von
Dr. Toralf Nöding
Rechtsanwalt in Berlin
begründet von
Christian Kahlert
bis zur 6. Auflage bearbeitet von
Dr. Matthias Zieger
7., neu bearbeitete Auflage
www.cfmueller.de
Verteidigung in Jugendstrafsachen › Herausgeber
Praxis der Strafverteidigung Band 2
|
Begründet von |
Rechtsanwalt Dr. Josef Augstein (†), Hannover (bis 1984) Rechtsanwalt Prof. Dr. Werner Beulke, Passau Prof. Dr. Hans-Ludwig Schreiber, Göttingen (bis 2008) |
Herausgegeben von |
Rechtsanwalt Prof. Dr. Werner Beulke, Passau Rechtsanwalt Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor, Berlin |
Schriftleitung |
Rechtsanwalt (RAK München und RAK Wien) Dr. Felix Ruhmannseder, Wien |
Verteidigung in Jugendstrafsachen › Autoren
Dr. Toralf Nöding ist Strafverteidiger in Berlin.
Kontakt: kontakt@jugendstrafverteidigung.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-8114-4517-8
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Trotz der vielen Sonderregelungen im materiellen und prozessualen Bereich sowie der besonderen Bedürfnisse und Probleme jugendlicher und heranwachsender Mandanten sind Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die auf die Verteidigung in Jugendstrafsachen spezialisiert sind, in Deutschland nach wie vor eine Ausnahmeerscheinung. Als Folge dieser Situation trifft man in der Praxis nicht selten auf ein gedämpftes Engagement in der Sache, gepaart mit Wissenslücken hinsichtlich der rechtlichen Besonderheiten. Angesichts dieses Befundes erscheint es dringend geboten, Verteidigern einen Leitfaden an die Hand zu geben, der eine fachkundige Beratung und Betreuung junger Delinquenten ermöglicht.
Dieser Aufgabe hatte sich zunächst Christian Kahlert mit großem Engagement gewidmet und das vorliegende Handbuch begründet. Nach seinem viel zu frühen Tod wurde ab der dritten Auflage das Werk von Matthias Zieger fortgeführt, und nunmehr hat Toralf Nöding die Neubearbeitung übernommen. Allen ist es zu verdanken, dass das Werk inzwischen zu einem Klassiker der Verteidigungsliteratur avanciert ist. Auch der nunmehr hinzugestoßene Berliner Strafverteidiger Toralf Nöding verfügt nicht nur über eine langjährige forensische Erfahrung, sondern zeichnet sich durch besondere pädagogische Fähigkeiten aus, die er als Dozent im Rahmen der anwaltlichen Fortbildung vielfach unter Beweis gestellt hat. Einfühlsam vermitteln die Autoren ein fundiertes, praxiserprobtes Fachwissen, ohne dass es dabei versäumt würde, in aktuellen rechtspolitischen Fragen klar Position zu beziehen.
Für die vorliegende, siebente Auflage wurde das Werk gänzlich überarbeitet, sodass wir wiederum eine Abhandlung präsentieren können, die den aktuellen Stand der jugendstrafrechtlichen Gesetzgebung, Rechtsprechung und wissenschaftlichen Diskussion aus Verteidigersicht wiedergibt.
So fanden im materiell-rechtlichen Teil des Werkes erste Erfahrungen und Rechtsprechung zur gesetzlichen Verankerung des Instituts der sog. Vorbewährung (§§ 61 ff. JGG) und des „Koppelungsarrestes“ (§16a JGG) Eingang; ebenso die wichtige Diskussion über die zunehmend wahrnehmbare Tendenz zum Schuldstrafrecht, insbes. bei der Verhängung von Jugendstrafen wegen Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 JGG).
Im prozessualen Teil der Abhandlung werden im Rahmen der vorliegenden Neuauflage neben den vielen Standardproblemen, nicht zuletzt im Umgang mit der Abspracheregelung, unter anderem die Neuerungen des Gesetzes zur effektiven und praxistauglicheren Gestaltung des Strafverfahrens und des Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vorgestellt. Auch Erfahrungen und Probleme mit den unterschiedlichen Strafvollzugsgesetzen der Länder werden berücksichtigt.
Das vorliegende Handbuch enthält eine Fülle von Ratschlägen für eine zielführende Verteidigungstaktik in den einzelnen Verfahrensstadien und bietet der Verteidigung in Jugendstrafsachen auf diese Weise sowohl bei der Beantwortung komplexer Rechtsfragen als auch bei der Bewältigung konkreter praktischer Probleme eine überaus wertvolle Hilfestellung. Die am Ende des Werkes enthaltenen Muster für Verteidigungsanträge erweisen sich gerade für Verteidigerinnen und Verteidiger, die nur gelegentlich in Jugendstrafverfahren tätig sind, als ausgesprochen nützlich.
Im Mai 2018
Passau
Werner Beulke
Berlin
Alexander Ignor
Mit der hier vorliegenden 7. Auflage habe ich die Bearbeitung des von Christian Kahlert begründeten, durch Matthias Zieger ab der 3. Auflage fortgeführten und zu einem Standardwerk des Jugendstrafrechts entwickelten Werkes übernommen. Die Bearbeitung der aktuellen Auflage erfolgte noch in Abstimmung mit Matthias Zieger; sie bringt das Buch auf den Stand des Januar 2018. Ab der folgenden Auflage werde ich das Werk allein verantworten.
Die 7. Auflage erscheint zu einem Zeitpunkt, in dem das Jugendstrafrecht in seiner erzieherischen Ausrichtung zunehmend unter Druck gerät: In der Rechtsprechung zur Verhängung von Jugendstrafe wegen Schuldschwere sind deutliche Tendenzen erkennbar, nach denen schon bei Straftaten aus dem Bereich der mittelschweren Kriminalität der Erziehungsgedanke mehr oder weniger gut verbrämt hinter den Strafzwecken des Schuldausgleichs, der Sühne und der positiven Generalprävention zurücktreten soll. Ungeachtet der kriminologisch erwiesenen erzieherischen Ungeeignetheit der Verhängung langjähriger Jugendstrafen wird aus dem durch jüngste Wahlergebnisse erstarkten rechtskonservativ ausgerichteten Lager der Ruf nach dem schnellen und längeren „Wegsperren“ jugendlicher und heranwachsender Straftäter lauter, wobei immer öfter mit dem „Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung“ argumentiert wird.
