Raus aus der Lektinfalle!
ERSTER TEIL
Das Pflanzen-Paradox
Der Krieg zwischen Pflanzen und Tieren
Entfesselte Lektine
Angriff auf das Verdauungssystem
Kenne deinen Feind
Warum Vollkorn krank und dick macht
ZWEITER TEIL
Die drei Phasen der lektinfreien Ernährung
(Ess-)Gewohnheiten verändern
Lektinfreie Ernährung (LFE) – Überblick
Phase 1: Schnellstart mit Entschlackung
Phase 2: Gesundung und Heilung
LFE: Positiv-Liste erwünschter Nahrungsmittel
LFE: Negativ-Liste lektinreicher Nahrungsmittel
Phase 3: Neue Freiheit
Ketonisch-lektinfreie Ernährung (KLFE)
KLFE: Positiv-Liste erwünschter Nahrungsmittel
KLFE: Negativ-Liste lektinhaltiger Nahrungsmittel
DRITTER TEIL
Lektinfreie Ernährung (LFE) – das Programm
Empfohlene Küchengeräte
Empfohlene Nahrungsmittel
Rezepte – Überblick
Rezepte ab Phase 1
Rezepte ab Phase 2
Ernährungspläne
Danksagungen
Anmerkungen
Sachwortregister
Bekommen Sie manchmal zu hören: »Du bist heute gar nicht du selbst«? – Das ist tatsächlich so, denn infolge des Verzehrs angeblich gesunder Nahrungsmittel, von denen Sie sich Stärkung und Energie versprechen, kann es passieren, dass Ihr Organismus »gehackt« wird, um es mit einem Begriff aus der Computerwelt zu beschreiben: Die Funktionsweise Ihrer Zellen – was sie aufnehmen und ausscheiden sowie ihre Wechselbeziehung untereinander –, all das wird durch feindliche Lektine umprogrammiert.
Vermutlich haben Sie noch nie von Lektinen gehört, während Gluten den meisten gesundheits- und ernährungsbewussten Menschen inzwischen vertraut ist. Gluten ist eines von Tausenden Lektinen, die in fast allen Pflanzen vorkommen sowie in einigen nicht pflanzlichen Nahrungsmitteln der westlichen Welt, einschließlich Fleisch, Fisch und Geflügel. Eine der Funktionen von Lektinen besteht darin, im Kampf zwischen Tier und Pflanze für ein Gleichgewicht der Kräfte zu sorgen. Wie das?
Schon lange bevor der Mensch die Erde bevölkerte, mussten sich Pflanzen – überwiegend zarte Jungpflanzen – gegen hungrige Insekten und andere gierige Fresser zur Wehr setzen; sie taten und tun dies durch die Entwicklung toxischer Stoffe, die Fressfeinden den Appetit verderben. Diese Gifte heißen Lektine und stecken in Samen und anderen Pflanzenteilen. Heute wissen wir, dass das gleiche Pflanzentoxin, das ein Insekt lähmen kann, auch heimlich, still und leise die Gesundheit des Menschen schädigt und das Körpergewicht negativ beeinflusst.
Unser Verhältnis zu Pflanzen ist also paradox: Einerseits bieten sie wichtige Nährstoffe, die unentbehrlich sind für die menschliche Gesundheit – entsprechend bilden sie auch die Grundlage für das Programm der lektinfreien Ernährung (LFE),1 das Sie in diesem Buch kennenlernen werden. Andererseits gibt es auch eine Vielzahl von Pflanzen, die krank und dick machen – daher auch der Buchtitel »Böses Gemüse«. Darunter befinden sich viele Nahrungsmittel, die als besonders gesund gelten, etwa Tomaten, Vollkorn oder Quinoa. Oft kommt es auch auf die Menge an: Kleine Mengen bestimmter Pflanzen sind gut für unsere Gesundheit, während größere Mengen uns Schaden zufügen. Aber keine Panik! Wenn Sie die Hindernisse auf dem Weg zu einem gesunden Lebensstil erkannt und beiseite bzw. aus dem Kühlschrank geräumt haben, wird sich Ihr Körpergefühl von Grund auf ändern.
Seit Mitte der 1960er-Jahre verzeichnen wir einen signifikanten Anstieg bei Autoimmunkrankheiten, Asthma, Allergien, Fettleibigkeit, Typ-1- und Typ-2-Diabetes, Arthritis, Nebenhöhlenentzündungen, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose, Parkinson und Demenz. Und es ist keineswegs ein Zufall, dass sich im gleichen Zeitraum kaum wahrnehmbare Veränderungen in unseren Ernährungs- und Essgewohnheiten vollzogen haben sowie bei medizinischen Produkten und Kosmetik- und Hygieneartikeln, die wir täglich benutzen. Die moderne (Lebensmittel-)Industrie hat dazu geführt, dass wir Lektine in einem Ausmaß aufnehmen wie keine Generation zuvor.
Ich selbst habe jahrzehntelang an unzählige Mythen, Lügen und Fehlinformationen geglaubt, die in Sachen »gesunde Ernährung« kursieren. Als Mediziner und praktizierender Herzchirurg war ich der festen Überzeugung, alles richtig zu machen, achtete auf Vollwertkost und fettarme Ernährung und ließ mich nur hin und wieder zu Fast Food oder einer Cola Light hinreißen. Auch in Sachen Sport habe ich mich nicht gedrückt und bin Woche für Woche Dutzende von Kilometern gelaufen, daneben ging ich regelmäßig ins Fitnessstudio.
Trotzdem kämpfte ich jahrelang mit Übergewicht, erhöhtem Blutdruck, Migräneanfällen, Arthritis, einem hohen Cholesterinspiegel und Insulinresistenz. Und glaubte dennoch, alles richtig zu machen – bis ich mich eines Tages fragte: Wenn ich mich so viel bewege und so konsequent »gesund« ernähre, warum dann all diese Beschwerden? Um es vorwegzunehmen: Inzwischen bin ich über 30 Kilo leichter und meine Gesundheitsprobleme haben sich nach und nach in Luft aufgelöst.
