eleganten Schwung landet er kurz vor der Bar, hat sie schon gesehen, winkt, lacht, löst die Ski von den Füßen, stakt sie in den Schnee und kommt zu ihr.

»Grüß dich, Bambina«, sagt er und denkt mit keiner Silbe daran, dass dieser Kosename noch vor wenigen Wochen einer anderen galt. Er tritt hinter sie, stemmt den Arm dicht neben sie auf die Bar, sie spürt seinen heißen, lebendigen Körper an ihrem Arm, an ihrer Schulter. Er bestellt ein Bier, denn er hat Durst bekommen von der Abfahrt, einen Schnaps dazu, damit dem Magen nicht zu kalt wird, dreht den Kopf ein wenig, küsst sie auf die Wange, lacht.

Die hübsche, blonde Frau, die ihnen gegenüber an der Bar sitzt, schaut interessiert herüber. Was für ein gut aussehender Mann! Auch Werner hat ihren Blick bemerkt, schickt gewohnheitsmäßig ein Lächeln hinüber, nette Frau, sagt sein Blick anerkennend, aber dann existiert nur noch Ricarda für ihn.

»Wie ist es dir ergangen, seit wir uns nicht gesehen haben?«

»Oh! Gut.«

»Wirklich? Ohne mich? Du liebst mich eben doch nicht.« Hat sie noch Zeit für Skrupel und Zweifel, wenn er in ihrer Nähe ist? Sind da noch böse Erinnerungen, Ressentiments, Bitterkeit? Wenn er da ist, verschwindet alles. Die Sonne ist heller, der Himmel blauer, der Schnee leuchtender.

»Wollen wir hier oben Mittag essen? Gulaschsuppe und Kaiserschmarren? Oder wollen wir runterfahren und vornehm speisen? Du kannst wählen, Baby. Übrigens kriegen wir Föhn, der Hüttenwirt hat es gesagt. Warmen Wind aus dem Süden. Da schmilzt der Schnee.«

»Jetzt mitten im Winter? Ein warmer Wind aus Süden?«

»Natürlich, das wird dir hier alles geboten. Und dann habe ich mir noch etwas Neues für dich ausgedacht. Wir fahren weg von hier.«

»Wir fahren weg?«

»Ja. Das kennst du nun doch hier gut genug. Und für die letzten Tage fahren wir hinüber nach Kitzbühel. Dort ist es auch sehr nett. Ich habe ja dort noch mein Zimmer im Hotel. Ein schönes Zimmer mit Bad, genauso hübsch wie hier. Ein Doppelzimmer. Dort will ich mit dir sein. Allein. Deinen lieben Papa lassen wir hier bei Herrn Hübner. Und nun sieh mich nicht so entsetzt an und sag nicht etwa nein. Nein gibt es nicht. Wir fahren morgen. Ich will dich jetzt ein paar Tage für mich allein haben, ganz und gar. Und denke nicht, dass du mir mit Ausflüchten kommen kannst. Jetzt nicht mehr.«

Er sagt das alles dicht vor ihrem Gesicht, leise, eindringlich, und sie weiß, dass sie nicht Nein sagen wird. Diesmal nicht. Es geht über ihre Kraft. Sie kann nicht mehr Nein sagen.

Doch. Sie kann Nein sagen, jetzt und hier, endgültig und entschieden, und das gilt dann für immer. Und wenn sie Ja sagt, wenn sie mitfährt, dann hat sie auch für immer Ja gesagt. Ricarda wendet den Kopf heftig zur Seite, löst sich aus seinem hypnotischen Blick, möchte sich die Ohren zuhalten, um seine Stimme nicht mehr zu hören, so ruhig, so überzeugend, so sicher seines Sieges.

Ihr Blick irrt über die Berge, sucht einen festen Punkt, sucht Hilfe, die von irgendwoher kommen könnte. Nichts. Sie kann nicht Nein sagen. Er hat recht. Jetzt nicht mehr.

Aber als sie hinunterkommen ins Hotel, ist ein Telegramm da von Fräulein Lessing, die als Einzige weiß, dass er hier ist und nicht in Kitzbühel.

Ein Telegramm, in dem mitgeteilt wird, dass Sven Laupholz tödlich verunglückt ist.

