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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christina Kagerer
ISBN 978-3-492-99179-7
© 2017 by Lauren Rowe
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Captain«, erschienen 2017 bei SoCoRo Publishing
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2018
Übersetzungsrechte vermittelt durch The Sandra Dijkstra Literary Agency
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen
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Prolog ~ Tessa
1 ~ Ryan
2 ~ Tessa
3 ~ Ryan
4 ~ Ryan
5 ~ Tessa
6 ~ Ryan
7 ~ Ryan
8 ~ Ryan
9 ~ Ryan
10 ~ Ryan
11 ~ Ryan
12 ~ Ryan
13 ~ Tessa
14 ~ Ryan
15 ~ Ryan
16 ~ Ryan
17 ~ Ryan
18 ~ Tessa
19 ~ Ryan
20 ~ Tessa
21 ~ Ryan
22 ~ Ryan
23 ~ Ryan
24 ~ Ryan
25 ~ Tessa
26 ~ Tessa
27 ~ Ryan
28 ~ Tessa
29 ~ Ryan
30 ~ Ryan
31 ~ Ryan
32 ~ Ryan
33 ~ Tessa
34 ~ Tessa
35 ~ Tessa
36 ~ Tessa
37 ~ Ryan
38 ~ Tessa
39 ~ Ryan
40 ~ Ryan
41 ~ Ryan
42 ~ Ryan
43 ~ Tessa
44 ~ Tessa
45 ~ Tessa
46 ~ Ryan
47 ~ Tessa
48 ~ Tessa
49 ~ Ryan
50 ~ Tessa
51 ~ Tessa
52 ~ Ryan
53 ~ Ryan
54 ~ Ryan
55 ~ Tessa
56 ~ Tessa
57 ~ Tessa
58 ~ Ryan
59 ~ Tessa
60 ~ Tessa
61 ~ Tessa
62 ~ Ryan
63 ~ Ryan
64 ~ Ryan
65 ~ Ryan
66 ~ Tessa
67 ~ Tessa
68 ~ Ryan
69 ~ Ryan
Epilog ~ Tessa
Anmerkungen
Prolog ~
Ich nehme den Brief in meine zitternde Hand und kann nicht glauben, was da in der vertrauten, geschwungenen Schrift geschrieben steht. Mein Blick ist tränenverschleiert.
Hätte ich diese unbegreiflichen Worte nicht selbst gelesen, hätte ich sie nie für möglich gehalten.
Hätte ich sie nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte ich für seine hingebungsvolle Liebe meine Hand ins Feuer gelegt.
Und jetzt ist alles, was ich über die Liebe zu wissen glaubte, in tausend Stücke zerbrochen.
Die Liebe, die ich mir in meinem Leben erträumt habe, gibt es nicht mehr.
Was ist Liebe?
Ich dachte, ich wüsste es.
Aber wie sich herausstellt, habe ich keinen blassen Schimmer.
»So weit, so gut«, sage ich zu meinem kleinen Bruder Keane. »Ich habe keine Eile mit ihr – wir gehen die Sache langsam an.«
Mein Bruder und ich sitzen in einem gemieteten Ruderboot auf dem Green Lake, außerhalb von Seattle, trinken Bier und angeln Forellen (allerdings nicht sonderlich erfolgreich, wir haben noch keine einzige gefangen). Ich habe meinem Bruder von Olivia erzählt, der Frau, mit der ich mich seit ungefähr einem Monat immer mal wieder treffe.
»Du hast also noch nicht alles unter Dach und Fach gebracht?«, fragt Keane.
Ich muss schmunzeln. Keanes Ausdrucksweise ist einfach herrlich. »Nein, Olivia und ich haben noch nicht über eine feste Beziehung gesprochen. Wir sehen das alles locker, weißt du? Kein Druck, keine Verpflichtungen.«
»Moment«, sagt Keane. »Du willst mir also erzählen, dass du sie seit einem Monat nagelst, und sie hat noch nicht einmal angedeutet, dass es ihr lieber wäre, wenn du deinen Schwanz nicht auch noch woanders reinstecken würdest?«
»Na ja, zurzeit habe ich nicht das geringste Bedürfnis, meinen ›Schwanz auch noch woanders reinzustecken‹. Schließlich hat nicht jeder Kerl so einen Frauenverschleiß wie du, Peen. Ich konzentriere meine Energie gerne voll und ganz auf eine Frau. Aber das ist nebensächlich, denn Olivia will auch keine feste Beziehung. Ehrlich, sie scheint kein bisschen eifersüchtig zu sein.«
»Schwachsinn, jede Frau ist eifersüchtig. Und wenn sie es dir nicht zeigt, dann spielt sie ein Spielchen mit dir.«
»Nein, Olivia ist ein offenes Buch. Total gechillt. Wirklich, soweit ich weiß, gibt es bei der Geschichte keinen Haken.«
»Uff. Sag das nicht, Bro. Das wirkt wie ein rotes Tuch auf mich, Mann. Du findest besser schnell ein, zwei kleine Haken, oder ihre Macken hauen dich in zwei Monaten alle auf einmal um.«
Ich öffne den Mund, um meinem Bruder zu sagen, dass er ein Idiot ist, aber bevor ich auch nur ein Wort rausbringe, spannt sich Keanes Angel. Sofort sind wir hellwach.
»Es hat einer angebissen!«, ruft Keane und beugt sich aufgeregt nach vorne.
»Zieh ihn langsam raus«, belehre ich ihn.
»Wir sind nicht mehr neun und fünfzehn, Ry. Du musst mir nichts mehr beibringen.«
»Du wirst ihn verlieren, Peen. Der Fisch ist noch nicht richtig gehakt.«
»Ich weiß, was ich tue. Sieh zu und lerne, Sohn. Ich bin Ahab, verdammt.«
Keane zieht die Schnur weiter ein, aber nach ein paar Sekunden lockert sie sich wieder. »Fuck!«, schreit Keane. Dramatisch reckt er seine Fäuste gen Himmel. »Verdammt seid ihr, ihr Fischgötter!«
Ich lache mich fast tot. »Vielleicht solltest du dich nächstes Mal nicht mit Ahab vergleichen, Sohn. Ich verrate dir das Ende ja nicht gerne, aber Ahab hat den Wal nie gefangen.«
»Was?«, sagt Keane und schaut mich schockiert an. »Aber das Buch heißt Moby Dick. Warum nennt man ein Buch Moby Dick, wenn niemand Moby Dick je fängt? Das ist ja so, als würde Roy Scheider den Weißen Hai nicht erledigen, sondern stattdessen sagen: Na ja, dann schwimmen wir halt nicht mehr im Meer.«
Ich muss wieder lachen.
