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ISBN: 978-3-492-98463-8
© 2018 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Franz Leipold
Covergestaltung: Favoritbüro, München
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Für Jule
»Death is very likely
the single best invention of life.«
Das Rad und der Koffer waren schon lange erfunden, als der amerikanische Pilot Robert Plath Mitte der 1980er-Jahre den klugen Gedanken fasste, beides miteinander zu kombinieren. Inzwischen ist der Rollkoffer aus dem Alltag unzähliger Urlauber und Geschäftsleute nicht mehr wegzudenken, und rückblickend scheint es fast unvorstellbar, dass nicht schon viel früher jemand auf diese Idee gekommen ist.
Ähnlich verhält es sich mit der Entstehungsgeschichte des Menschen. Da gibt es die frommen Christen, die wissen, dass am Anfang Adam und Eva standen: Sie wurden von Gott selbst geformt, von ihnen stammen alle heute lebenden Menschen in direkter Linie ab. Und es gibt die strengen Wissenschaftler, die wissen, dass sich der Mensch über mehrere Millionen Jahre hinweg vom Affen zum aufrecht gehenden Homo sapiens entwickelt hat.
Allerdings hat noch niemand diese beiden Theorien zusammengeführt. Dabei liegt die Wahrheit doch auf der Hand: Wenn Gott die Stammeltern des heutigen Menschen nach seinem eigenen Abbild geschaffen hat, der moderne Mensch jedoch vom Affen abstammt – dann sieht Gott aus wie ein Affe.
Und so begann die Weltgeschichte also vor vielen Milliarden Jahren mit einem Äffchen, das ganz allein im leeren Raum lebte. Einem Äffchen, das über eine Gabe verfügt, die es bis heute von allen anderen Lebewesen unterscheidet: Es kann durch die pure Kraft seiner Gedanken Dinge entstehen lassen. Wahrscheinlich ist ihm das zu Beginn seines göttlichen Daseins gar nicht bewusst gewesen; das Äffchen muss es beim Herumtollen zufällig herausgefunden haben.
Zuerst mag Gott sich einen Ball gewünscht haben, der dann plötzlich da war und den er mit seinen Händchen greifen, werfen und wieder auffangen konnte. Und als ihm das Spiel mit dem Ball zu langweilig wurde, dachte sich Gott Kristalle, Quader, Wirbel und Nebel in immer neuen Farben aus, die sich umeinander drehten, gegeneinanderstießen, in sich zusammenfielen und neu entstanden. Er konnte ihnen nachjagen und sie beobachten.
Im Lauf von Jahrmillionen wurde Gottes Schöpfung immer größer und fantastischer: Er schuf glühend heiße Sonnen, auf denen Flammen loderten, Pflanzen, die mit ihren grünen Trieben ganze Planeten einhüllten, und Tiere, die über einen eigenen Willen verfügten und sich gegenseitig auffraßen. Manche ließ er auf dem Land leben, andere im Meer; die einen konnten fliegen, die anderen nur kriechen; manchen gab er ein buntes Fell, andere blieben grau oder braun.
Aber so verschieden diese Geschöpfe auch waren, eines hatten alle gemeinsam: Sie waren dumm, sie machten ein- und denselben Fehler dauernd aufs Neue, und sie vermochten Gott nicht zu überraschen. Der aber gefiel sich inzwischen in der Rolle des Beobachters und wünschte sich ein Geschöpf, das in der Lage war, selbst zu denken und dazuzulernen; es sollte das Erfahrungen machen und seine Erkenntnisse an die eigenen Artgenossen weitergeben können. Ein Super-Lebewesen, das allen anderen überlegen war. Gott musste nicht lange nachdenken, um zu entscheiden, wie diese Krone seiner Schöpfung aussehen sollte: wie er selbst.
So begab sich Gott auf denjenigen Planeten, der ihm von allen bisherigen am besten gefiel, und schuf dort zwei Affen, die ihm bis aufs Haar glichen und über die gleichen Eigenschaften verfügten wie er selbst – mit wenigen Ausnahmen: Die beiden sollten nicht durch die Kraft ihrer Gedanken, sondern nur durch ihrer Hände Arbeit Neues schaffen können. Und ihnen sollte es möglich sein, sich aus eigenem Antrieb fortpflanzen. Dafür gab Gott dem einen – das war Adam – einen Penis, und dem anderen – das war Eva – eine Vagina. »Seid fruchtbar und mehret euch«, sagte Gott zu den beiden. »Füllt die ganze Erde und nehmt sie in Besitz! Ich setze euch über die Fische im Meer, über die Vögel in der Luft und über alle Tiere, die in eurer Welt leben. Macht euch die Erde untertan!««
Adam und Eva begannen sofort, es miteinander zu treiben. Es war ein solches Vergnügen, den beiden dabei zuzusehen, dass Gott sich wünschte, er hätte selbst einen Penis und könnte ebenfalls mit Eva schlafen. Aber sich selbst verändern, das vermochte nicht einmal Gott. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich aufs Zuschauen zu beschränken. Gott war neidisch und verärgert – zwei von vielen Eigenschaften, in denen er, das sollte sich in den folgenden Jahrtausenden herausstellen, dem Menschen glich.
Weil Gott nicht hinnehmen wollte, dass sein Adam und seine Eva mehr Spaß am Leben hatten als er selbst, bestrafte er sie: Fortan musste Adam hart arbeiten, um sich und seine Liebste ernähren zu können. Und Eva musste große Schmerzen erdulden, um ihre Nachkommen zur Welt zu bringen. Als erstes Kind kam neun Monate später Kain zur Welt – ein niedlicher kleiner Affe mit süßen Äuglein, in den Gott vom ersten Tag an mindestens genauso vernarrt war wie seine beiden Eltern. Als Zweitgeborenen bekamen Adam und Eva im Jahr darauf Abel, der zwar auch hübsch anzusehen, aber längst nicht so liebenswert war wie sein großer Bruder Kain.
Eva brachte danach im Neun-Monats-Takt viele weitere Söhne und Töchter zur Welt. Aber es waren die beiden ältesten, Kain und Abel, die für den Fortgang des Himmels und der Erde große Bedeutung bekamen. Abel war nämlich so neidisch auf die Schönheit seines Bruders Kain, dass er ihn eines Tages erschlug. Gott war fassungslos. Er konnte den Gedanken, dass Kain für immer aus dieser Welt verschwunden sein sollte, nicht ertragen – und schuf ihm deshalb das Paradies: einen Ort, der genau so aussah wie die Erde, in dem aber niemand mehr sterben oder einen anderen umbringen konnte. Und weil Gott darüber hinaus das Gefühl hatte, er müsse bei Kain einiges wieder gutmachen, erließ er ihm auch die harte Arbeit, die er den Männern auf der Erde aufgetragen hatte.
