Das Familienalbum meines
lutherischen Vaters (1942–1949)
Vorwort
Auszug aus dem Familienalbum
[I.] Der Kindersche Geschwisterkreis
[II. Ernst und Lotte]
[III. Krieg]
[IV. Nachkriegszeit]
[V. Herkunft]
Nachwort
Wir Erben?
Aus dem Hinterhalt?
Das schnelle Verschwinden meines Vaters
Motive
Tendenzen
Die gespaltene Kirche? – Umerzählung
Einige Ergänzungen
Das Familienalbum
Anhang
I. Taufansprache (Auszug)
II. Aus der Gefangenschaft
III. Ernst Kinder, Schriften
IV. Gedichte im Kriege
Dank
Späte Entdeckung
»Wir müssen uns bücken und aufheben, was nicht vergessen werden darf: Es ist unsere Geschichte, die da verhandelt wird.« (Walter Kempowski, Echolot, Vorwort)
Wikipedia: »Ernst Kinder (* 11. Mai 1910 in Barmen; † 2. Dezember 1970 in Münster) war ein lutherischer Theologe. Ab 1935 war er Pfarrer in München, ab 1937 Sekretär des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands mit Sitz in Berlin. Nach Kriegsdienst und Gefangenschaft wurde er 1947 Professor für Systematische Theologie in Neuendettelsau an der Augustana-Hochschule und wirkte ab 1953 bis zu seinem Tode als Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und war dort Glied der altlutherischen Gemeinde.«
Das Familienalbum und viele handschriftliche Aufsätze und Notizen meines Vaters lagen nach dem Tod meiner Mutter jahrzehntelang unbeachtet bei mir, weil ich nicht wagte, die schwierig zu lesenden Texte in persönlicher Kurrentschrift zu entziffern. Wie sich die Handschriften und das Album erhalten haben, obwohl meine Eltern 1944 ihren gesamten Hausstand verloren, weiß ich nicht. Vermutlich bei Verwandten. Mein Vater muss wohl 1944 rechtzeitig dafür gesorgt haben, dass die Handschriften, das Album auf jeden Fall, den Krieg überleben konnten. Es ist eher unwahrscheinlich, dass meine Mutter auf der Flucht aus Thorn unter dem wenigen Lebensnotwendigen in dem Kinderwagen, in dem ich lag, diese Dinge mitgenommen hat. Die Aufzeichnungen, die meinem Vater offenbar so wichtig waren, kamen nach dem Tod meiner Mutter zu mir, weil sie sonst niemand haben wollte. Schriftlich, zumal kurrentschriftlich, Nachgelassenes erweckt weniger Erblust als eine Vase. Auch Fotos fliegen meist mit dem Tod ihrer Besitzer raus. Einmal bin ich eine Straße am See entlang gelaufen, hinter einem Müllauto her, das von einer Entrümpelung kam und aus dem immer wieder Fotos herausfielen. Ich sammelte sie auf als Fetzen im Müll entsorgter Lebensgeschichte – und warf sie doch wieder weg, mich beugend vor der enormen »Verschwindenskapazität« (Martin Walser), die des Lebens und der Dinge, die es wichtig zu machen scheinen.
Das Verschwinden wollte ich im Fall des Familienalbums verzögern. Zunächst wegen der Fotos um 1900, wegen des ästhetischen Reizes der Ahnen-Galerie. Die auf den nostalgisch gebräunten Fotos abgebildeten Vorfahren waren mir unbekannt. Die Atelier-Arrangements fand ich interessant, die protzigen Unterschriften der Fotografen, die geblümten Rahmen. Die sitzenden Damen mit weißen gebauschten Kleidern, Radhüten; die stehenden Herren in (geliehenem?) Frack und Zylinder; die Kinder-Puppen. Auf den späteren kleinformatigen Box-Fotos mit weißem Zackenrand habe ich dann mir bekannte Personen gefunden, vor allem Tanten, Onkel, die Eltern, die Brüder. Das Album war ein anschauliches Bilderbuch von historischen Differenzen der Moden und Präsentationen. Eine kleine fotographische Kulturgeschichte en famille.