Sven Laupholz, seine Frau Eva und die beiden hübschen Töchter, sie waren einander so herzlich zugetan gewesen. Eine glückliche Familie. Ein Mann, für den es neben seiner Arbeit nichts auf der Welt gab als seine drei Mädchen, wie er Frau und Töchter zärtlich nannte. Doch in letzter Zeit war Unfriede in diese Familie gekommen. Schuld daran war Annelie und ihre törichte Liebe. Oder wie Sven gesagt hatte: Schuld daran war dieser hergelaufene Kerl.

Sven hatte erst kürzlich von dieser Verbindung erfahren und gleich sehr entschieden Nein gesagt. Was sollte das? Kam so ein Kerl daher, ein Nichts und Niemand, ein Mensch ohne ordentlichen Beruf und regelmäßiges Einkommen, ganz zu schweigen von Herkunft und gesellschaftlicher Geltung, und der wollte seine kostbare, liebreizende Annelie heiraten? Das kam überhaupt nicht infrage. Und da Sven ein Mann von heftigem Temperament war, kam es zu Krach und Szenen, ganz ungewohnt im Hause Laupholz.

Annelie reagierte mit Tränen, Trotz und wilden Verzweiflungsausbrüchen. Sven machte seiner Frau Vorwürfe. Sie hätte auf das Kind besser aufpassen müssen. Als er vollends erfuhr, dass die beiden ein Liebespaar waren, mit allen Konsequenzen, kannte sich Sven nicht mehr vor Zorn.

Das allerdings wusste er noch nicht am Abend des Presseballs, als er sich widerwillig bereit erklärt hatte, diesen unmöglichen Menschen kennenzulernen. Sonst hätte er ihn, wie er Frau und Tochter mitteilte, mit einer Ohrfeige empfangen.

Ja, so war Sven. Kein moderner Vater. Er hatte geradezu einen körperlichen Schmerz dabei empfunden, als ihm die schreckliche Tatsache bekannt geworden war. Seine Annelie, die süße, zarte Annelie, im Bett mit diesem Kerl. Das konnte doch nicht wahr sein!

Annelie selbst war es gewesen, die ihm in ihrer blinden Wut auch dies Letzte mitgeteilt hatte.

»Dass du es weißt, wir lieben uns! Und ich bin schon seine Frau, ob es dir passt oder nicht. Und ich bin glücklich darüber. Glücklich! Hörst du!«

Wer hätte so viel Temperament bei Annelie vermutet. Eva, die stumm vor Entsetzen dieser Szene beiwohnte, blickte voll Angst auf Vater und Tochter. Annelie, rot vor Zorn, mit blitzenden Augen, eine wilde Fremde, nicht mehr das sanfte, zärtliche Kind. Sven wurde bleich. Er starrte seine Tochter sprachlos an.

»Willst du damit sagen, du bist die Geliebte dieses … dieses …«

»Ja. Das will ich damit sagen. Schon lange. Und ich werde es bleiben. Für mich gibt es keinen anderen Mann auf der Welt. Für mich wird es nie einen anderen geben. Und ich werde ihn heiraten. Ich brauche deine Einwilligung nicht. Ich bin über einundzwanzig. Ich kann tun, was ich will.«

»Annelie!«, rief Eva voll Zorn nun auch. »Schämst du dich nicht? So mit deinem Vater zu sprechen. Nach allem, was er für dich getan hat.«

»Für mich getan? Was hat er denn für mich getan? Nicht mehr, als was jeder andere Vater schließlich für seine Tochter tut. Oder nicht? Wie eine Gefangene habe ich gelebt. Nie durfte ich allein etwas unternehmen. Damals, als ich mit Marion verreisen wollte …«

Und so weiter, und so weiter. Alles vermeintliche Unrecht, das ihr geschehen war, sprudelte Annelie heraus. Und dann, als letzten Trumpf: »Und Karin? Sie kann tun, was sie will. Sie wird von Mutti unterstützt. Und Vati hat keine Ahnung, was vorgeht. Oder weißt du vielleicht, dass sie seit Monaten in die Schauspielschule geht? Dass sie diesen Bohlandt liebt und wahrscheinlich seine Geliebte ist. Er ist verheiratet. Alexander nicht. Alexander liebt mich. Und er will mich heiraten, ob ihr nun wollt oder nicht.«

Das stimmte nicht ganz. Alexander, natürlich von den dramatischen Vorgängen im Hause Laupholz laufend unterrichtet, hatte liebevoll gesagt: »Chérie, das ist für mich schrecklich. Du musst dich mit deinem Vater vertragen. Ich könnte nie mit dir froh werden, wenn er uns böse ist.« So war Alexander, lieb und anständig und rücksichtsvoll. O ja, Annelie kannte ihn gut genug.

