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© für die Originalausgabe und das eBook: 2018 nymphenburger in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: STUDIO Z, Lisa Zech
Umschlagmotiv: shutterstock, Nr. 415076716
eBook-Produktion: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten
ISBN 978-3-485-02969-8
Inhalt
Drei Wege zur Unerschütterlichkeit
Das Leben ist schwierig
Wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird
Jeder Mensch erfährt Leiden
Prüfungen
Schmerzen sind unvermeidbar, Leiden muss nicht sein
1. Das Leiden annehmen, um es zu verwandeln
Warum der Kampf gegen das Leiden vergeblich ist
Die Weisheit der Taoisten
Was ist radikale Akzeptanz?
Die Umwandlung des Leidens in innere Stärke ist das Ziel
Die Tatsachen des Lebens
Beispiel Buddha
Unglückliche Gedanken verschlimmern das Leiden
Beispiel Albert Ellis
Beispiel Byron Katie
Was tun bei Panik, Depression oder Zorn?
Vertrauen, innere Stärke und Gelassenheit
Die Stoiker, Meister in Unerschütterlichkeit
2. Dem Leiden einen Sinn geben, um es zu nutzen
Sinngebung ist eine Aufgabe
Beispiel Viktor Frankl
Es geht darum, das Leiden zu nutzen
Beispiel Milton Erickson
Braucht man überhaupt eine Antwort?
Beispiel Hiob
Zeitperspektiven
Ohne Hoffnung ist der Mensch verloren
Den Sinn für Dankbarkeit in allen Situationen bewahren
Und Pollyanna hatte doch recht!
3. Improvisieren, um das Leiden zu überwinden
Alles ändert sich
Beispiel Ruth Westheimer
Starre Regeln lockern
Ausgetretene Pfade verlassen
Beispiel Moshe Feldenkrais
Probleme in Aktionspläne verwandeln
Kleine Erfolge zählen
Verzicht auf Perfektion
Folge deinem Herzen
Lebenskünstler sind Improvisationstalente
Was man von Weltenbummlern lernen kann
Der Merkzettel für Unerschütterlichkeit
Literaturverzeichnis
Register
Drei Wege zur Unerschütterlichkeit
Das Leben ist schwierig
Täglich werden wir vor kleine und große Probleme gestellt. Das beginnt bei Bagatellen, zum Beispiel, dass einem morgens Geschirr herunterfällt oder die Frisur einfach nicht sitzen will. Oder draußen ist Glatteis und man stürzt erst einmal, bevor man seinen Weg fortsetzen kann. Und jeder weiß, dass es wesentlich schlimmer kommen kann: ein schwerer Verkehrsunfall, das Kind muss ins Krankenhaus, der Partner stirbt, man bekommt die Kündigung auf den Tisch, das Haus wird überflutet.
Das Leben, wie man es gewohnt ist, kann sich schlagartig ändern. Genau das passiert weltweit Tag für Tag. Deshalb fürchten fast alle den Eintritt dramatischer Ereignisse. Einige brechen unter solchen Schicksalsschlägen zusammen. Andere kommen zurecht, sind aber bis ins Mark erschüttert. Umso erstaunlicher ist, dass es Menschen gibt, die sich relativ schnell wieder erholen. Kennt man ihren Lebenslauf nicht, käme man nicht darauf, was ihnen zugestoßen ist. Kleinere Ärgernisse lassen sie unbeeindruckt. Selbst größere Veränderungen können ihnen nichts anhaben. Sie wirken unerschütterlich. Wäre es nicht wunderbar, ebenso gefasst bleiben zu können? Wodurch unterscheiden sich die Unerschütterlichen von den meisten ihrer Mitmenschen? Wie reagieren sie auf Alltagsprobleme? Wie gehen sie mit Katastrophen um?
In diesem Buch erhalten Sie Antworten auf diese und viele andere Fragen. Es basiert auf den neuesten Erkenntnissen der Traumaforschung, den Einsichten der Kognitiven Verhaltenstherapie sowie den jahrtausendealten Weisheiten der Taoisten, der Stoiker und des Buddha. Bringt man die verschiedenen Konzepte zur Bewältigung von Herausforderungen auf einen Nenner, zeichnen sich drei Wege zur Unerschütterlichkeit ab:
Als Erstes kommt es darauf an, das Leiden anzunehmen. Nicht aus Resignation, sondern um es zu verwandeln. Damit tun sich viele Menschen schwer. Stattdessen hadern sie – manchmal bis an ihr Lebensende – mit ihrem Schicksal. Dabei kann jeder lernen, das Unabänderbare hinzunehmen und dadurch innerlich stärker zu werden.
