Irene Scharenberg


Im Schatten des Leuchtturms





Kriminelle Geschichten auf Norderney






Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Fantasie der Autorin. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.  








Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2018
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

Titelfoto:
© Martin Benhöfer / pixelio.de
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-179-2
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-172-3

www.prolibris-verlag.de



















Die Autorin

Irene Scharenberg ist in Duisburg aufgewachsen und hat hier Chemie und Theologie für das Lehramt studiert. Vor einigen Jahren hat sie die Leidenschaft fürs Schreiben entdeckt. Seit 2004 sind zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften erschienen und in Wettbewerben ausgezeichnet worden. 2009 gehörte die Autorin zu den Gewinnern des Buchjournal-Schreibwettbewerbs, zu dem mehr als 750 Geschichten eingereicht wurden.
Irene Scharenberg ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Sie lebt am Rande des Ruhrgebiets in Moers. In ihrer alten Heimat Duisburg spielen sechs Kriminalromane mit den beiden Ermittlern Pielkötter und Barnowski. In ihren Norderney-Krimis verbindet sie ihre Liebe zu der Insel mit der Leidenschaft fürs Schreiben.
Frischer Wind
Glücklich lächelnd hielt ich mein Gesicht in die frische Brise. Ich konnte es immer noch nicht recht fassen. Mein Mann ließ wirklich die Arbeit in der Firma ruhen, um mit mir für ein paar Tage nach Norderney zu fahren! Gemeinsame Tage hatte es schon so lange nicht mehr gegeben, eigentlich nicht einmal gemeinsame Stunden. Immer war er beschäftigt, Überstunden reihten sich an Überstunden. Meist kam er erst nach Hause, wenn ich schon schlief.
Zugegeben, er hatte die Firma meines Vaters vorangebracht. Aber manchmal beschlich mich der heimliche Verdacht, hinter seiner Arbeitswut würde noch ein ganz anderer Grund stecken: Seine Sekretärin Simone Hermstetter mit den richtigen Rundungen an den richtigen Stellen. Dazu die verträumten großen Augen in diesem Puppengesicht, umgeben von wallendem Haar. Ich mochte keine Puppengesichter, aber Immanuel sah das sicher ganz anders. Oder verdächtigte ich die Falsche und Diana Brandes, diese Rothaarige aus der Buchhaltung, verwandelte seine Überstunden in heiße Dates? Zumindest blickte mein Mann Frauen mit sehr langen Beinen in Nylons gern hinterher, und Diana Brandes hatte Beine in Überlänge und trug nur hauchdünne schwarze Seidenstrümpfe. Egal, die Vergangenheit zählte nicht mehr. Immanuel hatte mir versprochen, dass sich nun einiges ändern würde. »Ich habe die feste Absicht, mein Leben zu ordnen«, hatte er mit feierlicher Miene verkündet. »Ich will mehr Zeit für uns haben.«
Die Fähre hatte an Fahrt aufgenommen und frischer Wind wehte über das Deck. Während sich die ersten Passagiere in Jacken und Pullover hüllten, legte Immanuel seinen Arm um meine Schultern und zog mich zu sich heran. Ich hätte zerspringen können vor Glück. Dabei hatte ich vor nicht allzu langer Zeit sogar über eine Scheidung nachgedacht. Schließlich war ich jedoch vor diesem Schritt zurückgeschreckt, weil Immanuel nun einmal der beste Geschäftsführer war, den ich mir für meine Firma vorstellen konnte. Nun ja, auch weil er unschöne interne Geheimnisse kannte, die besser nicht publik werden sollten.
Mein Blick schweifte über das Meer und die winzigen Schaumkronen auf den Wellen. Norderney kam näher. Jetzt konnte ich schon gut die Dünen erkennen, rote Dächer und natürlich die weißen Hochhäuser, die man heute wohl nicht mehr bauen würde. Meine Vorfreude wuchs und ich kuschelte mich enger an Immanuel.
»Das Ferienhaus wird dir gefallen«, erklärte er mit einem Lachen, das ich schon lange vermisst hatte. »Dort wird uns niemand stören.« Er zwinkerte mir in einer Weise zu, die mich genussvolle intime Stunden erahnen ließ. Unwillkürlich fühlte ich mich an unsere Flitterwochen erinnert. Die hatten wir in einem wunderbaren Haus am Meer verbracht, an der bretonischen Küste.