Zugleich wird Jugendstrafrecht zunehmend durch europarechtliche Vorgaben beeinflusst. Ein nicht unerheblicher Teil der Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes der letzten Jahre ging auf entsprechende nationale Umsetzungsverpflichtungen zurück. Die bis zum 11. Juni 2019 ins deutsche Recht umzusetzende EU-Richtlinie 2016/800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, führt diese europarechtliche Prägung des Jugendstrafrechts fort. Ungeachtet der Tatsache, dass durch solche europarechtlichen Vorgaben eine ganze Reihe überaus positiv zu bewertender Gesetzesänderungen bewirkt wurden, birgt die durch den europäischen Gesetzgeber beabsichtige Schaffung eines EU-weit einheitlichen Mindestschutzniveaus für jugendliche Beschuldigte die Gefahr, dass der nationale Gesetzgeber aus Kostengründen dort, wo das deutsche Recht bereits Verfahrensgarantien und Schutzvorschriften vorsieht, die über dem durch die europäischen Vorgaben festgelegten Mindestschutzniveau angesiedelt sind, entsprechende Einschnitte vornimmt.
Zudem tritt seit Ende 2015 die Gruppe der jugendlichen und heranwachsenden – teils unbegleiteten – Flüchtlinge verstärkt in den Fokus. Hier ist die jugendstrafrechtliche Praxis gefordert, erzieherisch sinnvolle Herangehensweisen zu entwickeln, welche die schwierige Lebenssituation solcher meist aus dem Familienverbund herausgerissener und durch die Flucht aus dem Heimatland geprägter Jugendlicher berücksichtigen. Weder die vorschnelle Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf heranwachsende Flüchtlinge noch die Verhängung freiheitsentziehender Sanktionen schon bei kleineren Delikten oder einer sich möglicherweise gerade erst entwickelnden kriminellen „Karriere“ können die Lösung sein: Vielmehr sind Politik und Praxis gefordert, passende ambulante Angebote zu schaffen, durch die nicht nur bestraft, sondern erzieherisch Einfluss genommen und unterstützt wird.
Die Relevanz des Jugendstrafrechts in der Verteidigungspraxis wird in den nächsten Jahren erheblich zunehmen: Die bereits angesprochene EU-Richtlinie 2016/800 verpflichtet den nationalen Gesetzgeber zu einer erheblichen Ausweitung des Anwendungsbereichs der Pflichtverteidigung im Jugendstrafrecht – nicht nur durch die Absenkung der Schwelle der zu erwartenden Sanktionierung, sondern auch durch die Einführung des Pflichtverteidigers schon im Ermittlungsverfahren, des so genannten „Pflichtverteidigers der ersten Stunde“. Im Ergebnis wird die Anzahl der jugendstrafrechtlichen Mandate, die über eine Pflichtverteidigung aus der Landeskasse finanziert werden, erheblich steigen. Diese europarechtlich forcierte Entwicklung wird dabei allerdings nicht nur die Attraktivität des Jugendstrafrechts für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger erhöhen; sie begründet für die Verteidigerschaft zugleich auch die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die im Jugendstrafrecht tätigen Kolleginnen und Kollegen über entsprechende Kenntnisse verfügen, mit der erforderlichen Sorgfalt und Seriosität agieren und Jugendstrafverteidigung nicht als Verteidigung zweiter Klasse verstehen, durch die mit wenig Aufwand Honorare generiert werden können. Konsequent verpflichtet die EU Richtlinie 2016/800 den nationalen Gesetzgeber daher, für eine entsprechende Fort- und Weiterbildung von Verteidigerinnen und Verteidigern zu sorgen, die auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts agieren.
Die hier vorliegende Neuauflage bemüht sich – in der Tradition der Vorauflagen – allen am Jugendstrafrecht interessierten Kolleginnen und Kollegen, aber auch Referendarinnen und Referendaren und auch den Studierenden eine übersichtliche, an den Bedürfnissen der Praxis orientierte, aus der Sicht des im Jugendstrafrecht tätigen Verteidigers geschriebene Darstellung des Jugendstrafrechts und des Jugendstrafverfahrens an die Hand zu geben. Das Werk soll dabei nicht nur die gezielte Einarbeitung in dieses Rechtsgebiet ermöglichen, sondern auch dem erfahrenen Verteidiger als Hilfsmittel zur vertieften Problembearbeitung dienen. Ich habe mich daher bemüht, die bereits in den Vorauflagen vorhandenen Tipps zur Verteidigungstaktik zu erweitern und auf die besonders praxisrelevanten Problemkonstellationen des Jugendstrafrechts ausführlich einzugehen. Diese strikte Praxisorientierung beabsichtige ich auch in den Folgeauflagen fortzuführen, wobei insbesondere die Darstellung zum Jugendstrafvollzug ausweitetet werden soll, wo durch den Kompetenzübergang auf die Bundesländer in den letzten Jahren eine (landes-)gesetzliche Neureglung auf die nächste folgte.
Ich würde mich freuen, wenn dieses Buch weiter dazu beiträgt, bei vielen Kollegen die Begeisterung für das oft unterschätzte, materiell und prozessual aber anspruchsvolle Gebiet des Jugendstrafrechts zu wecken oder wieder zu entfachen. Das Jugendstrafrecht bietet dabei nicht nur rechtliche Herausforderungen; es fordert den Verteidiger oft auch in menschlich-moralischer Hinsicht, weil er – bei richtigem Verständnis seiner Aufgabe – nicht nur einseitig für die Interessen seines jugendlichen Mandanten eintritt, sondern diesem durch seine Tätigkeit auch den Wert eines unabhängigen, ihm gegenüber unvoreingenommenen und prozessualer Fairness verpflichteten Strafrechtssystems vermittelt. Nicht zuletzt ergibt sich durch die anwaltliche Tätigkeit auf diesem Gebiet damit auch die Möglichkeit, jugendliche Mandanten so zu unterstützen und – im positiven Sinne – erzieherisch zu beeinflussen, dass sie eine schwierige Lebensphase überwinden und in ein Leben abseits des strafrechtlichen Sanktionssystems zurückfinden.