Womöglich kommt auch Ihnen das ein oder andere seltsam vor. Vermutlich haben Sie schon manches probiert – von kohlehydratarmem Essen bis fettarme Nahrungsmittel, aber nichts davon hat dauerhaft geholfen. Eventuell gab es einen anfänglichen Erfolg, trotzdem fühlten Sie sich bald wieder unwohl in Ihrem Körper. Genauso wenig halfen Joggen oder Power-Walking, Training im Fitnessstudio, Aerobic, CrossFit, Spinning etc. Nichts von allem, was im Wunsch, gesund zu leben, Ihren Weg gekreuzt hat, war nachhaltig erfolgreich.
Vielleicht kämpfen Sie mit Lebensmittelintoleranzen, Verdauungsproblemen, zügellosen Essattacken, Kopfschmerzen, Gedächtnisproblemen, Schwindelgefühlen, Antriebslosigkeit, Gliederschmerzen, morgendlicher Gelenksteife, Hautproblemen oder anderen Beschwerden, die Sie seit Jahren nicht loswerden. Oder Sie leiden an Asthma, Allergien oder einer anderen Autoimmunkrankheit, einer Stoffwechselstörung, Schilddrüsenfehlfunktion oder sonstigen Hormonstörung. Und eventuell machen Sie sich selbst Vorwürfe oder leiden regelrecht an der Vorstellung, Sie seien selbst schuld an Ihren körperlichen Beschwerden, und laden sich damit noch ein psychisches Problem auf. Falls es Ihnen ein Trost sein sollte: Die Ursache liegt tiefer.
Viele sogenannte Gesundheitsexperten machen es sich leicht, indem sie persönliche Trägheit für die meisten körperlichen und mentalen Beschwerden verantwortlich machen. Oder sie verweisen auf eine Reihe von Umweltgiften, die auf unseren Körper einwirken. Leider liegen sie damit häufig falsch. Natürlich ist es keineswegs so, dass all die ungesunden Gewohnheiten und negativen Faktoren sich nicht auf unser Wohlbefinden auswirken, aber die wesentliche Ursache für eine schwache Gesundheit liegt so verborgen woanders, dass sie bislang übersehen worden ist: Lektine.
Mithilfe lektinfreier Ernährung (LFE) kann Ihr Körper wieder in sein ursprüngliches Gleichgewicht zurückfinden und insgesamt geheilt werden. Der erste Schritt besteht darin, das falsche Vertrauen in bestimmte Nahrungsmittel über Bord zu werfen, an die wir uns als sogenannte Grundnahrungsmittel gewöhnt haben. Dieses Buch bietet Ihnen eine Richtlinie, die Sie auf Ihre persönlichen Bedürfnisse abstimmen können.
Das LFE-Programm basiert auf einer Fülle verschiedener Gemüse, einer begrenzten Anzahl hochwertiger Proteinlieferanten, einigen Obstarten (ausschließlich während der jeweiligen Reifezeit), Nüssen und bestimmten Milchprodukten und Ölsorten. Was – zumindest am Anfang – komplett wegfällt, sind praktisch alle Getreidearten, einschließlich des daraus gewonnenen Mehls und entsprechender Lebensmittel wie Brot, Brötchen, Kuchen und Nudeln, ferner Pseudogetreide, Linsen und andere Hülsenfrüchte (einschließlich sämtlicher Sojaprodukte), Gemüsearten wie Tomaten, Paprika und ihre essbaren Verwandten (Kartoffeln, Auberginen) und raffinierte Speiseöle.
Zum Programm gehören auch regelmäßige Fastenintervalle, damit Ihr Verdauungssystem zwischendurch eine wohlverdiente Erholungspause hat. Gleichzeitig erhalten dadurch die Mitochondrien, die in den Körperzellen und im Gehirn für die Energieherstellung zuständig sind, einen kleinen Urlaub. Falls Ihnen akute Gesundheitsprobleme zu schaffen machen, schlage ich Ihnen darüber hinaus die ketonisch-lektinfreie Ernährung (KLFE)2 vor.
Lektinfreie Ernährung hat nichts mit Paläo-Diät zu tun, obwohl wir ebenfalls einige Schritte in der Kulturgeschichte zurückgehen müssen – bis dorthin, wo der Mensch in Sachen Ernährung falsch abgebogen ist. Die erste fatale Abzweigung wurde vor mehreren Tausend Jahren mit dem Beginn des Ackerbaus genommen, danach folgten etliche weitere Irrwege bis hin zum aktuellen Boom der veganen Ernährung. In diesem Buch stelle ich erstmals einem breiten Publikum meine medizinischen Forschungsergebnisse über die gesundheitlichen Auswirkungen von Lektinen vor, die ich in den vergangenen fünfzehn Jahren auf zahlreichen Ärztekongressen vorgestellt und in internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht habe.1
Das Thema Ernährung begleitet mich schon seit Beginn meiner Laufbahn als Arzt und Forscher. Nach Abschluss meiner Ausbildung an der Yale University erwarb ich meinen Doktorgrad am Medical College in Georgia und arbeitete anschließend als Herz-Lungen-Chirurg an der Universität von Michigan. Danach war ich Professor für Chirurgie und Kinderheilkunde mit Schwerpunkt Herz-Lungen-Chirurgie und Chefarzt am Uni-Klinikum der Loma Linda University in Kalifornien. Dort behandelte ich Patienten mit einem breiten Spektrum von Krankheiten und Gesundheitsproblemen, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Autoimmunkrankheiten, Diabetes und Fettleibigkeit. Zum Erstaunen meiner Kollegen gab ich diese Position nach sechzehn Jahren auf, um neue Wege zu gehen.
In der Zwischenzeit hatte ich nämlich die gefährliche Kraft der Lektine entdeckt und meinen eigenen Gesundheitszustand einer Generalüberholung unterzogen. Damit war auch ein Wechsel meiner ärztlichen Grundeinstellung verbunden, ausgehend von der Erkenntnis, dass Herzkrankheiten nicht zwangsläufig operativ behandelt werden müssen, sondern auch mithilfe einer Ernährungsumstellung geheilt werden können. Auf dieser Überzeugung beruht das von mir begründete International Heart and Lung Institute in Palm Springs und Santa Barbara sowie dessen Tochterinstitut, das Center for Restorative Medicine. Seither haben die medizinischen Erfolge und wissenschaftlichen Erkenntnisse mein ärztliches Vorgehen ebenso positiv verändert wie das Leben meiner Patienten, nachdem sie eine spezielle Diät in ihren Alltag integriert haben. Die gesundheitlichen Empfehlungen des LFE-Programms beruhen auf diesen Erfahrungen und wurden über die Jahre immer weiter verfeinert.