So gelangte Kain als erster Mensch überhaupt in den Himmel. Damit er dort nicht dauerhaft einsam blieb, entschied Gott, dass alle anderen Menschen nach einer Lebenszeit von drei oder vier Jahrzehnten ebenfalls sterben und Kain dann Gesellschaft leisten sollten. Als erste Frau kam bald darauf Zilla in den Himmel und schlief dort mit Kain. Sobald sie erkannte, dass Kain im Paradies gar nicht arbeiten musste, sagte sie: »Gott, wenn du dem Mann seine Strafe erlassen hast – dann musst du sie doch der Gerechtigkeit wegen auch der Frau erlassen?« Gott fand, das Zilla recht hatte. Deshalb bestimmte er, dass Frauen nur auf der Erde schwanger werden konnten und Schmerzen ertragen mussten; für Nachkommen war durch die Sterbenden ja ohnehin gesorgt. Fortan konnten die Menschen im Himmel sorglos Sex haben, mit wem sie wollten.
Nachdem er unzählige Söhne und Töchter gezeugt hatte, starb im hohen Alter auch Adam. Als er den Himmel betrat, war er von der harten Arbeit auf dem Feld gezeichnet: ein gebückter alter Mann mit vielen Falten im Gesicht. Adam freute sich, seinen geliebten Sohn Kain wiederzusehen. Aber er konnte nicht verstehen, warum Kain ewig jugendlich aussehen sollte, während er selbst alt und gebrechlich war. »Mein lieber Gott«, wandte sich Adam an ihn. »Habe ich nicht alles getan, was du mir aufgetragen hast? Warum soll ich jetzt schlechter aussehen als mein Sohn?« Damit, fand Gott, hatte Adam durchaus recht. Er gab Adam ein jüngeres Aussehen und entschied, dass im Himmel fortan alle Menschen gesund und jung aussehen sollten, ganz gleich, in welchem Alter sie gestorben waren.
Und dann starb eines Tages schließlich Abel, der erste Mörder der Geschichte. Gott zögerte, auch ihn ins Paradies aufzunehmen. Aber Abel hatte viele Fürsprecher, darunter seinen Vater Adam und vor allem seine Mutter Eva, die Gott um Gnade bat. »Lieber Gott«, sagte Eva, »sieh doch, wie sehr Abel sein Verbrechen bereut. Er ist zu einem guten Menschen geworden. Bitte nimm ihn in deinen Himmel auf und lass ihn in Frieden leben, so wie du es uns in deiner Güte gewährt hast.« Gott sah ein, dass auch Abel in den Himmel gehörte, und nahm ihn auf.
Das gefiel jedoch nicht allen, und besonders Kain zürnte über diese Entscheidung. »Lieber Gott«, begehrte Kain auf, »soll ich meinem Mörder denn jeden Tag begegnen? Soll ich ihm in die Augen schauen und mich von ihm belächeln lassen? Willst du, dass er sich über mich lustig machen kann, weil er viele Söhne, Töchter und Enkelkinder hat und ich kein einziges?« Gott überlegte. »Du hast nicht unrecht, mein lieber Kain«, antwortete er. »Ich will vermeiden, dass Abel dich auch nur ein einziges Mal schief ansehen kann.« So schuf Gott einen zweiten Himmel, der dem ersten wie auch der Erde bis auf jeden Grashalm und jeden Baum vollkommen glich. In diesem Himmel lebte fortan Abel mit allen, die nach ihm starben.
Wie Gott es sich gewünscht hatte, machten die Menschen sich die Erde untertan. Sie lernten, wilde Tiere zu zähmen und das Vieh auf eingezäunten Weiden zu halten. Sie legten Gärten an, in denen sie Obst, Gemüse und Kräuter anbauten. Sie fällten Bäume, um aus dem Holz viele nützliche Dinge zu fertigen und Häuser zu bauen, in denen sie wohnen konnten. Und sie erfanden immer neue Werkzeuge, die ihnen die harte Arbeit erleichterten. Die Menschen gewöhnten sich schnell an die Annehmlichkeiten, die sie sich selbst geschaffen hatten, und sie waren nach ihrem Tod verwundert, wenn sie in ein himmlisches Paradies kamen, in dem es keine Gärten, keine Zäune und keine Häuser gab.
»Warum«, fragte nach seinem Tod Adams Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkel Methusalem, »ist der Himmel schlechter als die Erde? Warum habe ich auf der Erde in einem Haus gewohnt, muss aber im Himmel auf der nackten Erde schlafen?« Das wollte Gott nicht durchgehen lassen. »Im Himmel gibt es genug Bäume«, sagte er zu Methusalem, »fälle einen und bau dir dein eigenes Haus!« Aber nach Methusalem starben viele andere, denen es im Himmel an diesem und jenem Werkzeug mangelte oder denen bestimmte Gemüsesorten fehlten, die die Menschen auf Erden inzwischen neu gezüchtet hatten. Also hatte Gott ein Einsehen und schuf einen weiteren Himmel, in dem es Häuser, Gärten, Zäune und alle Gemüsesorten gab. Dort wohnten diejenigen Menschen, die von diesem Zeitpunkt an starben.
Gott imponierte, dass sich die Menschen nie mit dem Erreichten zufrieden gaben, sondern dass auf der Erde Innovation auf Innovation folgte – auch wenn das bedeutete, dass er selbst immer neue Himmel schaffen musste, um den Menschen im Paradies eine Heimat zu geben, in der sie nach ihrem Tod alle Errungenschaften ihrer jeweiligen Zivilisationsstufe vorfinden konnten.
Gott war so stolz auf seine Schöpfung, dass er sogar gnädig übersah, wie sich die Menschen zusehends von ihm entfremdeten. Während er selbst immer derselbe Affe blieb, wurden sie von Generation zu Generation größer, verloren ihr Fell, bis irgendwann nur noch das Kopfhaar übrig blieb, bekamen immer kleinere Nasen und Ohren, dafür jedoch immer größere Köpfe. Sie verloren den Glauben an ihren Schöpfer, wurden rachsüchtig, missgünstig und eifersüchtig.
Bis es selbst Gott zu bunt wurde. Als die Menschen irgendwann große Fabriken und Industrieanlagen bauten, in denen sie nichts anderes als Granaten herstellten, als sie mit Flugzeugen über gegnerische Stellungen hinwegflogen, um im Hinterland unschuldige Frauen und Kinder zu bombardieren, als auf den Schlachtfeldern nicht mehr Mann gegen Mann kämpfte, sondern ganze Einheiten aus der Ferne vernichtet wurden, als die Menschen ihre Feinde mit Zielfernrohren ins Visier nahmen, ohne ihnen ein einziges Mal ins Auge geblickt zu haben – da wandte Gott sich von den Menschen ab.
Diese Geschöpfe hatten seine Fürsorge nicht länger verdient. Hundert Jahre lang, so schwor er sich, würde er die Menschen keines Blickes würdigen. Lieber würde er mit bunten Kugeln, Nebeln und Kristallen spielen.
Als Carl erwachte, war er schon tot. Aber er wusste es noch nicht.
Schon bevor er die Augen öffnete, hörte er lautes Stimmengewirr von unzähligen Menschen, die in den unterschiedlichsten Sprachen durcheinanderriefen.
»Wo zai nali ne?«[1], drang das verzweifelte Rufen einer Frau an sein Ohr.
»Hein? C’est quoi cette merde? C’est un putain de foyer de réfugiés ou quoi?«[2], schrie ein Mann.