Unser Feriendomizil auf Norderney war wirklich ein Traum. Mit offenem Kamin und eigenem großen Garten. Ich tanzte durch die Zimmer und ließ mich dann auf die wuchtige lindgrüne Sitzgruppe im Wohnzimmer fallen. Als ich mich auf dem Leder räkelte, schmunzelte ich über mich selbst. So gelöst hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Ich schloss die Augen, streckte die Lippen vor, aber nichts passierte. Nach einer Weile riskierte ich einen kurzen Blick, Immanuel war nicht im Zimmer. Ich wollte gerade aufspringen, da hörte ich seine Schritte.
»Lass uns anstoßen«, sagte er mit zwei Sektgläsern in der Hand. »Ich habe Champagner in den Kühlschrank legen lassen.«
Legen lassen, echote es in meinem Kopf. Wie kam man auf so etwas? Hatte er das schon öfter gemacht? Für einen Moment fühlte ich mich leicht irritiert, doch dann wischte ich alle störenden Gedanken beiseite und nahm ihm lächelnd ein Glas ab. Immanuel ließ sich neben mir nieder und wir prosteten uns zu. Seine Umarmung ließ mich vergessen, dass unsere Koffer noch unausgepackt in der Diele standen.

Dieser Kurzurlaub war einfach wunderbar. Wir fuhren mit den Elektrorädern, die zum Haus gehörten, kreuz und quer über das gut ausgebaute Radwegenetz der Insel. Wir bestiegen den Leuchtturm und küssten uns, als wir oben ankamen. Eng umschlungen schauten wir hinaus aufs Wattenmeer, dann hinüber zur Stadt und küssten uns wieder. Später gingen wir Hand in Hand zum Strand und kullerten eine Düne hinunter, wälzten uns im Sand. Nichts trübte unser Glück. Bis zum dritten Tag. Ich hatte Immanuel erklärt, für eine Weile im Bad zu verschwinden, das sich wie die beiden Schlafzimmer auf der oberen Etage unseres Ferienhauses befand. Aber ich hatte die neue Haarspülung im Einkaufskorb vergessen, die ich von unserem Bummel durch die Poststraße mitgebracht hatte. Ich betrat die oberste Treppenstufe. Und hörte Immanuel flüstern. »Du, ich muss Schluss machen, ich glaube, sie kommt.« Dann war alles plötzlich still.
»Hast du gerade mit mir geredet?«, fragte ich so ahnungslos wie möglich, als ich ihn fast erreicht hatte.
»Nein, nein«, antwortete er nach einigem Zögern, wobei er mit zwei Fingern heftig sein Kinn massierte. »Ich habe nur mit einem Mitarbeiter gesprochen. Der Mann braucht noch eine Unterschrift. Gleich mailt er mir ein Schreiben zu.« Immanuel erhob sich abrupt, lief auf mich zu und umarmte mich. »Keine Angst, es ist keine große Sache. Ich werde hier nicht anfangen zu arbeiten. Auf Norderney bin ich nur für dich da. Sobald du im Bad fertig bist, laufen wir zum Weststrand. Ich habe in der Giftbude einen Tisch für uns bestellt.«
Ich löste mich aus seiner Umarmung und lief ohne die Spülung wieder ins Obergeschoss, dafür mit einem Kopf voller Gedanken. Sie kommt, hatte er in den Hörer geflüstert. Vor welchem Angestellten würde er mich einfach »sie« nennen? Schließlich war ich die Chefin, die Besitzerin der Firma und zugleich seine Frau. Vor allem aber brauchte er doch nicht sofort aufzulegen, nur weil er mit einem unserer Mitarbeiter telefonierte.

