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Impressum
Alan Schweingruber
Simona
Roman
© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2018
Alle Rechte vorbehalten
Konzept Design
Gottschalk+Ash Int’l
Satz
Publikations Atelier, Dreieich
Umschlaggestaltung
Julia Borgwardt, borgwardt design
unter Verwendung eines Motivs von
© Werner Stauffacher
Foto Alan Schweingruber
© Matthias Gerber
Erste Auflage 2018
ISBN 978-3-86337-143-2
alanschweingruber.ch
weissbooks.com
Roman
Simona
Für meinen Sohn Luis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
»Was willst du mit einer Schwermütigen?«
»Ich hätte nicht das Wort ›schwermütig‹ benutzen sollen. Sie war wohl müde oder in Gedanken versunken. Auch ich bin voller Gedanken.«
»Dieser Blick.«
»Sag ich ja.«
»Fürs Bett?«
»Keine Bettgeschichten.«
Das vergilbte Cover von Breakfast in America beendete seinen inneren Dialog. Er zog die LP aus der Kiste, drehte sie, las 1979, las die Namen der Tracks, den des kalifornischen Studios, prüfte den Zustand des Vinyls und fragte: »Wie viel?«
Der Schwarzafrikaner grinste hinter seinem Stand, dachte nach und sagte: »Gib mir vier Euro, dann ist gut.«
»Zwei!«
»Drei!«
»Zwei fünfzig!«
»Drei!«
Antoine holte vier Euro aus der Hosentasche und sagte: »Schon gut. Lass dich nicht übers Ohr hauen von den Spießern hier.«
Der Afrikaner öffnete seine Hand für die beiden Geldstücke und lächelte.
Antoine kam an alten schweren Kleidern vorbei, aß eine Teigtasche mit Fleisch, blieb bei einer Armee aus Zinnsoldaten stehen, ging weiter, kaufte sich eine Flasche Bier und eine Packung Gitanes Blondes und verließ den Markt schlendernd und in die Sonne blinzelnd.
Würde sie Supertramp mögen?
Zu Hause rasierte er sich. Auf dem Spiegel sah er die eingetrockneten Zahnpastaspritzer. Dann setzte er sich ans offene Fenster und rauchte. Woher kam sie? Warum dieses Dorf? Er versuchte sich zu erinnern, wie Norwegen war, wie München, wie Wien, wie Rom. Womöglich war sie ohnehin bereits wieder verschwunden aus dem Dorf. Er legte Breakfast in America auf, kochte sich einen Kaffee und wählte die Nummer seiner Mutter. Ja, sagte er, von sechs bis Mitternacht. Nein, antwortete er, dafür reiche die Zeit nicht. Aber sie solle ihn doch an der Strandbar besuchen kommen. Ach, machte sie wie meistens. Das würde sie gern. Aber Vater werde gleich nach Hause kommen vom Schwimmen, und sie habe bereits gekocht, und später würden gar die Baudins noch zu einer Partie Rommé vorbeikommen. Dann sagte die Mutter seinen Namen und machte eine Pause. Wenn die Sätze so anfingen, war ihr Herz schwer. Antoine, sagte sie also, er solle doch heute in Nizza nächtigen, bei ihnen, sie würden vom Wolfsbarsch übrig lassen, der lange blaue Teller im Kühlschrank, ganz unten, er wisse schon, und Antoine sagte: »Mama, ich liebe euch. Und wenn ich komme, dann nicht wegen des Wolfsbarschs. Aber heute geht’s nicht. Wir gehen aus. Es wird zu spät.«
Kurz vor Nizza stauten sich die Autos. Es war heiß, die Luft flimmerte über der Straße. In Antoines Mundwinkel lag ein Zahnstocher, weil er mit sich ausgemacht hatte, bis sechs Uhr abends maximal fünf Zigaretten zu rauchen. Es war halb sechs, die letzte hatte er um drei geraucht. Jemand hatte ihm gesagt, er würde weniger rauchen, wenn er die Zigaretten selbst drehen würde. Doch Antoine hatte Gefallen gefunden am Drehen, und als seine Freunde sahen, wie geschickt er mit dem Tabak umging, wie er ihn rollte, drückte, formte und das Papier befeuchtete, da fanden auch sie Gefallen an seinen Zigaretten. Fortan war Antoine immer und überall für alle am Zigarettendrehen, und immer rauchte er dabei. Danach war er wieder auf die Schachtel umgestiegen, fünf Stück bis sechs.