Keane fährt fort: »Oder als würde in Findet Nemo niemand Nemo finden, und Papa-Fisch würde sagen: Ich habe diesen nervigen Clownfisch eh nie gemocht.«
»Oder als würde in Titanic«, schlage ich vor, »am Ende ein großes Schiff mit dem Namen Titanic sinken?«
»Ach«, sagt Keane und zieht eine Augenbraue hoch.
»Merkst du, was ich gerade getan habe, kleiner Bruder?«, sage ich.
»Touché, großer Bruder. Du hast mich etwas gelehrt, schon klar.«
Ich zwinkere ihm zu. »Sieh zu und lerne, Sohn.«
»Titanic hin oder her, dass Captain Ahab Moby Dick nicht fängt, ist ein blödes, sinnloses Ende, wenn du mich fragst.«
»Peen, erst durch dieses Ende wird es zu Literatur, anstatt zu Fast and Furious 7. Ahab ist so besessen davon, den großen Wal zu fangen, dass er schließlich verrückt wird und seinen Tod frühzeitig heraufbeschwört.«
»Frühzeitig heraufbeschwört?«
»Frühzeitig heraufbeschwört. Etwas geschieht schneller, als es normalerweise der Fall wäre. Lies ab und zu mal ein Buch, Mann.«
Keane zuckt mit den Schultern. »Ich bin zu beschäftigt damit, Fast and Furious 7 zu schauen.« Er grinst mich an. »Im Ernst, Ry. Tut dir dein Kopf nicht weh vor lauter Belesenheit?«
»Es ist ja nicht so, als hätte ich meinen Abschluss in Amerikanischer Literaturgeschichte gemacht«, sage ich. »Ich habe Moby Dick auf der Highschool im Englischunterricht gelesen, so wie jeder andere auch – abgesehen von dir. Was übrigens auch für Fänger im Roggen und Der große Gatsby gilt.«
»Enden diese zwei Bücher genauso bescheuert wie Moby Dick?«, fragt Keane. »Wenn du eh schon dabei bist, kannst du mir auch gleich alles verraten.«
»Wie zum Teufel hast du die Highschool geschafft, ohne die ganzen Klassiker zu lesen?«
»Mann, ich war damit beschäftigt, auf Sauftour zu gehen und die heißen Mädels klarzumachen. Da hatte ich keine Zeit für Wale und Roggenfänger und Gatsbys.«
»Aber wie hast du den Kurs überhaupt bestanden?«, frage ich.
»Ich hatte Hilfe von ein paar Tutorinnen.« Keane zwinkert mir zu. »Von ein paar sehr hübschen Tutorinnen.«
Ich muss lachen. Typisch Keane.
»Also, jetzt verrate mir schon, wie die anderen zwei Bücher enden, Meister Yoda«, sagt Keane und wirft seine Angel erneut aus. »Enden sie genauso blöd und sinnlos wie Moby Dick?«
Ich nehme einen großen Schluck von meinem Bier und denke nach. »Na ja, ich habe sie vor über zehn Jahren gelesen – also nagel mich nicht fest. Aber ich glaube, Holden Caulfield landet in einer Irrenanstalt, und der große Gatsby stirbt, ohne die Frau zu bekommen.«
»Wie bitte?«, ruft Keane – viel zu laut für die friedliche Umgebung, in der wir uns befinden. »In keinem Klassiker der Weltliteratur kriegt jemand den Wal?«
»Wenn du ein Happy End willst, musst du einen Liebesroman lesen, mein Sohn.«
»Tja, das werde ich vielleicht sogar tun. Das Leben ist schon beschissen genug, wenn man keine Bücher mit deprimierendem Ende liest. Falls ich jemals ein Buch schreiben sollte, kommen darin Wale und Gras und Frauen für jedermann vor!«
Ich lache laut auf.
»Gib mir noch ein Bier, Kleiner«, sagt Keane. »Literaturanalysen machen mich immer so verdammt durstig.«
Ich gebe meinem kleinen Bruder noch ein Bier aus der Kühlbox.
»Danke, Captain. Deshalb liebe ich dich am meisten.«
Ein paar Minuten lang nippen wir still an unserem Bier und starren auf den See hinaus.
»Ich glaube, wir sollten das nächste Mal andere Köder benutzen«, sagt Keane nach einer Weile. »Die Fische lachen uns aus. Hörst du sie da unten? Die ganze Zeit geht das schon so: ›Hahaha, was für Idioten!‹«
»Ein guter Arbeiter wälzt die Schuld nie auf sein Werkzeug ab.«
»Na gut, dann beschuldige ich eben dich, schlechte Köder gekauft zu haben.«
»Hey, um noch mal kurz auf Olivia zurückzukommen«, sage ich. »Warum wirkt sie wie ein rotes Tuch auf dich? Das verstehe ich nicht.«
»Dann bist du blind. Mann, wenn sie sich seit einem Monat nur von ihrer perfekten Seite zeigt, dann ist sie auf jeden Fall ein verkappter Psycho.«
»Verdammter Colby. Wann hast du mit ihm geredet?«
Keane schaut mich überrascht an. »Ich habe nicht mit ihm geredet. Colby hat gesagt, Olivia ist ein verkappter Psycho?«
»Ja, in genau diesen Worten. Er war dabei, als ich Olivia in einer Bar kennengelernt habe, und hat gesagt: ›Wenn du dich an der Blonden versuchst, wirst du enden wie in Eine verhängnisvolle Affäre. Die Frau ist zweifellos ein verkappter Psycho.‹«
Keane lacht laut auf. »Aber du hast dich trotzdem an ihr versucht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Wenn du Olivia gesehen hättest, würdest du mich verstehen.«
»Du denkst schon wieder mit deinem Schwanz, Ry. Hast du denn gar nichts gelernt?«
»O Mann, du bist ein einziger großer Schwanz, Peen. Allein schon dieser Spitzname!«
»Ja, aber jetzt reden wir über dich, nicht über mich.« Keane schüttelt den Kopf. »Regel Nummer eins für ein gutes und glückliches Leben: Hör auf Colby Morgan – immer. Und Regel Nummer zwei: Hör auf mich – ab und zu.«
»Aber auf keinen Fall dieses Mal. Du kennst Olivia überhaupt nicht.«
»Ich muss Olivia nicht kennen, um zu wissen, dass mein Psycho-Detektor wie verrückt ausschlägt.«
»Basierend auf was?«
»Basierend auf Beweisen. Du hast gesagt, bei der Geschichte gibt es keinen Haken. Das ist eigentlich schon Grund genug. Aber hinzu kommt noch, dass du der hübscheste von uns Morgan-Brüdern bist – was etwas heißen mag, wenn man bedenkt, wie hübsch wir alle vier sind, besonders ich. Und die Frauen sind genetisch darauf programmiert, sich mit den hübschesten Männern zu vermählen. Sieh dir doch nur die Pfauen an. Denkst du, die haben ihre Schwanzfedern zum Spaß?«
»O Mann, ich denke nicht im Entferntesten daran, mich mit Olivia zu ›vermählen‹. Wir kennen uns seit einem Monat, verdammt.«
»Blödsinn. Du denkst immer ans Heiraten. Ich kenne keinen anderen Kerl, der sich so sehr Kinder wünscht wie du. Das ist nicht normal, Ry.«
»Das habe ich Olivia gegenüber natürlich noch mit keinem Wort erwähnt.«
»Gut. Sprich nicht über diesen Scheiß, bevor du nicht mindestens sechs Monate mit einer Frau zusammen bist – sonst hast du in Windeseile eine geldgierige Möchtegern-Mama am Hals.«
Ich schüttle den Kopf.