Das Essen in der Giftbude war spitze und wir hatten einen Tisch am Fenster mit Blick auf die Promenade und das Meer. Nur konnte ich die gemeinsame Zeit nicht mehr so genießen wie zuvor. Während ich die Scholle auf der Zunge zergehen ließ, fragte ich mich erneut, wie viel Schaden Immanuel bei einer Scheidung für die Firma anrichten konnte. Leider fiel das Ergebnis dieser Überlegung nicht gerade erfreulich aus.
»Dich bedrückt doch etwas«, stellte mein Mann fest und nahm meine Hand mit einem aufgesetzten Lächeln. Immerhin verstand er, meinen Gesichtsausdruck zu lesen, nur interpretierte er ihn falsch, wie ich sofort feststellen konnte. »Wahrscheinlich ahnst du bereits, dass ich dich morgen noch einmal kurz verlassen muss.« Das stimmte zwar nicht, aber es wunderte mich kaum. »Weibliche Intuition. Davor zücke ich wirklich den Hut. Dir mache ich eben nichts vor. Nun ja, wenn man schon über fünfzehn Jahre verheiratet ist.«
Ich versuchte, ein bestürztes Gesicht aufzusetzen, ein bisschen war es auch echt. »Wie … wie darf ich das verstehen?«
»Wertmeier will abspringen. Und Schmidke hat nicht genug Verhandlungsgeschick, um diesen wichtigen Großkunden bei der Stange zu halten.« Aus Immanuels hellblauen Augen traf mich ein Blick, den ich früher für unwiderstehlich gehalten hatte.
»Ulrike, es ist doch für die Firma. Deine Firma. Einen Tag und eine Nacht wirst du dich doch allein hier beschäftigen können. Übermorgen nehme ich direkt die erste Fähre und bringe dir das Frühstück ans Bett.«
Nicht zum ersten Mal beschlich mich der Gedanke, dass es ein großer Fehler gewesen war, mich aus dem aktiven Geschäft zurückzuziehen. Immanuel hatte mich darin bestärkt, mich ganz auf das Malen, mein geliebtes Hobby, zu konzentrieren. Du kannst es dir zum Glück leisten, hatte er mir vor gut einem Jahr erklärt, also ergreife die Chance. Anfangs hatte mich der Zustand, nur noch Künstlerin zu sein, geradezu in Euphorie versetzt. Und ich hatte mir auch einen Vorteil für unsere Ehe erhofft. Wenn wir nicht Tag und Nacht beieinander sind, werden wir unsere gemeinsame Zeit viel mehr genießen, hatte Immanuel mir verheißungsvoll erklärt. Inzwischen vertrat ich eine ganz andere Ansicht und hatte das in der letzten Zeit auch öfter kundgetan: Wir entfernten uns immer mehr voneinander.