Ich danke an dieser Stelle Frau Rechtsreferendarin Bußmann-Welsch, Frau Kathrin Rüdel und Herrn Markus Butz für ihre wertvolle Unterstützung bei der Bearbeitung der Neuauflage.
Zugleich darf ich um Verständnis dafür bitten, dass ich – wie bereits in den Vorauflagen – im nachfolgenden Text ausschließlich die männliche Form verwendet habe.
Abschließend würde ich mich freuen, wenn mich unter meiner Mailadresse kontakt@jugendstrafverteidigung.de Anregungen, Hinweise und Kritik für die Erstellung der 8. Auflage erreichen.
Berlin, im Mai 2018
Toralf Nöding
wird generiert
Vorwort der Herausgeber
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Teil 1Jugenddelinquenz und Jugendstrafrecht
I.Die „Normalität“ von Jugenddelinquenz
II.Ursachen der Jugendkriminalität
III.Problemgruppen, Problemkonstellationen
1.Gruppendelikte
2.Alkohol, Drogen, Sucht
3.Einfluss der Medien
4.Junge Ausländer, Aussiedler und Flüchtlinge
5.Mehrfach Auffällige, Intensivtäter
6.Gewaltdelikte, Sexualstraftaten
7.Kapitalverbrechen junger Täter
IV.Die Effektivität des Jugendstrafrechts
Teil 2Materielles Jugendstrafrecht
I.Grundzüge des JGG
1.Bedeutung des Erziehungsgedankens
2.Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts, Verhältnis zum allgemeinen Strafrecht
II.Verantwortungsreife
1.Strafmündigkeit und Verantwortungsreife
2.Abgrenzung zum Verbotsirrtum und zur Schuldfähigkeit
3.Prüfung der Verantwortungsreife
III.Rechtsfolgen einer Jugendstraftat
1.Grundsätze, Rangfolge
2.Erziehungsmaßregeln
a)Weisungen
b)Hilfe zur Erziehung
3.Zuchtmittel
a)Verwarnung
b)Auflagen
c)Jugendarrest
aa)Arrest nach § 16 JGG
bb)Koppelungsarrest nach § 16a JGG
4.Jugendstrafe
a)Voraussetzungen der Jugendstrafe
aa)Schädliche Neigungen
bb)Schwere der Schuld
b)Bemessung der Jugendstrafe
c)Nichtanrechnung der Untersuchungshaft
d)Strafaussetzung zur Bewährung
e)Vorbehalt der nachträglichen Entscheidung über die Bewährungsaussetzung nach §§ 61 ff. JGG (ehemals „57er-Entscheidung“, „Vorbewährung“)
f)Korrektur eines die Bewährung ablehnenden Urteils
g)Bewährung ohne Strafe, „27er-Entscheidung“
5.Einheitsstrafe
6.Maßregeln
a)Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt
b)Führungsaufsicht
c)Entziehung der Fahrerlaubnis
d)Sicherungsverwahrung
aa)Primäre Sicherungsverwahrung
bb)Vorbehaltene Sicherungsverwahrung
cc)Nachträgliche Sicherungsverwahrung
7.Nebenstrafen/Nebenfolgen
a)Fahrverbot
b)Einziehung
8.Kosten und Auslagen
IV.Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende
1.Jugendverfehlung
2.Reiferückstand
3.Das auf Heranwachsende anwendbare Jugendstrafrecht
4.Milderungsmöglichkeit bei Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende
a)Herabsetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe
b)Sicherungsverwahrung
c)Nichteintritt von Nebenfolgen
V.Straftaten in unterschiedlichen Alters- und Reifestufen
Teil 3Die Beteiligten des Jugendstrafverfahrens, ihre Rechtsstellung, Zuständigkeiten und Aufgaben
I.Der junge Beschuldigte
II.Eltern und Erziehungsberechtigte
III.Polizei
IV.Jugendstaatsanwalt
V.Jugendgerichtshilfe
VI.Jugendrichter, Zuständigkeiten der Jugendgerichte
VII.Jugendschöffen
VIII.Sachverständige
IX.Bewährungshelfer
X.Verteidiger
Teil 4Diversion und Verfahrenseinstellung, §§ 45, 47 JGG
I.Begriff, Rechtsgrundlagen, Abgrenzung zur Verfahrenseinstellung nach StPO
II.Erscheinungsformen der Diversion
1.Absehen von Verfolgung durch den Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren nach §§ 45 Abs. 1 JGG, 153 StPO
2.Absehen von Verfolgung durch den Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren mit Rücksicht auf andere erzieherische Maßnahmen, § 45 Abs. 2 JGG
3.Absehen von Verfolgung mit Rücksicht auf eine vom Staatsanwalt angeregte ambulante jugendrichterliche Maßnahme: formloses jugendrichterliches Erziehungsverfahren, § 45 Abs. 3 JGG
4.Einstellung durch den Jugendrichter, § 47 JGG
III.Rechtspraxis
IV.Gefahren der Diversion
Teil 5Verteidigung im Jugendstrafverfahren
I.Mandatsannahme
II.Pflichtverteidigung, § 68 JGG, § 140 StPO
III.Verteidigung im Vorverfahren
1.Verteidigungsgespräche mit dem jungen Mandanten und seinen Eltern
2.Kontakt zur Jugendgerichtshilfe, Bezugspersonen oder Einrichtungen
3.Erarbeitung der Verteidigungsstrategie
4.Bemühen um Einstellung/Diversion
IV.Vorläufige Anordnungen über die Erziehung, einstweilige Unterbringung, Untersuchungshaft
1.Vorläufige Anordnungen über die Erziehung, einstweilige Unterbringung
2.Untersuchungshaft
a)Dringender Tatverdacht und Haftgründe
b)Subsidiaritätsprinzip, Verhältnismäßigkeit
c)Bemühen um Haftvermeidung
d)Untersuchungshaftvollzug
V.Verteidigung im Zwischenverfahren
VI.Verteidigung in der Hauptverhandlung
1.Besondere Vorbereitungspflicht des Verteidigers
2.Sonderbestimmungen für die Hauptverhandlung in Jugendstrafsachen
a)Einstellung des Verfahrens
b)Öffentlichkeit
c)Presse- und Bildberichterstattung
d)Junge Zeugen
e)Vereidigung von Zeugen