»Es stimmt, Bro. Mach die Augen auf. Du hast eine Wahnsinnskarriere vor dir, die dir viel Kohle einbringen wird. Und zusätzlich zu deinem hübschen Gesicht hast du auf deinen Armen auch noch diese coolen Tattoos und im Gesicht immer dieses ›Ich will dich flachlegen‹-Grinsen. Keine Frau kann dir widerstehen. Wenn du dann auch noch verrätst, dass du liebend gerne vollgeschissene Windeln wechseln würdest, werden die Frauen alles tun, um dich festzunageln.«
Ich verdrehe die Augen. »Du hast Olivia noch nicht einmal gesehen, Peen. So ist sie nicht.«
»Mann, hör auf, dich bei diesem Mädchen wie Forrest Gump zu verhalten. Sie ist Katniss Everdeen mit ihrem Bogen, während du dasitzt und davon redest, dass das Leben wie eine Pralinenschachtel ist. Weißt du, was ich dazu sage, Rum Cake?« Keane legt die Hände wie einen Trichter um seinen Mund und ruft so laut er kann: »Lauf, Rum Cake, lauf!«
Ich muss lachen. »Nicht so laut, Peenie. Du verscheuchst noch die Fische.«
»Hier gibt es keine Fische, die ich verscheuchen könnte, mein Sohn.« Keane lehnt sich zurück. »Davon abgesehen, hast du es nicht mit ein paar kleinen Forellchen zu tun, sondern mit einem richtig großen Fisch. Ich sag’s dir nur ungern, Captain, denn ich liebe dich wirklich und respektiere dich, aber die Chancen stehen zwei zu eins, dass du dir an deiner neuen Flamme die Finger verbrennen wirst. Dieses Mädchen ist eine Jägerin auf Safari, und die Beute, auf die sie aus ist, nennt sich Captain Ryan Ulysses Morgan.«
»Okay, das reicht. Ich wünschte, ich hätte Olivia gar nicht erst erwähnt. Ich habe nie gesagt, dass ich in sie verliebt bin oder dass sie die einzig Wahre ist oder dass ich auch nur das geringste Bedürfnis verspüre, mich mit ihr zu ›vermählen‹. Ich habe nur gesagt: ›So weit, so gut.‹ Und jetzt halt deinen Mund und versuch zumindest, einen Fisch zu fangen, bevor ich dir das Grinsen aus dem Gesicht schlagen muss.«
Eine Weile sitzen wir still nebeneinander und starren auf unsere bewegungslosen Angelruten. Er soll ruhig spüren, dass ich verärgert bin. Aber als ich sehe, dass Keane sich gedankenverloren über die rosa Narbe an seinem linken Ellbogen reibt, löst sich mein Ärger sofort in Luft auf.
»Wie geht es deinem Arm?«, frage ich.
Keane starrt auf die Wasseroberfläche.
»Keane?«, sage ich.
Er schaut mich an.
»Wie geht es deinem Arm?«
Er atmet laut aus. »Das Team hat mich letzte Woche einfliegen lassen, um zu sehen, welche Fortschritte ich mache. War nicht so gut.«
Mein Magen verkrampft sich. »Was ist passiert?«
»Der Worst Case ist eingetreten, Mann. Ich stand auf dem Wurfhügel, und egal, welche Finte ich auch versucht habe, nichts hat geklappt.«
»Die Operation ist doch nicht mal ein Jahr her. Du brauchst noch etwas Zeit.«
»Die meisten Jungs sind nach sieben oder acht Monaten wieder zurück auf dem Feld, Ry. Bei mir sind es jetzt schon neun. Ich hänge total hinterher.«
»Ach Quatsch, du bist bald wieder wie neu. Da bin ich mir sicher.«
Keane schüttelt den Kopf. »Sie haben mich abgesägt.«
»Was?«
»Vor neun Tagen.«
»Aber warum hast du nichts gesagt?«
Keane zuckt mit den Schultern.
»Hast du es Mom und Dad erzählt?«
»Ich habe es noch niemandem außer Zander erzählt – und ihm auch nur, weil wir uns zufällig getroffen haben, als ich wie ein kleines Baby geheult habe.«
»Ach, Keaney.« Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. »Du hättest es uns sagen sollen. Der Morgan-Clan hätte dich unter seine Fittiche genommen.«
»Ich muss es wahrscheinlich erst noch verarbeiten.«
»Ach, Keane. Es tut mir so leid. Ich weiß, wie lange du davon geträumt hast, in der Major League zu spielen.«
»Tja, ein Traum plus zehn Cent ergeben auch keinen Dollar, oder?«
Ich verziehe das Gesicht. »Sag das nicht. Ich weiß, dass du enttäuscht bist, aber rede nicht so, als hättest du deine Träume schon aufgegeben. Du bist erst zweiundzwanzig, kleiner Bruder. Kopf hoch. Ich sag dir was: Wie wäre es, wenn ich deine Miete ein paar Monate lang zahle? Damit du ein bisschen durchatmen kannst, während du dir deinen nächsten Traum ausmalst, okay?«
Ein lauter Schrei ertönt von einem Boot in der Nähe, und wir drehen uns beide um. Ein kleiner Junge zieht eine riesige Forelle aus dem Wasser.
»Heilige Scheiße«, sagt Keane. »Sieh dir das an.«
»Das ist ein verdammt großer Fisch.«
»Was für einen Köder hat der Junge wohl benutzt? Sollen wir rüberrudern und ihn fragen?«
»Nein.« Ich halte meine Bierdose in die Luft. »Mir reicht es, hier zu sitzen und mit dir zu reden. Scheiß auf die Fische.«
Keane schenkt mir ein Lächeln, das mein Herz schmelzen lässt. »Okay, cool.«
Ein paar Minuten lang nippen wir einfach nur an unserem Bier und beobachten, wie der Junge in dem anderen Boot Fotos von sich und dem riesigen Fisch macht. Sein fröhliches Lachen dringt bis zu uns herüber.
