Über dieses Buch:
Die Wohnung ist bereits neu vergeben, doch Irene Peacock weigert sich beharrlich, aus ihrem Londoner Apartment in ein Altersheim zu ziehen. Damit setzt sie eine schicksalshafte Kette von Ereignissen in Gang, die bald außer Kontrolle geraten und ihre düsteren Kreise bis ins englische Königshaus ziehen. Die Nachmieter, auf der Flucht vor Skandalen und bösen Gerüchten, erhoffen sich von diesem Apartment die Chance auf einen Neuanfang – doch den Schatten ihrer Vergangenheit können sie nicht entkommen. Als eine von ihnen tot aufgefunden wird, entsteht ein schrecklicher Verdacht …
»Gillian White schreibt wundervolle Geschichten über die ganz alltägliche Niedertracht.« Fay Weldon
Über die Autorin:
Gillian White stammt aus Liverpool und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Vier ihrer Romane wurden vom britischen Fernsehen erfolgreich verfilmt.
Bei dotbooks veröffentlichte sie ihre Romane »Das Ginsterhaus«, »Denn du bist mein«, »Hexenwiege«, »Ein unheimlicher Gast«, »Das Familiengrab«, »Das Hotel bei den Klippen«, »Der Peststein«, »Der Fluch der alten Dame«, »Du kannst uns nicht entkommen« und »Die Einsamkeit der Lüge«.
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eBook-Neuausgabe Juli 2018
Copyright © der englischen Originalausgabe 1997 by Gillian White
Die englische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Chain Reaction« bei Orion Books, Ltd., London
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2005 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/safakcakir und Claudio Divizia
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96148-416-4
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Gillian White
Der Nachmieter
Roman
Aus dem Englischen von Isabella Bruckmaier
dotbooks.
Für Benjamin Hamish Banforth in tiefer Zuneigung
Flat I, Albany Buildings, Swallowbridge, Devon
Sie ist nicht zu schwach, um zu Fuß zu gehen, um Gottes willen. Wenn es sein müsste, könnte sie sogar schnell laufen. Sie war immer stolz auf ihren Willen, auf ihr Durchhaltevermögen.
In der Tat hatte es in Irenes Leben oft genug Zeiten gegeben, in denen sie Trost fand in den einfachen Weisheiten Faith Steadfasts – der Antwort der Hausfrauen auf Rudyard Kipling.
Ist dir manchmal schwer ums Herz,
bist müde von des Lebens Bürde,
gib nicht auf und lächle weiter,
deiner Seele Kraft schafft jede Hürde.
Doch zum Teufel, sie hätte es nie für möglich gehalten, einmal so viel Seelenkraft aufbringen zu müssen.
Je länger sie läuft, umso stärker empfindet Irene Peacock den Druck. Sie werden zusehends wütender. Wenn man sie dieses Mal erwischt, geht's ihr an den Kragen, daran zweifelt sie nicht im Geringsten. Entweder das oder man raubt ihr für immer das bisschen an Energie, das ihr noch verblieben ist.
Sie hatte mit ihrer Strumpfhose gekämpft. Am Ende hatte sie diese einfach auf dem Boden liegen lassen, mit dem Gefühl, ihre Fußfesseln zurückzulassen.
Ihre dünnen grauen Haare fallen ihr wirr auf die Schultern. Haare wie Zuckerwatte. Das Unterhemd, das sie ihr gaben, hält sie warm, fühlt sich an wie ein warmer Hauch auf ihrer Brust. Mit zusammengebissenen Zähnen steigt sie den Berg hinauf – den Berg, den sie als Kinder auf dem Schulweg hinaufstürmten, fröhlich hüpfend in ihren Baumwollkleidchen. Dabei flogen die Worte nur so hin und her, damals vor siebzig Jahren ... und nun fahren diese Töne von früher in ihrem Kopf Karussell.
»Haus zu vermieten, habt ihr's vernommen. Wenn du rausgehst, kann Irene Mott reinkommen!«
Ach, was war sie für eine gute Seilspringerin gewesen! Egal, wie schnell das Seil geschwungen wurde, sie sprang nie darauf.
Die Haarschleifen an ihren Zöpfen passten stets zu ihrem Kleid, an diesen Zöpfen, die so streng nach hinten gekämmt waren, dass sie Kopfschmerzen verursachten, mit dem schnurgerade gezogenen Mittelscheitel. An die Namen der vielen Freundinnen kann sie sich allerdings kaum noch erinnern, was jedoch keine Rolle spielt, weil die meisten bereits tot und ihre Kleider bei der Kleidersammlung gelandet sind.
Seelenstärke? Lieber Gott. Sie hatte nie damit gerechnet, derart allein gelassen zu werden – niemals. Vor allem nicht, als sie verheiratet war, ihr Kind aufzog und alle Hände voll zu tun hatte. Sie hatte angenommen, das Leben sei ein fortwährendes Kettenreißen, jeder zöge heftig an den Händen des anderen, bis die ganze Kette mit einem lauten Klirren auseinander brach.
Ganz zu schweigen vom Gefühl, berührt zu werden – es gibt inzwischen nicht einmal mehr jemanden, der ihr zuhört, der Respekt vor ihr hat. Sie hat entsetzliche Angst davor, nicht mehr sprechen zu können, so wie ein paar der Leute, die einen Schlaganfall erlitten hatten. Eines Tages wird sie den Mund aufmachen, und es wird nur schwer verständliches Zeug herauskommen, und dann wird sie nicht einmal mehr in der Lage sein, um Hilfe zu rufen.
Wenn man in einen dieser Stühle gepackt wurde, konnte man froh sein, wieder auf die Beine zu kommen.
Und zu allem Überfluss leidet sie noch an Verstopfung, wegen dieser ständigen Eier. Das ist nicht gerade angenehm, ständig diese Blähungen. Dazu kommt, dass sie häufig einschläft, sanft in ihrem Sessel entschlummert. Mischen sie ihr etwas in ihr Horlicks? In ihrer Tasse waren doch früher auch keine solchen grauen Brösel, und sie hatte auch noch nie so viel geschlafen. Inzwischen kann sie schon gar nicht mehr zwischen Schlafen und Wachen unterscheiden. Sie wird immer unsicherer. Wahrscheinlich ist sie kurz davor, den Verstand zu verlieren. Manchmal spürt sie sogar William neben sich, seinen sicheren, festen Schritt.
Einige dort hinten lagen im Bett, auf der Seite, wie Babys, nässten ein und furzten. Sie weicht ihnen aus so gut sie kann, aus Angst, von dieser Hilflosigkeit infiziert zu werden. Wenn sie nicht aufpasst, wird man sie auch in ein solches Bett stecken – und dann wird man noch grober angefasst.