Wer in seinem Leiden keinen Sinn sieht, verzweifelt. Deshalb ist es unabdingbar, im zweiten Schritt dem Geschehenen eine Bedeutung zu geben, die über den tragischen Moment hinausweist. Wie sich Schicksalsschläge und Handicaps aller Art nutzen lassen, hat unter anderen der amerikanische Hypnotherapeut Milton Erickson wiederholt eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Trotz wiederkehrender Polioerkrankungen und dadurch verursachter Lähmungen hat er die Kontrolle über sein Leben behalten und sich von seinen Lebenszielen und seiner Lebensfreude nicht abbringen lassen. Von ihm und anderen herausragenden Beispielen unerschütterlicher Vitalität wird in diesem Buch die Rede sein.
Eine völlig unterschätzte Fähigkeit ist das Improvisieren, der dritte Schritt zur Unerschütterlichkeit. Auf Unvorhersehbares flexibel reagieren zu können, entscheidet im Alltag darüber, wie viel Stress man erlebt.
Überlebenswichtig wird die Fähigkeit zu improvisieren in Notfällen.
Wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird
Bob Dylan, dem 2016 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, singt in seinem Song »Dear Landlord«: Ich weiß, dass du viel gelitten hast. Aber darin bist du nicht so einzigartig (I know you’ve suffered much, but in this you are not so unique). Manchmal hat man den Eindruck, man sei der Einzige, der Leid erfahre. Allen anderen gehe es gut. Aber das stimmt nicht. Leiden ist eine allgemeine menschliche Erfahrung. Einige machen sie schon früh, andere später. Niemand kann sich davor drücken. Aber sie bietet einem zugleich die Chance, das Leiden anzunehmen und es zu verwandeln.
Als ich Anfang zwanzig war, kam mir die Welt vollkommen verrückt vor: Der Vietnamkrieg war noch gegenwärtig. Die Morde der RAF nahmen großen Raum in den Medien ein. Fotos ölverschmierter Tiere, die nach Tankerunglücken elendig zugrundegingen, häuften sich. All das berührte mich tief. Dazu kamen Meldungen, dass wieder ein Verwandter gestorben war, aus Altersgründen zwar, aber es erschreckte mich dennoch. Der Leistungsdruck an der Uni machte mir zu schaffen. Das alles ging über meine Kräfte. Der Zweite Weltkrieg lag bei meiner Geburt erst zehn Jahre zurück. Meine Eltern waren – wie die meisten, die überlebt hatten – vom Krieg traumatisiert. Nicht gerade der ideale Start für ein Kind. Aber wie Dylan sagt, keinesfalls einzigartig.
Was hat sich seitdem geändert? Wie ist die Lage heute? Noch immer gibt es entsetzliche Kriege: in Syrien, in Libyen, im Jemen und anderswo. Terrorismus? Nicht mehr die RAF, aber dennoch allgegenwärtig in Deutschland wie in vielen anderen Ländern. Ist die Umweltzerstörung gebannt? Im Gegenteil: Das Klima auf der Erde scheint stärker in Gefahr als vor 40 Jahren. Auch unabhängig von diesen Problemen ist der Tod ein ständiger Begleiter. Täglich sterben etwa 150 000 Menschen. Das sind fast 55 Millionen in jedem Jahr! Diesen Tatsachen kann sich niemand entziehen.
Für mich ist allerdings vieles anders geworden. Da ich während der Studienzeit und in den folgenden Jahren gelernt habe, auf die allgemeinen und die persönlichen Katastrophenmeldungen anders zu reagieren, geht es mir heute auch in Krisen relativ gut. Die Welt ist nicht so geworden, wie ich mir das als Teenager erhofft und gewünscht habe. Nicht immer gelingt es mir, meine selbstgesteckten Ziele zu erreichen, und schon gar nicht so schnell, wie es mir lieb wäre. Das ist allerdings kein Grund, zu verzweifeln. Verzweiflung, Verbitterung, Zynismus, mit dem menschlichen Schicksal hadern: Das sind genau die Gefahren, die angesichts des allgegenwärtigen Leidens drohen. Es gibt nur eine Alternative. Sie besteht darin, sich mit dem Leid auseinanderzusetzen, es anzunehmen und zu verwandeln.