»Erinnerst du dich daran, wie Colby damals diesen riesigen Fisch gefangen hat?«, sagt Keane.
»Es überrascht mich, dass du dich noch daran erinnerst. Du warst damals höchstens fünf oder sechs Jahre alt.«
»Ich erinnere mich eigentlich nur noch an Bees Gesichtsausdruck, als er dieses Monstrum aus dem Wasser zog. Ach, und ich erinnere mich daran, wie Kum Shot an diesem Tag auf Dads Schuhe gekotzt hat. Ha! Das war spitze.«
»Arme Kat«, sage ich und denke an unsere seekranke Schwester. »In den meisten Kindheitserinnerungen, die ich von ihr habe, kotzt sie.«
»Daran hat sich doch bis heute nichts geändert«, sagt Keane, und wir müssen beide lachen. »Mann, damals dachte ich wirklich, Colby sei Superman.«
»Ich auch.« Ich nehme einen Schluck von meinem Bier. »Tue ich noch.«
Keane schaut mich an. »Hey, Ry, ernsthaft – ich denke wirklich, du solltest auf Supermans Bauchgefühl wegen dieser Olivia hören. Tu uns allen einen Gefallen und sieh sie dir genau an, bevor du dich in sie verliebst und sie zu unseren Familienessen mitbringst.«
»Für wen hältst du mich denn? Für Zander Shaw? So schnell verliebe ich mich nicht, das weißt du. Und du weißt auch, dass ich nie eine Frau zu einem Familienessen mitbringen würde, wenn ich mir nicht hundertprozentig sicher wäre, dass sie die Richtige ist. Und jetzt halt die Klappe und fang deinen Wal, Ahab. Ich hab alles unter Kontrolle.«
»Ach, du hast alles unter Kontrolle, Kleiner?«
»Ich habe alles unter Kontrolle, Süßer.«
»Dann hast du ja wahrscheinlich nichts dagegen, dass wir eine kleine Wette abschließen, oder?«
»Was schwebt dir vor?«
»Ich wette zwanzig Dollar, dass sich deine ›So weit, so gut‹-Olivia innerhalb von drei Monaten in eine ›Was habe ich mir bloß dabei gedacht‹-Olivia verwandelt. Sie wird zum schlimmsten Albtraum deiner gesamten Datingkarriere werden.«
Ich muss lachen. »Die Wette gilt, du Idiot. Aber nur, um das klarzustellen: Es geht nicht darum, dass Olivia und ich vielleicht einfach nicht zueinander passen und deshalb innerhalb der nächsten drei Monate Schluss machen. Es geht darum, dass sie sich in einen wahr gewordenen Albtraum verwandelt.«
»Genau.«
Wir reichen uns die Hände.
»Weißt du was?«, sage ich. »Scheiß drauf. Lass uns um fünfzig Dollar wetten, so wird die ganze Sache interessanter.«
»Oh, unser kleines Großmaul will den Einsatz erhöhen. Na gut, wie du willst.« Er schüttelt erneut meine Hand und lacht leise vor sich hin. »O Mann, ich kann es gar nicht erwarten, aus deinem Unglück Profit zu schlagen, du Blödmann. Du hast die Todsünde begangen und Supermans Rat missachtet, und jetzt erhöhst du deinen Wetteinsatz gegen mich? Ha!« Er wirft den Kopf in den Nacken und gibt ein dämonisches Lachen von sich, das über den ganzen See hallt. »Die Wette gilt!«
»Hey, Tessa«, sagt meine beste Freundin Charlotte, als sie meinen Anruf entgegennimmt.
Ich sitze an einem kleinen Schreibtisch in der Ecke meines brandneuen Apartments in Seattle und bin umgeben von Unmengen an Umzugskartons, die immer noch nicht ausgepackt sind. In der einen Hand halte ich mein Telefon, mit der anderen massiere ich mir die Schläfen. »Josh hat gerade angerufen«, sage ich ins Telefon. »Er und Kat sind von ihrer Südamerikareise zurück, und du wirst nie erraten, was passiert ist – nicht in einer Million Jahren.«
»Ms Perfect bekommt Vierlinge von Josh?«
»Sogar noch krasser. Josh hat mir sozusagen direkt ins Gesicht gesagt: ›Theresa, ich werde diese Frau fragen, ob sie mich heiraten will.‹«
»Was?«, ruft Charlotte und klingt so verblüfft, wie ich es bin. »Haben Aliens den echten Josh Faraday entführt?«
Charlotte hat meinen Boss nie kennengelernt – oder seine perfekte, schwangere Freundin, Kat Morgan, mit der er erst seit Kurzem zusammen ist. Aber da sie schon seit Jahren meinen Geschichten über Josh »den Playboy« Faraday lauscht und alles über die unzähligen Supermodels und Millionenerbinnen weiß, die er gedatet hat, bevor er sich in ein einfaches Mädchen aus Seattle verliebte, reden wir über Josh, als würde Charlotte ihn persönlich kennen.
»O mein Gott, Tessa«, stammelt Charlotte. »Wann wird Josh ihr den Antrag machen?«
»Sobald er einen Ring gefunden hat, der ›ihrer würdig ist‹. Er geht morgen mit Kats Mom einen Ring kaufen.«
»Ich bin schockiert.«
»Du bist schockiert? Jedes Mal, wenn einer seiner Freunde sich in den letzten sechs Jahren verlobt oder geheiratet hat, hat Josh geschworen, dass die Ehe für ihn nicht infrage kommt. Und jetzt sagt er zur mir Sachen wie: ›T-Rod, ich werde Kat einen Ring kaufen, der so verdammt groß ist, dass sie einen Kran braucht, um ihn zu tragen.‹«
»Jetzt warte mal kurz. Nur, weil er dem Mädchen einen Ring kauft, der so groß ist wie ein Felsbrocken, heißt das nicht, dass er sich den Rest seines Lebens an sie binden wird. Die Reichen verloben sich die ganze Zeit, ohne dann wirklich zu heiraten. Das habe ich schon tausendmal auf TMZ gesehen. Ein Kerl wie Josh kauft seiner Freundin so selbstverständlich einen Diamantring, wie ein normaler Mann seiner Freundin einen Zwanzig-Dollar-Gutschein fürs Schmuckgeschäft kauft.«
Ich muss lachen. Charlotte ist einfach herrlich.