»Ma allathi yajri behak el jahim hona? Aina hon horiyati al 72?«[3], brüllte ein Mann. Seine Stimme klang empört und aufgeregt, aber Carl konnte die Worte nicht verstehen. Er kam erst langsam zu sich und rieb sich die Augen.
Zusammengekrümmt wie ein Fötus lag er auf der weißen Pritsche eines Stockbetts. Er war vollkommen nackt. Ihm gegenüber lag auf einem weiteren Stockbett eine ebenfalls nackte junge Frau von asiatischem Aussehen, die nervös um sich blickte. Eine Hand hatte sie auf ihre Scham gelegt, mit der anderen Hand umklammerte sie ihre Brüste.
Carl blickte der Frau fragend ins Gesicht. Sie schaute verunsichert zurück.
»Sumimasen«, fragte sie mit leiser, fast flüsternder Stimme »koko wa doko desu ka?«[4]
Carl schüttelte nur stumm den Kopf. Er wusste nicht einmal, in welcher Sprache die Frau mit ihm geredet hatte.
Wo mochte er sich befinden? Um sich einen Überblick zu verschaffen, richtete Carl sich auf, so gut es unter der niedrigen Decke des Stockbetts eben ging. Aber alles, was er erblickte, war eine schier unüberschaubar große Menge weiß bezogener Stockbetten; es mochten Tausende sein. Jeder dieser Bettentürme hatte sieben Etagen, und auf jeder einzelnen Pritsche lag ein nackter Mensch, Männer wie Frauen. Die meisten schienen Asiaten zu sein, aber Carl sah auch viele mit dunkler Hautfarbe, Araber, oder Weiße, wie er selbst einer war.
Plötzlich beugte sich jemand vom darüberliegenden Bett zu Carl herunter. »Hey mate«, sagte der Kopf von oben mit freundlichem Lächeln. »Do you have any idea what this is?«[5]
»No«, entgegnete Carl kurz angebunden, sank zurück auf die Pritsche und schloss die Augen. War das ein Traum? Er presste seine Lippen fest aufeinander und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn.
Für eine Weile blieb Carl bewegungslos liegen; als er die Augen wieder öffnete, bot sich noch immer dasselbe Bild. Überall nur nackte, verunsicherte Menschen, die verzweifelt versuchten, ihre Blöße zu bedecken – auch Carl hatte inzwischen eine Hand auf seinen Penis gelegt –, die sich die Augen rieben, verwundert umherblickten oder sich bemühten, in den meisten Fällen offenbar in vergeblich, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Was für ein Ort mochte das hier sein? Und wie war er bloß hierhergelangt? Carl versuchte, nachzudenken, sich zu konzentrieren. Doch alle Erinnerungen schienen verblasst; es kam ihm so vor, als lägen selbst die jüngsten Ereignisse in seinem Leben schon viele Wochen oder gar Monate zurück.
Wieder fasste sich Carl an den Kopf, schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust, rieb seine Schläfen und zwickte sich in die Wange. Aber es veränderte sich nichts. Was immer er auch tat – es blieb dabei. Carl lag nackt in einem Stockbett, und um ihn herum lagen Zehntausende anderer Menschen, die sich in der gleichen Lage befanden wie er selbst.
Ängstlich klammerte sich Carl an die Stange des Stockbetts, kauerte sich auf der Pritsche zusammen und beschloss, erst einmal seine Gedanken zu ordnen. Schritt für Schritt ging er zunächst die einfachsten Dinge durch: Wer war er? Carl Drechsler. Wie viele Finger hielt er sich selbst vor die Nase? Fünf. Welcher Tag war heute? Er wusste es nicht; vielleicht Donnerstag? Wie war er hierhergekommen? Carl hatte keinen blassen Schimmer.
Erneut blickte er sich um. Überall nackte Menschen in Betten. Einige kreischten hysterisch, andere rüttelten an den Gestellen. Manche lagen apathisch auf ihren Pritschen und starrten in die Luft. Einer lachte aus vollem Hals. Ein paar waren von ihren Betten aufgesprungen und rannten orientierungslos zwischen den Bettentürmen umher. Carl sah zwei Männer, die sich gegenseitig im Gesicht berührten, offenbar um einander zu vergewissern, dass es den jeweils anderen wirklich gab, dass er echt war, dass er sich wirklich hier an diesem Ort befand.
Carl prüfte, ob sein Herz schlug. Es schlug.
So vergingen einige Minuten – es mochten zehn sein oder auch nur drei, denn Carl hatte kein Zeitgefühl –, bis es plötzlich noch lauter wurde. In einiger Entfernung schwoll das Stimmengewirr zu einem lauten Schreien an. Die Menschen fuhren von ihren Betten hoch und versuchten, die Richtung der Rufe auszumachen. Auch Carl richtete sich auf seiner Pritsche auf und blickte zu Boden.
Und tatsächlich: Es tat sich etwas. Carl konnte zwischen den Bettreihen einige weiß gekleidete Gestalten ausmachen, die mehrere hölzerne Leiterwagen mit großen Rädern hinter sich her zogen. Auf jedem Wagen türmte sich ein weißer Haufen, offenbar mit Bettlaken. Vor jedem Bettenturm machten die Gestalten Halt und warfen den Menschen jeweils eines der Laken zu. Als die Wagen näher kamen, erkannte Carl, dass es sich um einfache weiße Gewänder handelte, die die Menschen auf den Betten rasch ergriffen und sich überstreiften.
In den unteren Bettreihen zerrten die Menschen selbst an den Wagen, um ein Kleid zu ergattern; die weiter oben streckten ihre Arme flehend herab, bis ihnen jemand den weißen Stoff in die Hand drückte.
Bald warf ein Mann auch Carl eines der Gewänder auf die Pritsche. Dabei würdigte er ihn jedoch keines Blickes, sondern fasste sofort wieder in den Container, um ein weiteres Kleid hervorzuholen und es dem Mann über Carl hinaufzuwerfen.
»Thanks mate«[6], kam es von oben.
»Hey«, rief Carl dem Mann am Wagen zu, »was soll das hier? Wo sind wir? Was ist das für ein Ort?« Aber der Mann beachtete ihn gar nicht, sondern schob seinen Leiterwagen zwei oder drei Meter weiter nach vorn, wo schon die nächsten Menschen ungeduldig auf ein Kleidungsstück warteten.
Carl streifte sich das Gewand über. Es war nicht mehr als ein weißer Sack mit Löchern für den Kopf und die Arme. Flüchtig erinnerte er sich daran, dass er im Krankenhaus mal ein ähnliches Kleid bekommen hatte. Damals erwartete ihn eine Mandeloperation. Und was würde diesmal auf ihn zukommen? Was, wenn er entführt worden war und sich jetzt in einer medizinischen Versuchsanstalt befand? Er schauderte.
Die anderen Menschen um ihn herum schienen immerhin durch die Kleider ein wenig beruhigt worden zu sein, denn das Stimmengewirr wurde deutlich leiser; Carl stellte fest, dass die meisten offenbar froh darüber waren, erst einmal ihre Blöße bedeckt zu haben. Auch er selbst fühlte sich mit dem Kleidungsstück wohler als noch Minuten zuvor. Erneut wagte er einen Blick über die Bettkante und versuchte, seine Lage besser einzuschätzen. Zwei Dinge fielen ihm auf: Die Füße der Stockbetten standen im Sand. Und hoch über den obersten Reihen der Pritschen leuchtete strahlend blau der Himmel. Er befand sich ganz offenbar im Freien, schlussfolgerte Carl. Immerhin – eine geschlossene Anstalt schien das hier nicht zu sein.