Der arme Sven! Eine Welt brach für ihn zusammen. Beide Töchter ihm entglitten, beide gegen ihn, und Eva, seine Frau, der er vertraut hatte, im Bunde mit ihnen und damit gegen ihn.

Als Eva endlich die schluchzende Annelie energisch aus dem Zimmer geschoben hatte, kam es zum Streit zwischen Sven und seiner Frau. Der erste ernsthafte Streit, den es je zwischen ihnen gegeben hatte.

Er warf ihr erbittert vor, sie hätte ihn hintergangen und verraten. Ein Vertrauensbruch sei das. Nie hätte er so etwas von ihr erwartet.

Evas Gewissen war nicht ganz rein, soweit es Karin und die Schauspielschule betraf. Das stimmte, in diesem Punkt hatte sie Sven hintergangen. Aber Karin hatte Talent, einer musste ihr helfen auf diesem Weg, den sie sich ausgesucht hatte.

»Warum schließlich soll sie keine Schauspielerin werden! Ich war auch eine Schauspielerin, und du hast mich geheiratet. Wenn du diesen Beruf so verachtest, dann hättest du mich genauso verachten müssen.«

»Und wenn ich dich nicht herausgeholt hätte aus diesem Theaterbetrieb? Herausgeholt, ehe es zu spät war? Hast du mir nicht selbst von diesem Kerl, diesem Regisseur erzählt, der dir nachstellte? Du warst todunglücklich, weißt du denn nicht mehr! Und du sagtest zu mir, wörtlich«, seine Stimme hob sich drohend, »wörtlich hast du zu mir gesagt: ›Das gehört nun mal zu diesem Beruf. Anders macht man keine Karriere.‹ Hast du das gesagt oder nicht?«

Hatte sie das gesagt? Schon möglich. Sven war ein junger Mann damals, sie hatte ihn anfangs gar nicht so ernst genommen. Wenn man es genau betrachtete, hatte sie sich ein bisschen wichtig gemacht, hatte angegeben, eine blutjunge Schauspielerin im ersten Engagement. Heute warf er ihr das nun vor, nach so vielen Jahren. Jetzt geriet Eva auch in Wut …

Eine Weile stritten sie erbittert, so töricht, so überflüssig. Dann weinte Eva, das tat ihm wieder leid. Karin kam nach Hause, es war Abend, wurde von ihrem Vater herbeizitiert, und nun kam sie also dran.

Sie nahm es verhältnismäßig ruhig auf. Die Stürme, die wegen ihrer Schwester seit einiger Zeit im Hause tobten, war sie schon gewohnt. Annelie hatte nun also gepetzt, das war zu erwarten gewesen.

»Hast du so wenig Vertrauen zu mir, dass du mich belügen musst?«, fragte Sven. »Konntest du mir nicht die Wahrheit sagen?«

Kühl sagte Karin: »Ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass ich Schauspielerin werden will. Du warst immer dagegen. Ich habe Zeit genug verloren. Es war höchste Zeit für mich anzufangen.«

»Und da hast du dich mit deiner Mutter gegen mich verbündet«, sagte Sven bitter.

»Schau, Paps«, meinte Karin, »du musst das nicht so tragisch nehmen. Mutti meinte, wir sollten dir Ärger und Aufregung ersparen. Ich sollte erst mal anfangen. Später wollten wir es dir sowieso sagen. Aber dann kamen deine Verhandlungen mit Herrn Bungert, da wollten wir erst mal abwarten, bis das vorbei ist. Wir haben es bloß gut gemeint.« Karin lächelte, ging zu ihrem Vater, schmiegte sich an ihn und rieb ihre Wange an seiner. »Wirklich! Sei doch nicht so eklig. Sieh mal, du wirst bestimmt stolz auf mich sein, wenn ich meine erste große Rolle spiele. Und dann bekomme ich von dir einen großen Blumenstrauß. Darauf freue ich mich.«

Das war schon besser. Sven schluckte. Karins Schauspielunterricht war ja auch nicht so schlimm, verglichen mit dem anderen. Nur etwas noch –

»Ist es wahr, dass du mit diesem abgetakelten Komödianten ein Verhältnis hast?«

»Wer sagt das?«, rief Karin empört.