Ein Mann mit Schnurrbart hupte und streckte einer älteren Lenkerin den Mittelfinger entgegen. Antoine führte die Zungenspitze an den Zahnstocher und transportierte das kleine Holzstück zum anderen Mundwinkel.
Der Sand unter seinen Füßen war das Schönste an dem Job. Er holte im Restaurant saubere Gläser und stellte sie ins Regal hinter der Strandbar. Dann schüttete er einen riesigen Sack Eiswürfel in die blaue Wanne, goss frisches Wasser ein und legte vierzig Bierflaschen hinein.
»Soll ja wieder so voll werden heute«, sagte einer und reichte Antoine die Kerzen und die Aschenbecher.
»Dann erst macht es doch Spaß.«
»Ich drehe durch bei den vielen Touristen.«
»Haben wir Supertramp hier?«, fragte Antoine.
»Supertramp? Die Band aus den Siebzigern? Nein.«
Er verschwand.
Antoine öffnete einen Karton mit bunten Strohhalmen, schnitt Limetten, Zitronen und Orangen, stellte einen Eimer Wasser bereit, überprüfte die Likör- und Schnapsflaschen und zündeten die fünf Kerzen auf der Bar an.
»Ist schon acht?«, fragte er.
Und da niemand antwortete, weil sich niemand in seiner Nähe aufhielt, verschwand seine Hand im Rucksack und kehrte mit einer quadratischen weißen Schachtel zurück.
Im Loft duschte er lauwarm und trank dazu ein eiskaltes Bier. Das Wasser verfärbte sich grau, dann schwarz, verlor langsam wieder an Farbe, wurde zum Schluss hellbraun und dann ganz klar. Er drehte den Wasserhahn zu und trank die Flasche leer. Die Wunde am Knie brannte.
Sie hatten zum Schluss barfuß getanzt im Velvet, Antoine war hingefallen und hatte sich leicht am Knie verletzt. Später am Strand, als die Sonne aufging, lachten alle über den Vorfall. Sie tranken warmen Martini aus der Flasche, und Rémy Chevalier ging nackt baden.
Am Boulevard joggten gut betuchte Frühaufsteher in pastellfarbener Trainingskleidung. In einer Seitenstraße beim Bahnhof war Sonntagsmarkt. Man bekam dort Obst, Gemüse, Käse, Fleisch, Fisch und Blumen. Sie saßen eine Straße weiter im Café des Amis, und Chevalier schmierte sich so viel Himbeermarmelade auf sein Croissant, dass Antoine sich gezwungen fühlte zu fragen, warum er nicht dicker sei. Chevalier schluckte und sagte, es sei an der Zeit, dass Antoine sich wieder verlieben würde. Wie viele Jahre das nun her sei mit Claire? Antoine streckte alle Finger der rechten Hand.
»Die Frau mit den kurzen Haaren, wer war das?«, fragte Chevalier.