f)Abwesenheitsverhandlung, zeitweiliger Ausschluss des Angeklagten
g)Besondere Anforderungen an die schriftlichen Urteilsgründe
h)Besondere Anforderungen an Belehrungen
i)Anwesenheits- und Verfahrensrechte von Eltern, Jugendgerichtshilfe und Bewährungshelfer
j)Anwendungsbesonderheiten
3.Schlussvortrag des Verteidigers
VII.Verständigung und Absprache
VIII.Rechtsmittel
IX.Besondere Verfahrensarten
1.Vereinfachtes Jugendverfahren, §§ 76–78 JGG
2.Privat- und Nebenklage, Adhäsionsverfahren
3.Junge Angeklagte vor Erwachsenengerichten, §§ 102, 103 Abs. 2, 104 JGG
4.Strafbefehlsverfahren
5.Beschleunigtes Verfahren
6.Verfahren bei Ordnungswidrigkeiten
Teil 6Strafvollstreckung, Strafvollzug, Register
I.Strafvollstreckung
1.Verteidigung im Vollstreckungsverfahren
2.Der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter
3.Aussetzung der Restjugendstrafe zur Bewährung, Führungsaufsicht bei Vollverbüßung
4.Abgabe der Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft
II.Jugendstrafvollzug
1.Rechtsgrundlagen
2.Praxis des Jugendstrafvollzuges
3.Rechtsschutz im Jugendstrafvollzug
4.Herausnahme aus dem Jugendstrafvollzug, Hereinnahme in den Jugendstrafvollzug
III.Straf- und Erziehungsregister, Beseitigung des Strafmakels
Teil 7Muster von Verteidigungsanträgen
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
a.A. | andere Ansicht |
abl. | ablehnend |
a.F. | alte Fassung |
AG | Amtsgericht |
AmtBlBln | Amtsblatt für Berlin |
Anm. | Anmerkung |
ARB | Beschluss des Assoziationsrates EG/Türkei |
AufhG/EWG | Aufenthaltsgesetz EWG |
AuslG | Ausländergesetz |
BayObLG | Bayerisches Oberstes Landesgericht |
BewHi | Bewährungshilfe, Fachzeitschrift für Bewährungs-, Gerichts- und Straffälligenhilfe (zitiert nach Jahr und Seite) |
BGB | Bürgerliches Gesetzbuch |
BGH | Bundesgerichtshof |
BGHSt | Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen |
BHO | Bundeshaushaltsordnung |
BlnAnwBl | Berliner Anwaltsblatt |
BMJV | Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz |
BORA | Berufsordnung für Rechtsanwälte |
BRAGO | Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte |
BRAO | Bundesrechtsanwaltsordnung |
BT-Drucks. | Bundestags-Drucksache |
BtMG | BtMG Betäubungsmittelgesetz |
BVerfG | Bundesverfassungsgericht |
BVerfGE | Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts |
BVerwG | Bundesverwaltungsgericht |
BVerwGE | Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts |
BZgA | Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung |
BZRG | Bundeszentralregistergesetz |
DAR | Deutsches Autorecht (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite) |
DSM-IV- TR | Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, Textrevision |
DVJJ | Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen |
DVJJ-Journal | Journal der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe |
EGGVG | Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz |
EGMR | Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte |
Einf | Einführung |
EMRK | Europäische Kommission für Menschenrechte |
FEVG | Gesetz über das Verfahren bei Freiheitsentziehungen |
FGG | Gesetz über die Freiwillige Gerichtsbarkeit |
GA | Goltdammer's Archiv für Strafrecht (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite) |
GBA | Generalbundesanwalt |
GG | Grundgesetz |
Grdl. | Grundlagen |
GS | Großer Senat |
GVBl | Gesetz- und Verordnungsblatt |
GVG | Gerichtsverfassungsgesetz |
h.M. | herrschende Meinung |
Hrsg. | Herausgeber |
ICD-10 | Internationale Klassifikation psychischer Störungen |
InfAuslR | Informationsbrief Ausländerrecht (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite) |
i.d.R. | in der Regel |
i.S.d. | im Sinne des |
i.V.m. | in Verbindung mit |
JAVollzO | Jugendarrest-Vollzugsordnung |
JGG | Jugendgerichtsgesetz |
JGH | Jugendgerichtshilfe |
JR | Juristische Rundschau (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite) |
JStVollzG | Jugendstrafvollzugsgesetz (zitiert wird das JStVollzG Berlin) |
Justiz | Die Justiz, Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg (zitiert nach Jahr und Seite) |
JWG | Jugendwohlfahrtsgesetz |
KG | Kammergericht |
KJ | Kritische Justiz (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite) |
KJHG | Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts |
KK | Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung |
krit. | kritisch(er) |
KUrhG | Kunsturhebergesetz |
LG | Landgericht |
LR | Löwe-Rosenberg, StPO, Großkommentar |
MDR | Monatsschrift für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite) |
MSchRKrim | Monatsschrift für Kriminologie (zitiert nach Jahr und Seite) |
m.w.N. | mit weiteren Nachweisen |
NJW | Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite) |
NStZ | Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite) |
NZV | Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (zitiert nach Jahr und Seite) |