Zögerlich klopfte Carl gegen den Boden der Pritsche über ihm. Sofort beugte sich der Mann von oben wieder herunter und schaute ihn neugierig an.
»What’s up, mate?«, fragte der Kopf.
»I don’t know«, sagte Carl.
»Who are you? «, fragte der Kopf.
»I’m Carl«, antwortete Carl.
»Nice to meet you, Carl«, entgegnete der Kopf, »my name’s Brian.«
»Hi Brian«[7], sagte Carl. Er kam sich ein wenig dämlich vor bei dieser Begrüßung auf Englisch, denn ihm wurde schlagartig bewusst, dass er nicht mehr über sich sagen konnte als lediglich seinen Namen. Er wusste zwar – oder vielmehr glaubte er zu wissen –, dass er als Winzer arbeitete, dass er in dem kleinen beschaulichen Bergdorf Rosburg seinen eigenen Weinberg hatte, dass er 37 Jahre alt war, dass er gerne Quiche Lorraine aß und die Musik von Led Zeppelin liebte. Aber wie absurd erschienen solche Dinge, die man sonst beim Small Talk von sich gab, in dieser sonderbaren Lage an diesem unwirklichen Ort, der nur aus Stockbetten zu bestehen schien?
»Do you have any idea where we are?«, fragte Carl.
»No man, sorry«, sagte der Mann von oben freundlich, »but I’ll tell you one thing: I can move again!«
»What do you mean?«, hakte Carl nach.
»I don’t know, man. All I remember is me being trapped in a hospital bed for five years, not able to move a bit. But now I can move again. Can you fucking believe it?«[8] Um zu beweisen, dass er sich tatsächlich bewegen konnte, schüttelte der Mann von oben vergnügt seinen Kopf hin und her und winkte wild mit seinem Arm.
»No«, sagte Carl knapp. Er wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte. Er war verwirrt und hilflos. Vorsichtig tastete er nach seinen Füßen und befühlte von dort ausgehend seinen ganzen Körper. Alles war da, wo es hingehörte. Er schien unverletzt, gesund und wach zu sein. Und ja: Auch er konnte sich bewegen. Aber er hatte sich schließlich schon immer bewegen können. Oder zumindest hatte er keine Erinnerung daran, jemals gelähmt gewesen zu sein.
Wie konnte das denn alles sein? Carl wurde wütend, weil er dieser Situation so machtlos ausgeliefert war. Aus Verzweiflung schlug er mit seiner Stirn gegen die Pritsche über seinem Kopf.
»Are you okay, mate?«, fragte der Kopf von oben.
»No«, antwortete Carl.
»You sure don’t look fine, man«, sagte der Mann mit einem Grinsen, bevor er seinen Kopf wieder zurückzog.[9]
Carl fühlte sich miserabel. Was war das für ein sonderbarer Ort, an dem die Menschen auf Pritschen lagen wie Sardinen in der Dose? An dem jeder eine andere Sprache sprach und an dem Brian von oben froh darüber war, sich wieder bewegen zu können? Wie war er, Carl, bloß hierhergelangt?
Er versuchte, sich daran zu erinnern, was er zuletzt gemacht hatte, bevor er in diesem Irrenhaus aufgewacht war. »Isabel«, sagte Carl leise, als ein erster Gedanke an die vorhergehenden Geschehnisse in seiner Erinnerung auftauchte. Isabel! Die hübsche Köchin aus der »Pfeffermühle«. Hatte er sie nicht abends ausgeführt? Sich ein bisschen in sie verliebt? Vor seinem inneren Auge sah Carl, wie er versucht hatte, sie zu küssen. Plötzlich durchzuckte ihn eine andere Erinnerung, die das schöne Bild von Isabel wie ein Hammerschlag zerstörte: sein Traktor, der mit seinem vollen Gewicht auf ihn stürzte.
Carl fuhr ruckartig auf, wobei er mit dem Kopf erneut gegen die Pritsche über ihm stieß. Er schrie aus vollem Hals, aber nicht vor Schmerz. Carl schrie, weil er jetzt zum ersten Mal ahnte, was ihm geschehen war: Er war gestorben!
»Hui shuo zhongwen ma? Lai wo zheli ba!«,[10] rief eine Männerstimme in geschäftigem Ton. Die Stimme klang völlig anders als die hilflosen, nervösen Rufe der verlorenen Menschen auf den Betten. Carl verstand kein Wort, aber ihm war sofort klar, dass diese Stimme zu jemandem gehörte, der hier in der seltsamen Bettenwelt zu Hause war. Zu routiniert, zu gelangweilt klang dieser Ton, als dass hier nicht jemand genau wissen würde, wer er war und was er zu tun hatte.
Carl lugte über seine Pritsche nach unten. Dort stand ein Asiate, der ein Schild mit zwei Schriftzeichen in der Hand hielt; Carl konnte sie allerdings nicht lesen.
Kurz schaute der Asiate zu ihm herauf. Aber sobald er erkannte, das Carl ein europäisches Gesicht hatte, wandte er sich ab, ging weiter und rief seine Parole erneut: »Hui shuo zhongwen ma? Lai wo zheli ba!«
Bald tauchten ähnliche Gestalten mit anderen Schildern auf, auf denen Carl »Francais« oder »Espanol« entziffern konnte. Offenbar handelte es sich um Helfer, die die Menschen nach ihren Sprachgruppen sortieren sollten. Es dauerte nicht lange, bis auch Carl gerufen wurde.
»Deutsche zu mir«, brüllte ein Mann mit tiefer Stimme. »Deutsche, sammelt euch! Antreten zum Appell!«
Unter anderen Umständen hätte sich Carl wahrscheinlich an dem militärischen Ton gestört. Aber jetzt war er heilfroh, endlich einem Befehl folgen zu können. Er machte den Rufer ausfindig – es war ein hochgewachsener Mann mit Seitenscheitel, der ein Schild mit der Aufschrift »Deutsch« trug – und kletterte, so schnell er konnte, von seiner Etage des Stockbettenturms herab.
Der Mann, der einen guten Kopf größer war als Carl, nickte ihm flüchtig zu. »Deutscher?«, fragte er kurz. Carl nickte.
»Mitkommen!« wies der Hüne ihn an. Dann rief er wieder laut in die Runde: »Deutsche, herkommen!«
Carl reihte sich brav in die Gruppe der Leute ein, die dem Mann mit dem Schild folgten. Das mussten seine Landsleute sein.
»Auch Deutscher?«, fragte er den jungen Mann, der neben ihm ging.
»Karlheinz«, sagte der Mann und gab Carl die Hand.
»Carl«, antwortete Carl, »wissen Sie, wo wir sind?«
Karlheinz schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er kurz, bevor er lächelnd fortfuhr: »Ich hoffe aber sehr, dass das hier der Himmel ist und nicht die Hölle.«
»Wir sind also tot?«, fragte Carl besorgt, aber gefasst.