»Welche Frau?«
»Die im Restaurant gestern Nacht.«
»Ich kenne sie kaum.«
Sie zahlten und gingen ein Stück. Es roch nach Abgasen, Benzin und frischem Gebäck. Auf den öffentlichen Abfalleimern stand: Nizza, la ville propre. Sie besorgten sich in einem Tankstellenshop zwei Flaschen Mineralwasser, und als sie vor Chevaliers Haustür standen, sagte er: »Muss wohl so sein.«
»Was muss wie sein?«
»Dass deine Neue ausgerechnet aus der Schweiz kommt.«
Antoine gähnte. »Sie ist nicht meine Neue.«
»Willst du hier schlafen?«
Das weiche Sofa, der Straßenlärm, die hereinströmende heiße Luft: Irgendwann ergab sich Antoine seinem leidenden Körper. Er stand auf, trank einen halben Liter Wasser, machte ein paar Rumpfbeugen und ging die Treppe runter auf die Straße. Das sah ja immer so cool aus, nach Rockstar oder James Dean, wenn er sich müde und verschwitzt eine Gitanes Blondes ansteckte vor der Haustür. In den Sechzigern rauchten die Leute im Gerichtssaal, in den Siebzigern im Kino, in den Achtzigern auf den hinteren Plätzen im Flugzeug, in den Neunzigern in einzelnen Restaurants, im neuen Jahrtausend in exklusiven Bars. Er tastete hinten und vorne seine Hose ab, fand die quadratische weiße Schachtel, sie war leer.
Die Tage war viel los im Bistro Lollipop. Ein Reiseunternehmen aus Aix-en-Provence hatte das unbekannte Dorf seltsamerweise in die Tour aufgenommen, und fortan machte ein Touristenbus drei bis vier Mal die Woche Halt am Ortseingang. Von dort aus waren es ein paar Gehminuten zum Lokal. Überall tauchten Deutsche, Niederländer, Belgier, Italiener und Engländer auf. Die Alten im Dorf fanden es eine Plage, die Jungen waren neugierig. Und Antoine musste sich jeden Tag mit Briten ablichten lassen: »You look like bloody Eric Cantona in the nineties!«
Eines Nachmittags bereitete Antoine für eine Männergruppe aus Birmingham elf Biere zu, als sein Handy surrte. Es war Rémy Chevalier. Schlechter Zeitpunkt, sagte Antoine. Er solle kurz zuhören, sagte Chevalier. Doch die Engländer johlten und winkten, und Antoine legte auf. Während er die Biere zum Tisch brachte, betraten fünf Belgierinnen das Lokal. Sie bestellten einheitlich das, was Antoine auf der Tafel draußen angepriesen hatte: Die besten Caipirinhas Südfrankreichs! Er wusch also fünf Limetten, schnitt sie in zehn Teile, verteilte die Limettenstücke in die Gläser und drückte mit einem Muddler den Saft heraus. Er gab überall viel Zucker dazu, holte Eis, wickelte dieses in ein Küchentuch und schlug den Knäuel mehrmals gegen die Thekenkante. Damit füllte er die Gläser und vermischte alles mit einem langen Löffel. Die Caipirinhas servierte er mit bunten Schirmchen und Strohhalmen.
Chevalier sagte am Telefon, er habe die alten Aufnahmen wiedergefunden. Antoine wusste sofort, welche Aufnahmen er meinte. Einen Moment lang blieb es still. Dann sagte Antoine: »Ich weiß nicht, ob ich mir das anhören möchte. Was ist denn drauf?« Chevalier antwortete nicht. Beide wussten, was drauf war. Es hätte ihm keine Ruhe gelassen. Er wäre irgendwann zu Chevalier nach Nizza gefahren. Warum also nicht heute?
Der Spätsommer war rau gewesen für südfranzösische Verhältnisse. In Nizza blies ein frischer Wind, es regnete, die Strände waren menschenleer. Claire und Antoine hatten Chevalier und dessen Frau Zoé auf den Balkon bei sich zu Hause eingeladen. »Heute zeichnen wir alles auf!«, rief Claire und hielt ein Diktiergerät in die Luft. »Jemand was dagegen?« Es war eine Flause von Claire, gemeinsame Abende aufzuzeichnen. Claire hatte immer Flausen.
»Läuft das Band schon?«, rief Chevalier vom Balkon aus in die Küche. Er hatte über Zoés Katze gelästert. »Die pisst ständig auf meine frisch gewaschenen T-Shirts«, flüsterte er. »Früher hätte man die Viecher in einen Sack gesteckt, den mit Steinen beschwert und im See versenkt.« Er lachte. »Aber das mache ich natürlich nicht.«
Es knisterte. Jemand hatte das Diktiergerät in die Hand genommen. »Pause-Taste drücken gilt nicht!«, rief Claire. Sie war mit einer Flasche Olivenöl in der Balkontür gestanden und hatte mahnend den Zeigefinger gehoben.