Als Herzchirurg, Kardiologe und Immunologe beschäftige ich mich permanent mit der Frage, auf welche Weise das Immunsystem seine Entscheidungen über Freund oder Feind trifft. Mit der Zeit entwickelte ich mich zu einer Art Ernährungs-Detektiv, der die individuellen Laborwerte jedes Patienten genau unter die Lupe nimmt. Schon kleine Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten zeigen starke Effekte und erstaunliche Muster, was mich dazu ermutigte, grundsätzlich darüber nachzudenken, was gesunde Ernährung ist. Und was nicht.
Als forschender Arzt wollte ich verstehen, was im Organismus geschieht, damit ein Mensch krank oder übergewichtig wird. Untersuchungen der Blutgefäße brachten mich schließlich darauf, dass bei den meisten Patienten eine Art Kriegszustand im Körperinneren herrscht, der auf verschiedene Disruptoren zurückzuführen ist. Disruptoren sind vereinfacht gesagt hormonartige Substanzen, welche die natürliche Selbstheilungsfähigkeit des Körpers hemmen oder gar boykottieren. In unseren Organismus gelangen sie infolge der Art, wie Tiere, von denen wir uns ernähren, in Massentierhaltung gefüttert werden. Wir nehmen sie auch über eine Reihe pflanzlicher Nahrungsmittel auf, die landauf, landab als besonders gesund gelten. Schließlich ergeben sich Disruptoren aus verschiedenen Chemikalien in der Lebensmittelindustrie wie Pflanzenschutzmitteln und Breitspektrum-Antibiotika in der Tierhaltung sowie aus Medikamenten, etwa Antaziden zur Abpufferung von Magensäure, Aspirin und anderen Entzündungshemmern. All das trägt dazu bei, dass sich Ihr Mikrobiom verändert, also die Vielzahl der Bakterien, Einzeller und Kleinstorganismen, die in Ihrem Inneren und auf Ihrer Hautoberfläche leben.
In den Gesprächen mit meinen Patienten habe ich immer wieder festgestellt, dass der Selbstheilungsprozess leichter und nachhaltiger gelingt, wenn der medizinische Hintergrund der Symptome mitgedacht wird. Deshalb beleuchte ich in Teil I dieses Buches die mal erschreckenden, mal amüsanten Ursachen für den Anstieg chronischer Krankheiten in den vergangenen Jahrzehnten.
In Teil II erfahren Sie, wie Sie mit einer dreitägigen Entschlackungskur Ihre individuelle lektinfreie bzw. lektinarme Ernährung einleiten können. In diesem Zusammenhang erfahren Sie auch, wie Sie Ihrem aus dem Gleichgewicht geratenen Verdauungssystem helfen können, indem Sie Ihren Darmmikroben die Nahrung zuführen, die sie wirklich brauchen. Dazu gehört auch eine Gruppe von Nahrungsmitteln, die sogenannte resistente Stärke enthalten; sie hat den Vorteil, dass sie den Hunger auf leichte Art stillt, sodass Sie ohne große Mühe ein paar überflüssige Pfunde loswerden.
In Teil III finden Sie Rezepte und Ernährungspläne für alle Phasen der LFE. Wenn Sie die Vorschläge und Produktlisten in Ihren Alltag integrieren, werden Sie bald all jene »gesunden« Nahrungsmittel vergessen haben, wegen denen Sie sich jahrelang schlapp und krank fühlten und womöglich unter chronischen Schmerzen litten.
Zwar ist eine dauerhafte Änderung Ihrer Essgewohnheiten das Kernstück des LFE-Programms, ich empfehle Ihnen aber auch noch ein paar andere Veränderungen. Dazu gehört der Verzicht auf die Einnahme bestimmter Medikamente und Hautpflegeprodukte. Wenn Sie die Ernährungsumstellung konsequent durchführen, ohne »rückfällig« zu werden, versichere ich Ihnen, dass Sie die meisten Ihrer gesundheitlichen Probleme lindern oder überwinden und außerdem frische Energie gewinnen. Sobald Sie die Wirkungen des gesünderen Lebensstils an sich selbst spüren, werden Sie verstehen, welche weittragenden Veränderungen möglich sind, kaum dass Ihr Körper und Ihr Mikrobiom mit den richtigen Nährstoffen versorgt sind. Als Zusatznutzen verzichten Sie mit lektinfreier Ernährung automatisch auf jegliche Schadstoffe, Disruptoren und andere Inhaltsstoffe in Nahrungsmitteln, die einem gesunden, langen Leben im Wege stehen.
Bei meinen Patienten traten Wohlbefinden und Gewichtsreduktion schon nach kurzer Zeit ein, sobald sie sich aus der Lektinfalle befreit hatten. Einige werden Sie auf den folgenden Seiten kennenlernen.
ERSTER TEIL
Angesichts der Überschrift dieses Kapitels müssen Sie nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen. Weder sind Sie aus Versehen in einem botanischen Lehrbuch gelandet noch per Fallschirm auf dem Filmset von Avatar. Ich versichere Ihnen nochmals, dass es in diesem Buch darum geht, wie Sie neue Energie gewinnen können als Grundlage für eine vitale Gesundheit und ein langes Leben.
Machen Sie sich bereit für eine kurze, aber atemberaubende Zeitreise durch die vergangenen 400 Millionen Jahre. Danach werden Sie verstehen, dass Obststräucher, Nussbäume, Getreidehalme und allerlei blätterreiche Gemüse- und Salatpflanzen nicht einfach nur schicksalsergeben und ortsfest in der Gegend herumstehen und darauf warten, von einem Tier angenagt zu werden oder auf Ihrem Teller zu landen. Pflanzen verfügen über raffinierte Methoden, wie sie sich gegen Sammler und Fressfeinde wie Sie schützen können – und dazu gehören in erster Linie chemische Abwehrwaffen.
Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass der Verzehr bestimmter Pflanzen für Ihren Körper und für Ihre Gesundheit nicht nur gut und richtig, sondern sogar absolut notwendig ist. Genau hierin liegt das Paradox. Pflanzen versorgen Ihren Körper mit Energie und darüber hinaus mit Hunderten von Vitaminen, Mineralien, Antioxidantien und anderen wichtigen Nährstoffen, ohne die Sie gar nicht leben und erst recht nicht gesundheitlich aufblühen könnten. Seit über fünfzehn Jahren hilft mein LFE-Programm Menschen, zu einem gesünderen Leben zu finden. Im Gegensatz zur Paläo-Diät und anderen kohlehydratarmen Diäten, bei denen sehr viel Fleisch konsumiert wird, basiert lektinfreie Ernährung hauptsächlich auf pflanzlichen Lebensmitteln, auf Fisch und anderen Meeresfrüchten in Maßen sowie gelegentlich einem Fleischgericht aus artgerechter Haltung. Im Rezeptteil finden Sie auch vegane und vegetarische Varianten.
Je mehr ich in den Ernährungsplänen meiner Patienten auf Obst verzichtete, desto schneller wurden sie gesund und desto besser wurden ihre Cholesterinwerte und ihre Nierenfunktion. Als ich anfing, auch Gemüsearten mit vielen Samenkörnern wie Gurken oder Kürbis zu reduzieren, fühlten sich die Patienten besser, verloren leichter an Gewicht und die Cholesterinwerte besserten sich. Samenhaltiges »Gemüse« wie Tomaten, Gurken, Zucchini, Paprika und Kürbis gilt botanisch gesehen als Obst, daher auch die Rubrik »Obst und obstartige Gemüsearten« in den Nahrungsmittellisten in Teil II.
Jedem Lebewesen wohnt der Drang zum Überleben inne sowie zur Weitergabe des eigenen Erbguts an die nachfolgende Generation. Wir betrachten Pflanzen als unsere Freunde, weil sie uns ernähren; aber Pflanzen identifizieren alle Lebewesen, die sich über sie hermachen wollen, als Fressfeinde. Und dazu zählt eben auch der Mensch. Jedoch haben selbst Feinde einen gewissen Nutzen – darin liegt das Dilemma für Pflanzenfresser wie uns: All jene pflanzlichen Lebewesen, die wir so gern zu uns nehmen, verfügen ihrerseits über Mittel und Wege, uns den Spaß daran zu verderben, sie und ihre Nachkömmlinge zu verspeisen. Deswegen tobt ein unaufhörlicher Krieg zwischen dem Tierreich und dem Pflanzenreich.
Aber nicht alle Pflanzen sind gleich beschaffen. Etliche jener Feldfrüchte und Obstfrüchte, von denen wir uns hauptsächlich ernähren, enthalten Substanzen, die uns schaden. Ein prominentes Beispiel für einen solchen problematischen Pflanzenbestandteil ist Gluten. Bei dem »Glutenfrei«-Hype der letzten Jahre wird allerdings übersehen, dass Gluten nur ein bestimmtes Stoffgemisch aus einer ganzen Gruppe von Proteinen namens Lektine ist. Das LFE-Programm beruht auf der Erkenntnis, dass viele Pflanzen darauf ausgerichtet sind, uns Pflanzenessern zu schaden.
Im Folgenden wird es darum gehen, welche direkte Wirkung zwischen Lektinen (und anderen pflanzlichen Abwehrstoffen) und Körpergefühl (Krankheit und Gewicht) besteht. Man kann es der Tomate nicht verdenken, dass sie überleben und ihre Gene weitergeben will. Zu diesem Zweck hat sie im Lauf der Evolution eine Vielzahl von cleveren Strategien und Schutztechniken entwickelt. An dieser Stelle möchte ich klarstellen, dass ich kein Verächter von Pflanzen bin – im Gegenteil: Bei einem gemeinsamen Essen würden Sie mich als leidenschaftlichen Pflanzen-Gourmet erleben –, sondern Sie lediglich durch die reiche Flora führen, um Ihren Blick dafür zu schärfen, wer unsere Freunde und wer unsere Feinde sind. Und ich werden Ihnen zeigen, wie wir viele uns feindlich gesonnene Nahrungsmittel bekömmlich machen können, indem wir sie in bestimmter Weise zubereiten oder nur dann essen, wenn sie sich in ihrer natürlichen Reife befinden.
Im täglichen Kampf ums Überleben zwischen Jäger und Beute sind in der Natur die Waffen ungleich verteilt und es ist nicht von vornherein so, dass der Stärkere immer gewinnt: Eine erwachsene Gazelle kann der hungrigen Löwin durchaus entkommen, ein aufmerksamer Spatz kann rechtzeitig vor der sich anschleichenden Katze davonfliegen und ein Stinktier kann mit einem wohlgezielten Strahl aus seiner Drüse einen Angreifer zeitweilig blind machen. Welche Chance zu entkommen hat das Beuteopfer aber, wenn es eine im Boden fest verwurzelte Pflanze ist?
Im Laufe der Erdentwicklung erschienen die ersten Landpflanzen vor ungefähr 450 Millionen Jahren,1 lange vor den ersten Insekten, die ungefähr 90 Millionen Jahre später auftraten. Bevor diese ersten Fressfeinde auftraten, muss die Erde für die Pflanzen ein Garten Eden gewesen sein. Es gab keinen Grund, sich zu verstecken oder zu verteidigen. Die Pflanzen konnten einfach wachsen und gedeihen und Samen bilden, aus denen dann die nächste Generation ihrer Art hervorging. Als aber die Insekten, alle möglichen Wirbeltiere und schließlich unsere humanoiden Vorfahren auf der Bildfläche erschienen, war es mit der Idylle vorbei. Die Jagd war eröffnet. All diese mehrbeinigen Naturwesen betrachteten das saftige Grünzeug und seine kernigen, gehaltvollen Samen als willkommene Mahlzeit. Dank Flügeln und Beinen waren die Beutegreifer viel beweglicher und eindeutig im Vorteil – doch das Futter wusste sich zu wehren.