»Wusstest du das noch nicht?«, fragte Karlheinz belustigt zurück.
»Ich habe es befürchtet«, antwortete Carl, dem nicht nach Lachen zumute war. Die beiden trotteten dem Hünen durch den Sand hinterher.
»Erinnerst du dich denn nicht an das Sterben?«, fragte Karlheinz weiter und stellte fest: »Dann kam der Tod für dich wohl ganz plötzlich.«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Carl unsicher, »aber ich glaube, ich bin vom Traktor gefallen.«
Karlheinz lachte. »Vom Traktor gefallen? Dann bist du auf der Erde ein Bauer gewesen?«
»Fast«, entgegnete Carl, und seine Stimme klang leicht beleidigt. »Ich bin Winzer.«
»Ich war Kraftfahrzeugmechaniker. Das ist aber schon lange her. Die letzten Jahre habe ich nur noch im Bett verbracht. Krebs, weißt du? Ein langsamer, siechender Tod.«
»Das tut mir leid«, sagte Carl, weil ihm nichts Besseres einfiel. Insgeheim dachte er, dass die Leidenszeit, von der Karlheinz sprach, nicht sonderlich lange gewesen sein konnte. Denn Karlheinz war viel zu jung, als dass er nach der Lehre noch lange Jahre hätte siechen können.
»Ich wäre lieber vom Traktor gefallen«, sagte Karlheinz.
»Ich hätte lieber noch länger gelebt«, sagte Carl.
»Na, jetzt sind wir beide hier«, stellte Karlheinz, dem der Tod nichts auszumachen schien, trocken fest.
»In der Hölle«, mutmaßte Carl.
»Oder im Himmel«, sagte Karlheinz, »hoffen wir das Beste. Toi, toi, toi!«
Inzwischen hatte die Gruppe das Ende der Stockbetten erreicht. Hinter der letzten Bettenreihe tauchte das Meer auf, eine kleine Bucht von malerischer Schönheit: türkisfarbenes, kristallklares Wasser, das sich in tosenden Wellen an den hohen Felsen brach, die die Bucht umschlossen, und schließlich als sanftes Rauschen an den Strand gespült wurde. Der Hüne, der die Gruppe hierhergeführt hatte, ging einige Schritte in die Flut hinein; als ihm das Wasser bis zu den Knien reichte, drehte er sich um.
»Sammelt euch!«, rief er. Sofort bildeten die Männer und Frauen, es mochten insgesamt etwa 50 sein, einen Halbkreis um den Hünen und bedrängten ihn mit Fragen. Der Hüne brachte sie alle mit einer Handbewegung zum Schweigen und grinste sie an.
»Meine Damen und Herren«, rief er dann mit festlicher Stimme, »herzlich willkommen!«
Die Gruppe murrte einen Gruß zurück.
»Zuallererst habe ich eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie«, fuhr der Hüne fort, »erst die schlechte: Sie sind alle tot!« Er guckte sich mit schelmischem Grinsen um und suchte die Gruppen nach entsetzten Gesichtern ab, musste aber enttäuscht feststellen, dass inzwischen offenbar alle über ihr Ableben informiert waren.
»Und die gute Nachricht?«, rief ungeduldig eine junge Frau.
»Nicht so stürmisch, meine Dame«, wies der blonde Hüne die Frau zurecht. »Wir können es langsam angehen lassen. Wir haben nämlich bis in alle Ewigkeit Zeit.«
Wieder murrten einige. Carl war mulmig, als er die Worte des Hünen hörte. Ewigkeit? Das war ein Wort, das er nur aus den Gottesdiensten kannte, die er als Kind mit seinen Eltern hatte besuchen müssen. Ein Begriff, mit dem er bislang nichts hatte anfangen können. E-wig-keit. Das klang weihevoll, aber auch esoterisch. In Carls Welt hatte ein solches Wort keine Bedeutung gehabt.
Der Hüne räusperte sich. »Die gute Nachricht ist«, sagt er langsam und machte eine Pause, um die Spannung zu steigern.
»Nun sagen Sie es endlich!«, rief Karlheinz dazwischen. »Sind wir im Himmel?«
Der Hüne warf Karlheinz einen strafenden Blick zu, bevor er es endlich aussprach: »Die gute Nachricht ist, dass es den Himmel wirklich gibt. Und ja, Sie haben es hierher geschafft.«
Die Gruppe atmete kollektiv auf.
Doch es dauerte nur einige Sekunden, bis die erste unzufriedene Stimme laut wurde. »Das hier soll der Himmel sein?«, rief die vorlaute Frau, die eben schon ungeduldig gewesen war. »Das glauben Sie ja wohl selber nicht!«
Der Hüne schmunzelte, aber er gab ihr keine Antwort.
Carl guckte auf seine Füße im Sand. Es fiel ihm schwer, das Gehörte zu verarbeiten. Er hatte nicht daran geglaubt, dass es ein Leben nach dem Tod geben würde. Er hätte nicht erwartet, dass der Tod ihn so früh und so plötzlich ereilen würde. Und es erschien ihm seltsam, dass der Himmel ein Ort mit Stockbetten war, an dem die Menschen nach Sprachgruppen sortiert wurden und die Deutschsprachigen einen Halbkreis bildeten. Carl fühlte sich verloren unter diesen Toten. Er war traurig und hätte sich am liebsten in den Sand gesetzt, um sich selbst zu bemitleiden. Aber er musste zuhören.
»Mein Name ist Markus«, setzte der Hüne wieder zu seiner Rede an. »Ich bin ein Engel.«
»Sie sind ein Engel?«, rief eine Frau überrascht.
»Wenn ich es sage«, bekräftigte Engel Markus, »aber ich kann mir denken, dass die meisten von Ihnen sich einen Engel ganz anders vorgestellt haben. Es tut mir leid, dass ich keine Flügel habe.«
Einige der Umherstehenden lachten leise auf, doch der Engel fuhr unbeirrt fort, diesmal allerdings mit leiernder Stimme, die verriet, dass er die folgenden Sätze vor langer Zeit auswendig gelernt und wohl schon tausendfach vorgetragen hatte: »Im Namen Gottes und der himmlischen Heerscharen heiße ich Sie, meine Damen und Herren, herzlich willkommen. Wir befinden uns hier in der Sammelankunftsstelle C19. Vor vielen Jahren war dieser Ort eine idyllische Landschaft mit einem traumhaften Sandstrand, an dem sich sanft die Wellen gebrochen haben. Aber wie Ihnen sicherlich bereits aufgefallen ist, haben die Zeiten sich geändert. Inzwischen leben so viele Menschen auf der Erde, dass permanent gestorben wird und unsere Kapazitäten für eine Wohlfühl-Ankunft im Paradies nicht mehr ausreichen. Ich bitte Sie dafür um Verständnis.«
Die Gruppe murrte unverhohlen.