Ich stand am Eingang unseres Ferienhauses und winkte meinem Mann hinterher. Eigentlich hatte ich ihn bis zum Hafen bringen wollen, aber das hielt er für übertrieben. Schließlich sei er morgen früh bereits zurück. Der Abschiedskuss schmeckte seltsam, nicht gerade so, als würde ich in absehbarer Zeit erneut seine weichen Lippen spüren, seine zuweilen ein wenig forsche Zunge in meinem Mund. Selbst der Blick, mit dem er mich ansah, als er sich am Gartentor noch einmal umdrehte, wirkte merkwürdig, liebevoll hätte ich ihn nicht genannt. Hatte er mir die ersten Tage auf der Insel nur etwas vorgegaukelt und wenn ja, warum?
Seufzend lief ich ins Haus zurück und setzte mich an den Esstisch im Wohnbereich. Nachdem ich lange genug gegrübelt hatte, schaltete ich mein Smartphone ein und suchte die Nummer von Wertmeier heraus. Meine Firmenkontakte hatte ich nie gelöscht. Als ich meinen Namen und mein Anliegen nannte, stellte mich die Sekretärin sofort zu ihrem Chef durch.
»Ulrike Gruber. Mein Anruf wird Sie sicher etwas verwundern. Wie Sie wissen, habe ich mich aus dem Geschäft zurückgezogen, aber jetzt habe ich gehört, es gäbe Probleme. Ich dachte ... nun ja, da rufe ich Sie am besten persönlich an. Schließlich haben wir immer erfolgreich zusammengearbeitet.« Ich lachte, was seltsam gekünstelt klang.
»Ja, es war und ist eine gute Zusammenarbeit, über die wir sehr glücklich sind. Deshalb verstehe ich nicht so ganz, von welchen Problemen Sie reden. Der nächste Auftrag an Ihre Firma ist noch nicht raus, aber der war doch auch erst für den nächsten Monat zugesagt.«
Ich lachte erneut, auch wenn mich diese Nachricht ausschließlich für meine Firma freute. »Entschuldigen Sie vielmals, ich glaube, da habe ich wohl etwas missverstanden. Aber wo wir uns gerade schon einmal unterhalten, kann ich Sie direkt zu dem Jubiläum von Elektro Hermann am ersten November einladen. Bitte notieren Sie sich den Termin schon einmal, damit Ihnen nichts dazwischenkommt. Die offizielle Einladung geht Ihnen natürlich noch zu.«
Ob es wirklich vierzig Jahre nach der Gründung eine Feier geben sollte, hatte bisher zwar noch nicht festgestanden, aber in dem Moment hatte ich das Gefühl, nur sie könne mich davor bewahren, wie eine Oberidiotin dazustehen. Was hatte sich Immanuel nur dabei gedacht, mich derart anzulügen?
Die Gedanken rotierten in meinem Kopf. Offensichtlich steckte kein geschäftlicher Grund hinter Immanuels Abreise. Was also dann? Zuerst fiel mir dazu ein heißes Date mit Simone Hermstetter oder Diana Brandes ein. Welche der zwei auch immer die augenblickliche Favoritin sein mochte; auf meiner Gehaltsliste standen beide, was mich noch wütender machte. Aber warum hatte er mir dann diesen Trip nach Norderney überhaupt vorgeschlagen und auf die Nähe seiner Geliebten verzichtet? Denk nach, sagte ich mir immer wieder. Welchen Grund konnte es geben, für gut vierundzwanzig Stunden von der Insel zu verschwinden?
Grübelnd lief ich zur Küche, um mir einen Kaffee zu kochen, blieb aber mitten im Türrahmen stehen und starrte benommen zum gegenüberliegenden Fenster, das den Blick auf ein Stück Deich gewährte. Bisher hatte ich die Aussicht genossen, aber nun kam mir plötzlich etwas in den Sinn, das mich erschreckte. Das Haus lag abseits, fast einsam. Hier draußen würde wohl niemand mitbekommen, wenn jemand unerlaubt über die Dünen auf das Grundstück gelangte.
Während ich noch eine Weile wie angewurzelt stehen bleib, übermannte mich eine Flut von Gefühlen: Verzweiflung, Wut, Enttäuschung, vor allem Angst. Ich zitterte. Tränen liefen mir über die Wangen. Vielleicht sollte ich besser ins nächste Hotel ziehen? Selbst das kleinste Zimmer in einer Pension wäre mir recht, nur fort aus diesem Haus, in dem ich mich nicht mehr sicher fühlte.
Wie viele Krimis hatte ich schon im Fernsehen gesehen, in denen Männer versuchten, ihre Frauen loszuwerden, vor allem vermögende? Ich wusste doch, wie das lief. Immanuel würde ein Alibi benötigen, so viel stand für mich fest. Von der Abreise bis zu seiner Rückkehr, bei der er mich tot auffinden würde. Wahrscheinlich hatte er sich auf der Fähre zum Festland auffallend benommen, der Kellnerin schöne Augen gemacht, den bestellten Kaffee umgekippt, etwas zerbrochen. Dann die kurze Autofahrt zu unserer Firma in Oldenburg, dazu würde er keinen Zeugen benötigen. Oder würde er so weit gehen, ein Fahrzeug beim Ausparken zu beschädigen? Ja, warum denn nicht, es würde ja genug für ihn herausspringen. Obwohl sein Geschäftsführergehalt auch schon üppig bemessen war. Danach würde seine Geliebte, egal ob sie Simone Hermstetter, Diana Brandes oder noch anders hieß, sicher bestätigen, dass er bis spät in der Nacht ... Nein, in diese Gedanken durfte ich mich nicht verlieren.
Ich musste hier raus.