OLG | Oberlandesgericht |
OWiG | Ordnungswidrigkeitengesetz |
PDV | Polizeidienstvorschrift |
PflVG | Pflichtversicherungsgesetz |
PsychKG | Gesetz über psychisch Kranke |
RdJB | Recht der Jugend und des Bildungswesens (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite) |
RiLi | Richtlinien |
RL | Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz |
RMed | Rechtsmedizin (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite) |
RPflG | Rechtspflegergesetz |
RVG | Rechtsanwaltsvergütungsgesetz |
s. | siehe |
SGB VIII | Achtes Buch des Sozialgesetzbuches (Kinder- und Jugendhilferecht) |
SK | Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, |
st. | ständige |
StGB | Strafgesetzbuch |
StPO | Strafprozessordnung |
str. | streitig |
s.u. | siehe unten |
StV | Strafverteidiger (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite) |
StVollstrO | Strafvollstreckungsordnung |
StVollzG | Strafvollzugsgesetz |
teilw. | teilweise |
UVollzO | Untersuchungshaftvollzugsordnung |
v. | vom |
vgl. | vergleiche |
VGH | Verwaltungsgerichtshof |
VV | Vergütungsverzeichnis zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz |
VVJug | bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug |
w.N. | weitere Nachweise |
WiStG | Wirtschaftstrafgesetz |
ZJJ | Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (zitiert nach Jahr und Seite) |
ZRP | Zeitschrift für Rechtspolitik (zitiert nach Jahr und Seite) |
ZStW | Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Jahr und Seite) |
I.Die „Normalität“ von Jugenddelinquenz
II.Ursachen der Jugendkriminalität
III.Problemgruppen, Problemkonstellationen
IV.Die Effektivität des Jugendstrafrechts
Teil 1 Jugenddelinquenz und Jugendstrafrecht › I. Die „Normalität“ von Jugenddelinquenz
1
Dem Jugendstrafrecht liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Straftaten junger Täter weitgehend Ausdruck der schwierigen Umorientierungsphase in Pubertät und Adoleszenz sind. Sie sind von daher „normal“, auf sie soll deshalb möglichst nur mit erzieherisch wirkenden Mitteln reagiert werden. Sie lassen sich in allen gesellschaftlichen Gruppen unabhängig von Schichtzugehörigkeit oder Nationalität feststellen, sind also allgegenwärtig („ubiquitär“). Diese Verhaltensweisen enden meist auch dann wenn sie nicht entdeckt und ihnen nicht mit den Mitteln des Jugendstrafrechts entgegengetreten wird, von selbst, wenn der Reifungsprozess abgeschlossen, Sozialverhalten erlernt und die persönliche Situation durch Arbeitsaufnahme und/oder Familiengründung stabilisiert ist. Jugenddelinquenz ist also ganz überwiegend eine vorübergehende Erscheinung, ist „passager“ bzw. „episodenhaft“. Die statistischen Zahlen erweisen einen rasanten Anstieg der Kriminalitätsbelastung vom 14. bis zum 21./22. Lebensjahr und danach ein deutliches, kontinuierliches Absinken mit zunehmendem Lebensalter. Bei jungen Männern steigt die Kurve der Kriminalitätsbelastung zwischen dem 14. und dem 21. Lebensjahr von Null (Strafunmündigkeit) auf knapp 8 % an, und senkt sich dann auf 3 % bis zum 50. Lebensjahr. Junge Frauen haben zwar insgesamt eine deutlich geringere Kriminalitätsbelastung aufzuweisen, aber auch dort steigt die Kurve zwischen dem 14. und dem 21. Lebensjahr von Null auf etwa 2 %, um dann bis zum 50. Lebensjahr auf 1 % zurückzugehen. Der ganz überwiegende Teil der im Jugendalter episodenhaft auftretenden Deliquenz ist dabei der sog. Bagatellkriminalität zuzuordnen. Diese allgemein anerkannten, auch in den einschlägigen Kommentaren berücksichtigten und von der Rechtsprechung durchaus erkannten und vor allem in der Diversionspraxis verarbeiteten kriminologischen Erkenntnisse sind heute, trotz aller Bewertungen im Einzelnen, unbestritten.[1] Sie werden durch die Polizei- und Rechtspflegestatistiken zu den Tatverdächtigen- bzw. Verurteiltenzahlen[2] ebenso belegt wie durch die Ergebnisse der Dunkelfeldforschung.[3] Jeder Einzelne wird, wenn er sich ohne Verdrängung an seine eigene Jugend oder an Erlebnisse mit Jugendlichen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis erinnert, dies aus eigener Erfahrung bestätigen können.
2
Die Polizei- und Rechtspflegestatistiken erfassen natürlich nur das „Hellfeld“, also die ermittelten Straftaten. Davon sind aber bereits 15-20 % aller jungen Menschen erfasst. Dabei hat die Dunkelfeldforschung ergeben, dass nur ein geringer Teil der von jungen Tätern begangenen Straftaten entdeckt wird.[4]
3