Sie setzt ein tapferes Gesicht auf, versucht, zuversichtlich zu bleiben. Dabei ruft sie sich Faith Steadfast in Erinnerung – ihre Schwiegermutter schenkte ihr wunderbar illustrierte Bücher dieser Autorin zu Weihnachten –, ruft sich einige der Mut machenden Lieder in Erinnerung, die sie in der Kriegszeit sangen. Irene ist gepflegt, das war sie immer. Kalte, von Wäschestärke starrende Leintücher mit der Wäschemarke in der Ecke, einem blauen Stempel, der wie ein Heidelbeerfleck aussieht. Schmale Betten, die viel zu hoch sind, um bequem zu sein. Man bekommt die Zehennägel geschnitten und Fleisch mit zwei Gemüsebeilagen aufgetischt, dazu Eis als Nachspeise und Eier, Eier, Eier. Ein Dahinvegetieren. Man sitzt um Resopaltische herum, meist ruhig wie Kinder, die ein schlechtes Gewissen haben, und reicht einander die Salz- und Pfefferstreuer aus Plastik. Die ganze Nacht über war aus dem Fernsehraum immer wieder lautes Gelächter und Händeklatschen zu hören. Augenlider bieten dort drinnen keinen Schutz, sie sind durchlässig für die Bilder.
Bei dem Gedanken an all die Jahre, in denen sie so vieles für selbstverständlich hielt, stöhnt sie auf.
Ihr Rücken schmerzt, doch die Angst ist das Schlimmste. Sie läuft weiter, eine schmächtige, gebeugte Gestalt in einem himmelblauen Mantel, Hauspantoffeln, mit einer Strickmütze auf dem Kopf und einer gehäkelten Tasche über der Schulter. Natürlich viel zu warm angezogen für so einen Tag, aber sie schaffte es vor Aufregung nicht, sich das Kleid zuzuknöpfen, und verzichtete daher darauf, weshalb ihr nichts übrig blieb, als den Mantel anzuziehen, um einigermaßen ordentlich auszusehen. Ihr Spazierstock hat einen Hundekopf als Griff. Er hatte William gehört – der Griff war glatt poliert von seiner Hand. Letztes Mal hatte man sie mit dem Krankenwagen abgeholt. Sie musste ihre Fahrt zurück nach Greylands antreten – eine roten Decke über ihren käseweißen Beinen, als wäre sie ein Unfallopfer, ein eingewickeltes menschliches Überbleibsel. Diese Schande, diese Demütigung. »Sie strapazieren die Geduld von uns allen, Irene«, hatte sie sich anhören müssen. Man hätte denken können, sie sei Interpol ins Netz gegangen und nicht vom Geschäftsführer des Drogerieladens verpfiffen worden. Und dabei hatten sie ein Gesicht so finster wie noch nie aufgesetzt. Doch sie bereute nichts. Sie behauptete einfach, es nie wieder zu tun. »Warum möchten Sie denn davonlaufen und so etwas tun?«
Flieg, Käfer flieg. Verstehen sie es wirklich nicht?
Sie läuft die Straße entlang ohne aufzufallen.
Und wirkt der Tag selbst noch so düster,
das Leben sinnlos, voller Sorgen,
ein freundlicher Blick, ein fröhlicher Gruß,
schon winkt ein besseres Morgen.
Irene atmet tief durch und humpelt weiter, sie hat es beinahe geschafft. Sie muss unbedingt wieder nach Hause, solange sie noch über so etwas wie ein Zuhause verfügt, ein verwundeter alter Fuchs auf dem Weg in seinen Bau. Bevor sie Demenz diagnostizieren – und was käme als Nächstes? Würden sie so weit gehen, ihr einen elektronischen Sender als Armband aufzuzwingen, damit sie jederzeit wissen, wenn sie der Eingangstür zu nahe kommt? Damit ihre Alarmglocken schrillen, als wäre sie eine Einbrecherin in eine Welt, die zu bewohnen sie nicht das gottgegebene Recht besitzt. Fürchten sie, sie könne ihnen die Luft rauben und sich mit einem Sack voll Sore aus dem Staub machen? Und Frankie hat die Vollmacht, hält ihre Mutter wohl für zu »wirr«, als dass sie sich selbst um ihr Bankkonto kümmern könne. »Wir möchten nicht, dass du dir in deinem Alter über so etwas den Kopf zerbrechen musst, Mum.« Ihre freundlichen Worte funkelten vor Eiseskälte. Pfundmünzen, keine hübschen Banknoten. Sie gaben ihr kleine Beträge, ein Taschengeld, um der Zeitungsfrau etwas zustecken zu können. Sie versteckten ihre Zigaretten und in den letzten drei Monaten war es ihr nicht einmal gelungen, genug Geld für eine Flasche Gin zusammenzukratzen.
»Jetzt seien Sie doch vernünftig. Wer soll sich denn zu Hause um Sie kümmern?«
Sie setzten einen fragenden Blick auf. »Wie wollen Sie mit dem Einkaufen, dem Kochen, dem Saubermachen, Anziehen und der Hygiene klar kommen, Irene?«
»Was ist, wenn Sie stürzen und sich die Hüfte brechen?«
»Ich habe nette Nachbarn«, antwortete Irene und ignorierte die tadelnd erhobenen Finger, »und dann ist da noch meine Tochter, Frankie.«
Die Augen, die auf sie gerichtet waren, verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Es wäre doch ungerecht, Frankie und Ihren Nachbarn eine so große Last aufzubürden, nicht wahr? Es gibt eine Grenze, was man den Nachbarn und der Familie zumuten darf. Und ist Ihre Tochter nicht berufstätig? Sie ist doch Lehrerin?«
»Ja«, antwortete Irene der Frau voller Stolz.
Egoistisches altes Weib, flüsterten sie hinter ihrem Rücken über sie und zerrissen sich das Maul über so intime Dinge wie ihre Blase. Und dann dachten sie sich einen Test aus, um sie hereinzulegen. Rührei sollte sie kochen und gleichzeitig heiße Schokolade mit Milch. Wer, bitte schön, soll mit einer derart unmöglichen Kombination zurechtkommen? Dazu müsste man schon Koch in dem großkotzigen Savoy sein. Um die Rühreier richtig zu machen, braucht man einen ordentlichen Schneebesen, und den hatte sie nicht. Ihrer war verrostet. Als sie es nicht schaffte, seufzten sie und bedachten sie mit traurigen Blicken, während sie über ihr Urteil nachdachten. Das war das erste Mal, dass sie weggelaufen war. Es endete damit, dass sie, unfähig, sich dem Unvermeidlichen zu widersetzen, bockig schwieg und ihnen gestattete, sie zurückzubringen.
Doch nicht dieses Mal. Oh nein. Dieses Mal kennt sie keine Skrupel.
Was darüber hinausging, wäre zu viel für sie. Jeder Schritt kostet sie inzwischen Überwindung, aber Irene Peacock biegt um die letzte Ecke und da, rechts, auf der gegenüberliegenden Seite der Hauptstraße, ist ihr kleines Zweizimmerappartement in der Anlage mit den sechs gelben Ziegelbaublocks. Erdgeschoss, mit einem kleinen Garten, in den sie manchmal einen Stuhl mit ein paar Kissen hinausschleppt, um in der Sonne zu sitzen. Ein Strahlenvorhang scheint das Haus zu umgeben, als leuchte es ihr aus einer Nebelwolke entgegen.