»Deine Schwester ist der Meinung.«

»Annelie spinnt. Die soll sich um sich selber kümmern. Herr Bohlandt ist mein Lehrer. Ich verehre ihn, das ist wahr. Aber sonst – so was täte der nie.«

Sven zog die Brauen hoch. »Ehrenwort?«

»Ehrenwort, Paps.«

Er musste ihr glauben. Er wollte ihr ja so gern glauben. Wenigstens eine, die einigermaßen vernünftig war.

»Annelie werde ich eine schmieren«, versprach Karin. »So was zu behaupten. Sie ist viel zu dämlich, um mich zu begreifen. Die mit diesem albernen Burschen.«

»Ah!«, rief Sven laut, »du kennst also diesen blöden Kerl von Annelie?«

»Natürlich kenne ich ihn. Ich bin ja schuld an der ganzen Sache. An sich hatte er es auf mich abgesehen. Ich habe das Annelie auch gesagt, aber sie weiß ja alles besser. Mein Fall wäre der nicht. Schauspieler nennt sich der. Dabei hat er nicht mal ein Engagement. So ein bisschen Filmerei – was ist denn das schon.«

Sven hatte eine Verbündete – wunderbar! Karin musste ihm erzählen, wie sie Alexander Helten kennengelernt hatte, wie das damals gewesen war.

Sven lauschte befriedigt. Hatte er es doch gewusst! Was war dieser Kerl anders als ein Mitgiftjäger, einer, der ein reiches Mädchen heiraten wollte, weil er es selbst zu nichts gebracht hatte.

Die Schlacht ging weiter. Annelie gesellte sich wieder zu ihnen. »Du musst ihn erst mal kennenlernen«, schluchzte sie. »Er ist so lieb, so anständig. Du kannst doch nicht einfach einen Menschen verurteilen, den du gar nicht kennst.«

»Mir genügt, was ich von diesem Herrn gehört habe.«

»Du gemeines Biest!« Das ging von Annelie zu Karin. Karin hob die Schultern. Sie hatte ihre Meinung gesagt zu diesem Fall. Von ihr aus konnte Annelie diesen Alexander Helten heiraten, wenn sie partout wollte. Bohemienleben in Paris, das war Geschmacksache und außerdem veraltet. Karin wollte zwar Künstlerin werden, doch sie besaß einen sehr nüchternen, praktischen Sinn. Das Erbe ihres Vaters.

Abends weinte Sven im Bett. Eva, die eigentlich noch böse auf ihn war, war erschüttert. Sie nahm ihn in die Arme und tröstete ihn. Denn sie hatten, ganz altmodisch, noch ein gemeinsames Schlafzimmer. »Nimm es doch nicht so schwer«, sagte sie. Er tat ihr leid. Er war wie ein großes Kind. Und seine Liebe zu ihr und den Töchtern war so geartet, dass sie keinerlei Kompromisse vertrug.

»Dass du das unterstützt!«, murmelt er vorwurfsvoll.

»Ich unterstütze es ja nicht. Mir gefällt der Junge auch nicht. Ich habe ihn ja erst kennengelernt, als alles schon vorbei war. Und du siehst ja, wie Annelie sich aufführt. Man kann zurzeit nicht mit ihr reden. Sie ist wie von Sinnen.«

»Er gefällt dir also nicht?«

»Nein«, meint sie zögernd. »Nicht so richtig. Ich kann es auch nicht erklären. An sich benimmt er sich tadellos. Sehr höflich, sehr gute Manieren. Aber ich weiß nicht – ich habe so ein Gefühl, irgendetwas ist nicht echt an dem Burschen.«

»Talmi! Alles Talmi, ich sage es ja. Wo kommt er überhaupt her? Was weißt du von ihm?«

»So gut wie nichts. Nur das, was er erzählt. Beziehungsweise, was er Annelie erzählt hat.«

»Das stimmt sicher nicht.«

»Das Gefühl habe ich eben auch. Sicher ist es ungerecht.«

»Nein.« Sven war ruhiger geworden. »Ich vertraue deinem Gefühl. Du täuschst dich eigentlich nie in Menschen. Du hast einen sicheren Instinkt. Oder einen gesunden Verstand, wie du willst. Wie oft bin ich schon mit Leuten hereingefallen. Und immer warst du es, die mich vorher gewarnt hat. Die gesagt hat: ›Also mit dem würde ich mich nicht einlassen.‹ Und du hast immer recht gehabt.«