Würde man diese Erkenntnisse ernst nehmen, bestünde unabhängig von der Streitfrage, ob Erziehen durch Strafen überhaupt möglich oder sinnvoll ist, eigentlich überhaupt kein Grund, auf Jugenddelinquenz mit den Mitteln des Jugendstrafrechts zu reagieren. Nicht gefasste und nicht bestrafte junge Menschen führen regelmäßig später ein ebenso geordnetes Leben wie diejenigen, die aus Anlass von Straftaten im Jugendstrafverfahren ermittelt und sanktioniert worden sind. Zumindest die üblichen Jugendstraftaten beweisen nicht einmal eine gesteigerte Erziehungsbedürftigkeit. Wenn dennoch reagiert wird, und sei es auch nur durch die oft bereits sehr beeindruckende Einleitung des Verfahrens (polizeiliche Vernehmung, Reaktion der Eltern und des Umfelds), dann ist dies pädagogisch nur erklärbar durch die Sorge, dass die jungen Menschen es als Gleichgültigkeit oder Inkonsequenz missverstehen würden, wenn die Verletzung von Strafrechtsnormen völlig folgenlos bliebe. Sinn der Sanktion ist dann also lediglich die Normverdeutlichung.[5] Die Jugendkriminalität muss gegenüber besorgten oder entsetzten Eltern ebenso entdramatisiert werden wie gegenüber dem gesellschaftlichen Umfeld. Es gilt der Leitsatz „weniger ist mehr“. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität jugendstrafrechtlicher Reaktionen muss strikt beachtet werden.[6] Diese Folgerung zieht auch der Gesetzgeber, vor allem in § 5 JGG (Subsidiaritätsgrundsatz), §§ 45, 47 JGG (Vorrang der informellen Erledigung durch Diversion) und §§ 71, 72 JGG (Vorrang der Haftvermeidung vor Untersuchungshaft). Diese Grundsätze hat der Verteidiger deshalb immer wieder in Erinnerung zu rufen.[7]
4
Diese Erkenntnisse passen nicht für die etwa 5 % ausmachende Gruppe junger Menschen, die wiederholt und oft auch sehr intensiv Straftaten begehen und auf deren Konto sich 30 bis 50 % der entdeckten Straftaten und dabei zumeist die schwereren Straftaten, insbesondere auch Gewaltdelikte, zurückführen lassen.[8] So wünschenswert es wäre, über Kriterien zu verfügen, um schon nach den ersten Straftaten zu erkennen, wer zu dieser Gruppe gehört, um dann mit geeigneten erzieherischen Mitteln den sich anbahnenden kriminellen Karrieren vorzubeugen, ist es trotz aller Bemühungen bisher nicht gelungen, hierfür taugliche Maßstäbe herauszufinden. Thesen, dass Schwierigkeiten im Sozialisationsprozess oder die Kontraproduktivität erlittener freiheitsentziehender Reaktionen dazu führen, dass der Jugendliche später zur Gruppe der mehrfach Auffälligen, sog. „Intensivtäter“ gehört, haben sich nicht bestätigt. Übrig geblieben ist eine aus praktischer Erfahrung gewonnene Faustregel: Wer mehr als fünfmal auffällig wurde, kann zu dieser Gruppe gerechnet werden. Das bedeutet aber umgekehrt: Bei bis zu vier Registrierungen darf man von den Grundsätzen der Normalität und Episodenhaftigkeit des Straffälligwerdens ausgehen.[9]
5
Die Erscheinungsformen der „normalen“ Jugendkriminalität lassen sich aus den einschlägigen Statistiken herauslesen. Typische Jugenddelikte sind einfacher Diebstahl, insbesondere Ladendiebstahl, schwerer Diebstahl (Automaten- und Kfz-Diebstahl), einfache und schwere, insbesondere gemeinschaftliche Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Schwarzfahren und natürlich Verkehrsdelikte (Fahren ohne Fahrerlaubnis, Verstöße gegen Pflichtversicherungsgesetz).[10] Seit einigen Jahren gesellen sich zu diesen „klassischen“ typischen Jugenddelikten noch vermehrt die Sachbeschädigung (Graffities, Tags) und das „Abziehen“ (Statussymbole bzw. Prestigeobjekte, insbesondere Handys oder Mützen, Jacken oder Turnschuhe angesehener Hersteller, werden von Gleichaltrigen durch Anwendung oder Androhung von Gewalt weggenommen oder heraus verlangt).[11] In letzter Zeit werden zudem gehäuft Ermittlungsverfahren gegen Jugendliche wegen im Internet und den sozialen Netzwerken begangenen Beleidigungs-, Nachstellungs oder Verbreitungsdelikten (sog. Cyberbullying, Cybergrooming, Cyberstalking und Sexting[12]) geführt.[13] Außerdem treten vor allem islamische Jugendliche und Heranwachsende – fasziniert von der Gewaltpropaganda des sog. „Islamischen Staats“ – häufiger als Mitglieder oder Unterstützer terroristischer Vereinigungen (insb. nach §§ 129a, 129b StGB) in Erscheinung.[14]
6
Angesichts dieser Befunde hat sich die jugendkriminologische Forschung immer nachdrücklich gegen regelmäßig wiederkehrende Forderungen gewandt, wegen der angeblich zunehmenden und immer gefährlicher werdenden Jugendkriminalität das Jugendstrafrecht zu verschärfen, Heranwachsende generell nach Erwachsenenstrafrecht zu beurteilen oder die Strafmündigkeitsgrenze unter 14 Jahre zu senken.[15] Es sind zumeist Straftaten, begangen von der Minderheit junger Mehrfachtäter, die immer wieder Anlass für Forderungen aus dem politisch-konservativen Bereich geben, das Jugendstrafrecht ganz oder teilweise abzuschaffen und härtere, insbesondere freiheitsentziehende Sanktionen vorzusehen. Dieser Forderung muss schon deshalb entgegen getreten werden, weil sie wegen des Verhaltens einer Minderheit jugendlicher Straftäter die sonst unbestrittenen Vorteile des Jugendstrafrechts für die große Mehrheit junger Delinquenten aufgeben will. Es wird auch im Folgenden zu zeigen sein, dass härtere, freiheitsentziehende Sanktionen selbst bei dieser Minderheit keinen Präventionserfolg versprechen.