Mein letzter Roman, »Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit« (2016), erzählt vom Leben meines zweitälteren Bruders und zitiert seine Tagebücher, die wiederum mein Vater aufgehoben hatte. Ich brauchte für die meist imaginierte Lebenserzählung Details aus der Kriegszeit. Also machte ich mich seufzend an die Transkription des Kurrent-Albums. Das Familienalbum wurde mir aber mehr als ein Steinbruch für Einzelheiten des Romans. Mein Wissen über unsere familiäre Vergangenheit hatte ich meist aus Erzählungen meiner Mutter beim abendlichen Schnaps, wobei sie besonders lebhaft von der bedrohlichen Odyssee der Flucht und den Mühen der Nachkriegszeit berichtete, einmal wohl, um den unbedarften Söhnen von ihren schlimmen Zeiten zu erzählen, die nur mein ältester Bruder bewußt miterlebt hatte. Zum andern auch, um mit den Söhnen gemeinsam den Kopf zu schütteln, nachzudenken über die Wandlungen der Zeiten. Mein Vater erzählte wenig. Ab und an Anekdoten aus seiner Kindheit in Bethel und aus dem Krieg, verhalten von seinen Verwundungen, mehr von lieben und kuriosen Kameraden. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er sich derart intensiv mit den Familiengeschichten beschäftigt hatte. Mit der Entzifferung seines Albums wurde ich in familiäre Schicksale verwickelt, die mir zugleich sehr deutsch erscheinen. Ich wurde mit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert, den Brutalitäten des Kriegs, mit dem Nationalsozialismus und den Mühen, nach dem Krieg ein postfaschistisches Leben im Frieden aufzubauen. Etappen, die ich teils miterlebt hatte, die aber alle mein Leben mitbestimmt haben dürften. Für mich, uns, die wir mit der Bundesrepublik groß geworden sind, hatten diese Zeiten die besondere Rolle, die sie für die Eltern-Generation gehabt hatten, längst eingebüßt. Die Achsen der Biographien der Kriegs- und Nachkriegskinder wurden die 1960er Jahre und dann die »Wende« mit ihren Folgen. Nun war ich genötigt, Fragen aufzugreifen, die früher an meine Generation gestellt worden waren und die sie sich insgeheim selber stellte: Wie mental, emotional geprägt sind wir durch das, was unsere Eltern taten und dachten?
Je weiter ich mit der Transkribierung fortschritt, umso mehr wurde mein familiäres Selbstbild ruiniert. Mein Vater und seine Geschwister, die Großeltern, die ich nicht gekannt hatte, wurden mir so fremd, wie sie in den Sedimenten meines Gedächtnisses seit den 1950er Jahren nie gewesen waren. Das Bild meines Vaters, das nun in mir entstand, löste sich in Widersprüchen auf: ein in kontroversen Traditionen von Mutter und Vater Aufgewachsener. Ein von der fundamentalen, existentialistischen »Erweckungsbewegung« Bodelschwinghs und Bethels Ergriffener, der zugleich die Nähe zum Nationalsozialismus keineswegs gescheut hatte. Ein Hochfrommer und Staatsgläubiger. Ein tapferer Mann in den Fürchterlichkeiten des Krieges; ein fürsorglicher Kompaniechef, dem offenbar das Erlebnis der Kameradschaft ein entscheidender Faktor zum Durchhalten des Krieges und ein Gewinn von Männersolidarität war – wie bei so vielen. Einer, dem Karrieren im Militär und in der Kirche nicht gleichgültig waren. Ein Russen-Feind. Ein Patriarch, der, nachdem sein älterer Bruder gefallen war, sich zunehmend als Mentor eines verschworenen »Geschwisterkreises« empfand. Einer, der im »irdischen Jammertal« zu bedenklichem Gutreden neigte. Ein strenger Lutheraner, der sich auf Zeitfragen, moralischen Humanismus nicht einlassen wollte.
Das Familienalbum legte mein Vater um 1945 an – in einer Zeit voller Sorgen ums Überleben. Feste Antworten auf die Frage: Warum ein solches Familienalbum zu dieser Zeit? habe ich nicht. Am ehesten: Es ist wohl eine Weise des seelischen Selbsterhaltes im unübersehbaren Untergang. Befremdet bin ich von der Art der Chronik, in der das Album verfasst ist. Zur Gattung der Chronik gehört das genealogische Aufzählen, nicht das die Subjektivität zur Geltung bringende Erzählen. Ist die Wahl einer aseptischen, apolitischen Chronologie – ausgerechnet um 1945 – ein Weg, um sich zu entziehen, um nichts schreiben zu wollen oder zu müssen über Faschismus, Kriegsverbrechen, Völkermord, Nationalismus? Befremdet stehe ich vor einem Familienalbum, das keine Empathie für Menschen außerhalb des eigenen Familienkreises zu haben scheint.