»Sie alle, die Sie jetzt um mich herum stehen, sind am 15. August zwischen 17 und 18 Uhr nachmittags gestorben«, setzte Engel Markus seine Einführung fort. »Rein statistisch gesehen sterben pro Jahr ungefähr 900.000 Deutsche, das macht pro Stunde eigentlich knapp über hundert. Die meisten Menschen sterben allerdings nachts, deshalb ist der Andrang tagsüber noch überschaubar.«
»Also mir reicht’s«, rief höhnisch die vorlaute Frau.
»Nun halten Sie doch mal die Klappe«, beschwerte sich ein Mann.
»Schon gut«, sagte Engel Markus, »ich kann’s ja verstehen.«
Der Engel wollte gerade weiterreden, als ganz in der Nähe, wo sich eine andere Sprachgruppe um ihren Engel versammelt hatte, ein Tumult ausbrach. Die Deutschen reckten ihre Hälse, um besser mitzukriegen, was da vor sich ging. Carl beobachtete, wie mehrere arabisch aussehende Männer auf einen am Boden liegenden Menschen einschlugen und ihn sogar mit Füßen traten.
»Was ist denn da drüben los?«, fragte jemand.
Engel Markus winkte ab. »Das haben wir in letzter Zeit öfters hier. Es kommen häufig große Totengruppen von Arabern an, die alle demselben Terroranschlag zum Opfer gefallen sind. Wenn die merken, wer aus ihrer Mitte der Selbstmordattentäter ist, dann ist das Geschrei jeweils groß.«
»Selbstmordattentäter kommen auch in den Himmel?«, fragte Karlheinz verwundert.
»Alle Menschen kommen in den Himmel«, antwortete Engel Markus. »Gott ist barmherzig. Er vergibt jedem seine Sünden, mögen sie auch noch so schwerwiegend sein.«
»Na toll«, seufzte ein Mann auf, »dann hätte ich mir die vielen Kirchenbesuche ja auch sparen können.«
»Nun sagen Sie doch so etwas nicht!«, echauffierte sich eine Frau. »Ich bin mir sicher, dass wir als gläubige Christen bestimmt Vorteile hier im Himmel haben. Oder etwa nicht?« Sie schaute Engel Markus hoffnungsvoll an.
Der schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, im Himmel sind alle Menschen gleich. Das ist auch schon die erste von einigen wichtigen Regeln, die ich Ihnen mit auf den Weg geben möchte, bevor Sie nachher den eigentlichen Himmel betreten.«
»Den eigentlichen Himmel?«, fragte jemand neugierig.
»Eins nach dem anderen«, sagte Engel Markus mit einer leichten Ungeduld in der Stimme. »Lassen Sie uns von vorne beginnen. Zuallererst: Im Himmel gibt es keinen Tod. Das bedeutet, dass sie alle ewig leben dürfen. Wer den Himmel einmal betreten hat, kann nie mehr sterben. Und es gibt keine Krankheiten. Egal, woran sie gestorben sind – sie sind von all Ihren Leiden erlöst. Jeder von Ihnen ist für alle Zeiten kerngesund.«
Einige der Umherstehenden jauchzten vor Freude. Jeder Einzelne musterte den eigenen Körper, fasste sich beglückt an die Brust, an die Arme oder an den Kopf. Viele strahlten vor Glück.
Carl, der bis zu seinem Tod immer gesund und kräftig gewesen war, teilte die allgemeine Freude nicht. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Engel«, mischte er sich jetzt zum ersten Mal ein. »Was ist denn, wenn ich gar nicht in den Himmel möchte? Ich würde viel lieber auf der Erde weiterleben. Gibt es da eine Möglichkeit?«
Engel Markus schüttelte den Kopf. »Da muss ich Sie enttäuschen, mein Herr«, sagte er, »aber ich bin sicher, dass auch Sie sich im Himmel bald sehr wohl fühlen werden. Es gibt nämlich noch zwei Dinge, die ich Ihnen allen verraten kann. Zum einen verspüren Sie im Himmel keinerlei Bedürfnisse. Sie müssen nichts essen und werden trotzdem nie Hunger leiden. Sie müssen nichts trinken und werden trotzdem keinen Durst haben. Sie müssen nicht schlafen und werden trotzdem niemals müde sein.«
»Und zum anderen?«, fragte wieder die vorlaute Frau.
»Zum anderen«, setzte Engel Markus seine Rede fort, »zum anderen sind Sie alle ewig jung. Die meisten von Ihnen werden staunen, wenn Sie nachher zum ersten Mal in einen Spiegel schauen werden. Sie sehen nämlich alle frisch und jugendlich aus, egal, ob Sie im Alter von 20 Jahren, mit 50 oder als Hundertjährige gestorben sind!«
Die frisch Verstorbenen quietschen vor Begeisterung. »Das glaube ich nicht!«, rief eine Frau euphorisch, »das glaube ich einfach nicht!«
»Das muss wirklich der Himmel sein«, sagte eine Frau neben Carl leise und seufzte.
Carl, der mit 37 Jahren gestorben war, fiel auf, dass tatsächlich die gesamte Gruppe nur aus jungen Leuten zu bestehen schien. Es war so, als ob sie alle gerade 20 Jahre alt geworden seien.
»Wie alt sind Sie?«, fragte er Karlheinz.
»79«, kam die prompte Antwort. Karlheinz sah aus wie ein Abiturient.
Zum Abschluss der Einführungsrunde ließ Engel Markus jeden aus der Gruppe einzeln nach vorne treten, um ihm oder ihr noch einige Fragen zu stellen. Carl, der keinen Grund sah, sich vorzudrängeln, kam als einer der Letzten an die Reihe.
»Ihr Name?«, fragte der Engel.
»Carl Drechsler«, antwortete Carl.
»Karl mit K?«, fragte der Engel.
»Nein«, sagte Carl, »mit C. C-A-R-L.«
»Gut, danke«, sagte der Engel und machte sich eine Notiz auf einer Kladde. »Drechsler, wie man’s spricht?«
»Genau«, sagte Carl.
»Ihr Geburtsort?«, fragte der Engel weiter.
»Rosburg«, antwortete Carl, buchstabierte auch dieses Wort und nannte die zugehörige Postleitzahl.
»Sind Sie mit einer Person verheiratet, die bereits verstorben ist?«, wollte der Engel noch wissen.
»Nein«, sagte Carl bestimmt. »Ich bin überhaupt nicht verheiratet.«
Engel Markus grinste. »Glückwunsch«, sagte er, »das erspart Ihnen hier einige Unannehmlichkeiten.«
»Oh, das hat es schon auf der Erde«, entgegnete Carl und musste innerlich lächeln.
Als der Engel nach verstorbenen Verwandten fragte, nannte ihm Carl nach einigem Zögern den Namen von Martin Drechsler in Rosburg – seinem Vater. Der war vor einigen Jahren an einem Herzinfarkt verstorben, worüber Carl nicht sonderlich traurig gewesen war. Sein Vater und er hatten sich nie besonders viel zu sagen gehabt. Aber wen hätte Carl sonst nennen sollen? Seine Mutter war noch am Leben, seine Großeltern hatte er kaum gekannt, und andere tote Verwandte fielen ihm nicht ein.