Erleichtert ruht sie auf ihrem Hundekopfstock aus. Seufzend betrachtet sie die kleinen runden Blumenbeete, die umgegraben werden müssten. Die Aufgabe der Nachbarn, aber niemand schert sich darum. Alle arbeiten den ganzen Tag, und heutzutage kümmert sich kein Mensch mehr um Gemeinschaftseigentum. Die Werte haben sich vollständig verändert, obschon diese freundliche Miss Benson vom ersten Stock nett ist und ihr hilft, wo sie nur kann. Irene Peacock holt tief Luft und kämpft sich Zentimeter um Zentimeter samt ihrer übervollen Tasche über die verkehrsreiche Hauptstraße. Wahrscheinlich wird man sie wegen der Milch, dem Brot und den Keksen, die sie mitgenommen hat, des Diebstahls beschuldigen.
ZU VERKAUFEN.
In dem kleinen gemeinsamen Treppenhaus riecht es nach Räucherstäbchen und Curry.
ZU VERKAUFEN?
Das Schild kann sich unmöglich auf ihr Appartement beziehen, nicht auf Nummer eins.
Aber jemand muss das Schild an ihre Türe gehängt haben, so dass der schmale Briefschlitz dahinter nahezu verschwindet.
Sie hebt ihren Stock und versetzt dem schändlichen Plakat einen Schlag.
Steht es schon so schlimm um sie? Fängt sie schon damit an, sich Dinge einzubilden?
Irene angelt nach ihrem Taschentuch, wischt sich die Tränen weg und putzt sich die Nase. Dann dreht sie sich herum, um 360 Grad, um sich noch einmal die Tür zu betrachten.
Ein Mann mit einer roten Bommelmütze kommt vorbei und erkundigt sich freundlich: »Alles in Ordnung, Muttchen?«
Irene nickt, damit er verschwindet. Mitleid ist das Letzte, was sie im Augenblick braucht, das kostet nur Kraft. Aber in Ordnung ist mit Sicherheit nichts – ganz und gar nichts. Die Kinnlade fällt ihr nach unten, während sie entsetzt auf die Tür starrt und ihr allmählich die Wahrheit dämmert. Mit ihrem offen stehenden Mund muss sie aussehen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Doch im Augenblick scheint ihr die Kontrolle entglitten zu sein. Das ist ihre Wohnung, hier liegt kein Irrtum vor. Das hat jemand hinter ihrem Rücken gemacht. Jemand versucht ihre Wohnung zu verkaufen und dieser Jemand ist Frankie. Aber was ist mit ihren Sachen? Eine Welle der Entrüstung schwappt über sie hinweg, während ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt wird und sie in einem Strudel mitzureißen droht. Mit einem Mal ist sie noch einsamer als zuvor, obwohl das kaum möglich ist.
Endlich ist sie in ihren eigenen vier Wänden (wenigstens haben sie das Schloss nicht ausgewechselt). Eine Tasse Tee in der zitternden Hand verkriecht sich Irene Peacock in ihrer Wohnung, genießt jede Einzelheit, die Gerüche, das Radio, den Sessel, die selbst geknüpften Teppiche, alles. Anderen mag das als schäbig erscheinen, aber sie bekommt nicht genug von ihrer Wohnung. Auf alles ist Verlass und manche dieser Dinge haben sie durch ihr ganzes Leben begleitet ... die kleine Hundefigur zum Beispiel, die sie auf einem Volksfest gewonnen hat, und das Bild von dem kleinen blonden Mädchen mit den Blumen. Liebevoll betrachtet sie jedes Detail, dabei hatte sie nie hier einziehen, nie ihren Bungalow aufgeben wollen. Doch Frankie hatte ihr damals ins Gewissen geredet: »Jetzt, wo Dad gestorben ist und du niemanden hast, der dich fährt, wärst du in der Stadt viel besser aufgehoben, wo du alles, was du brauchst, in erreichbarer Nähe hast.«
Was hatte sie bloß mit »alles, was du brauchst«, gemeint? Das Krankenhaus? Ärzte? Ein Getränkemarkt, der alkoholische Getränke führte, war wichtiger, aber das brauchte ihre Tochter nicht unbedingt zu wissen.
Irene war Besseres gewohnt.
Sie war so deprimiert gewesen, dass sie leicht zu überzeugen war. Doch lustigerweise sollte Frankie Recht behalten. Der Bungalow erinnerte sie zu sehr an William. Sie hielt es dort nicht mehr aus, allein die Vorstellung, zu kochen und dabei aus dem Küchenfenster denselben Blick auf den Garten zu haben, als könne sie ihn jederzeit hereinrufen, sobald der Tee fertig ist, und er käme und streifte an der Tür seine Stiefel ab. Es war schwer gewesen. Es dauerte etwas, bis sie nicht mehr wildfremden Männern hinterher rief und nachrannte, die ihm ähnlich sahen.
»Du bist dort näher bei mir und den Kindern – das ist ein Vorteil«, sagte Frankie.
Aber Irene mochte die Wohnung nicht. »Viel zu winzig«, hatte sie gemeckert. »Was ist mit meinen Sachen? Und kein Platz für meine Blumen.«
»Du brauchst das alles doch nicht mehr, Mum. Etwas Kleines, Praktisches ist genau das Richtige.«
Und so hatte sie schließlich klein beigegeben – und sie hatte sich wohl gefühlt, das musste sie zugeben. Allerdings hatte sie, um bei der Wahrheit zu bleiben, Frankie und die Kinder nicht öfter als vorher gesehen. Die Wohnung war einfach zu klein, als dass sie alle Platz für ein gemütliches Beisammensein gehabt hätten. Wenn sie ihre Enkelkinder sah, dann bei ihnen zu Hause. Wenn sie zum Mittagessen, zu Weihnachten oder einer Geburtstagsparty eingeladen wurde. Frankie arbeitete schwer, seit der Scheidung sorgte sie allein für sich und die Kinder. Irene war immer stolz auf sie gewesen.
Und so hatte Irene begonnen, ihr Leben allmählich wieder in geregelte Bahnen zu lenken, aus denen es auf so grausame Weise gerissen worden war. Was sie bei Gott einige Kraft gekostet hatte.
Genauso lief es, als sie zum ersten Mal nach Greylands kam. Sie war beim Einkaufen gestürzt, wegen eines lockeren Pflastersteins. Es war also nicht ihre Schuld gewesen und auch nichts Lebensbedrohliches, sie hatte sich nur das Bein gebrochen und brauchte jemanden, der sich um sie kümmerte. »Es ist nur für einen Monat oder so«, hatte Frankie ihr gut zugeredet, »nur bis du wieder auf dem Damm bist. Du kommst nicht alleine klar, Mum, das geht nicht mehr. Du fängst an, Dinge zu vergessen, stimmt's? Und du hast letzte Woche Miss Benson besucht, um mit ihr Tee zu trinken, als du gar nicht eingeladen warst. Miss Benson macht sich Sorgen um dich. Wir machen uns alle Sorgen um dich. Und sieh nur, was jetzt geschehen ist ... du kannst nicht einmal mit zwei Krücken gehen.«
In Irenes Augen war Miss Benson eine Verräterin der übelsten Sorte.