Dass dies möglich ist, habe ich selbst erlebt. Mir war stets bewusst, dass einige wenige Menschen mit Unglücksfällen, den typischen menschlichen Problemen und der Tatsache unserer Sterblichkeit, wesentlich besser umgehen als andere. Einige prominente Beispiele finden Sie in den folgenden Kapiteln. Ich wollte unbedingt herausfinden, wie diese Menschen es schaffen, eine positive Ausnahme zu sein. Und ich wollte selber so eine Ausnahme werden. Deshalb habe ich mich intensiv mit dem menschlichen Leiden, und wie man es beenden kann, beschäftigt. So lange, bis ich brauchbare Antworten hatte, die bei mir und meinen Coaching-KlientInnen funktionieren.
Aus Leid kann innere Stärke werden. Das ist das Versprechen dieses Buches. Die Hoffnung, alle Beschwernisse nicht nur zu ertragen, sondern daran zu wachsen und sie zum Positiven zu wenden, ist berechtigt. Es gilt, etwas zu entwickeln, das man Unerschütterlichkeit nennen könnte. Diese Hoffnung erfüllt sich für jeden, der den drei Wegen zur Unerschütterlichkeit täglich konsequent folgt. Kann man das Leid annehmen? Ist es möglich, einen Sinn darin zu finden und es sogar zu nutzen? Lässt sich das Leiden überwinden? Die Antwort auf alle drei Fragen lautet: Ja!
Jeder Mensch erfährt Leiden
Es war einmal ein zartes Wesen, dem es an nichts mangelte. Wenn es Hunger hatte, wurde es genährt. Wenn es erschöpft war, durfte es ausruhen. Wenn es sich bewegen wollte, konnte es sich dehnen und strecken. Da, wo es lebte, war es warm und sicher. Das Wesen fühlte sich geborgen. Ihm war wohl. Dabei wuchs und wuchs es. Ein bisschen eng wurde es langsam. Doch es war gut, so wie es war. Da brachen plötzlich unerhörte Ereignisse über das Wesen herein. Es wurde gerüttelt und gequetscht. Es wurde hierhin und dorthin gedrückt und geschoben. Mit der Ruhe war es vorbei. Nichts fühlte sich mehr gut an. Es war ungemütlich und sogar schmerzhaft. Momente lang befürchtete das kleine Wesen zu ersticken. Wo war es nur hineingeraten? Warum war alles auf einmal so schrecklich?
Blutüberströmt und heiser schrie das Wesen seinen Schmerz über die Vertreibung von seiner Insel des Wohlbefindens heraus.
Erinnern Sie sich?
So werden wir geboren.
Wir werden nicht per Post in einem komfortablen Päckchen, in weichem Seidenpapier und mit Schleife geliefert, sondern kommen in einem mühsamen, unangenehmen, bisweilen lebensgefährlichen Prozess auf diese Welt. Jeder Mensch erfährt Leiden bereits in den ersten Sekunden seines Erdenlebens. Und ebenso, wie wir aus dem wohligen Zustand im Leib unserer Mutter in eine neue, uns unbekannte Umgebung geworfen werden, geht es weiter mit oft drastischen Veränderungen. Auf Sonne folgen Gewitter und Wolkenbrüche. Auf Wochenenden folgen Montage. Indem wir wachsen, altern wir gleichzeitig. Manchmal erkennen wir uns kaum wieder, wenn wir in den Spiegel blicken. Menschen treten in unser Dasein und verschwinden von einem Tag auf den anderen daraus. Vielleicht sind wir gezwungen, aus unserer Heimat zu fliehen, um nicht getötet zu werden. Vielleicht beginnen wir aus freien Stücken am anderen Ende der Welt ein neues Leben. Bis wir eines Tages die Erde wieder verlassen müssen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht.
Seit Jahrtausenden zerbrechen sich Menschen den Kopf darüber, warum das alles so ist. Warum sind wir auf der Welt? Ist die Erde ein Strafplanet oder eine riesige Spielwiese? Geht es darum, vollkommen glücklich zu sein, oder muss man schon froh sein, wenn einem gelingt, sich mehr schlecht als recht durchzuschlagen? Lässt sich das Leiden aus unserem Leben verbannen, und wenn ja, wie? Etliche PhilosophInnen haben versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Einige Weisheitslehren, die so entstanden sind, können uns bis heute wertvolle Hinweise geben. Laotse, Buddha, Epiktet, Marc Aurel – wir werden noch darauf zurückkommen, was sie entdeckt haben. Allen ging es darum, mit der Allgegenwärtigkeit des Leidens auf eine konstruktive Art umzugehen.