Pflanzen verfügen über eine große Vielfalt an Schutz- und Abwehrmaßnahmen, um sich oder zumindest ihre Samen wirksam gegen Lebewesen aller Art und Größe zu verteidigen. Auch gegen Menschen. Pflanzen sind Meister der Tarnung und Abschreckung. So nutzen sie bestimmte Farben, um sich in ihre Umgebung unauffällig einzufügen; sie entwickeln eine unangenehme Oberfläche oder produzieren klebrige Harze und Säfte, an denen sich Insekten verfangen oder in denen sie sogar eingeschlossen werden; sie schaffen sich eine Schutzhülle, indem sie Sand oder Erdkrume verklumpen,2 oder sie versorgen sich mit Steingrieß, um sich unappetitlich zu machen. Manche verlassen sich auch ganz einfach auf eine harte Schale wie die Kokosmuss oder auf dornige Blattspitzen wie die Artischocke.
Aber Pflanzen verfügen auch über weit subtilere Methoden – sie verstehen sich auf chemische Kriegführung und haben biologische Kampfmittel entwickelt, mit denen sie Fressfeinde vergiften, lähmen oder desorientieren können. Oder ihre Verdaubarkeit ist derart erschwert, dass der Samenkern ausreichend geschützt ist und sie sich mithilfe des beweglichen Fressfeindes weitflächig verbreiten können, wenn dieser den unversehrten Samen weit entfernt wieder ausscheidet. Kein Mensch, der die Naturwelt kennt, würde bestreiten, dass Pflanzen mit ihren physischen wie chemischen Abwehrstrategien effektiv in der Lage sind, Fressfeinde auf Abstand zu halten und die eigenen Art vor dem Aussterben zu bewahren.
Da die ersten Fressfeinde der Pflanzen Insekten waren, entwickelten Pflanzen als Erstes einige Lektine, die darauf ausgerichtet sind, den gierigen Käfer, der sich an ihnen zu schaffen macht, zu lähmen. Natürlich besteht zwischen Insekten und Säugetieren ein immenser Größenunterschied, aber beide reagieren auf bestimmte chemische Substanzen in gleicher Weise – wer an Neuropathien leidet, sollte jetzt besonders aufmerken! Und natürlich werden die meisten Menschen nicht innerhalb von Minuten nach dem Verzehr von Lektinen tot umfallen, auch wenn in Ausnahmefällen eine einzige Erdnuss das Potenzial dazu hat, bestimmte Menschen zu töten. Aber gegen die Langzeitwirkungen dieser Pflanzenstoffe sind wir keineswegs immun. Wegen der ungeheuer großen Zahl verschiedenster Zellen in den Körpern von Säugetieren bemerken wir die schädlichen Wirkungen solcher Komponenten meistens erst nach vielen Jahren. Vielleicht spüren Sie noch überhaupt nichts, während die Lektine längst ihr Unwesen treiben.
Meine Einblicke in diese Zusammenhänge verdanke ich Hunderten von Patienten, die oft ganz unmittelbar und häufig auf ganz erstaunliche Weise auf schädliche Pflanzenbestandteile reagierten. Früher nahmen Bergleute Kanarienvögel in Käfigen mit unter Tage, weil diese Vögel besonders empfindlich auf die tödlichen Wirkungen geruchloser Gase wie Kohlenmonoxid und Methan reagieren. Solange die Kanarienvögel munter vor sich hin zwitscherten, fühlten sich die Kumpel im Bergwerk sicher. Wenn aber der Vogelgesang abrupt endete, war das ein deutliches Signal dafür, die Mine so schnell wie möglich zu evakuieren. Auch meine »Kanarienvögel« reagierten empfindlicher als normale Menschen auf bestimmte Lektine. Einige signifikante Beispiele habe ich über das ganze Buch verstreut. Um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen, wurden die meisten Namen geändert.
Familiensprechstunde
Die 27-jährige Suzanna war eine strahlende Schönheit und eine lebhafte Frau. Kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes hatte sie schwere rheumatische Arthritis bekommen, wogegen man ihr Steroide und Immunosuppressiva verordnet hatte. Trotzdem waren ihre Gelenke immer noch stark geschwollen. Jede Bewegung war sehr schmerzhaft.
Suzanna fühlte sich so schwach, dass sie nicht einmal ihr Baby halten konnte, als sie zu mir in die Praxis kam. Dabei wünschten sie und ihr Mann sich nichts sehnlicher als ein zweites Kind. Aber solange sie die schweren Medikamente nehmen musste, war klar, dass eine zweite Schwangerschaft ausgeschlossen war. In dieser Lage war Suzanna zu allem bereit.
Die Laboruntersuchungen ihres Blutes zeigten deutlich, dass Suzannas Immunsystem trotz der medikamentösen Immununterdrücker voll aktiv war. Den Werten entnahm ich auch, dass sie sehr sensibel auf Lektine reagierte. Wir setzten ihre Medikamente ab und begannen mit lektinfreier Ernährung. Ich stellte Suzanna ein individuelles LFE-Programm zusammen mit Nahrungsinhaltsstoffen, die antientzündliche Komponenten enthielten wie Boswellia-Extrakt (ein Weihrauchbaum), hochdosiertes Fischöl und Vitamin D3.
Suzannas Schmerzen ließen von Woche zu Woche nach; die Laborwerte für die Entzündungsparameter gingen nur langsam zurück, erreichten aber schließlich normale Werte. Bis dahin konnte sie mit ihrem Kind immerhin schmerzfrei spielen und den Jungen wieder hochheben und halten, ohne sich vor Schmerzen zu krümmen.
Nach einem Jahr kam sie wieder in die Praxis. Begleitet wurde sie von ihrem Mann, der sich in der Zwischenzeit ebenfalls lektinfrei ernährt hatte, um Suzanna zu unterstützen. Die Laborwerte hatten sich so weit verbessert, dass ich ihr eine weitere Schwangerschaft in Aussicht stellte. »Das wundert mich nicht«, meinte Suzanna: »Wir sind schon mittendrin. Gerade habe ich die Testergebnisse bekommen: Ich bin in der vierten Woche schwanger!«
Suzanna brachte ein gesundes Mädchen zur Welt. Im Gegensatz zur ersten Geburt gab es im Anschluss keine Probleme mehr mit rheumatischer Arthritis. Und ihr Mann?
Obwohl ihr Mann ein regelrechter Fitness-Freak war, hatte er jahrelang an chronischen Nebenhöhlenproblemen gelitten, die während des LFE-Programms verschwanden. Oft ist exzessive Schleimproduktion eine unmittelbare Abwehrreaktion auf Lektine – deutlich wird das etwa beim Kontakt mit mexikanischer Salsa-Sauce.