Typische Geste von Claire, dachte Antoine und verließ die Autobahn bei Nizza-Saint-Augustin. Er würde sich die Aufnahmen alleine anhören. Er würde das Diktiergerät bei Chevalier abholen, Batterien kaufen und ein Strandcafé aufsuchen. Er würde einen Liter Wasser bestellen, die Batterien einsetzen, den Kopfhörer aufsetzen und die Dokumentation starten.
Claire klang wie immer heiter. Kaum war sie mit dem Olivenöl in der Hand davongeschlurft, flüsterte Chevalier: »Ich muss dir etwas zeigen.« Es raschelte. Wow, sagte Antoine. Wo er das gekauft habe. Es knisterte wieder, dann brach die Sequenz ab.
»Wer hat die Aufnahme gestoppt?«, fragte Claire entsetzt. Es fehlten vierzig bis fünfzig Minuten. »Ich nicht!« – »Ich auch nicht!« – »Wer noch einmal auf Pause drückt, muss zur Strafe abwaschen!«
»Ist das Gras?«, fragte Zoé. Es raschelte, ein Auto hupte. Chevalier sagte, dass er nach dem Tintenfisch einen Joint servieren würde. »Ach, Rémy, bitte nach dem Fleisch«, intervenierte Zoé. »Das trocknet sonst aus im Ofen.«
»Apropos trocken«, sagte Antoine. »Wer will Weißwein?«
Im Hintergrund rauschte etwas, Regen oder Verkehr. Chevalier redete mit vollem Mund, man verstand ihn kaum. Das sei ein spanisches Rezept, antwortete Claire, und Chevalier rief: »Fantástico!« und »Que viva España!«
Geschirr klapperte. Jemand holte eine Gitarre. Zoé sagte: »Antoine, spiel ein Lied von Hendrix!« Ein Glas zersplitterte am Boden, Chevalier fluchte. Dann das Geräusch eines Feuerzeugs, ein Räuspern, ein Lachen. Antoine summte, zupfte an ein paar Saiten und stimmte Little Wing an.
Nach dem fünften Song wurde es ruhig. Zoé fing an zu lachen. Ein banales Thema – es ging um die Anwendung von Zahnseide – wurde ausgeschlachtet und mündete in schier endlosem Gelächter. Kaum dass sich alle beruhigt hatten, fragte Claire, ob jemand Nachtisch wolle. »Nachtisch!«, rief Chevalier, als wäre es die Pointe eines Witzes, und alle lachten wieder.
Antoine erinnerte sich im Strandcafé daran, wie sie über den Nachtisch hergefallen waren, weil die Nachwirkungen des Marihuanas einsetzten. Die Stimmung war sentimental geworden. Und Claire hatte angefangen, von ihrer Zeit als Einzelkind und von der Liebe zu ihren Eltern zu erzählen.
Antoine riss die Hörer vom Kopf und stellte das Gerät ab. Er zahlte und ging ans Wasser. Er hätte weiterleben können, ohne diese Aufnahme je gehört zu haben. Aber Rémy Chevalier, der elende Chaot, hatte sie nun einmal wiedergefunden. Wohl im Keller oder in einem verstaubten Schrank oder unter dem Autositz, was machte das für einen Unterschied? Alles war jetzt präsent. Er sah Claire lachen vor Glück. Und wenn ihr Vater eines Tages nochmals unverhofft bei ihm im Loft aufkreuzen würde, dann würde er vielleicht seinen dicken Hals würgen.