»Vielleicht kauft er Kat nur einen Ring, damit ihre Eltern ihm keine Axt in den Rücken rammen?«, mutmaßt Charlotte. »Du weißt schon, weil er ihr kleines Mädchen geschwängert hat?«
»Nein, er macht Kat den Antrag nicht, weil sie schwanger ist. Dafür gibt es Treuhandvermögen und Unterhaltsvereinbarungen. Und er hat jede Menge Freunde, die ihm gezeigt haben, wie das funktioniert. Nein, der Playboy will das Partygirl wirklich heiraten, weil er sie liebt.«
»Heilige Scheiße«, sagt Charlotte. »Dann war ihr kleiner Urlaub in Südamerika wohl ein voller Erfolg, wie?«
»Anscheinend.«
»Dank dir«, sagt sie. »Haben ihnen die ganzen Arrangements gefallen, die du in Buenos Aires für sie in die Wege geleitet hast?«
»Natürlich. Ich kenne Josh – und ich kenne meine Stadt.«
Charlotte seufzt. »Das macht mich irgendwie traurig. Worüber zum Teufel sollen wir denn reden, wenn nicht über die schrecklichen Frauen an Joshs Seite?«
»Ach, ich bin mir sicher, wir finden ein neues Thema, über das wir uns unterhalten können.«
»Warum benimmst du dich nur so verdammt erwachsen? Du kannst dich ruhig ein bisschen kindischer verhalten – zumindest in meiner Gegenwart. Auch wenn du Kat magst und dich wirklich für Josh freust – bla, bla, bla –, darfst du ruhig ein bisschen enttäuscht darüber sein, dass deine ach so geringen Chancen, deinen Boss flachzulegen, jetzt offiziell gleich null sind.«
»Süße, ich wollte meinen Boss nie wirklich ›flachlegen‹. Ich habe eine Zeit lang für ihn geschwärmt, das ist alles. Aber das ist normal, wenn eine sehr behütete Einundzwanzigjährige für einen wahnsinnig scharfen Typen zu arbeiten beginnt, der nur ein paar Jahre älter ist als sie. Sechs Jahre später kann ich durchaus von mir behaupten, dass ich erwachsener und vernünftiger bin als dieses dumme Mädchen von damals. Mittlerweile ist Josh eher ein großer Bruder für mich.«
»Hm, ein verdammt scharfer großer Bruder.«
»Okay, ein Stiefbruder.«
Wir kichern.
»Mein Boss würde seine persönliche Assistentin niemals anmachen, es wäre verrückt, etwas anderes zu denken. Er ist Josh Faraday.«
»Süße, das hier ist keine Folge von Downtown Abbey. Nur weil Josh seine persönliche Assistentin noch nie angemacht hat, ist diese Vorstellung nicht verrückt. Die Männer liegen dir in Scharen zu Füßen, und das weißt du. Du bist die argentinische Angelina Jolie.«
Ich muss lachen. »Das ist eine Riesenübertreibung, aber danke. Und nein, ich weiß nicht, dass mir die Männer in Scharen zu Füßen liegen. Ganz im Gegenteil.«
»Weil du überhaupt nicht mehr ausgehst. Und wenn du es tust, dann bist du total verschlossen. Ich verstehe ja, dass Stu dich wirklich verarscht und dein Selbstbewusstsein einen Knacks bekommen hat …« Sie hält inne. »Weißt du, was du tun solltest? Geh aus, such dir einen echt scharfen Kerl und hab zum ersten Mal in deinem Leben unverbindlichen, wilden Sex mit einem Fremden. Das sollte deine Laune etwas heben.«
»Ich hatte keine Lobotomie, Char – ich werde keinen One-Night-Stand haben.«
Charlotte seufzt. »Na gut. Dann hab keinen Sex mit einem Fremden, sondern geh aus und flirte einfach mit einem. Weißt du, was ich immer tue, wenn ich traurig bin? Ich gehe in meiner Uniform in eine Bar und flirte mit einem scharfen Typen – und ob du es glaubst oder nicht, das heitert mich immer auf. Du wärst schockiert, wenn du wüsstest, wie viele Kerle von Flugbegleiterinnen träumen.« Charlotte zieht scharf die Luft ein. »Hey, ich habe eine Idee. Buch doch einfach einen Flug nach L.A., und geh heute Abend mit mir und meinen Kolleginnen aus. Zieh eine meiner Uniformen an. Die Kerle würden dich umringen wie Motten das Licht.«
»Ich kann nicht glauben, dass ich das sage, aber das klingt wirklich verlockend. Ich vermisse dich seit dem Umzug so sehr, dass ich wahrscheinlich alles tun würde, um dich wiederzusehen. Aber leider habe ich morgen jede Menge Meetings mit Lieferanten für die große Eröffnungsfeier von Josh und Jonas nächste Woche, ich kann nicht weg. Und außerdem muss ich jetzt anscheinend auch noch einen Heiratsantrag planen.«
»Josh hat dich gebeten, seinen Antrag zu planen?«
»Ich soll nur das Organisatorische übernehmen. Den Rest macht er selbst.«
»Langweilig.«
»Warum? Im Grunde ist es mein Job, für Josh Dinge zu organisieren.«
»Süße, nur weil du seine persönliche Assistentin bist, solltest du dem Mann, den du liebst, nicht dabei helfen müssen, einer anderen Frau einen Antrag zu machen.«
»Hör auf damit, Char! Ich ›liebe‹ Josh nicht – jedenfalls nicht so. Ja, ich habe früher mal für ihn geschwärmt, und ja, als ich letztes Jahr wegen Stu am Boden zerstört war, habe ich vielleicht das ein oder andere Mal an Josh gedacht, als ich meinen batteriebetriebenen Freund benutzt habe. Aber es ist wahnsinnig schwer für ein Mädchen, sich wirklich Hoffnungen zu machen, wenn ihr Chef sie in sechs Jahren nicht mit dem Arsch angeschaut hat.«
»Ach, komm schon. Josh, der Playboy, hat deine Doppel-Ds in den letzten sechs Jahren tausendmal angeschaut.«
»Nein. Kein einziges Mal. Er war immer sehr professionell. Aber warum reden wir überhaupt darüber? Josh wird Kat heiraten, ein Kind mit ihr bekommen und bis an sein Lebensende glücklich mit ihr zusammenleben, während ich unglücklich und alleine und von Menschenhand unberührt sterben werde. Da gibt es nichts zu bereden.«
Charlotte lacht. »Ach, Tessa.«