»Ach Gott – schau dich doch nur um, Frankie!« Greylands jagte Irene einen Schauer über den Rücken, obwohl es von außen betrachtet keinen unangenehmen Eindruck machte – hell und erhaben, mit ordentlich gestutzten Hecken, Kieswegen und einem Blauregen, der sich um den Eingang rankte. Es gab sogar einen geräumigen Wintergarten, in den sie bei jedem Wetter die Alten samt den Geranien hinauskarrten. Was Irene entsetzte, war das Wissen, um was es sich bei dem Gebäude handelte und was es beherbergte.
Bereits damals fürchtete sie, dass sie, sobald sie die Schwelle dieses Hauses übertreten habe, niemals mehr herauskäme.
Drinnen herrschte eine einschläfernde Hitze und es roch streng nach Essen, Urin und starken Rheumasalben.
Frankie nahm vor der Heimleiterin eine unterwürfige Haltung ein. Es war komisch, aber auf eine verstörende Weise ähnelten die beiden Frauen einander sehr. Abgesehen von der Tatsache, dass beide eine Aran-Strickjacke mit Taschen und Holzknöpfen trugen.
Hinterher meinte Frankie: »Stör dich nicht an dem Geruch. Es ist nur für den Übergang. Du bist bald wieder zu Hause. Jemand muss sich um dich kümmern, Mum, und ich kann das nicht machen.« Frankie gab Irene das Gefühl, egoistisch zu sein. »Du weißt, es ist unmöglich für mich als Lehrerin, mir freizunehmen.«
Es schien wirklich keine andere Möglichkeit zu geben.
Was nur ein weiterer Beweis dafür wäre, dass man seinem Instinkt folgen sollte, was immer auch dagegen zu sprechen scheint.
Wieder zurück in ihrer kleinen Wohnung, wo sie sich sicher und geborgen fühlt, blickt Irene sich um. Sie schluckt. Jemand war hier gewesen, während sie fort war, und nicht nur Frankie. Ein paar Dinge sind etwas verrutscht, wo Leute angestoßen sind, und jemand hat ihren Poststapel auf dem Fensterbrett abgelegt und nicht auf dem Kaminsims, wo Frankie ihn normalerweise hinlegt. Die Abspülschüssel ist umgedreht, ein sicheres Anzeichen, dass jemand nicht zurückkommt. Sie wagt es nicht, in den Schubladen der Schlafzimmerkommode nachzusehen, aus Angst, sie könnten leer geräumt sein. Im Augenblick ist sie zu entsetzt, um ihren Sessel zu verlassen. Die Wohnung gab ihrem Leben die nötige Struktur, ein Ziel, und jetzt treibt sie auf dem Meer wie ein Schiff ohne Steuermann, während sich ein Sturm zusammenbraut ... da hatte Thatcher leicht reden, es hänge nur davon ab, welchen Weg man einschlage.
Sie sitzt ausgerechnet auf der Toilette, als sie die Eingangstür zuschlagen hört.
Sie zuckt zusammen. Verdammt. Frankie hat Recht – sie wird allmählich wirr im Kopf und vergesslich. Wie hätte sie sonst vergessen können zuzusperren?
Das Herz hämmert in ihrer Brust, als Irene die Toilettentür mit Hilfe ihres Stockes zustößt und sich auf die Lauer legt.
»Mum? Mum! Ist alles in Ordnung? Ich bin's, Frankie.«
Das ist mir klar, dass du's bist, denkt Irene verärgert. Wer sonst sollte mich »Mum« nennen?
Die Stimme ihrer Tochter wirkt angespannt. »Miss Blennerhasset begleitet mich ...«
Dieses Monster von Heimleiterin? Die Schlüsselwächterin? Die konnte sie mal! Als Irene mit ihrer Unterhose kämpft, fällt der Stock gegen die Tür. Williams Stock verrät sie.
»Irene, meine Liebe«, ruft Miss Blennerhasset, und Irene hört das Quietschen der riesigen Füße in Sandalen auf dem Küchenboden. »Um Himmels willen, was treiben Sie denn?«
»Pieseln, wenn Sie's genau wissen wollen«, fährt Irene sie an und ringt nach Atem. »Und dabei hätte ich gerne meine Ruhe – das ist sicher nicht zu viel verlangt. Rein können Sie hier ohnehin nicht«, fügt sie nicht ohne Triumph in der Stimme hinzu. »Der Stock hat sich quer vor die Tür gelegt.«
»Dann bleibe ich hier draußen stehen und warte auf Sie«, entgegnet Miss Blennerhasset und rüttelt am Türgriff wie eine Bulldogge, die sich verbissen hat, »während Frankie für uns alle einen guten Tee kocht.«
»Dieses Mal hast du dich selbst übertroffen, Mutter. Wir können froh sein, wenn sie dich wieder nehmen.«
»In meiner Tasche ist Milch«, ruft Irene, ohne daran zu denken, dass sie diese gestohlen hat und sich schon wieder hineinreitet. Doch eine Frage taucht aus dem Wirrwarr ihrer Gedanken auf – Moment mal –, dieses Mal ist es nicht sie, die eine Strafpredigt verdient hat, sondern die beiden. Diese hinterhältigen Verschwörerinnen haben hinter ihrem Rücken ihre Wohnung zum Verkauf angeboten und dafür wird sie, die rechtmäßige Besitzerin, sie nun zur Rechenschaft ziehen. Aus der Küche hört sie das Scheppern von Tassen, aber in Gedanken ist sie ganz woanders: Sie weilt mit der kleinen Frankie im Park und füttert die Enten. Man bemüht sich, ihnen etwas Gutes zu tun, und wie reagieren diese Vögel? Man wird von ihnen bedrängt, sie wollen mehr, picken mit ihrem scharfen gelben Schnabel auf einen ein, kreischen, schnattern und schlagen mit den Flügeln, bis man sich schließlich wünscht, man hätte sie nie beachtet. Bis man schwört, sie nie wieder zu füttern.
Nur fordern, fordern, fordern, diese Teufel. Am Ende wird man von ihnen nicht geliebt, sondern gehasst. Sie stürzen sich auf einen, um einen mit Haut und Haaren aufzufressen.
»Joyvern«, II, The Blagdons, Milton, Devon
Joy ist noch zu jung, um aus Faith Steadfasts tugendhaften Versen gelernt haben zu können. Und überhaupt hatten die Frauen es ohnehin lange vor dem Ableben der Dichterin aufgegeben, bessere Menschen werden zu wollen.
So viel ist Joy klar: Sie haben sich gegen sie verschworen, um sie in den Wahnsinn zu treiben. Vollkommen fremde Menschen, deren Haare überzogen sind von feinem Sprühregen, von denen sie nur den Familiennamen kennt und die ihr kurz vom Makler vorgestellt wurden, kommen mit ihren kalten und gierigen Augen, und manchmal mit ihrer ganzen Familie, um Joys Abstellkammer zu belächeln und ihre Toilettenschüssel zu begutachten.