Das trifft aber für meinen Vater nicht generell zu. Es liegt an der Wahl der Gattung Chronik und an der Funktion, die ihr mein Vater gegeben hat. Darüber spekuliere ich in den Abschnitten »Motive« und »Tendenzen« des Nachworts. Mein Vater neigte zu angenehmer Sentimentaliät und Herzlichkeit – sofern er sich nicht in seiner Arbeit gehindert, gestört und zu sehr in Anspruch genommen sah. Ich habe deshalb im Anhang Gedichte Ernst Kinders wiedergegeben, in denen eine viel komplexere, subjektive, kriegsängstliche, bangende Sicht hervortritt. In dieser Gattung schien ihm unbedenklich, was er im Familienalbum als offiziöse Selbstdarstellung nicht zuließ. Von Bekannten meines Alters wurde mir hie und da berichtet, dass ihre Väter auch solche Gedichte im Kriege verfasst haben.
Das Anlegen dieses Familienalbums ausgerechnet um 1945 hat wohl etwas mit der Empfindung der »großen Katastrophe« zu tun, wie sie schon im Titelblatt genannt wird. Die »Katastrophe« steht im Zentrum der weitaus meisten Deutschen am Kriegsende; nicht Judenmord, nicht Kriegsschuld, nicht die Verbrecher, denen die Mehrheit der Deutschen folgte. Darin ist das Album repräsentativ. »Katastrophe« ist auch im Familienalbum ein häufiges Stichwort. Nicholas Stargardt hat in seinen Untersuchungen zur Einschätzung des Krieges und seiner Folgen in der deutschen Bevölkerung gezeigt, dass ein großer Teil von ihr den Krieg als Abwehr eines Angriffes (Präventivkrieg) verstand und das Ende als eine (unverschuldete) »Naturkatastrophe« empfand, was auch konservative Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit unterstrich. (Nicholas Stargardt, Der deutsche Krieg 1939–1945, 2015.)
Ist man mit Faschismus und Krieg beschäftigt, stellt sich üblicherweise die Frage: Wie hätte ich mich verhalten? Die Antwort fällt in aller Regel nicht schmeichelhaft aus, bleibt aber wegen der »Gnade der späten Geburt« (Helmut Kohl) virtuell. Bedrängender sind Fragen, die sich aus einem ehrwürdigen Zitat Goethes (»Faust« I) ergeben: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu besitzen.« Was für ein stolzer Traditionalismus, welch Vertrauen in das gute Erbe der »Väter«. Tempi passati. Im Fall des Familienalbums trifft die Maxime für mich zu. Aber sonst: Was habe ich und wie wirklich ererbt? Ist es unausweichlich? Kann ich es ausschlagen? Wie kann ich gleichwohl den Vätern und Müttern gerecht werden? Muß ich es? Große Fragen - kleine Details: Ich und andere machen immer noch einen Diener beim Grüßen, nachdem wir die Hände aus den Hosentaschen gezogen haben. Die Hacken schlagen wir nicht zusammen, aber wir reden noch immer nicht mit vollem Munde. Wir wundern uns über »Helikopter-Eltern« und ihre Prinzessinnen und Prinzen, wir, die wir still zu sein hatten, wenn Erwachsene redeten. Ich meine, dass die Erfahrung von Alterität, Wandel zwischen den Generationen, aber auch innerhalb der eigenen Generation, des eigenen Lebenslaufes, der mit jeder Stufe des Erwachsenwerdens historisch wird, unerlässlich ist für die gebotene Einsicht in die Zeitlichkeit des Daseins. Konkreter: die Erfahrung in Wort und Bild, wie es einmal in Deutschland zuging, und was sich verändert hat (oder auch nicht).