Chevalier hatte morgens um zwei den dritten Joint gedreht. Sie hatten den schwarzen Humor entdeckt. Es ging ums Sterben. »Ich lasse dich nie allein«, sagte Antoine, und alle lachten. »Und wenn die Hexen mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen würden, wo bist du dann?«, fragte Claire. »Ich lasse dich nie allein.« Wieder Gelächter. »Und wenn ich alt und schrumpelig und geizig geworden bin und auf dem Sterbebett nach erotischen Erlebnissen lechze?« – »Immer bei dir!« Gelächter.
Er schmiss das Tonband samt Diktiergerät ins Meer. Hab es mir angehört, schrieb er Chevalier in einer Kurznachricht. Wenig später las er: Lange her. Zeit für Neues, lieber Antoine!
Er überquerte die Promenade des Anglais und bog in eine kleine Seitenstraße ein. Vor einem leer stehenden Haus saßen Punks mit rosaroten Haaren, ein Einweggrill stand in Flammen. Einer winkte den vorbeifahrenden Autos zu, eine andere tanzte barfuß.
Der Dicke im Tabakladen schwitzte, weil er sich wegen Antoine ins Souterrain hatte begeben müssen. Als er mit dem Karton zurückkam, sagte Antoine, er nehme gleich zwei Schachteln oder am besten drei. Es roch nach Druckerschwärze und nach Zigarren aus fernen Ländern. Sonnenflecken tanzten am Boden, wenn jemand die Ladentür öffnete. Jetzt trat ein Mann ein, er verschwand wortlos im begehbaren Humidor. »Ich nehme doch vier«, sagte Antoine.
Es war, als gehörte Simona schon ein bisschen zum Dorf. Vielleicht lag es daran, dass sie hier eine Aufgabe hatte. Sie schaute nach dem Haus der Alten, die in diesen Tagen in Marseille operiert wurde und über deren Untermieterin man im Dorf Bescheid wusste.
Simonas Zimmer im zweiten Stock war schlicht eingerichtet. Da standen ein schmales Bett, ein Holztisch, ein Stuhl und ein Schemel, mehr nicht. Vor dem Bett lag ein seltsamer, mit Tieren bestickter Teppich.
Morgens, wenn sie vor dem Haus die Rosen goss, unterhielt sie sich mit dem kleinen Friseur, der mindestens so viele Stunden rauchte, wie er drinnen Haare schnitt oder föhnte. Er trat, schien ihr, immer dann aus dem Salon, wenn sie die Haustür etwas wuchtiger zuzog. Im Supermarkt an der Ecke gab es beinahe alles zu kaufen. Der junge Familienvater liebte sein Obst, das er vor dem Laden, wo die Kunden ihn sahen, demonstrativ kontrollierte, wusch und einsortierte. Einmal hatte er Simona einen Apfel geschenkt und gesagt, die Nachbarschaft dürfe man nicht vernachlässigen.
Eines Vormittags, Simona war auf dem Weg zur Post, um sich Umschläge und Briefmarken zu kaufen, begegnete sie Antoine. Er trug eine weiße Baseballmütze und ein weißes T-Shirt. Nervös presste sie die Handtasche an ihren Körper und dachte an die Worte ihres Therapeuten Philipp Wallerand aus Zürich.
Ihr Herz klopfte. Sie wollte fragen, ob er sich amüsiert habe mit seinen Freunden in Nizza. Aber Antoine kam ihr zuvor und sagte: »Heute ist Party im Lollipop. Kommst du?«
Hätte sie sich die Antwort in Ruhe zurechtlegen können, wäre alles einfacher gewesen. Sie schüttelte nur den Kopf, aber wohl zu leicht, denn Antoine reagierte nicht. Er lächelte nicht einmal, so wie er das sonst immer tat. Sie schluckte also, holte Luft und sagte: »Ich komme gern. Wann geht es los?«
»Um neun. Ich bin schon ab sieben da. Ich werde bei den Vorbereitungen mithelfen.«
Simona nickte und dachte an die vielen Leute und die Enge im Lollipop. Sein Fünftagebart kratzte, als sie sich verabschiedeten.
Liebe Frau Saffray,
werden Sie bald wieder gesund! Das Dorf und ich vermissen Sie. Und bald fahren wir gemeinsam ans Meer. Dort wird Ihr Knie schnell heilen.