Blaues Wasser, rosa Wasser, grünes Wasser ... lieber Gott, welche Farbe des Regenbogens ist am hygienischsten?
Bald wird sie die Tür hinter der nächsten Besuchergruppe schließen.
Sie machen ihren Teppich schmutzig und sie muss dennoch höflich bleiben. Wenn sie hartnäckig genug bohren, könnten sie auf schamvoll vor fremden Blicken verborgene Intimitäten stoßen. Stecken sie hinter dem Spiegel? Oder unter der Treppe?
Das Badezimmer blitzt und riecht wie ein paradiesischer Garten. Ein Geruch, der sich an nichts festmachen lässt, dafür hat Joy Sorge getragen. Wonach würde das Badezimmer riechen, bliebe es sich selbst überlassen? Nach Verwesung? So schlimm doch sicher nicht! Sie und ihr Mann befinden sich im Augenblick vielleicht auf dem absteigenden Ast, aber noch leben sie und haben eine Chance, nicht wahr?
Wenn nur ...
»Und das ist das En-suite-Bad«, bricht es aus ihr heraus. Ach, wann bloß hörte das Leben auf, ein Spaß zu sein, und begann, ein Kampf zu werden?
Und warum ist Vernon nie da, wenn sie diese Schmach über sich ergehen lassen muss?
Ein Hauch von Domestos liegt wie Seide über dem Wasser. Vielleicht wären die Interessenten eher beeindruckt, wäre das Wasser schwarz? Nur zu gern hätte sie etwas Ekelhaftes hineingegeben, wie eine Zigarettenkippe, die sich nicht wegspülen lässt. Nein, unmöglich. Sie ertrüge es nicht, für so primitiv gehalten zu werden.
Sie raucht nicht einmal. Das macht heutzutage niemand mehr.
Heutzutage zieht auch niemand mehr um, außer es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Zumindest hört man das allenthalben. Redete man dagegen, machte man sich verdächtig. Da könnte man gleich eingestehen: »Wir sind pleite und müssen verkaufen, sonst verkauft es die Bank über unseren Kopf hinweg.«
Als sie sie sah, diese letzten Interessenten, diese Leute aus Lancashire mit ihrem nördlichen Akzent, musste sie krampfhaft ihre Enttäuschung verbergen. Sie schienen ihr nicht die erhofften Käufer zu sein. »Euch gefällt das Haus nicht, das sehe ich genau. Ihr verschwendet meine Zeit und eure, also warum geht ihr nicht einfach?«
Könnte Joy nur ehrlich sein und laut aussprechen, was sie dachte. Doch bevor Joy Marsh mit anderen so ehrlich umginge, würde sie sich eher die Unterlippe durchbeißen. Selbstverstümmelung. Sie würde sich selbst und anderen alles Mögliche antun, um nicht ehrlich sein zu müssen.
Schließlich war sie dazu erzogen worden, eine gute Frau zu sein, und nicht dazu, ehrlich zu sein.
Sie hatte in der Küche eine Knoblauchzehe zerdrückt, als sie die Türglocke schrillen hörte. Die Schultern erwartungsvoll hochgezogen. Eine weitere Lüge, vorzuspiegeln, sie verwende Knoblauch und Kräuter in der Küche, obwohl sie es gelegentlich tatsächlich tut. Um der Wahrheit willen hätte sie ebenso gut die alte Bratpfanne mit dem Fett, das noch von Vernons gebratenem Speck drin war, draußen stehen lassen können. Er liebte Brot mit Speck zum Frühstück, entgegen allen Gesundheitstipps, entgegen allen anderen Tipps, denn welche Rolle spielt das denn jetzt noch?
Genauso gut könnte er darauf verzichten, sich im Auto anzuschnallen. Na ja, der Gurt reicht ohnehin kaum noch um seinen Wanst, so viel wie er in letzter Zeit zugenommen hat. Manche Leute essen aus Frustration. Sie fressen und schlingen und grunzen, grunzen, grunzen. Während andere hungern, bis sie zu einem Schatten ihrer selbst geworden sind. Genauso gut könnte er den Rasen mähen ohne Sicherung oder die Haustür unversperrt lassen, um den Einbrechern die Arbeit zu erleichtern. Ach, heutzutage ist alles viel zu spießig, viel zu langweilig, um etwas MUTIGES oder TOLLKÜHNES zu unternehmen.
MAN KANN SICH NICHT WEHREN.
Was spielte da noch eine Rolle, wenn man keine andere Möglichkeit hat, als alles einzustecken?
Sie und Vernon haben alles verloren, so ist es doch.
Alles, wofür sie kämpften.
Gott sei Dank sind die Kinder schon ausgeflogen. Sie hätte es nicht ertragen, vor ihren Augen so gedemütigt zu werden.
»Und das hier ist das Elternschlafzimmer«, lächelt sie und drückt heimlich das weiße Leinensäckchen mit dem Rosenpotpourri – um was zu überdecken? Den Geruch von Sex? Diesen Geruch nach Meer, Wald, Unkraut oder was auch immer? Oder ist das nur einfach der Geruch einer Frau? Sie kann sich kaum noch daran erinnern, so lange liegt es zurück, dass Sex mehr war als ein kurzes Geschiebe ... aber sie vermutet, dass heiße Typen nach Sex und Äpfeln riechen. Dass diesen Leuten hier »Joyvern« nicht gefällt, ist ihr klar, aber dennoch hat Joy das Bedürfnis, vor ihnen einen guten Eindruck zu machen. Sie kann nicht anders.
Vernons Wecker war auf sieben Uhr dreißig gestellt, lebenslänglich sieben Uhr dreißig.
Die sorgfältig auf den beiden Nachtkästchen platzierten Bücher sind so verlogen wie der Knoblauch in der Küche. Die Unersättlichen – sie hofft, dass in diesem Titel keine Schlafzimmergeheimnisse mitschwingen, die diesen – wie heißen sie gleich wieder? – diesen Middletons ins Auge stechen und sie zu falschen Annahmen verleiten könnten. Wogegen spricht, dass es diesen Menschen offensichtlich an Geschmack fehlt. Joy tat sich schwer mit dem Buch, obwohl sie auf das Angebot bei Smiths reingefallen war und es gekauft hatte. Das ist mit eine Ursache, warum sie in dieser Patsche sitzen. Weil sie ständig einkauft, weil sie von Schaufensterauslagen angezogen wird wie ein törichter weiblicher Pfau von seinem radschlagenden männlichen Gegenpart. Eine unstillbare Sehnsucht, Dinge zu besitzen. Eine Krankheit, hört man. In Amerika gibt es dafür Selbsthilfegruppen. Schränke für sie und ihn, nur dass ihre 90 Prozent der Wandfläche einnehmen, während sein bescheidenes Abteil mit Sachen von Marks & Spencer gefüllt ist. Auf Vernons Seite steht ein Buch von Kingsley Amis, das sie ihm mal zu Weihnachten geschenkt hat. Es verdeckt einen dicken Schmöker von Jilly Cooper.