Wegen des Dilemmas, in das mich die Widersprüche meines Vaters bzw. das widersprüchliche Bild meines Vaters, das ich mir von ihm mache, gebracht haben, konnte kein Vaterbuch als subjektive Abrechnung mit dem Vater entstehen, wie sie für meine Generation die Söhne Bernward Vesper (»Die Reise«, 1977), Siegfried Gauch (»Vaterspuren«, 1979), Niklas Frank (»Der Vater«, 1987/2014), Peter Henisch (»Die kleine Figur meines Vaters«, 1975, in moderatem Ton) schrieben, auch kein die eigene Biographie durchforschendes »Suchbild« (Christoph Meckel, 1980). Angesichts dessen, was ich durch das Familienalbum erfahren habe, konnte es aber auch keine bruchlos »Nachgetragene Liebe« (Peter Härtling, 1980) werden. Ich erinnere mich an glückliches Zusammensein mit meinem Vater, an quälende Auseinandersetzungen mit ihm. Ich habe Respekt vor seinem durch die Umstände erzwungenes, geplagtes Leben und vor der Kraft, mit der er es bestand. Ich vergesse nicht die militärchirurgische Kreuznarbe in seinem Nacken, nachdem ein Granatsplitter entfernt wurde; andere wanderten weiter durch seinen Körper. Ich bedaure seinen frühen Tod. Doch mit der Abschrift des Albums und anderer Manuskripte erfuhr ich von Überzeugungen meines Vaters, die ich nicht teilen kann.
(Vermutlich ist die Lektüre der weitgehend chronologischen Dokumentation zunächst sperrig; wird es etwas Geduld brauchen, bis sich Geschichten im Kopf bilden. Dies zu erleichtern, habe ich kurze Zusammenfassungen vorangestellt.)
[Ergänzungen stehen in eckigen Klammern]
[Inhaltserläuterungen in eckigen Klammern, kursiv]
Familien-Album
der Familie Ernst und Lotte Kinder
enthaltend:
a. die Vorfahren,
b. den Geschwisterkreis,
c. die eigene Familie.
Angelegt von Ernst Kinder, sen.,
an Weihnachten 1940 Berlin
1. Fortsetzung: Januar 1942, Berlin;
2. Fortsetzung: Juni 1942, Berlin;
3. Fortsetzung: Juni 1943, Berlin;
4. Fortsetzung: Januar 1947,
München, nach der großen Katastrophe;
[5. Fortsetzung: Sommer 1948, Heilsbronn;]
[6. Fortsetzung: 1949, Neuendettelsau;]
[7. Einträge Sechziger Jahre.]
[Kindheit auf dem Land an der Peripherie Bethels. Der strenge Vater und Diakon. Ausbildungsgänge der Geschwister – zielstrebige Söhne, unsichere Töchter. Abstieg der Witwe. Tod des Lieblingsbruders. Frömmigkeit und Nationalsozialismus. Ein armer Student der Theologie, der Professor werden will. Konflikt zwischen SA und theologischer Karriere. Ernst bekennt sich im »Kirchenkampf« gegen die Deutschen Christen (»waren eine rassistische, antisemitische und am Führerprinzip orientierte Strömung im deutschen Protestantismus, die diesen von 1932 bis 1945 an die Ideologie des Nationalsozialismus angleichen wollte.« (Wikipedia)). Ende der Uni-Karriere.]
Nach Werden a. d. Ruhr übernahmen die Eltern die Erziehungsanstalt bei Neumünster. Dort wurde am 2. November 1913 meine Schwester Emmy geboren. Im Juli 1914 übernahmen unsere Eltern die neugegründete Arbeiterkolonie »Schillingshof« in der Senne bei Bielefeld. Der Schillingshof wurde unsere eigentliche, erste Kinderheimat. Ziemlich abgelegen von der Welt, im Großen und Ganzen nur auf uns selber angewiesen, wuchsen wir hier in wunderbarer Freiheit in den Gebäuden, Scheunen, Ställen, Wiesen, Feldern und Wäldern auf, die zu diesem großen Anstalts-Gutshof gehörten, die wir als unser Feld und Eigentum ansahen. Wenig Kindern ist eine derartige Kinderheimat vergönnt gewesen wie uns. Unsere »Aufsichtsbanden« waren die gefürchteten Dienstmädchen, unser onkelhafter oder kameradschaftlicher Umgang waren die Insassen des Schillingshofes, während des Weltkrieges epileptische Kranke, nachher »Brüder von der Landstraße«. Wegen einer Magenkrankheit wurde unser Vater nicht Soldat. Er hat aber in der mühevollen Arbeit während der hier schweren Kriegsjahre seine besten Kräfte verbraucht. So stark er nach außen hin aussah und auch war, so schwer war doch schon 1917 sein inneres Leiden. Am 14. Januar 1934 starb unser Vater an den Folgen einer Darmoperation. Wir mußten den Schillingshof verlassen und siedelten nach Eckardtsheim, der Filialanstalt von Bethel in der Senne um. Hier verlebten wir mitten in den Anstaltsgemeinden, nun mit mancherlei Gefährten, unsere Jugend nach der Kindheit.