Herzlich
Ihre Simona
Sie steckte die Karte mit dem Blümchenmotiv in die Tasche und blickte in die Landschaft. Neben ihr saß niemand. Überhaupt war der Bus fast leer. Später würde sie von Aixen-Provence mit dem Zug nach Marseille gelangen.
Aber warum bloß war sie vor der Abreise nicht auf die Idee gekommen, im Krankenhaus anzurufen? Die Knieoperation war verschoben und ausgerechnet auf diesen Vormittag verlegt worden. Als die Frau am Informationsschalter ihren Schokoladenkeks hinuntergeschluckt hatte und im Computer nach dem Namen sah, strömte zwei Stockwerke tiefer das Narkosemittel über einen Schlauch in die Blutbahn der Alten. Simona fuhr mit dem Lift in den fünften Stock und hinterlegte die Karte auf dem Nachttisch. Die Bettnachbarin der Alten blickte regungslos aus dem Fenster.
Vor dem Bahnhof in Marseille demonstrierte eine Gewerkschaft. Ein junger Mann mit Fusselbart und Mütze, der erhöht auf einem Podest stand, hielt sich ein Megafon an die Lippen und wiederholte Sätze, die er sich am Küchentisch ausgedacht hatte. Vom Himmel fielen ein paar Regentropfen. Die Leute wurden unruhig, ein paar öffneten ihre Schirme. Simona hielt sich die Zeitung über den Kopf und rannte zum Bahnsteig. Der Zug wartete bereits.
Antoine trug ein verwaschenes graues T-Shirt. Sein kantiges Gesicht stach aus der Menge heraus, obschon er etwas weiter hinten stand. Er lehnte an die Theke und unterhielt sich mit einer jungen Frau, die kurze enge Bluejeans trug. Das sonst so biedere Lollipop war kaum wiederzuerkennen. Man hatte die Stühle und Tische weggeräumt und eine Discokugel montiert, Leute tanzten, es war feucht und warm.
Natürlich kannte Antoine beinahe alle Gäste, er stellte Simona ein paar vor. Ein Dünner mit Seidenhemd war dabei, eine Galante mit Sommerhut, die Frau in den Blue-jeans und einer, der mit nacktem Oberkörper tanzte und viele Brusthaare hatte. Mal weg vom glamourösen städtischen Boulevard, sagte Antoine. Sie standen nahe beisammen. Die Musik war laut.
Zweimal rief der DJ etwas ins Mikrofon. Simona verstand nicht, weshalb alle lachten. Sie trank Cola mit Rum und tauschte sich mit Antoine in einfachen kurzen Sätzen aus – die Unterhaltung war sehr oberflächlich. Immer mehr Leute drängten ins Lokal, der DJ winkte zur Tür und bekam viele Drinks spendiert. Simona wurde schlecht, als sich der Mann mit den vielen Brusthaaren an die Theke stellte und einen säuerlichen Geruch verströmte. Ein großes Glas mit grünem Inhalt kam, er stürzte es hinunter, rülpste, zahlte und klemmte seine lederne Brieftasche hinter den Hosenbund.
»Das ist nicht dein Ding hier, stimmt’s?«, fragte Antoine.
»Ich bin sehr müde.«
Der dünne Mann mit dem Seidenhemd tanzte mit geschlossenen Augen. Er lachte, legte den Kopf in den Nacken, machte eine halbe Drehung auf einem Bein, dann wieder zurück, und fiel zu Boden. Antoine eilte zu ihm.
Draußen war die Luft klar und voller Sauerstoff. Simona lehnte an die Hauswand und atmete tief durch. Schwefelgeruch stieg ihr in die Nase. Jetzt roch sie auch ihn, er stand rauchend neben ihr. Der Mann sei taub und habe beim Tanzen das Gleichgewicht verloren, sagte Antoine. Sie blickte ihn erstaunt an: Taub?