Mrs. Middleton ist eine nervöse Frau in den Vierzigern, deren rosa Lippenstift in den feinen Fältchen um die Mundwinkel verläuft. »Nicht gerade ein besonderer Ausblick«, erklärt sie von ihrem Platz am Fenster aus. Ihr Gesicht wirkt durch die Reflexion vom Laub der Bäume und der allgegenwärtigen Feuchtigkeit grünlich.
Es verletzt auf so entsetzliche Weise die Intimsphäre, Menschen hier herumzuführen. Der Atem der Schlafenden füllt das Schlafzimmer noch wie der Schatten der Dämmerung. Auf dem Teppich müssen noch Zehennagelschnipsel herumliegen. »Im Winter ist der Ausblick wunderbar«, flötet Joy so affektiert wie möglich, »wenn der Baum dort kahl ist.«
»Aha«, entgegnet Mr. Middleton, während er sich nach vorne gebeugt im Spiegel der Kommode betrachtet und sich die Haare nach hinten streicht. Das muss ein Schock für den Spiegel sein, der so lange niemand anders widerspiegelte als sie. Und erst vor kurzem gab es diesen Moment, als sie ihre Lippen fest dagegendrückte und ihre Brustwarzen, bis diese breit gedrückt und kühl wurden. Ihre Lippen und Brustwarzen hinterließen einen feuchten Fleck auf der Glasscheibe. Das war der Augenblick gewesen, als sie versucht hatte sich selbst zu finden, nachdem sie von ihrer finanziellen Notlage erfahren hatte. Sie war so durcheinander gewesen, dass sie versuchte, ihren Körper wiederzuentdecken. Joy ist klein und untersetzt mit rundlichen Gesichtszügen und strahlend blauen Augen. Tausende von Frauen sehen aus wie Joy, aber nur wenige kleiden sich so stilsicher wie sie. Ihre Haare sind kurz geschnitten, praktisch, mit einem Pony. An den Schläfen zeigen sich die ersten grauen Härchen.
»Da können Sie nicht reinsehen«, hätte Joy dem Eindringling am liebsten gesagt, »es sei denn, Sie möchten einen Kerl mit schütterem Haar und Schuppen betrachten.«
Joy kann nicht anders als gehässig sein, denn sie will ihr Haus einfach nicht verkaufen.
Die zwei Middleton-Teenager zappeln unruhig herum. Die Ältere, die Trampeligere von den beiden, die von Kopf bis Fuß in schwarzes Plastik gehüllt ist, sitzt auf der Bettkante, als wolle sie die Bettfedern testen, als stünde das Bett ebenfalls zum Verkauf. Doch Joy hat nicht vor, darauf einzugehen. Ihr Benehmen ist teils herablassend, teils belustigt. Was erwarten sie eigentlich für das Geld? Das hier ist ein absolut respektables Heim in einer absolut respektablen Siedlung. Joy und Vernon hatten sich hier schließlich wohl gefühlt. Wahrscheinlich waren diese Kids bereits durch unzählige ungeeigneter Häuser geschleppt worden und sind inzwischen völlig entnervt. Die Middletons haben ihr Haus wohl noch nicht verkauft, es vermutlich noch nicht einmal angeboten. Es gefällt ihnen einfach, die Privatsphäre anderer Menschen zu stören. Sie besichtigen Häuser, wie andere sich am Wochenende ins Auto setzen und absichtlich langsam fahren, um alle anderen aufzuhalten.
Vielleicht sind die Middletons ja auch Hochstapler und besitzen nicht einmal ein Haus, das sie verkaufen könnten.
Die Makler beteuerten stets, sie prüften ihre Kunden auf Herz und Nieren, bevor sie diese auf die Häuser ihrer Klienten losließen. Nun, die Makler versprachen ihnen alles Mögliche, als die Marshes ihr Haus auf dem Markt anboten. Sie versprachen ihnen zum Beispiel, sie würden die Kunden durch das Haus führen und sie würden überregional inserieren ... doch bislang hatte sich noch kein Interessent blicken lassen und in keinem der Lokalblätter war auch nur eine Anzeige erschienen.
Na ja ...
»Es wäre besser gewesen, wir hätten selbst versucht, es zu verkaufen«, brummte Vernon griesgrämig, nachdem vier Wochen ohne die geringste Reaktion verstrichen waren. Der liebe arme Vernon. Der Laden war nie gut gelaufen, er schluckte ihre sämtlichen Ersparnisse, in die sie ihre ganze Hoffnung gesetzt hatten. Daran darf Joy gar nicht denken. Man könnte meinen, ein Elektriker könne Elektrogeräte verkaufen, über die er alles weiß und für die er den Kundendienst übernimmt. Marsh Electronics Ltd., nicht gerade der phantasievollste Name, nicht gerade der phantasievollste Mann. Aber Vernon war so stolz. Und das ist er noch immer. Sie ist die Heulsuse. Es stimmt schon, die wahren Helden sind Männer wie Vernon, die jeden Morgen, so nass und grässlich der Tagesbeginn auch sein mag, aufstehen und zur Arbeit gehen.
Unglücklicherweise war es weder der richtige Zeitpunkt gewesen für Marsh Electronics, noch der Ort. Kaum einer der Läden in dieser Einkaufspassage hatte überlebt, nachdem sie die neue neben dem Hafen gebaut hatten. Und dabei konnten sie nicht einmal dort alle Läden vermieten – drei Viertel stehen noch leer, kein Wunder, bei den Mieten, die sie verlangen! Und jetzt hatte Vernon die Unkosten am Hals und einen Ausverkauf, der sich endlos hinzog. Es sei denn, sie können das Haus verkaufen ... Doch das ist Schnee von gestern. Jetzt heißt es, nach vorne blicken.
»Und dann ist da noch das ausgebaute Dach.«
Und sie wendelt sich nach oben, diese missmutige kleine Gesellschaft. Nacheinander steigen sie hinauf in das Dach, das Vernon selbst ausbaute und auf das er so stolz war – das Tüpfelchen auf dem i, dieses oberste Zimmer im Haus. Als die Kinder auszogen, brauchten sie einen Platz, um das ganze Zeug unterzubringen, und natürlich landete es hier. Damals dachten sie nicht im Traum daran, das Haus so bald verkaufen zu müssen. In heller, glänzender Kiefer vertäfelte Wände, eine Dachgaube, durch die das Licht in das kleine Zimmer strömt, »ein luftiges Arbeitszimmer«, nannte Vernon es, »ein ruhiges Zimmer, wo wir den Computer reinstellen und Briefe schreiben können. Es könnte auch jemand hier oben übernachten, wenn das Gästezimmer belegt ist.«
»Ist es nicht hübsch?«
Joy wendet sich zu den Middletons um, entschlossen, diese Langweiler etwas aufzumischen. Sie will nicht zulassen, dass sie Vernons Meisterwerk herabsetzen. »Von hier aus haben Sie einen herrlichen Ausblick«, erklärt sie ihnen. Dabei steht sie auf den Zehenspitzen und deutet hinaus auf die Sackgasse unten. Über ihnen fliegt ein kleiner Vogelschwarm in V-Formation. Hilflos flattert ihre Wäsche an der Wäscheleine, die sie über Nacht im Regen hängen ließ. In kleinen Rinnsalen laufen die Regentropfen die Scheibe herunter. Joy blickt in das Spiegelbild ihres verzweifelten Gesichts, das ihre aufgesetzte Fröhlichkeit Lügen straft. Unordentliches nasses Haar, weil sie die Middletons ums Haus führte. Sie sahen sich zwar alles an, aber sie sahen es nicht wirklich. Bevor sie wusste, dass sie weggehen würde, war es ihr genauso gegangen. Auch sie war über das kühle, grüne Gras, an den herrlichen nassen Astern, den schwarzen Zweigen der Dornenhecke und der Schaukel, die niemand mehr nutzte, achtlos vorbeigelaufen. Alles war ihr so lieb, so vertraut und bislang so selbstverständlich.