Aktuelle Statistiken weisen im letzten Jahrzehnt einen Rückgang der Kriminalitätsbelastung junger Menschen aus, wobei der Rückgang im Bereich der Gewaltkriminalität besonders stark ist.[16] In den Jahrzehnten zuvor war dagegen – durchbrochen von kurzen Perioden der Stagnation – ein Anstieg der registrierten Jugendkriminalität zu verzeichnen.[17] Im Hinblick auf diesen Anstieg der Jugendkriminalität in den 50er bis 80er Jahren ist aber zu berücksichtigen, dass sich auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert haben: Es wird geschätzt, dass etwa 50 % der heutigen Ermittlungsverfahren gegen junge Menschen Vorwürfe betreffen, die früher meist durch Eltern, Schule, Ausbildungsstelle oder in der Nachbarschaft informell (Erziehungsmaßnahme der Eltern, Schadensausgleich) und somit rein erzieherisch beigelegt wurden. In der heutigen, eher anonymen Gesellschaft dagegen, überwiegt eine verpolizeilichte Sozialkontrolle. Hinzu kommt in der jetzigen weitgehend „versicherten“ Gesellschaft die Notwendigkeit, durch eine Strafanzeige die Voraussetzung für eine rasche Schadensregulierung durch die Versicherung zu schaffen. Neben dem Anzeigeverhalten der Bevölkerung beeinflussen aber auch Ermittlungskapazität und Aufklärungsquote die polizeiliche Kriminalitätsstatistik. Orientiert man sich an den Verurteilungsstatistiken zeigt sich ein weitaus positiveres Bild der Kriminalitätsbelastung junger Menschen, wobei allerdings einkalkuliert werden muss, dass sich die Verurteilungsziffern durch die Diversionspraxis (§§ 45, 47 JGG) deutlich verringert haben. Im Hinblick auf die statistische Erfassung von Gewalt- und insbesondere Raubdelikten in beiden Statistiken darf nicht außer Acht bleiben, dass es sich in der Mehrzahl um Taten handelt, in denen körperliche oder bewaffnete Gewalt nur angedroht wird („Abziehen“ Gleichaltriger) oder der junge Täter sich die Überraschung des Opfers zunutze machen will (Handtaschenraub).[18]
Demnach ergibt sich auch aus den Kriminalstatistiken nicht, dass das Jugendstrafrecht keine zeitgemäße Reaktionsmöglichkeit mehr auf die Jugendkriminalität darstellt. Im Gegenteil werden Praktiker und Kriminologen nicht müde, sich statt für eine Verschärfung des Jugendstrafrechts für pädagogische und soziale, die Ursachen bekämpfende Gegenkonzepte auszusprechen: Schaffung der Voraussetzungen für eine gesicherte ökonomische Existenz in Ausbildung und Beruf, Herstellung von Bedingungen, unter denen sich ein stabiles Selbstwertgefühl und die Fähigkeit entwickeln können, verlässliche persönliche Beziehungen aufzubauen.[19] Sie plädieren für eine Erweiterung der Schutzvorschriften des Jugendgerichtsgesetzes z.B. auf junge Erwachsene bis zu 24/25 Jahren.[20]
Albrecht Jugendstrafrecht, S. 2 ff.; Brunner/Dölling JGG, 5 ff. zu Einf.; Meier/Rössner/Schöch § 3 Rn. 6 ff.; Schaffstein/Beulke/Swoboda Jugendstrafrecht, Rn. 17 ff.; Spiess Jugendkriminalität in Deutschland – zwischen Fakten und Dramatisierung, S. 21. Ostendorf/Drenkhahn Jugendstrafrecht, Rn. 2 ff.; Boers u.a. NK 2010, 58; Dollinger/Schmidt-Semisch Handbuch Jugendkriminalität, S. 4; Dollinger/Schmidt-Semisch/Schumann Handbuch Jugendkriminalität, S. 261; Boers Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 2, S. 577 ff.; Stemmler/Wallner/Weiss in: Festschrift Streng, S. 627.
Albrecht Jugendstrafrecht, S. 2 ff.; Backmann DVJJ-Journal 2002, 34; Laubenthal/Baier/Nestler Jugendstrafrecht, Rn. 7 ff.; Ostendorf Grdl. 7 ff. zu §§ 1–2 JGG; Schaffstein/Beulke/Swoboda Jugendstrafrecht, Rn. 38 ff.
Albrecht Jugendstrafrecht, S. 16 ff.; Brunner/Dölling JGG, 5 zu Einf.; Walter/Neubacher Jugendkriminalität, Rn. 377 ff.
Walter/Neubacher Jugendkriminalität, Rn. 377 ff.; Deutsches Jugendinstitut (DJI) Zahlen, Daten, Fakten zu Jugendgewalt (Stand: Juli 2017), abrufbar unter https://www.dji.de.
Walter/Neubacher Jugendkriminalität, Rn. 553.
Albrecht Jugendstrafrecht, S. 78 ff.; Dollinger/Schmidt-Semisch/Reuband Handbuch Jugendkriminalität, S. 259.
Eisenberg 9 zu § 45, 7 zu § 71, 3 zu § 72 JGG; Ostendorf 24 zu § 5 JGG.
Vgl. Brunner/Dölling JGG, 41 zu Einf.; zu Mehrfach- und Intensivtäter noch ausführlich unten, Rn. 21 f.
Albrecht Jugendstrafrecht, S. 37 ff.; Huck DVJJ-Journal 2002, 187; Löhr ZRP 1997, 280 (281); Schaffstein/Beulke/Swoboda Jugendstrafrecht, Rn. 21 ff.; Schallert DVJJ-Journal 1998, 17; Walter/Neubacher Jugendkriminalität, Rn. 461 ff., 485 f.
Spiess Jugendkriminalität in Deutschland – zwischen Fakten und Dramatisierung, S. 21.
Albrecht Jugendstrafrecht, S. 8 ff.; Walter/Neubacher Jugendkriminalität, Rn. 434 ff.
Zur Strafbarkeit des sog. Sextings Hüneke ZJJ 2016, 135; zum sog. Cybergrooming Mathiesen Cybermobbing und Cybergrooming, passim.
Pfeiffer/Baier/Kliem Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland – Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer, S. 61 bis 68, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/zur-entwicklung-der-gewalt-in-deutschland-/121148.
Vgl. Dantschke ZJJ 2015, 43; Matt ZJJ 2017, 252; Leuschner ZJJ 2017, 257.
Hinz ZRP 2001, 106 (108 ff.); Höyink/Sommer ZRP 2001, 245 (246 f.); Schwind ZRP 1999, 107; s. a. Rn. 39.
Pfeiffer/Baier/Kliem Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland – Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer, passim; Antholz FPPK 2017, 81; Albrecht RdJB 2016, 395; Dölling/Hermann/Laue/Weninger FPPK 2014, 72; Baier/Pfeiffer/Hanslmaier ZJJ 2013, 279; Lösel in: Festschrift Streng, 2017, S. 539.
Brunner/Dölling JGG, 13 zu Einf.
Damit sollen solche Taten nicht bagatellisiert werden. Denn Opfer des Handtaschenraubs sind oft ältere Menschen, bei denen bereits ein Sturz zu erheblichen Verletzungsfolgen führen kann, oder schwächere andere Jugendliche, die eingeschüchtert werden.
Antholz Neue Praxis (np) 2017, 55; Baier/Prätor FK 2017, 1, 40; Taefi/Görgen/Kraus FK 2013, 3, 53; Baumann u.a. StV 1998, 632; Ostendorff DVJJ-Journal 1999, 19; Neubacher ZRP 1998, 429; Schallert DVJJ-Journal 1998, 17; Schumann/Prein/Seus DVJJ-Journal 1999, 300.
Jugendstrafrechtsreform-Kommission des DVJJ DVJJ-Journal 2001, 345; Dünkel/Geng/Passow ZJJ 2017, 123.