An dieser Stelle möchte ich eine kleine Lektion in Botanik abhalten: Samen sind nichts anderes als die »Babys« der Pflanzen, aus denen sich die nächste Generation einer Pflanzenart entwickelt. (»Babys« sage ich nicht aus Sentimentalität oder aus einem unangemessenen Drang zur Vermenschlichung heraus, sondern das ist unter Botanikern gang und gäbe.) Für Pflanzen sind die Bedingungen, sich zu einem neuen Exemplar zu entwickeln, nicht besonders gut; da es nur ein Bruchteil von ihnen schafft, sich irgendwo einzuwurzeln und zu wachsen, produzieren sie Unmengen von Samen. Die Pflanzensamen lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Bei der einen Gruppe gehört es quasi dazu, dass sie von Beutegreifern einverleibt werden. Diese Samen sind mit einer harten Schale versehen, damit die eigentliche Frucht, der Samenkern, den Verdauungstrakt des Tieres unversehrt passieren kann; in manchen Fällen, wie etwa beim Pfirsich, ist der Kern so groß und schwer verdaulich, dass er gar nicht verschluckt werden kann und soll, sondern er soll einfach liegen bleiben. Die andere Gruppe sind sozusagen die »nackten Babys« ohne eine solche schützende Hülle; da möchte die Pflanze eigentlich nicht, dass sie vertilgt werden. Darüber gleich anschließend mehr.
Obst- oder Nussbäume, bei denen die Samenfrucht oft von einer Schale umschlossen ist, gehören zur erstgenannten Gruppe. Die Pflanze rechnet damit, dass die Kapsel mit dem Samen von einem Tier vertilgt wird, bevor die Frucht auf den Boden fällt. Die Idee dahinter ist, dass der Samen von einem Tier an einen anderen Ort getragen und irgendwo ausgeschieden wird, der in einiger Entfernung zur Mutterpflanze liegt und wo beide nicht um die gleichen unmittelbaren Ressourcen wie Sonne, Feuchtigkeit und Nährstoffe kämpfen müssen. Damit erhöhen sich die Chancen der Pflanzenart zu überleben und sie breiten sich weiter aus. Außerdem wird der – hoffentlich – unversehrte Samenkern nach seinem Durchgang durch den Verdauungstrakt beim Ausscheiden noch mit einem schönen Haufen Dünger versehen … So ist für alles gut vorgesorgt. Schöne Aussichten für ein ersprießliches Wachstum.
Wegen ihrer harten Schale, ihrer Panzerung sozusagen, besteht für solche Pflanzen keine Notwendigkeit, zur Abwehr außerdem noch chemische Abwehrmaßnahmen zu entwickeln. Ganz im Gegenteil. Diese Pflanzen setzen manchmal raffinierte Mittel ein, um Beutegreifer zu ermutigen, sich an ihren Nachkommen gütlich zu tun. Eine dieser Möglichkeiten ist der Einsatz von Farbe. Aus diesem Grund übrigens verfügen alle Tiere, die sich von Früchten und Obst ernähren, über die Fähigkeit der Farbwahrnehmung.3 Natürlich möchten diese Pflanzen nicht, dass ihre Babys schon verspeist werden, solange die Schale nicht hart genug ist. Deswegen bedienen sie sich der Färbung unreifer Früchte – in aller Regel Grün –, um dem Beutegreifer zu signalisieren: »Jetzt noch nicht!« Für den Fall, dass der Beutegreifer besonders begriffsstutzig ist, erhöht die Pflanze das toxische Niveau innerhalb der Samenfrucht selbst, um auf diese Weise unmissverständlich klarzumachen, dass die Zeit noch nicht gekommen ist. Bevor in unseren Breiten der Granny-Smith-Apfel ein so beliebter Modeapfel wurde (der trotz seiner grünen Schale reif und genießbar ist, wusste jeder Schuljunge, dass man von grünen Äpfeln besser die Finger lässt, weil ihr Verzehr unweigerlich zu Durchfall führt. So lernte man in meiner Generation auf die harte Tour, Obst erst dann zu verzehren, wenn es reif ist.
Wann ist also die Zeit reif für den Verzehr einer Frucht? Das signalisieren Pflanzen auch wiederum durch die Farbe; sie »erklärt«, dass die Schale hart genug ist, und damit übrigens auch, dass der Zuckergehalt seinen Höhepunkt erreicht hat. Es erscheint unglaublich, aber die Pflanze hat jetzt Fruktose statt Glukose produziert; das ist der Zucker in der Frucht. Im Körper von Primaten lässt Glukose nämlich den Blutzuckerspiegel steigen, was wiederum den Leptinspiegel anhebt; Leptin ist ein Hormon, das das Hungergefühl blockiert. Aber Fruktose unterläuft diese Reaktion. Fruktose ist auch Zucker, blockiert aber das Hungergefühl nicht. Demzufolge trifft das normale Signal nie richtig beim Beutetier ein, was lauten würde: Du hast genug (Zucker) aufgenommen, hör auf zu essen! Wen wundert es da noch, dass Primaten hauptsächlich dann Gewicht zulegen, wenn viele Früchte reif sind. Und das ist eine Win-win-Situation sowohl für den Beutegreifer wie für die Beute. Das Tier nimmt mehr Kalorien zu sich, als es braucht, und weil es mehr Früchte isst als nötig, erhöhen sich die Chancen für die Pflanzen, mehr von ihren Babys weiterzuverbreiten.
Nur für die modernen Menschen ist das keine Win-win-Situation mehr, da für sie die zusätzlichen Kalorien in reifen Früchten längst nicht mehr so überlebensnotwendig sind wie bei den hungrigen Jägern und Sammlern der Steinzeit und bei den großen Menschenaffen. Und auch, wenn wir diese Kalorien und andere Inhaltsstoffe von Obst und Früchten immer noch brauchen, so waren so gut wie sämtliche Obstsorten bis vor ganz wenigen Jahrzehnten nur einmal im Jahr verfügbar: in der Zeit ihrer Reife, in der Regel im Sommer. Hingegen werden wir bald sehen, wie das moderne Überangebot, die ganzjährige Verfügbarkeit von Obst, uns krank und vor allem übergewichtig macht.