Jetzt gleicht das Dachzimmer eher einer Rumpelkammer. Die Luft ist abgestanden, es ist unangenehm warm. »An einem klaren Tag kann man bis zur Heide sehen.«
»Es ist aber ziemlich klein«, rümpft das ältere Kind enttäuscht die Nase.
»Nein, erst seit wir das Zimmer als Lager für unsere Bücherkisten nutzen müssen, ist es richtig klein geworden«, antwortete Joy trotzig. »Ohne diese Kartons ist das Zimmer richtig geräumig.«
»Zweifelsohne«, sagt Mrs. Middleton, die unbedingt wieder die schmale Wendeltreppe hinuntersteigen will, um auf sichereren Boden zu gelangen. Diese Frau ist ein Nervenbündel, außerdem depressiv, schlimmer dran als ich, schießt es Joy durch den Kopf. Und sie bemitleidet sie, wobei sie sich fragt, weshalb es Mrs. Middleton wohl so schlecht geht.
»Sehen Sie«, fährt sie lebhaft fort, »mein Mann hat dort hinten eine Bar eingebaut. Sie können sie sehen, wenn Sie hier herumkommen ...«
»Sehr praktisch«, bemerkt Mrs. Middleton und weicht ihrem Blick aus. »Eine Bar kann man immer gebrauchen.«
»Aber du und Dad, ihr trinkt doch gar keinen Alkohol«, wirft die älteste Middletontochter ein.
Blumenkohlauflauf.
Schon wieder.
Sie essen wie immer am Küchentisch, doch es hat etwas Gespenstisches. Dieses Haus ist zum Verkauf angeboten, dieses Haus ist nicht mehr ihr Zuhause, trotz all ihrer Bemühungen, sich ein schönes Heim zu schaffen. Und nach dieser Tortur, die sie gerade hinter sich gebracht hat, hat Joy keinen Hunger, sie ist angespannt und zittert. So lange war Vernon in ihren Augen der Erwachsene und Kluge, er gab ihr das Gefühl von Sicherheit, und nun läuft es ihr kalt über den Rücken bei dem Anflug von Aufsässigkeit, den sie plötzlich ihm gegenüber empfindet – denn durch seine Verletztheit und seine Enttäuschung verrät er sie.
Es ist entsetzlich, es ist gemein und ungerecht so zu denken, doch Vernon hat sie im Stich gelassen. Sie hat von Ehepaaren gehört, die über dreißig Jahre verheiratet waren, und der Mann machte sich mir nichts dir nichts aus dem Staub, so dass die Frau sich fragen musste, ob nicht ihr ganzes Leben eine Lüge war. Joy war erst seit dreiundzwanzig Jahren verheiratet und sie wird es Vernon mit keinem Wort verraten, aber ihre jetzige Situation gibt ihr ziemlich genau dieses Gefühl ...
»Es bringt nichts, uns schon jetzt Häuser anzusehen, Joy, solange wir noch kein akzeptables Angebot für unser Haus bekommen haben. Wenn wir das täten, verhielten wir uns genauso unmöglich wie die anderen.« Und seine besorgten Augen weichen ihrem Blick aus.
Vorsichtig und vernünftig wie immer. Kauen, kauen, kauen. Vorverdauung. Sie hatte gestern eine Fernsehdokumentation gesehen, in der gezeigt wurde, was mit dem Essen passierte, den gesamten Verdauungsprozess. Flüssigkeit und feste Stoffe. Der vernünftige, feste Vernon, ebenso vernünftig und fest wie sein Vater. Unauffällige Familien, die sich hinter Gardinen bewegten und konservativ wählten, um den Status quo zu erhalten. Status quo? Sie wird nie wieder konservativ wählen. Joy fragt sich, ob ihm überhaupt klar ist, wie sehr sie in der Patsche sitzen. Nichts in seinem Leben hat ihn darauf vorbereitet – und wie lange weigerte er sich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, so dass nicht einmal sie über das wahre Ausmaß ihrer Schwierigkeiten Bescheid wusste? Für Vernon ist Bankrott gleichzusetzen mit Verbrechen.
Falls sie das Haus jetzt verkaufen, können sie den Konkurs gerade noch abwenden.
Joy widerspricht ihm. Sie muss wissen, was mit ihnen passiert. Für ihr Image ist es wichtig, wo sie wohnt. »Aber wir müssen doch planen können, Vernon. Zumindest müssen wir die Größe des Hauses kennen, damit ich die Möbel ausmisten kann.«
»Das lässt sich ganz einfach mit einem Blick in die Zeitung herausfinden. Kein Problem.«
Doch das ist nicht dasselbe. Sie hat in die Zeitungen gesehen, das tut sie ständig. Und das ist mit ein Grund für Joys inneren Aufruhr. An diesem Morgen sah sie eine Wohnung für 45 000 Pfund. Sie werden doch nicht etwa in einer miesen Wohnung wohnen müssen wie ein junges Studentenpärchen? Sie möchte Vernon nicht noch mehr unter Druck setzen. Er leidet bereits unter hohem Blutdruck. Muss dagegen Tabletten nehmen und soll seinen Salzverbrauch reduzieren. Wenigstens müssen sie nicht wie so viele mit Verlust verkaufen, dazu haben sie Joyvern schon vor zu langer Zeit gekauft. Fünfzehn Jahre sind eine Menge Zeit, wenn man in einem Haus gewohnt hat und ausziehen muss. Dennoch würde sich Joy gerne andere Häuser ansehen. Nachdem die Schulden bezahlt sind, müsste genug übrig bleiben, um sich etwas halbwegs Anständiges leisten zu können.
Was wird Vernon machen, wenn er den ganzen Tag nichts zu tun hat?
Müde, krank und dick wie er ist.
Ein qualifizierter Elektriker, zweiundfünfzig Jahre alt und auf dem Abstellgleis. Was immer diese Regierung uns glauben machen will, Umschulungsprogramme für Menschen in Vernons Alter sind lächerlich. Wer bitte soll einen umgeschulten Zweiundfünfzigjährigen ohne Berufserfahrung einstellen, wenn genügend junge Leute zur Verfügung stehen, die ihr ganzes Arbeitsleben noch vor sich haben?