»Ist schon okay. Ich habe nur einen schlechten Tag. Morgen geht es mir wieder besser. Und es hat auch nicht per se etwas mit Josh zu tun. Ich wünschte nur, ich würde einen Mann kennenlernen, der in etwa so ist wie er, verstehst du? Ein netter Mann, der noch dazu rattenscharf ist – und gleichzeitig loyal und treu und verfügbar. Gibt es so einen Mann?«
»Nimm’s mir nicht übel, aber wie willst du denn einen Mann kennenlernen, wenn du nicht ausgehst und mit jemandem flirtest?«
»Ich kenne niemanden in Seattle, Char. Ich werde nicht ganz alleine in eine Bar gehen und mit einem Fremden flirten.«
Charlotte seufzt laut auf. »Okay, das reicht. Ich komme nach Seattle.«
»Wann?«
»Jetzt. Ich bin am Flughafen. Meine Schicht ist gerade zu Ende. Ich nehme den nächsten Flug nach Seattle und bin in ein paar Stunden da. So einfach ist das. Und ich werde nicht einmal einen Arbeitstag versäumen. Ich kann bestimmt mit einer Freundin aus Seattle die Schicht tauschen.«
Ich quietsche laut auf. »O mein Gott, Charlotte. Danke! Ich hab dich in den letzten drei Wochen so vermisst!«
»Aber hör mir zu, Süße: Wenn ich schon tausend Meilen fliege, um dich zu sehen, wirst du heute Abend das tun, was ich dir sage. Du wirst die Uniform anziehen, die ich dir mitbringe, und flirten, was das Zeug hält, okay?«
»Okay, okay.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Charlotte kichert. »Heute Abend bist du nicht Josh Faradays organisierende, Zahlen drehende, Pläne erstellende persönliche Assistentin – heute Abend bist du Samantha, die geile Flugbegleiterin.«
»O mein Gott, du bist verrückt. Aber ich sag’s dir gleich, ich werde nicht mit einem Fremden ins Bett gehen, nur weil ich eine Flugbegleiterinnenuniform trage.«
»Wann hast du zum letzten Mal mit jemandem geschlafen? War Stu der Letzte?«
»Ja. Das letzte Mal war vor neun Monaten und drei Tagen. Aber wer zählt das schon?«
»Nicht einmal rumgemacht?«
»Nein. Nicht einmal ein Kuss.«
»O Mann, meine Vagina hat sich soeben schmerzhaft zusammengezogen. Okay, Theresa Rodriguez – heute Abend bin ich offiziell deine gute Fee. Deine weise und schmutzige gute Fee. Ich mache es zu meiner Aufgabe, dass du heute Nacht noch von einem scharfen Kerl geküsst wirst.«
»Dieser scharfe Kerl muss schon verdammt scharf sein, wenn ich mich von ihm küssen lasse. Aber gut, ich werde es drauf ankommen lassen. Wo werden wir den scharfen Kerl, der mich küsst, denn finden, du schmutzige gute Fee?«
»Weise und schmutzig. Vergiss nicht ›weise‹.«
»Tut mir leid, Süße. Also, wo gehen wir hin?«
»Ich weiß nicht. Ich werde meine Kollegin aus Seattle fragen, ob sie uns einen Tipp geben kann. Sie hat mir erst vor Kurzem ein paar Läden genannt, in denen es vor scharfen Kerlen nur so wimmeln soll. Ich glaube, einer dieser Läden hieß The Pine Box.«
»Wie du willst. Danke, dass du mich besuchen kommst.«
»Ich besuche nicht dich – ich besuche Samantha.« Sie kichert. »Bis bald, Süße. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, du verrücktes Huhn. Bis bald.«
Ich betrete die Bar und blicke mich um. »Wenn du mal etwas Neues ausprobieren willst – ich war vor Kurzem mit Kat und meinem Bruder in einer coolen Bar«, hat Josh gesagt, als ich ihn heute Nachmittag angerufen und gefragt habe, ob er mit mir etwas trinken gehen will. »Sie heißt The Pine Box.«
Also bin ich hier.
Ich schaue mich nach Josh um. Als ich ihn nirgends entdecke, setze ich mich auf einen Barhocker und bestelle einen Drink.
Ja, das ist wirklich ein cooler Laden. Aber wenn es meine Bar wäre, würde ich ein paar kleine Veränderungen vornehmen. Die Einrichtung ist nicht optimal, und die Karte mit den Special Drinks könnte origineller sein. Und diese Ecke da hinten – in der jetzt Kisten und Kartons stehen –, das wäre der perfekte Platz für einen Kickertisch. Es ist wirklich eine Schande, eine richtige Platzverschwendung.
Der Barkeeper stellt meinen Drink vor mir ab. »Soll ich es aufschreiben?«, fragt er.
Ich nehme an, jeder, der mit Josh Faraday einen trinken geht, erwartet, dass er die Rechnung bezahlt – schließlich fährt der Kerl einen Lamborghini. Also werde ich den Geldbeutel des armen reichen Typen heute Abend mal schonen. »Ja, danke, Tim«, sage ich, nachdem ich einen Blick auf sein Namensschild geworfen habe. »Ja, schreib es auf, ich warte noch auf einen Kumpel. Und egal, was er nachher sagt, wenn wir bezahlen – heute gehen alle Drinks auf mich.«
Ich habe Josh erst einmal getroffen – vor drei Wochen, als meine kleine Schwester Kat ihren neuen Freund mit nach Hause gebracht hat, damit er die ganze Familie kennenlernt. Nur Keane war nicht dabei, er war zu beschäftigt damit, seinen Körper für ein paar Dollar als Seattles neu entdeckter »Peen Star« zur Schau zu stellen. Ein Abendessen und vier Runden Kicker später wusste ich bereits, dass Josh Faraday ein lange verloren geglaubter Morgan-Bruder ist. Ich habe Keane an jenem Abend sogar noch geschrieben, dass Josh seinen Platz als mein Lieblingsbruder eingenommen hat. Ich muss sagen, Keane hat die Nachricht ziemlich gut aufgenommen.
Natürlich waren wir alle schockiert, als Kat uns bei diesem Abendessen gebeichtet hat, dass sie schwanger von Josh ist. Allen in meiner Familie war sofort klar, dass wir keine andere Wahl hatten, als den Vater von Kats Baby mit offenen Armen willkommen zu heißen. Aber das hätten wir auch getan, wenn Kat kein Kind von ihm erwarten würde, denn wir haben ihn alle sofort ins Herz geschlossen.