Inzwischen war es dunkel geworden, und ich weilte immer noch in dem Haus. In einer Minute hielt ich meine Vermutung für völlig absurd, in der nächsten für absolut logisch, und das in regelmäßigem Wechsel. Aber selbst wenn mein Mann wirklich plante, mich umzubringen, wollte ich bleiben. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die Flucht als eine Option ansahen, ich wollte der Gefahr einfach ins Auge sehen. Vielleicht musste ich Immanuel auch ein letztes Mal gegenüberstehen, sein Gesicht studieren, ihm schonungslos sagen ... Wenn ich mit ihm redete, wäre er bestimmt nicht dazu fähig, mich zu ermorden. Dazu hatten wir zu viele gute gemeinsame Stunden erlebt, uns so viele Male geliebt.
Ja, da war ich mir sicher, ich musste mit ihm reden, durfte mich nicht im Schlaf überraschen lassen. Immanuel rechnete sicher fest mit meinem allabendlichen Ritual: Um zweiundzwanzig Uhr ein letztes Glas Wein, eine Stunde später meine Schlaftablette. Ich – die Lider fest geschlossen, er – ein dickes Kissen in der Hand, den Blick halb abgewandt. Nein, er würde mich nicht ersticken, diese Grobheit traute ich ihm eigentlich nicht zu, und ich hoffte, dass ich mit dieser Einschätzung richtig lag.
Plötzlich durchfuhr mich ein schrecklicher Gedanke, und meine Beine begannen, unkontrolliert zu zittern. Ein hysterischer Laut entfuhr meiner Kehle. Was, wenn sein Alibi echt sein würde und er einen Auftragsmörder engagiert hatte, der sich durch nichts abschrecken ließe? Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, aber dann entspannte ich mich wieder ein wenig. Nein, ein bezahlter Killer kam definitiv nicht in frage. Immanuel erledigte wichtige Dinge viel zu gern selbst. Und ein Mitwisser wäre ihm mehr als unangenehm, würde ihn niemals mehr ruhig schlafen lassen.
Meine Beruhigung hielt nicht lange an. Schnell ergriff mich wieder eine ungeheure Angst. Ich verspürte den unbändigen Willen, noch eine ganze Weile zu leben. Eilig lief ich zu dem offenen Kamin in unserem Wohnzimmer, nahm den schweren Schürhaken an mich und löschte das Licht. Im schwachen Schein des Mondes tastete ich mich zu dem nächsten Sessel vor. Ich setzte mich und wartete. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit.

Zunächst passierte nichts. Bis Mitternacht blieb alles still, und ich wäre um ein Haar eingenickt, da hörte ich plötzlich aus dem Nebenraum ein Geräusch, ein verdächtiges Geräusch. Es war so leise, dass ich in den vorangegangenen Tagen davon niemals aus dem Schlaf aufgewacht wäre. Vermutlich klirrte die Fensterscheibe in der Küche. Immanuel besaß zwar einen Schlüssel für das Haus, aber wenn er einen Einbruch vortäuschen wollte, musste er den Eindruck erwecken, jemand sei gewaltsam eingedrungen.
Ich hielt den Atem an. Der Angstschweiß lief mir den Rücken hinunter. Dabei stellte ich mir vor, wie mein Mann die letzten störenden Glassplitter entfernte, sich durch das Küchenfenster quälte und langsam näherkam. Mit zitternden Knien lief ich zur Verbindungstür und drückte mich daneben gegen die Mauer. Adrenalin durchflutete meinen Körper. Während sich die Klinke vorsichtig nach unten bewegte, stellten sich meine Nackenhaare auf. Ich hob den Schürhaken hoch. Dabei schlug mein Herz so heftig, als wollte es zerspringen.
Die Tür öffnete sich nach innen und eine Gestalt stand im Rahmen. War das wirklich Immanuel? Das Gesicht war hinter einer dunklen Maske mit zwei Löchern verborgen. Plötzlich bewegten sich die Seeschlitze in meine Richtung. Der Eindringling machte einen Schritt auf mich zu. Als der Schürharken auf seine Schulter krachte, schrie er und ging zu Boden. Während meine Rechte wieder mit der Waffe auf die Gestalt zielte, riss meine linke Hand an der Maske. Endlich kam das Gesicht zum Vorschein. Trotz der Dunkelheit erkannte ich Immanuel.
»Was hast du gemacht?«, fragte er mit erstauntem und schmerzverzerrtem Gesicht.
Stumm registrierte ich die Handschuhe an seinen Händen, zunächst kaum fähig zu begreifen, dass meine Vermutung richtig gewesen war. Mit einem Mal löste ich mich aus der Erstarrung.
»Ich vollende, wozu du nicht fähig warst«, erwiderte ich und ließ den Schürharken auf seinen Kopf niedersausen.
Ohne Reue sah ich Immanuels Leiche noch einige Minuten an, dann rief ich die Polizei. Dabei hatte ich keine Zweifel, dass mein Handeln als Notwehr gewertet werden würde. Ich konnte doch nur von einem Einbrecher ausgehen. Mein Mann hatte schließlich alles dafür getan, mich und die Polizei glauben zu lassen, dass er auf dem Festland weilte.