Die älteste Schwester Hedwig, geb. 8.9.1907, blieb nach achtjährigem Besuch der Volksschule daheim im Haushalt, besuchte darauf eine Nähschule in Bethel, war auch eine Zeit lang Haustochter und wurde dann Krankenpflegeschülerin am Paul-Gerhardt-Stift in Berlin und nach dem Examen freie Schwester am Krankenhaus in Cottbus. Mein ältester Bruder Karl-Theodor, geb. 1.12.1908, kam nach vierjährigem Besuch der Volksschule auf die Oberrealschule in Bielefeld. 1929 machte ich mit ihm zusammen das Abitur an der Oberrealschule in Bielefeld. Mein jüngerer Bruder, Hans Kinder, (* 24.7.1912), war als Kind mein eigentlicher Spielgefährte. Selten wohl haben Kinder so oft und ausgiebig spielen können, wie er. Er war sehr dick, gutherzig, voll starken Temperaments und hatte ein großes, weiches Kinderherz. Mit dem Lernen haperte es schwer, so erlernte er nach achtjährigem Besuch [der Schule] das Gärtnerhandwerk. Emmy (* 2.11.13) und Elisabeth (* 28.7.15) waren trotz ihrer verschiedenen Art die unzertrennlichen »beiden Kleinen«, und Hermann (* 9.8.20) der liebe, etwas umhegte Jüngste.
Hedwig Kinder verheiratete sich mit dem Kaufmann Hans Mancke aus einer westpreußischen Gutsbesitzerfamilie. Sie zogen nach Erdmannsdorf im Riesengebirge, wo Hans in einer Weberei kaufmännisch tätig war. Etwa 1936 siedelten sie nach Frankfurt/M. über. Von jetzt ab war Hans Mahncke leitend im Flachsbau und in der Flachsverwertung tätig. 1938 kam er als Betriebsleiter nach Steutz bei Zerbst, 1939 nach Lauenburg i. Pommern und 1940 nach Thorn, wo er in dem neugewonnenen Warthegau in der Organisation des Flachsbaus tätig ist. So gern er Soldat war und auch im Anfang des Polenfeldzuges 1939 eingezogen war, wurde er doch wegen der Wichtigkeit seiner Arbeit reklamiert.
Karl-Theodor, mein ältester Bruder und Schulgenosse, hatte eine kräftige, sportliche und musikalische Natur. Nach dem Abitur 1929 studierte er, dem die Wissenschaften an sich nicht so lagen, an der Pädagogischen Akademie in Hannover zwei Jahre und setzte somit die Schulmeister-Tradition unserer Familie fort. Schon früh gewann er aus der »Eckhardtsheimer Jugend« seine Weggenossin, Lilli Becker. 1931 war Karl-Theodor Hilfslehrer im Städtchen Werther i. Westf. geworden. 1933 wurde er auf zwei Jahre Leiter von Landjahrlagern in Ostlutter i. Harz und in Schloß Natzungen bei Warburg i. Westf. Öfter waren wir Geschwister dort bei dem jungen Ehepaar in dem alten Schlosse fröhlich zu Gast. Im Frühjahr 1936 siedelten Karl-Theodor und Lilli Kinder nach Hörste bei Halle in Westf. über, wo er eine Lehrerstelle bekam. Oft besuchten wir sie dort und beneideten sie fast ein wenig um ihr Leben auf dem Lande. Karl Theodor war in Hörste neben seinem Schulamt eifrig in der Partei, Hitlerjugend, Gesangs- und Turnverein tätig. Als im Dezember 1939 der Polenkrieg ausbrach, wurde Karl-Theodor Soldat, kam im Winter 1939 nach Danzig, und von dort aus im April 1940 nach Norwegen, wo unterwegs, bei der Überfahrt über den Skagerrak, sein Transportschiff torpediert wurde und sank, und er elfeinhalb Stunden lang auf dem kalten Meer herumtrieb, bis er gerettet wurde. Zum Einsatz kam er dann in Norwegen nicht mehr. Er liegt noch bis jetzt zur Besatzung dort. Auch nach einem Jahr, Januar 1942, lag Karl-Theodor Kinder, jetzt Leutnant geworden, immer noch in Norwegen zur Küstenwacht.