Deshalb sitze ich jetzt auch in der Pine Box. Obwohl Kat vor drei Wochen noch gesagt hat, dass eine Ehe für sie und Josh nicht infrage kommt, hat Josh meine Eltern anscheinend heimlich gefragt, ob er Kat einen Antrag machen darf. Natürlich habe ich Josh sofort geschrieben und ihn gefragt, ob er mit mir was trinken geht. Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, meinem zukünftigen Schwager zwei Dinge zu erklären. Erstens: Wenn er meine Schwester heiratet, bekommt er viel mehr als nur eine Ehefrau. Er bekommt eine ganze Familie dazu, inklusive vier Brüdern, die ihm immer zur Seite stehen werden – komme, was wolle. Und zweitens: Scheiß auf erstens – wenn Josh es versaut und unserer Schwester das Herz bricht, werden die Morgan-Brüder so schnell zur Morgan-Mafia, dass Josh Hören und Sehen vergeht.
Mein Handy piepst, bestimmt eine Nachricht von Josh. Aber nein, sie ist von meiner verdammt scharfen, allerdings auch total durchgeknallten Freundin (oder sollte ich besser sagen, Ex-Freundin?) Olivia.
Sorry, Baby, beginnt die Nachricht von Olivia.
Ich verdrehe die Augen. Diese Frau sollte sich »Sorry, Baby« auf die Stirn tätowieren lassen.
Ich hätte das alles nicht zu dir sagen sollen, schreibt sie weiter.
Ach was!
Aber du hättest nicht einfach so davonstürmen sollen, und es war auch völlig unnötig, zu sagen, dass du mit mir Schluss machen willst. Wir haben uns nur gestritten, das ist alles. So etwas passiert. Es bedeutet nicht, dass wir nicht zusammenpassen. Ich war sauer und hatte jedes Recht dazu. Nicht nur wegen der Schlampe in dem Restaurant, auch wegen all dieser Frauen, die sich dir immer an den Hals werfen. Ich muss annehmen, dass du ihnen nicht von vornherein sagst, dass du in einer festen Beziehung bist. UND DAS MACHT MICH VERDAMMT SAUER!!!
Ich knirsche mit den Zähnen. Das ist also Olivias Vorstellung von einer Entschuldigung? Die spinnt doch. Wie konnte ich nur an so eine eifersüchtige und besitzergreifende Frau wie Olivia geraten? Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass diese Frau in dem Restaurant mir unaufgefordert einen Zettel zugeschoben hat, als sie dachte, Olivia sei auf die Toilette gegangen. Die Betonung liegt auf »dachte«.
Ich habe dich und deine Freundin belauscht, stand auf dem Zettel. Für mich klang es so, als sei eure Beziehung bald am Ende. Wenn es so weit ist, dann ruf mich gerne an. Wir könnten ein bisschen Spaß haben. Oder ruf mich einfach heute noch an. Ich werde es nicht verraten.
Olivias Blick war so Furcht einflößend, als sie wie aus dem Nichts hinter mir aufgetaucht ist und mir den Zettel aus der Hand gerissen hat, dass ich fast aufgeschrien hätte. Natürlich habe ich mich stattdessen halb totgelacht – und das hat Olivia nur noch wütender gemacht.
Ich nehme einen großen Schluck von meinem Drink.
Verdammt, ich habe es nicht auf diesen Zettel angelegt. Ich hatte die Blondine, die mit ihren Freunden am Nachbartisch saß, nicht einmal bemerkt. Und genau das habe ich Olivia auch gesagt, als sie mich beschuldigt hat, dass ich dieser Frau irgendwie zu verstehen gegeben hätte, dass ich sie hinter dem Rücken meiner Freundin flachlegen will. Lächerlich. Ich würde meiner Freundin so etwas nie antun, selbst wenn sich herausstellt, dass sie total verrückt und ganz anders als die Person ist, für die sie sich im ersten Monat unserer Beziehung ausgegeben hat. Es spielt zwar keine Rolle, aber ich war überhaupt nicht interessiert an der Blondine am Nebentisch und hätte ihr Angebot auch nicht angenommen, wenn ich Single gewesen wäre. Ja, ich weiß, Olivia ist eine klassische Blondine, genau wie die Frau mit dem Zettel, und wahrscheinlich denkt sie, dass ich total auf Blondinen stehe. Aber ehrlich gesagt ist genau das Gegenteil der Fall. Ich würde eine braunhaarige Schönheit mit dunklen Augen jeder Blondine vorziehen. Mir kommt es fast so vor, als wäre ich genetisch auf diesen Typ Frau programmiert.
Aber selbst wenn ich nur auf Frauen wie Olivia stehen würde – denkt sie wirklich, dass ich eine andere Frau anmachen würde, während ich mit meiner Freundin unterwegs bin? Hält sie mich für einen solchen Mistkerl? Das darf ja wohl nicht wahr sein. Ich habe mittlerweile auch überhaupt keine Lust mehr auf One-Night-Stands. Die gehören der Vergangenheit an. Mittlerweile möchte ich jeden Zentimeter einer Frau, die mich interessiert, kennenlernen – und zwar Nacht für Nacht.
Ich nehme noch einen Schluck von meinem Drink.
Nichts hasse ich mehr als den Vorwurf, ich würde betrügen. Das habe ich Olivia schon tausendmal gesagt: Ich betrüge nicht. Ich bin schließlich ein Morgan, und wir Morgans betrügen nicht. Nicht unsere Frauen. Nicht beim Sport. Nicht in der Schule oder im Beruf. Und nicht einmal bei einem dummen Bier-Pong-Spiel. Okay, ich rufe nicht gleich wie ein Blöder: »Ich habe eine Freundin!«, sobald mich eine Frau auch nur anlächelt oder zu mir sagt: »Hey, wir kennen uns doch aus dem Fitnessstudio, oder?« Das tue ich nicht. Aber gehe ich deswegen mit jeder Frau, die mit mir flirtet, ins Bett? Nein. Erstens würde ich auf diese Weise mit zwanzig Frauen am Tag ins Bett gehen – ich bin schließlich Immobilienmakler und treffe jeden Tag die unterschiedlichsten Menschen, darunter auch einige sehr attraktive Frauen. Und zweitens, ich weiß nicht, ob ich das schon erwähnt habe, betrüge ich meine Freundinnen nicht!
Ich leere mein Glas in einem Zug und stelle es lautstark auf dem Tisch ab.
Das geht so nicht weiter. Das Leben ist zu kurz, um so schlecht gelaunt zu sein. Ich bin durch damit. Und genau das habe ich Olivia auch gesagt, bevor ich aus ihrer Wohnung gestürmt und hierhergekommen bin. Und ich habe jedes Wort genau so gemeint – egal, was Olivia denkt.
Ich nehme mein Handy von der Theke und schreibe ihr eine kurze Nachricht.