Niemand ist von Beginn an unerschütterlich. Das ist die schlechte Nachricht. Es ist ein längerer Weg, bis man den Zustand tiefer Seelenruhe erreicht, den auch Sie sich offenbar wünschen. Sonst hätten Sie dieses Buch vermutlich nicht zur Hand genommen. Die gute Nachricht ist, dass jeder Mensch unerschütterlich werden kann. Diese Fähigkeit ist ebenso lernbar wie Optimismus, Gelassenheit oder Glück. Das Einzige, worüber sich die WissenschaftlerInnen noch streiten, ist die Frage, in welchem Umfang wir uns ändern können. Es werden Zahlen zwischen 40 und 100 Prozent aufgerufen. 40 Prozent sind schon eine ganze Menge, und wer weiß, vielleicht sind es sogar 100. Grund genug, selbst zu testen, wie weit man kommen kann. Ich halte es in diesem Fall ohnehin mit Henry Ford, der sagte: »Egal, ob du glaubst, dass du es schaffst oder dass du es nicht schaffst, du wirst immer recht behalten«.
Vier Stufen gilt es zu erklimmen, bis man sich als unerschütterlich bezeichnen kann. Sehen wir uns diese genauer an. Auf der ersten Stufe ist es mit der Unerschütterlichkeit nicht weit her. Wer hier steht, lässt sich bereits von roten Ampeln, Steuerbescheiden, unfreundlichen VerkäuferInnen oder schlechten Fernsehnachrichten aus der Ruhe bringen. Man kämpft einen aussichtslosen Kampf gegen die Realität und merkt es nicht einmal, weil man glaubt, die Außenwelt irgendwann komplett kontrollieren zu können. Aber auch wenn man es schon weit gebracht hat, ist man immer noch in Gefahr, auf die erste Stufe zurückzufallen. Wer kann schon von sich behaupten, wirklich immer und überall über solchen Bagatellen zu stehen?
Auf der zweiten Stufe bleibt man zwar gelassen bei jeglichem Kleinkram. Alles, was weit genug weg ist, macht einem nichts mehr aus. Wenn aber wirklich wichtige Dinge im eigenen Leben schiefgehen, gerät man aus dem Gleichgewicht: Man bekommt die Kündigung, obwohl man seinen Job mochte und auf das Geld dringend angewiesen ist. Ein Lieblingsmensch stirbt. Bei einer Routineuntersuchung, der man sich unterzieht, wird ein bösartiger Tumor festgestellt.
Die dritte Stufe der Unerschütterlichkeit hat man erreicht, wenn einen auch die Mitteilung, nur noch eine Lebenserwartung von sagen wir anderthalb Jahren zu haben, allenfalls vorübergehend beunruhigt. Angesichts solcher Ereignisse gibt es nur noch relativ wenige Menschen, die nicht anhaltend mit Wut, Trauer oder Angst reagieren. Wer jedoch auf Stufe drei angelangt ist, kann sich nach kurzer Zeit auf die neue Situation einstellen und die eigene Zufriedenheit wiederfinden. Das ist außergewöhnlich. Nicht selten sind dagegen Menschen, die mit Schwierigkeiten, welche ihnen vor Jahrzehnten widerfahren sind, nie Frieden geschlossen haben, sondern immer und immer wieder dieselben Klagen dagegen erheben.
Die vierte Stufe bedeutet, dass einen überhaupt nichts mehr erschüttern kann, nicht einmal vorübergehend. Das ist so einzigartig, dass Sie damit – so wie Buddha oder die Stoiker – für alle Zeit weltberühmt würden. Dass Sie es bis zur höchsten Stufe bringen, kann ich Ihnen nicht versprechen. Aber bis zur dritten kann es im Prinzip jeder schaffen.