»Vielleicht nicht immer, aber oft. Übrigens ist er der Bruder von dieser Journalistin, dieser Sybille Helten, mit der Werner Fabian ein Verhältnis hatte.«

»Ja, das hast du mir neulich schon gesagt. Eine sehr rassige Person. Sie hat mal ein Interview mit mir gemacht, damals, als wir das neue Hochhaus bauten. Wegen ihr will Werner sich doch scheiden lassen.«

»Wollte! Ich glaube, es ist aus. Jedenfalls erzählte Annelie, dass sie weggeht von hier. Ins Ausland.«

»Dann soll sie ihren Bruder mitnehmen. Könnten wir nicht da ein bisschen nachhelfen?«

»Wie denn? Du kannst den jungen Menschen doch nicht einfach in den Zug setzen und abschieben.«

»Warum nicht? Geld hat er doch sicher nicht. Wir kaufen ihm eine Fahrkarte nach Paris, und ich sage ihm dazu, wenn er sich noch einmal blicken lässt, breche ich ihm sämtliche Knochen.«

Eva musste unwillkürlich lachen. »Sven, wir leben nicht mehr im Mittelalter. Und deine Tochter? So wie Annelie sich momentan benimmt, würde sie ihm umgehend nachfahren. Damit ist nichts gewonnen. Nein, ich denke, man sollte ihr so weit entgegenkommen, dass man ihr zusagt, die Sache in Ruhe zu betrachten, sagen wir, wie sie sich in einem halben Jahr ausnimmt. Wenn sie sich so sehr lieben, können sie auch noch so lange warten.«

»Und wenn … wenn sie …« Sven vermochte das Schreckliche nicht auszusprechen.

»Du meinst, wenn sie ein Kind bekommt?«, vollendete Eva den begonnenen Satz. »Das denke ich jeden Tag. Und wenn er so ist, wie du vermutest, wird er es darauf anlegen.«

»Zum Teufel!« Sven schlug die Decke zurück und sprang mit einem Satz aus dem Bett. »Und das sollen wir ruhig mit ansehen! Das soll ich in aller Ruhe abwarten, bis dieser Lump meine Tochter … das kann kein Mensch von mir erwarten. Lieber bringe ich den Kerl um …«

An Schlaf war in dieser Nacht nicht viel zu denken. Sie redeten und redeten, teils aufgeregt, teils vernünftig, und Sven war weit davon entfernt, ein gelassener, ruhiger Vater zu sein, der sich mit Tatsachen abfand, die er nicht ändern konnte.

Am nächsten Morgen musste er wegfahren. Er hatte einen Bau außerhalb und fuhr alle paar Tage mit dem Wagen dorthin. Annelie erschien nicht zum Frühstück. Sie sah ihren Vater nicht mehr. Denn von dieser Fahrt kehrte Sven nicht zurück.

Er fuhr immer sehr schnell, mochte Eva ihn auch beschwören, langsamer zu fahren. An diesem Tage geriet er auf ein tückisches Stück Glatteis, das auf einer sonst schneefreien Straße noch geblieben war. Der Wagen schleuderte, überschlug sich und prallte an einen Brückenpfeiler. Als man Sven herausholte, war er schon tot.

Der Tod von Sven Laupholz hinterließ bei Charlott eine tiefe Melancholie. – Da gab es mal eine glückliche Ehe, die einzige weit und breit, die sie kannte, und dann passierte so etwas. Immer hatte sie Eva um ihren Mann beneidet. Aber nun war es für Eva doppelt schwer.

Charlott war mit Werner bei der Beerdigung gewesen. Eine Menge Leute war da. Bekannte, Mitarbeiter, Freunde, Vertreter der Stadt und des Staates. Sven hatte viele Freunde gehabt, ehrliche Freunde, man wusste das. Er war ein liebenswerter Mensch gewesen und es gab viele, deren Trauer echt war. Auch Herr Bungert war da, obwohl es nun nicht mehr dazu gekommen war, dass Sven sein Teilhaber wurde.

Wie man Werner erzählte, stand der Vertrag, der Sven an die Firma Bungert und Co. gebunden hätte, kurz vor dem Abschluss.

Und dann war Professor Laupholz aus München gekommen, Svens Bruder. Charlott sah ihn bei diesem Anlass zum ersten Mal, wenn man die kurze Begegnung vor vielen Jahren in Breslau nicht in Betracht zog.