Selbst Freunde nicht. Carl überlegte, ob in den vergangenen Jahren jemand aus seinem Bekanntenkreis gestorben war. Klar, er war in Rosburg manches Mal im Auto am Friedhof vorbeigefahren, wenn dort gerade eine schwarz gekleidete Trauergemeinde versammelt stand und jemanden aus dem Dorf zu Grabe trug. Doch ihn hatte der Dorftratsch nie interessiert. Er gehörte nicht einmal irgendwelchen Vereinen oder Sportgruppen an, die ihn zur Teilnahme an Trauerfeierlichkeiten verpflichtet hätten. Die letzte Beerdigung, an die Carl sich erinnern konnte, war tatsächlich die seines Vaters gewesen.
Und den sollte er jetzt bald wiedersehen? Es war ein komisches Gefühl, tot zu sein.
Nachdem er die Daten der letzten Personen aus der Gruppe aufgenommen hatte, verabschiedete sich Engel Markus, klemmte die Kladde unter den Arm und schickte sich an, zu verschwinden. Wohin er ging und was als Nächstes passieren würde, dazu machte er nur vage Andeutungen: »Warten Sie hier«, sagte er. »Sie werden abgeholt.«
»Von wem denn?«, fragte jemand aus der Gruppe.
»Jeder von einem anderen«, sagte der Engel. »Sie werden es schon sehen. Aber das wird eine Weile dauern – machen Sie sich derweil doch untereinander bekannt. Ich wünsche Ihnen allen ein Weiterleben in Frieden und Harmonie!« Nach diesen Worten ging er fort.
Carl sank auf den Boden, setzte sich in den Sand und spielte gedankenverloren mit einigen Muscheln und kleinen Steinen. Er hörte, wie die anderen aus der Gruppe Mutmaßungen darüber anstellten, wer sie abholen würde und wie der »eigentliche« Himmel wohl aussehen könnte. Er selbst hatte keine Erwartungen. Er machte sich auch kaum Hoffnungen. Allein schon die Tatsache, dass nur der Vater auf ihn wartete, verhieß wenig Gutes.
Warum hatte er so früh sterben müssen? Carl haderte mit dem Schicksal. War er selbst schuld an seinem Tod? Er versuchte, sich zu konzentrieren und die Umstände seines Ablebens zu rekonstruieren.
Er erinnerte sich noch daran, wie er auf dem Schmalspurtraktor den steilen Weg zwischen seinen Weinreben hinauf gefahren war. Für einen Moment durchzuckte ihn noch einmal das gute Gefühl, das ihn bei dieser letzten Fahrt durchströmt hatte. Die Sonne hatte geschienen, es war ein schöner Tag gewesen. Und Carl selbst war ganz beseelt gewesen – wenn auch nicht vom Wetter, sondern von der Vorfreude darauf, Isabel wiederzusehen. Er war für den Abend mit ihr verabredet gewesen.
Wie lange es wohl her sein mochte, dass er gestorben war? Carl ärgerte sich, dass er den Engel nicht danach gefragt hatte. Aber ob der die Antwort überhaupt gekannt hätte? Er schien ja nicht einmal die Namen der Verstorbenen zu wissen und musste alles erst erfragen.
Carls letzte Erinnerung an sein Leben auf der Erde war, wie er sich auf dem Führersitz des Traktors kurz umgedreht und in die Sonne geblinzelt hatte. Das grelle Licht hatte ihn überrascht und so stark geblendet, dass er für einen kurzen Moment die Kontrolle über das Fahrzeug verloren haben musste. Das war wohl der Fehler gewesen, der ihn das Leben gekostet hatte, diese eine kurze Sekunde. Der Traktor war ins Schlingern geraten. Carl hatte noch versucht, das Lenkrad herumzureißen – vergeblich. Er fiel vom Sitz und stürzte in die Reben. Ein Schrei, ein letzter Blick auf den umstürzenden Traktor – mehr wusste Carl nicht mehr.
Ob er wohl noch eine Weile gelebt hatte? Vielleicht war er bewusstlos geworden und ins Krankenhaus gebracht worden. Womöglich hatten die Ärzte verzweifelt um sein Leben gekämpft und versucht, ihn wiederzubeleben. Vielleicht hatte er schwer verletzt viele Monate im Koma gelegen. Oder er war sofort verstorben, noch auf dem Weinberg. Dann mochte sein Tod erst kurze Zeit zurückliegen. Ob Isabel wohl schon davon wusste?
Vielleicht machte sie sich gerade jetzt, in diesem Moment, im irdischen Rosburg hübsch für das Rendezvous mit ihm.
Sie waren für 20 Uhr verabredet gewesen. Unwillkürlich blickte Carl auf sein Handgelenk, um die Uhrzeit abzulesen, aber da war keine Armbanduhr. Er trug nichts außer dem weißen Sack-Gewand, das man ihm auf das Stockbett geworfen hatte.
Karlheinz kam zu Carl herüber. Er war nicht allein, sondern in Begleitung eines jungen Mannes, der ihm in den Gesichtszügen so sehr glich, dass er sein Zwillingsbruder hätte sein können. Carl wäre es nicht möglich gewesen, die beiden voneinander zu unterscheiden, hätte nicht Karlheinz immer noch sein weißes Himmelsgewand angehabt, während der junge Mann neben ihm Jeans und T-Shirt trug. Beide, sowohl Karlheinz als auch sein vermeintlicher Zwilling, schienen in Hochstimmung zu sein.
»Das ist mein Bruder Manfred«, stellte Karlheinz stolz seinen Begleiter vor. »Er ist vor drei Jahren gestorben und hat sich sofort auf den Weg gemacht, um mich abzuholen!«
»Glückwunsch«, sagte Carl knapp, »und jetzt?«
»Wir machen uns auf den Weg in die Heimat«, antwortete Manfred.
»Aha«, brummte Carl. Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Für ihn kam im Himmel alles zu plötzlich, es ging alles viel zu schnell, als dass sein Hirn die vielen neuen Eindrücke und Informationen hätte verarbeiten können. Er vermochte sich keine Vorstellung davon zu machen, wie jemand im Himmel »in die Heimat« aufbrechen konnte.
Natürlich hätte er Manfred fragen können, wohin er Karlheinz mitnehmen würde. Aber er hatte keine Lust, sich mit den Brüdern zu unterhalten. Lieber wollte er noch einmal die Augen schließen und an Isabel denken, um für einen Moment zu vergessen, wie hilflos er sich in seiner momentanen Situation fühlte.
Auch Karlheinz schien unschlüssig, was er noch sagen sollte. Einen Moment lang schwiegen die drei Männer sich an, dann reichte Karlheinz Carl zum Abschied die Hand.
»Na dann«, sagte Karlheinz, »alles Gute!«
»Euch auch«, entgegnete Carl knapp. Die Brüder brachen auf, wohin auch immer, während er am Strand mit seinen Gedanken zurückblieb. Als er sich kurz umschaute, sah er, wie mehr Leute aus der Gruppe, die mit ihm zusammen in den Stockbetten aufgewacht waren, von ihren toten Verwandten abgeholt wurden. Einige brachen vor Freude über das Wiedersehen in Tränen aus. Paare, die womöglich über viele Jahre getrennt gewesen waren, küssten sich innig und hielten sich minutenlang fest umklammert.