Teil 1 Jugenddelinquenz und Jugendstrafrecht › II. Ursachen der Jugendkriminalität
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Die allgemeine Jugenddelinquenz ist nicht monokausal zu erklären. Die unterschiedlichen kriminologischen Erklärungsansätze bergen jeweils für sich Teilwahrheiten. Sicher spielt die körperlich-biologische Entwicklung der jungen Menschen in der Pubertät und vor allem das schnellere körperliche Heranreifen und die daraus folgende Disharmonie zur sonstigen sozialen Entwicklung eine Rolle. Hinzu treten im Prozess des Erwachsenwerdens psycho-soziale Bedingungen und Belastungen, die je nach der sozialen Stellung des jungen Menschen und seiner Eltern und nach der gesamten örtlichen und zeitgeschichtlichen Situation sehr unterschiedliche Gestalt annehmen können. Den jungen Menschen wird zugemutet, die Egozentrik der Kindheit zu überwinden und ihr Sozialverhalten den allgemein anerkannten Normen anzupassen. Es entstehen Verhaltensprobleme, Enttäuschungen und Missverständnisse. Spannungen und Übergangsprobleme rühren oft daher, dass zwar an die Jugendlichen und Heranwachsenden soziale Anforderungen gestellt werden, ihnen aber die soziale Anerkennung und der soziale Aufstieg, die sie bei Erwachsenen sehen, praktisch weitgehend verschlossen bleiben. Die jungen Menschen müssen in Jugend und Adoleszenz nicht nur ihr Wissen und ihr Verhaltensrepertoire erweitern, sie wollen auch eigene Erfahrungen sammeln, das ihnen Vorgegebene in Frage stellen, Protest und Opposition wagen, „Männlichkeit“ und Selbstbewusstsein demonstrieren. Nimmt man die Unerfahrenheit und manchmal sogar Hilflosigkeit junger Menschen hinzu, wird deutlich, dass es hier zu Grenzüberschreitungen bis hin zu Straftaten kommen kann. Welchen Verlauf die Probleme und Konflikte nehmen, in denen sich die Gruppe der 14-21-jährigen befindet, hängt weitgehend von Sozialisation, Familienverhältnissen (gab es genug Zärtlichkeit, Zuwendung und Zeit für die Kinder?), Wohn-, Arbeits- und sonstigen Lebensbedingungen, Erfolg oder Misserfolg bei der Ausbildung und der Frage ab, ob es gelingt, die Freizeit aktiv, selbstbestimmt und konstruktiv zu gestalten. Jugend als Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt wird zentral auch bestimmt von der Suche nach Geborgenheit und Anerkennung in Gleichaltrigengruppen, die positiven oder schädlichen Einfluss ausüben können. Junge Menschen können die mit dem Anstieg sozialer Gegensätze zunehmende Diskrepanz, zwischen den subjektiven Ansprüchen (von teurer Markenkleidung bis hin zu gehobener Ausbildung) und den fehlenden Möglichkeiten diese durchzusetzen (fehlende Geldmittel, keine abgeschlossene Schulbildung), schwer ertragen.[1]
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Nach den Erfahrungen der Praxis hat es den Eindruck, als ob vor allem Jugendliche und Heranwachsende gefährdet sind, die mit folgenden Belastungen zu kämpfen haben:
• | zerrüttete Familienverhältnisse, unvollständige Familien („broken home“), Ablehnung durch den neuen Lebensgefährten eines Elternteils, |
• | „Pendelerziehung“ mit inkonsistentem Erziehungsverhalten der wechselnden Bezugspersonen (Mutter – Großmutter – Onkel – verschiedene Heime – Trebegängerzeiten), |
• | abgebrochene Schule, fehlende Ausbildung, längere Arbeitslosigkeit, |
• | Gewalt in der Familie, eigene Gewalterfahrungen als Opfer, Suchtprobleme in der Familie, eigene Suchtprobleme, |
• | fehlende Anregungen für konstruktives Freizeitverhalten, |
• | Abstempelung bzw. Stigmatisierung aufgrund Zugehörigkeit zu einer negativ bewerteten oder benachteiligten Gruppe oder einem entsprechenden (Wohn-)Umfeld, |
• | kulturelle Entwurzelung, insb. bei jungen Flüchtlingen und deutschen Jugendlichen mit Migrationshintergrund.[2] |
Ähnliche Hintergründe sind auch bei der Kinderdelinquenz festzustellen, auf die in erster Linie mit Erziehung und Angeboten der Jugendhilfe (§§ 27 ff. SGB VIII) und nur im Notfall mit Zwangsmitteln des Vormundschaftsgerichts (§§ 1666, 1666a BGB) reagiert werden muss.[3]
Palentien/Göbel ZJJ 2004, 239, diskutieren in diesem Zusammenhang die Jugendarmut als eine der Ursachen von Jugendkriminalität.
Backmann DVJJ-Journal 2002, 34; Brunner/Dölling JGG, 17, 19, 23 ff. zu Einf.; Streng Jugendstrafrecht, Rn. 15; Eisenberg 55 ff. zu § 5 JGG; Feltes/Putzke Kriminalisitik 2004, 529; Heitmeyer Kinder- und Jugendkriminalität, S. 25 ff.; Schaffstein/Beulke/Swoboda Jugendstrafrecht, Rn. 47 ff.; Schumann Jugendkriminalität und die Grenzen der Generalprävention, S. 81 ff.; Schumann/Prein/Seus DVJJ-Journal 1999, 301; Walter/Neubacher Jugendkriminalität, Rn. 135 ff.
Huck DVJJ-Journal 2002, 187; Thomas ZRP 1999, 193; Wassermann NJW 1998, 2097; zu strafprozessualen Maßnahmen gegen strafunmündige Personen: Verrel NStZ 2001, 284; zur erkennungsdienstlichen Behandlung von Kindern: Apel/Eisenhardt StV 2006, 490; zur Strafbarkeit der Eltern nach § 171 StGB: LG Bremen StV 2000, 501; Neuheuser NStZ 2000, 174; zur diesbezüglichen Kriminalprävention Holthusen/Hoops ZJJ 2012, 23.
Teil 1 Jugenddelinquenz und Jugendstrafrecht › III. Problemgruppen, Problemkonstellationen