Vielleicht könnte er sich mit kleineren Gartenarbeiten durchbringen, 3 Pfund 50 die Stunde schwarz, für eine alte Giftnudel?
Und dabei war er einmal so stolz auf sich.
Sie hatten sogar von einer Weltreise geträumt.
Im Prospekt hatte es geheißen – Entlassen? Die Chance!
Kein Silberstreif nirgends.
Hätten sie doch nur nicht dieses Geschäft gegründet ... aber sie hatten sich so ungeheuer viel davon erhofft. Hätten sie doch das Geschäft einfach aufgegeben und das Geld stattdessen angelegt, das Haus Ende der achtziger Jahre verkauft und sich etwas Kleineres gekauft. Jetzt, sieben Jahre später, hätte sich das angelegte Geld verdoppelt. Andererseits kann man nicht einfach so aufgeben, das ist irgendwie auch nicht richtig. Man muss weitermachen. Man muss Schwung reinbringen. Und es war ja nicht so, dass sie Kopf über ins kalte Wasser sprangen. Ganz im Gegenteil, sie besuchten die entsprechenden Kurse, recherchierten den Markt, schickten Postwurfsendungen hinaus, verteilten Flugblätter und schalteten Anzeigen in den Lokalblättern. Und Joy hörte auf in der Boutique zu arbeiten, um sich um die Buchführung zu kümmern, Telefonanrufe zu beantworten und die Büroarbeit zu erledigen. Und sie verschickte die Rechnungen – Rechnungen, die selten genug beglichen wurden.
Ach, es ist ein riesiger Schwindel. Die Welt ist wirklich ein grausamer Ort und das Leben eine gequirlte Scheiße.
Nur nichts verschwenden. Joy wird ihren Teller leer essen. Blumenkohlauflauf, wie langweilig, spiegelt ihre gegenwärtige Verfassung perfekt wider.
Penmore House, Ribblestone Close, Preston, Lancs
Könnte sie nur die Zeit zurückdrehen, sie würde vollkommen anders mit ihren Kindern umgehen. Aber dafür ist es zu spät, viel zu spät.
»Sie hat uns doch nicht erkannt, oder, Lenny?«
Als dächte jeder, seine Frau sähe aus wie eine Verbrecherin.
Lenny Middleton richtet, innerlich stöhnend, sein Augenmerk auf die Straße vor ihm, auf der dichter Verkehr herrscht. Heutzutage herrscht immer dichter Verkehr, es gibt einfach zu viele Autos und zu viele Menschen. »Warum um Gottes willen sollte sie uns erkennen? Jetzt lass das doch endlich, Babs. Wir sind 500 Kilometer von zu Hause entfernt, hier unten hat noch niemand von uns oder von Jody gehört. Lass das, Kleines. Das ist einfach Blödsinn!«
Aber Babs kann sich nicht entspannen, stattdessen spielt sie nervös mit den Fingern und starrt hinaus in den Nieselregen. Wie gerne würde sie ihm glauben, nichts wünscht sie sich mehr, aber ihre Augen sind auf nichts Bestimmtes da draußen gerichtet. Sie starrt hinaus, aber sie sieht nichts. »Ich weiß, Schatz«, murmelt sie. »Ich weiß, ich bin bescheuert. Es ist nur ... in letzter Zeit habe ich ständig das Gefühl, die Leute wissen, wer ich bin, und verachten mich.«
»Du kannst an überhaupt nichts anderes mehr denken, das ist dein Problem.« Ihr Mann nimmt eine Hand vom Steuer, um seine Frau damit zu tätscheln. »Mach dir keine Sorgen. Es wird alles okay. Ein Neuanfang, Babs, wie wir uns ihn vornahmen. Ein Neuanfang für uns alle. Nicht ständig zurückblicken, Kleines, nicht jetzt.«
Babs lächelt, doch nur zaghaft. »Es lag nur daran, wie diese Frau auf uns herabsah. Als wären wir nicht gut genug für ihr Haus.«
»Dieser Neureichen ist doch ihr Geld zu Kopf gestiegen. Aber das Haus selbst hatte doch was. Fandest du nicht?«
»Ehrlich gesagt, Len, ist es mir inzwischen total egal, wo wir leben werden.«
Die zwei Mädchen auf dem Rücksitz tauschen müde Blicke aus, bevor sie wieder schweigend aus dem Fenster starren. Diese Kinder fühlen sich nicht wohl in ihrer Haut. Diese Diskussion haben sie in letzter Zeit so oft gehört, dass sie gar nicht mehr hinhören. Ihre Eltern bilden eine so verschworene Gemeinschaft, dass sie ihren Kindern wie fremde Wesen erscheinen. Cindy und Dawn Middleton ist es inzwischen egal, was passiert, solange sie nur von Preston wegkommen, solange sich etwas ändert. Vielleicht ist dann Schluss mit diesem endlosen Trauma, und die Leute hören endlich auf, sich das Maul über ihren Bruder Jody zu zerreißen.
In den letzten Wochen konnten sie nicht einmal zur Schule gehen. Diese Reise war die reinste Erholung, die Chance, dem allem den Rücken zu kehren und unten im Süden Häuser zu besichtigen. Möglicherweise gibt es, wenn sie zurückkommen, bereits Positives über den Verkauf ihres eigenen Hauses zu berichten. Ein Paar hatte bereits Interesse gezeigt, obwohl das Haus erst kurz auf dem Markt ist.
Es ist nicht so, dass sie freiwillig wegziehen wollten. Die Wahrheit ist, es bleibt ihnen nichts anderes übrig.
»Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, dass diese Hölle etwas Vorübergehendes ist, ein Übergang, den wir hinter uns bringen müssen, bevor es wieder aufwärts geht.«
Dad hat gut reden, er kriegt es nicht so fett ab wie sie, weil er ein Mann ist. Und Kinder untereinander sind grausam. Unter den Erwachsenen gibt es wenigstens ein paar, die sich nichts anmerken lassen, mehr Männer als Frauen.
Manche Frauen scheinen es richtig zu genießen, ihnen die kalte Schulter zu zeigen. Sogar Nachbarinnen, die sie von klein auf kennen, fingen an, sie zu beschimpfen. Einige riefen ihnen Ausdrücke hinterher, andere schimpften lautstark auf sie ein und wieder andere bedachten sie mit eisigem Schweigen. Das waren die Schlimmsten. Dieses Schweigen wurde so laut, dass es ihnen in den Ohren dröhnte.
Seit dieser Vergewaltigung mussten sie zusehen, wie ihre Mutter still und heimlich vor die Hunde ging. Sie hatte nicht gebrüllt und geflucht, wie ihr Vater es anfangs in seiner Wut getan hatte. Jodys Festnahme hatte sie getroffen wie ein Todesfall. Von Flüstern erfüllte Stille senkte sich über das Haus, eine düstere Stimmung machte sich breit. Besser wäre es gewesen, Jody wäre einfach mit seinem Motorrad verunglückt, wie jeder es ihm prophezeit hatte.
So cool, dass es an Wahnsinn grenzte.