Pflanzen weisen also durch Farbwechsel darauf hin, dass ihre Frucht zur Ernte reif ist, was oftmals bedeutet, dass der von einer harten Schale umgebene Samen den Verdauungstrakt des Beutetieres unbeschadet passieren kann. Mit anderen Worten, anders als in der Welt des menschlichen Straßen- und Schienenverkehrs bedeutet Grün in der Pflanzen- und Tierwelt »Stopp« und Rot (oder Orange-Gelblich) »Freie Fahrt« bzw. »Friss!«. Rot, Orange und Gelb signalisieren dem Gehirn »süß« und »lecker«. Dieses eher unbewusste, aber wirksame Kommunikationsschema ist den Herstellern und Marketingexperten der Lebensmittelindustrie natürlich längst bekannt und sie nutzen das für ihre Produktverpackungen weidlich aus. Achten Sie beim nächsten Mal darauf, wenn Sie im Supermarkt an den Regalen mit den Snacks und Süßigkeiten vorbeigehen: Bei all diesen Produkten dominieren die warmen, leuchtenden Farben.
Die Sprache der Pflanzenfarben hat uns seit Menschengedenken gelehrt, dieses Signal als Fruchtreife zu deuten. Wenn Sie aber heutzutage in unseren Breitengraden im Dezember »reife« Erdbeeren oder Kirschen kaufen, dann kommen sie höchstwahrscheinlich als Flugware aus Chile oder irgendeinem anderen Land der Südhalbkugel, wo sie in frühreifem Zustand geerntet wurden; erst nach ihrer Ankunft am Zielort werden diese Früchte dann mit Ethylenoxid begast. Durch diese Begasung wirkt die Frucht reif und genussbereit, aber der Lektin-Gehalt bleibt hoch; die den Samen schützende Schale ist in Wirklichkeit nie voll durchgereift und hart geworden und die Frucht (der Samenkern) bekam von seiner Mutterpflanze niemals das Signal, das Lektin abzubauen. Denn wenn eine Frucht auf natürliche Weise reift, dann reduziert die Pflanze die Lektinmenge um den Samen herum und signalisiert dies durch die Farbänderung.
Bei der Begasung hingegen wird lediglich die Farbe künstlich verändert, aber der hohe Lektingehalt, der dem Schutz des Samens dient, wird nicht verringert. Wegen dieses nach wie vor hohen Lektingehalts frühreif geernteter Früchte ist deren Genuss der menschlichen Gesundheit abträglich. Genau aus diesem Grund spreche ich im zweiten Teil die dringende Empfehlung aus, ausschließlich saisonal reifes und lokal geerntetes Obst zu essen.
Pflanzen mit »nackten«, ungeschützten Samen bedienen sich einer anderen Strategie. Süßgräser, Schlingpflanzen und andere typische Feldfrüchte haben mit ihrem Standort bereits einen Platz mit fruchtbarem Boden gefunden und möchten dort bleiben. Dementsprechend wollen sie ihre Babys an Ort und Stelle fallen lassen, dass diese im übertragenen wie im wortwörtlichen Sinn dort Wurzeln schlagen. Wenn die einjährigen Elternpflanzen im Winter abgestorben sind, sollen sie im folgenden Jahr von der nächsten Generation ersetzt werden; es besteht also kein Vorteil darin, in einem weiteren Umkreis verstreut zu werden. Dann muss die Pflanze aber dafür Vorsorge tragen, dass ihre Samen nicht von Insekten, Vögeln oder anderen Tieren aufgefressen und woandershin transportiert werden. Die nackten Samen haben zwar keine harte Schutzschale, verfügen jedoch über ein ganzes Arsenal chemischer Waffen, mit denen sie Beutegreifer schwächen, lähmen oder so krank machen können, dass sie es sich lieber zweimal überlegen, ob sie diese Pflanze vertilgen oder lieber Abstand davon nehmen wollen.
Zu diesen Mitteln gehören sogenannte Phytate (Phytinsäure; manchmal auch als Antinutrient bezeichnet), welche beim Menschen die Aufnahme von Mineralien aus dem Nährstoff verhindern. Zu nennen wären ferner Trypsin-Hemmer, welche bestimmte Verdauungsenzyme an ihrer Funktion hindern und damit das Wachstum des Beutegreifers verlangsamen. Lektine gehören ebenfalls zu diesem Waffenarsenal. Sie unterbrechen die Kommunikation zwischen Zellen, wodurch unter anderem Lücken in der Darmschleimhaut entstehen sollen; die Darmschleimhaut wirkt wie eine Schutzwand zwischen Darminhalt und Blutkreislauf. In diesem Zusammenhang spricht man von dem »Leaky-gut-Syndrom«, einer geschädigten, undichten Schleimhaut. Vollkorngetreide beispielsweise enthält alle drei dieser Pflanzenchemikalien; sie stecken in der faserigen Hülle, in der Schale und in der Kleie.
Weitere typische Beutegreifer-Vergrämer im Arsenal der Pflanzen sind Tannine, die einen bitteren Geschmack hervorrufen, oder die Alkaloide der Nachtschattengewächse. Sie haben vielleicht schon davon gehört, dass die Küchenlieblinge aus der Pflanzenfamilie der Nachtschattengewächse wie Tomaten, Kartoffeln, Auberginen und Paprika sehr dazu neigen, entzündliche Prozesse hervorzurufen und zu fördern.
Von allen Lebensmittelgruppen haben die Hülsenfrüchte, vor allem die Samen der Hülsenfrüchte, den höchsten Lektingehalt und sind daher unter den Lektin-Pflanzen die Könige. Schon der Verzehr von fünf rohen Schwarzen Bohnen oder der gleichen Menge Kidney-Bohnen führt innerhalb von fünf Minuten zu einer Verklumpung des Blutes. Der aus Afrika stammende und als Zierpflanze häufig anzutreffende Wunderbaum, ein Wolfsmilchgewächs, enthält in seinem Samen, der Castor-Bohne, das potenteste Lektin überhaupt: Rizin. Das aus ebendiesen Samen gepresste Rizinusöl, auch Castoröl genannt, ist ungiftig und findet neben technischen und kosmetischen Anwendungen auch pharmazeutische Verwendung, unter anderem als Abführmittel (weil es vom Darm nicht aufgenommen wird). Von dem in den Samenschalen enthaltenen Rizin genügen allerdings 0,25 Milligramm, um einen Menschen zu töten. Es wirkt schnell und es gibt kein Gegengift. Damit ist Rizin ein Musterbeispiel für die wirkungsvollen Abwehrwaffen der Pflanzen gegen Beutegreifer – und sie machen bei Menschen keine Ausnahme.