Wo stehen Sie im Moment? Wohin möchten Sie kommen? Wann waren Sie zuletzt ärgerlich? Was hat Sie in den letzten Monaten deprimiert? Worüber haben Sie sich im vergangenen Jahr Sorgen gemacht? Wie würde sich Ihr Leben anfühlen, wenn Sie all diese unerfreulichen Emotionen hinter sich lassen könnten? Damit wir uns richtig verstehen: Das Ziel ist nicht, »negative« Gefühle zu bekämpfen, zu unterdrücken oder zu verdrängen. Doch keine dieser Emotionen könnte Sie mehr tief im Innersten erreichen. Lassen Sie uns gemeinsam entdecken, was hinter der inneren Stärke steckt. Wie lässt sie sich verwirklichen? Wer kann uns dabei Vorbild sein? Bitte folgen Sie mir …
Prüfungen
Prüfungen sind Bestandteil des Lebens. Schulzeugnisse, Gesellenbriefe und Unidiplome schließen erfolgreiche Lernprozesse ab. Aber es sind nicht nur die Schulen, die uns Prüfungen auferlegen. Das Leben selbst prüft unaufhörlich. Im Grunde genommen beginnt es schon mit dem Laufenlernen. Unsere Beharrlichkeit wurde bereits früh auf eine harte Probe gestellt. Wie oft fallen wir auf die Nase, auf den Rücken, auf die Seite und auf den Hinterkopf, bevor es mit der Koordination von Füßen, Beinen, Hüften und Armen endlich zuverlässig klappt? Das tut weh. Lernprozesse sind manchmal schmerzhaft. Aber wir zweifeln nicht einen Moment daran, es zu schaffen, auf zwei Beinen laufen zu können. Auch ohne dass der klassische Ruf »Hefte raus, Klassenarbeit« ertönt, werden wir ständig getestet. Das Leben will wissen, ob wir in der Lage sind, die Muttersprache zu lernen, mit Messer und Gabel oder Stäbchen zu essen, uns selbstständig anzukleiden und die Schuhe zuzubinden. Leicht ist nichts davon. Wir erinnern uns nur nicht mehr daran, wie schwierig es war, die Knöpfe am Hemd oder an der Bluse richtig zu schließen, wie oft der Schnürsenkel machte, was er wollte, und nicht die Form einer Schleife annahm.
Andere Prüfungen sind noch härter, zum Beispiel Beziehungen einzugehen und, wenn es sein muss, wieder zu beenden. Schon in der Kindheit flossen viele Tränen, wenn die beste Freundin sich von einem abwandte oder der Auserwählte partout keine Freundschaft mit einem eingehen wollte. Aber mit der Zeit lernt man auch das – mehr oder weniger. Der Umgang mit Gefühlen ist ein weiteres schwieriges Kapitel. Als Kind kann man noch seinen Frust ungehemmt herausschreien. Macht man das als Erwachsener immer noch, bekommt man mit seiner Umgebung Probleme. Ängste sind ein weiteres Kapitel, das es zu meistern gilt. Nicht wenige Menschen lassen sich ihr Leben lang von diesen und anderen Emotionen beherrschen.
Zum Beispiel Enttäuschungen. Wie reagieren Sie, wenn etwas nicht so läuft, wie Sie sich das wünschen? Achten Sie einmal darauf, wenn Sie das nächste Mal in der langsamsten Schlange im Supermarkt warten müssen. Wie schneiden Sie in den Fächern Gelassenheit, Freundlichkeit und Improvisation ab? Die Idee, dass wir uns in einer Lebensschule befinden, mag einem nicht schmecken. Aber ist es nicht so? Sind wir nicht gezwungen, ein Leben lang zu lernen und Prüfungen zu bestehen? Fragen wie »Warum ich?«, »Warum jetzt?« oder »Warum überhaupt?« sind zwar erlaubt, bringen einen jedoch nicht weiter. In der konventionellen Schule kann man versuchen, den Lehrer zu nerven: »Warum soll ich lesen lernen?«, »Wieso soll ich in Mathematik geprüft werden?« Die Antwort ist klar: »Weil du sonst keinen Abschluss bekommst!« In der Lebensschule ist es letztlich genauso. Solange man seine Lektion nicht gelernt hat, wird man nicht versetzt. Man bekommt immer und immer wieder die gleichen Probleme präsentiert, bis man endlich begriffen hat, wie sie zu lösen sind.
Man kann sich dem Leben verweigern. Manche tun dies. Sie ziehen sich in einen Winkel zurück und meiden alle Schwierigkeiten, soweit es geht. Der Preis dafür ist hoch; denn mit dem Leid verliert man auch die Freude. Schließlich ist es ein Triumph und ein großes Glücksgefühl, seine Fähigkeiten zu entwickeln und einen Test mit einer sehr guten Note abzuschließen. Sollten die BuddhistInnen recht haben, die von einer Reihe von Wiedergeburten ausgehen, dann käme man mit seiner Lebensverweigerung sowieso nicht durch. Die trotzige Erwiderung »Ich will das Leben überhaupt nicht als Schule begreifen. Ich pfeife auf einen Abschluss« wäre sinnlos, weil die Antwort lauten würde: »Dann machst du ihn eben im nächsten Leben.« Wer nicht lernen will, muss nur länger zur (Lebens)Schule gehen.