»Er kommt zu jeder Party. Er hört die Musik nicht, aber er nimmt die Bässe in seinem Körper wahr. Er kann sogar die einzelnen Lieder voneinander unterscheiden und nennt dem DJ seine Wünsche.«
Sie gingen ein Stück auf dem Gehsteig und blieben vor dem Haus der Alten stehen. Simona zeigte zum offenen Fenster im zweiten Stock.
»Es tut mir leid, dass du dich nicht wohlgefühlt hast bei der Party«, sagte er.
»Ich war einfach nicht in der Stimmung.«
»Schlaf schön.«
Wieder kratzte der Bart.
Im Zimmer stand sie noch eine Weile vor dem offenen Fenster. Sie streckte vorsichtig den Kopf hinaus und blickte auf den Bürgersteig. Aber Antoine war schon weg. Sie legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Alles drehte sich. Alles war surreal. Sie vermisste Zürich. Sie vermisste Liliane. Was würde die Nacht bringen?
Unter die lästigen Bässe aus dem Lollipop mischten sich ungewohnte Geräusche. Nahe Geräusche. Sie kamen aus dem unteren Stock, aus der Wohnung der Alten. Ein Scheppern, dann ein Poltern. Hatte sie die Haustür richtig zugezogen? Sie setzte sich auf und lauschte. Sie hatte Angst.
Vielleicht würde sie es schaffen, auf den benachbarten Balkon zu klettern. Dort hatte sie vorher Licht in der Wohnung gesehen. Aber das Vorhaben schien ihr zu gefährlich. Sie suchte im Dunkeln nach den Kleidern und schlich vorsichtig die knarrende Treppe hinab. Sie rannte los, kaum dass sie draußen war.
»Ich habe Lärm gehört, da war jemand im Haus«, sagte sie außer Atem.
»Du hast dich doch eingemietet«, sagte Antoine. »Da leben ja noch andere Leute.«
»Die Alte liegt im Krankenhaus in Marseille. Sonst lebt dort keiner.«
»Was hast du gehört?«
»Ich weiß es nicht. Ein Scheppern.«
»Hast du jemanden gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er zog an seiner Zigarette und fragte, ob er mitkommen solle. Sie zögerte. Er dachte nach. Sie könne für diese Nacht bei ihm schlafen, wenn sie wolle. Diesen Vorschlag hatte sie befürchtet. Ihr wurde wieder schlecht, und er sagte: »Ich hole ein Glas Wasser. Dann sehen wir weiter.«
Diesen Geruch kannte sie nicht. Sie öffnete ein Auge und blickte auf ein Plakat vom Buena Vista Social Club. Die Sonne schien auf die abgewetzten Dielen des Lofts. Jetzt bekam der Geruch Bilder: ein Gemisch aus Kräutern, Kaffee und altem warmem Holz.
Nimm Dir, was Du brauchst. Ruf mich an, wenn ich etwas für Dich tun kann. Ich muss nach Nizza.
Bis bald, Küsse
Antoine
Hinter den bunten Magneten am Kühlschrank waren ein Konzertticket und ein Einkaufszettel befestigt, hinter dem blauen hing ein Schwarzweißfoto. Es zeigte Antoine mit einer blonden Frau, die seinen Oberkörper von hinten umfasste und ihn auf die Wange küsste, er streckte grinsend die Zunge heraus. Das Bild war von schlechter Qualität, und Simona stellte sich vor, wie sich die beiden in die Kabine des Fotoautomaten gezwängt hatten. In der Schweiz existierten diese alten Geräte nicht mehr.
Im Hintergrund hatte jemand ein Herz in die Wand geritzt, das von einem kurzen Vorhang zu einem Viertel verdeckt wurde. Simona nahm das Foto in die Hand. Es muss im Winter oder Herbst entstanden sein, Antoine trug ein dunkles Holzfällerhemd, um den Hals der Frau lag ein dünner Schal. Auf seiner Wange war ein Fleck, ein hingemalter Punkt vielleicht. Waren sie betrunken?
Simona kam sich fremd vor.