Auf weitere Hülsenfrüchte sowie auf Nachtschattengewächse werde ich noch ausführlicher zu sprechen kommen. Zu den Nachtschattengewächsen zählt übrigens die Tabakspflanze – ihr Alkaloid Nikotin ist das bisher einzige Lektin, für das es amtliche Warnhinweise gibt.
Haben sich die Pflanzen womöglich gegen uns verschworen? Brauen sie Chemiecocktails zusammen, um Beutegreifer wie uns in Schach zu halten? Benutzen sie bewusst Tiere als Transportvehikel, um ihre Samen an andere Orte zu verschleppen? Das würde bedeuten, dass Pflanzen in der Lage sind, intentional, also vorausschauend und mit Absicht zu handeln, ja sogar lernfähig sind. Jetzt werden Sie vermutlich denken: Also das geht nun wirklich zu weit! Selbstverständlich denken Pflanzen nicht auf eine Art und Weise, die mit der menschlichen vergleichbar wäre. Aber jedes Lebewesen will überleben und sich fortpflanzen. Wenn es darum geht, evolutionäre Strategien zu entwickeln und zu verfolgen, ist jedem Lebewesen – sei es nun eine »einfache« Pflanze oder ein »Superorganismus« wie der Mensch – jedes Mittel recht, auch wenn es sich durch evolutionären Zufall entwickelt hat. Hauptsache, es trägt dazu bei, so viele Genkopien wie möglich zu verbreiten, ihnen zum Überleben und damit zu einem evolutionären Vorteil zu verhelfen. Aus der Sicht einer Pflanze ist jede Chemikalie, ist jedes dieser Mittel recht und billig, das einen Beutegreifer dazu bringt, es sich zweimal zu überlegen, bevor er sich über sie hermacht. Denken Sie daran, bevor Sie das nächste Mal in eine Jalapeno-Paprika beißen!
Wussten Sie, dass Pflanzen es merken, wenn sie gegessen werden sollen? In einer neueren Studie hat sich gezeigt, dass dies in der Tat der Fall ist. Und Pflanzen bleiben dabei keineswegs passiv und akzeptieren ihr Schicksal. Sie senden Abwehrtruppen aus, um sich dagegen zu verteidigen, und versuchen, den Beutegreifer zu stoppen.4 Diese Untersuchung wurde mit der Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) durchgeführt, einer in der Botanik viel untersuchten Kresse. Die Ackerschmalwand war die erste Pflanze überhaupt, deren Genom vollständig sequenziert wurde, weswegen die Botaniker das »Innenleben« dieser Kresse sehr viel besser kennen als das der meisten anderen Pflanzen.
Um herauszufinden, ob die Pflanze tatsächlich merkt, dass sich ihr ein Fressfeind nähert, ahmten sie die Vibrationen nach, die von einer Raupe ausgehen, die anrückt, um sich an den Kresseblättern gütlich zu tun. Sie setzten die Ackerschmalwand auch anderen Vibrationen aus, etwa solchen, die vom Wind hervorgerufen werden, und beobachteten, wie die Pflanze reagierte. Wie man vermutet hatte, reagiert die Pflanze auf das Nachahmen der Kaubewegungen einer Raupe, indem sie die Produktion eines leicht toxischen Senföles hochfährt und in ihre Blätter befördert, um dem Fressfeind den Appetit zu verderben. Bei anderen Vibrationen, wie denen durch Wind, wurde die Senfölproduktion nicht erhöht. Die Ackerschmalwand gehört zusammen mit allen Kohlarten, Rettichen, der Senfpflanze und vielen anderen, auch Blütenpflanzen, zu den Kreuzblütlern (Brassicaceae); alle Kohlarten (Brassicae) produzieren ein mehr oder weniger scharfes Senföl genau zu diesem Zweck der Schädlingsabwehr.
Ein weiteres Beispiel ist die sprichwörtlich empfindliche Mimose. Bei jeglicher Störung von außen, wozu natürlich auch der Angriff eines Fressfeindes gehört, faltet sie als Abwehrmaßnahme ihre Blätter zusammen. Man hat sogar herausgefunden, dass dieser Mechanismus bei Mimosen häufiger und ausgeprägter ist, wenn sie öfter gestört werden, als an Standorten, an denen sie eher ihre Ruhe haben.5 Das sind starke, deutliche Hinweise auf ein »vernünftiges« Verhalten.
Pflanzen reagieren wie Tiere und Menschen auch auf tagesperiodische Rhythmen.6 Pflanzenforscher haben entdeckt, dass Pflanzen über ein sogenanntes »Uhr-Gen« verfügen, das die Pflanze dazu veranlasst, genau zu der Tageszeit ein Insektizid zu produzieren, wenn diese Fressfeinde auf Beutezug ausschwirren. Nachdem die Forscher dieses Gen aus den entsprechenden Pflanzen entfernt hatten, wurde dieses Gift nicht mehr hergestellt.7
Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf jenes chemische Pflanzenprodukt, von dem Sie vermutlich noch nichts gehört haben, bevor Sie dieses Buch in die Hand genommen haben, die Lektine. Es handelt sich bei Lektin übrigens um etwas völlig anderes als Lecithin, die bekanntere fettartige Substanz in den Zellwänden von Tieren oder auch Pflanzen, oder um Leptin, das oben bereits erwähnte appetitregulierende Hormon. Sobald ein Insekt, beispielsweise ein Käfer, anfängt, auf der einen Seite einer Pflanze ein Blatt aufzuessen, verdoppelt sich der Lektingehalt auf der anderen Seite der Pflanze schlagartig.8 Wie Sie noch erfahren werden, spielen Lektine im Gesamtspektrum der Gefahren- und Feindabwehr von Pflanzen eine Schlüsselrolle, und dementsprechend spielen sie auch eine Schlüsselrolle bei schädlicher Ernährung für den Menschen.