Wäre Carl in besserer Stimmung gewesen, hätte er diese Szene wohl herzerwärmend gefunden. Es lag Liebe in der Luft.
Doch nicht für Carl. Er fühlte sich einsam, dort am Strand im Vorhof des Himmels, und er befürchtete, noch lange einsam bleiben zu müssen. Wann mochte der erste Mensch sterben, den er im Himmel würde begrüßen wollen? In 30 Jahren, oder in 40? Das würde eine lange Zeit des Wartens bedeuten.
Carl hatte keinen Grund, sich auf das, was vor ihm lag, zu freuen. Aber er hatte umgekehrt viele Gründe, traurig zu sein, weil seine Zeit auf der Erde vorüber war. Das irdische Leben hatte es gut mit ihm gemeint. Er hatte große Erfolge als Winzer gefeiert, er hatte viel Geld verdient, und gerade jetzt hatte er auch noch eine Frau kennengelernt, die ihn faszinierte wie noch keine zuvor. Mit etwas Glück hätte es der Beginn einer jahrzehntelangen Liebe sein können. Stattdessen war Carl gestorben, ohne Isabel ein einziges Mal geküsst zu haben.
Warum gerade jetzt? Carl stellte sich diese Frage immer und immer wieder. Natürlich wusste er, dass jeder Mensch irgendwann sterben musste. Aber warum musste es ihn im Alter von gerade einmal 37 Jahren treffen?
Er ließ den Kopf sinken und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Er dachte an die vielen lieben Menschen, die er auf der Erde kennengelernt hatte. An seine Freunde. An sein Zuhause im Weingut. An sein warmes Bett, in das er sich abends nach einem harten Arbeitstag kuscheln konnte. An die erste Tasse Kaffee am Morgen. War das wirklich alles vorbei, für immer verloren? Würde er künftig auf einer Wolke sitzen und sehnsüchtig auf die Erde gucken, stundenlang, tagelang, jahrelang?
Carl war vollkommen in Gedanken versunken, als plötzlich jemand an ihn herantrat und mit warmer, mitfühlender Stimme sagte: »Es ist vorbei, Carl. Du kannst nicht mehr zurück.«
Das Erste, was Carl von dem Mann sah, der ihn angesprochen hatte, waren sein Spazierstock und die Schuhe. Rahmengenähte, hochwertige braune Lederschuhe. Darüber das Hosenbein eines Tweet-Anzugs.
Carl blickte auf. »Wer sind Sie?«, fragte er.
»Ich bin Augustus«, sagte der Mann und reichte ihm die Hand, teils, um Carl zu begrüßen, teils, um ihm aufzuhelfen. Nach kurzem Zögern griff Carl zu und stand auf.
»Ich kenne keinen Augustus«, sagte er, während er den Sand vom Stoff seines weißen Himmelsgewands klopfte, »Woher wissen Sie, wer ich bin?« Doch Augustus antwortete nicht, sondern lächelte nur verschmitzt.
Carl richtete sich auf und musterte sein Gegenüber interessiert. Er hatte das Gefühl, diesen Augustus irgendwo schon einmal gesehen zu haben – aber er konnte sich nicht darauf besinnen. Eines war jedoch klar: Der junge Mann war ihm auf Anhieb sympathisch. Sein Blick aus gutmütigen Augen war einnehmend, und die Mundwinkel wurden von einem leicht spöttischen Lächeln umspielt. Um den Hals trug er eine Krawatte, die zwar korrekt, aber sehr leger gebunden war. Den perfekt sitzenden, offenbar maßgeschneiderten Tweet-Anzug und den Spazierstock hätte Carl vielleicht bei einem englischen Gentleman aus dem 19. Jahrhundert erwartet, aber nicht bei einem jungen Typen wie dem, der ihm hier am Strand gegenüberstand. Und dann noch dieser Name: Augustus. Wie konnte ein junger Mann einen solchen Namen tragen?
Ein verschrobener Kerl, dachte Carl. Trotzdem mochte er Augustus. Mit seinem sanften, charmanten Lächeln schaffte er es auf Anhieb, dass Carl seine Trübsal für den Moment vergessen hatte.
»Kennen wir uns?«, fragte Carl weiter, als Augustus weiterhin keine Anstalten machte, auf seine erste Frage zu antworten.
Augustus räusperte sich. »Nun ja«, sagte er dann, »das kann man so nicht behaupten. Einer von uns beiden hätte durch die Zeit reisen müssen, wenn wir uns auf der Erde hätten kennenlernen wollen. Und zumindest zu meinen Lebzeiten gab es noch keine Zeitmaschinen.« Er lächelte vergnügt.
»Zu meiner auch nicht«, sagte Carl, »aber woher weißt du dann meinen Namen?«
»Wir sind verwandt«, stellte Augustus feierlich fest. »Du bist mein Urgroßneffe!«
»Dein … was?«, fragte Carl ungläubig nach.
»Mein Urgroßneffe«, wiederholte Augustus. »Das bedeutet im Gegenzug, ich bin dein Urgroßonkel. Der kleine Bruder deines Uropas Anton.«
Carl war verdutzt. Er hatte bisher nicht einmal gewusst, dass sein Urgroßvater Anton geheißen hatte, geschweige denn, dass er einen jüngeren Bruder namens Augustus gehabt hatte. Und schon gar nicht hatte er damit gerechnet, diesem Urgroßonkel jemals zu begegnen.
»Du bist mein Urgroßonkel?«, fragte Carl noch einmal. Er konnte es einfach nicht glauben.
Augustus lachte. »Genau«, sagte er und knuffte Carl in die Seite. »Damit haste nicht gerechnet, Junge, was?«
Carl kam das Ganze immer noch suspekt vor. »Aber«, sagte er, »du bist doch viel jünger als ich!« Schon während er das sagte, merkte Carl, dass er denselben Fehler machte wie zuvor bei Karlheinz. Der Engel hatte es ihnen doch gesagt: Im Himmel sehen alle Menschen jung aus.
»Dein Vater hat mir schon gesagt, dass du manchmal schwer von Begriff bist«, meinte Augustus lachend, »aber damit müsste es jetzt doch vorbei sein! Im Himmel sind selbst die Doofen ein bisschen klüger.«
»Ist das so?« fragte Carl. Er sah ein, dass er noch überhaupt keine Vorstellungen von den Verhältnissen im Himmel hatte.«
»Ist so«, sagte Augustus, »aber keine Sorge: Wenn du bisher ein bisschen mehr in deinem Oberstübchen gehabt hast als die meisten anderen Menschen, dann wird das auch weiterhin so sein. Nur die wirklich Dummen bekommen hier ein besseres Gehirn, damit sie wenigstens dem Durchschnitt entsprechen.«
»Aha«, sagte Carl, »und wie alt bist du nun?«
»116«, sagte Augustus. »Ich gehöre selbst hier im Himmel schon zum alten Eisen.«
»Wirklich?« fragte Carl, »mir kommt es so vor, als würden mich hier alle Menschen verarschen.«
Augustus lachte. »Ich weiß«, sagte er, »am Anfang ist es immer schwer. Das geht jedem so. Aber keine Sorge, in zwei oder drei Wochen wirst du das alles selbstverständlich finden und dich hier zu Hause fühlen.«