Unsicher hatte sie letzte Nacht den Raum betreten, sich umgesehen und war dann eingenickt auf dem Sofa. Als sie aufwachte, bestand er darauf, dass sie in seinem Bett schliefe und er auf der Matratze am Boden.
Simona duschte und ließ ihren Körper vom Deckenventilator trocknen. Bevor sie das Loft verließ, konnte sie der Neugier nicht widerstehen. Sie ging herum, warf einen kurzen Blick in den Kleiderschrank, öffnete zwei Schubladen und las die erste Seite des Romans, der auf dem Nachttisch lag. Das gleiche Buch hatte sie einmal bei Philipp Wallerand in der Praxis gesehen.
Beim kleinen Friseur herrschte Betrieb, im Inneren des Salons heulten die Föhne. Simona blieb stehen und blinzelte zu ihrem Zimmer hinauf. Die Sonne spiegelte sich im Fensterglas, in ihrer rechten Hand glitzerte der Schlüsselbund. Sie stieg die Stufen hoch, blieb im ersten Stock stehen, horchte, öffnete vorsichtig die Wohnung der Alten und trat ein. Auf dem Küchenboden lag ein Apfel, es stank nach kaltem Rauch. Von den Simsen im Wohnzimmer lachten die eingefrorenen Gesichter.
Der Schaukelstuhl in der Ecke bewegte sich. Sie erschrak, machte zwei Schritte zurück und stolperte über einen Gegenstand.
»Ich wollte dir noch Bescheid sagen«, sagte Madeleine. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen, zwischen Zeigefinger und Mittelfinger klemmte der Rest eines Joints.
Im ersten Moment war Simona erleichtert, im zweiten verärgert. Ob sie schon letzte Nacht hier gewesen sei, fragte Simona, und die Tochter der Alten sagte: »Ich glaube schon. Wie geht es meiner Mutter?«
»Sie wurde gestern operiert.«
»Ich schaue hier ein bisschen nach der Wohnung und so«, sagte Madeleine.
Simona nahm abends ein Taxi ins Nachbarstädtchen und kaufte sich ein Smartphone und eine französische SIM-Karte. Im Restaurant rief sie in Marseille an. Frau Saffray sei beim Abendspaziergang. Es wurde still. Dann fragte die Frau: Ach, Saffray aus Zimmer 521? Es erklang Wartemusik, dann wieder die Stimme der Frau. Arianne Saffray schliefe, sagte sie. Morgen wieder!
Simona vermisste ihren Vater. Nicht den aus dem Altenheim, sondern den Vater, der Gulasch mit Mohrrüben und frischen Pilzen kochte. Immer durfte sie am Herd auf dem Schemel stehen und mithelfen, und bald, sie war keine zehn Jahre alt, kannte sie alle Zutaten. Erst das Fleisch, dann die Zwiebeln, das Mehl, die Paprika, die Mohrrüben, das Salz, den Pfeffer, den Kümmel, die Brühe, den Zucker, die Tomaten und den Essig. Der Topf war groß, der Dampfabzug über ihm eine mächtige Glocke. Dann hielt ihr Vater demonstrativ die Wange hin und wartete auf den Kuss. Sie liebte sein Aftershave, das er in all den Jahren ihrer Kindheit nicht gewechselt hatte.
Einen kurzen Moment dachte sie darüber nach, die Nummer des Altenheims in Zürich zu wählen. Doch dann erinnerte sie sich an das kurze Telefongespräch vom letzten Winter, als ihr Vater bei der zweiten oder dritten Frage zu lachen anfing und grundlos auflegte.
Antoine stellte sich vor, wie er im Loft am Fenster stehen würde, wenn ihn Simona besuchen käme. Eine baldige Reparatur der Klingel hatte die Verwalterin mit den schmutzigen Zehennägeln in Aussicht gestellt. Sie war dagestanden, rauchend, in Leggings und ausgelatschten Riemchensandalen, und sagte: »Ich schicke jemanden vorbei.«
Das war vor zwei Monaten. Die Klingel war immer noch defekt.