Ich habe gemeint, was ich gesagt habe. Wir müssen reden. Bist du später zu Hause? Dann komme ich vorbei.
Am liebsten würde ich noch hinzufügen: Leck mich! Ich habe diesen Albtraum von einer Beziehung so satt, du irre Kuh! Aber das tue ich natürlich nicht, denn meine liebe Mutter würde mich umbringen, wenn sie herausfinden würde, dass ich ein Mädchen mit einer Textnachricht abserviere – ganz zu schweigen von den Ausdrücken »Leck mich« und »irre Kuh«.
»Noch einen?«, fragt mich Tim, der Barkeeper, und deutet auf mein leeres Glas.
»Klar. Danke.«
Ich schreibe eine weitere Nachricht, diesmal an meinen kleinen Bruder, den Hellseher. Auch wenn ich weiß, dass er mir nicht so schnell antworten wird – Keane ist wirklich schlecht darin, auf Nachrichten zu antworten.
Hey, Peenie, schreibe ich. Weißt du noch, was du mir vor zwei Monaten auf dem Green Lake über Ms Perfect gesagt hast? Was für ein Scheiß, aber ich schulde dir fünfzig Dollar. Ich habe heute mit ihr Schluss gemacht. Würdest du es bitte Colby sagen? Mir ist es zu peinlich, es ihm selbst zu schreiben. Sag ihm, dass ich nie wieder an meinem Meister Yoda zweifeln werde.
Ich lege mein Handy auf den Tresen und blicke mich noch mal um. Josh ist definitiv zu spät. Also nehme ich mein Handy wieder in die Hand und schreibe ihm: Hey, Lambo. Steht unser Treffen in der Pine Box noch? Ich sitze an der Bar.
Ein paar Minuten lang mache ich Small Talk mit dem Barkeeper, dann klingelt mein Handy, Josh ruft an.
»Hey, Mann«, sage ich, als ich ans Telefon gehe. »Was geht ab?«
»Es tut mir leid, Ryan. Ich wollte gerade das Haus verlassen, als Kat angefangen hat, sich zu übergeben wie der Exorzist persönlich.«
»O Mann, arme Kat. Meine Mom hat gesagt, sie hat echt zu kämpfen mit dieser Übelkeit. Sag ihr, dass ich hoffe, dass es ihr bald besser geht.«
»Sorry, dass ich dir nicht früher geschrieben habe. Ich habe mich um Kat gekümmert und dabei die Zeit vergessen. Ich würde sie heute Abend nur ungern alleine lassen.«
»Nein, nein, bleib auf jeden Fall bei ihr«, sage ich. »Das überrascht mich übrigens überhaupt nicht. Hat Kat dir erzählt, dass einer ihrer vielen Spitznamen als Kind ›Kotzaholikerin‹ war?«
Josh lacht. »Warum kommst du nicht einfach zu uns? Ich würde trotzdem gern noch einen trinken, und ich bin mir sicher, dass Kat dich nur allzu gerne ankotzen würde. Ich habe einen Billardtisch und eine gut bestückte Bar.«
»Klingt toll«, antworte ich. »Vielleicht könnten wir Kats Elend zu einem Trinkspiel umfunktionieren. Jedes Mal, wenn Kat kotzt, müssen wir einen trinken, und wenn sie Kotze in den Haaren hat, müssen wir einen doppelten nehmen.«
»Ja, und dann rennen wir um unser Leben, denn Kat wird auf uns losgehen, wenn wir dieses lustige Spiel spielen.«
»Du hast recht. Kein gutes Trinkspiel.« Ich muss schmunzeln. »Du hast also schon herausgefunden, dass meine Schwester definitiv in der Lage ist, einen Mord zu begehen, wie?«
»Ihr nennt sie Kotzaholikerin, ich nenne sie Madame Terroristin.«
Ich lache laut auf. »Das muss ich mir merken.«
»Hey, wäre es für dich in Ordnung, wenn ich meinen Bruder und seine frisch Vermählte auch zu uns einladen würde? Jonas will unbedingt einen der berühmten Morgan-Brüder kennenlernen, von denen ich die ganze Zeit rede.«
»Natürlich. Ich würde ihn auch gerne kennenlernen.«
»Seine Frau Sarah kennst du ja schon, oder?«
»Ja, Sarah und ich waren in den letzten Jahren öfter zusammen auf Partys. Meistens bei Kats Geburtstagen. Sarah ist eine tolle Frau.«
Und eine verdammt scharfe, sollte ich vielleicht noch hinzufügen. Ehrlich gesagt, ist die beste Freundin meiner Schwester genau mein Typ Frau: dunkles Haar, olivfarbene Haut, große braune Augen und hammermäßige Kurven. Ich meine, ich liebe alle Frauen (und ich danke Gott dafür, dass er sie in all ihrer Vielfalt erschaffen hat), aber die Sarah Cruzes dieser Welt haben es mir am meisten angetan. Zu Sarahs umwerfender äußerer Erscheinung kommen noch ihre Scharfsinnigkeit, ihre Intelligenz und ihr bemerkenswerter Sinn für Humor. Ich muss zugeben, ich fand sie schon immer verdammt heiß.
Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich Sarah zum ersten Mal vor drei oder vier Jahren auf der Geburtstagsfeier von Kat getroffen, aber Kat hat dem Ganzen sofort einen Riegel vorgeschoben. »Lass die Finger von meiner besten Freundin, Bacardi«, hat Kat mich mit strenger Stimme gewarnt. »Kein Morgan-Penis wird ins Innere meiner besten Freundin gelangen, außer besagter Morgan hat die Absicht, sie zu heiraten und vor Gott zu meiner Schwägerin zu machen. Und wir wissen beide, dass das in absehbarer Zukunft nicht geschehen wird, wenn man bedenkt, was für eine männliche Schlampe du bist. Ich werde nicht zulassen, dass der größte Playboy unter meinen Brüdern meiner besten Freundin das Herz bricht und ich mich dann entscheiden muss, wen von euch beiden ich in Zukunft auf meine Geburtstagsfeiern einlade.« Ich war damals ein kleiner Junge von vierundzwanzig Jahren, und Kat hatte absolut recht damit, dass ich nicht im Traum daran dachte, mich fest an ein Mädchen zu binden – selbst nicht an ein so unglaubliches Mädchen wie Sarah Cruz. Also habe ich mich an die Regel meiner Schwester gehalten und ihre beste Freundin in Ruhe gelassen. Stattdessen habe ich mich im kommenden Jahr damit getröstet, mir immer wieder Frauen zu suchen, die Sarah ähnlich sahen. Aber keine von ihnen kam ans Original heran.
»Dann sehen wir uns gleich«, sagt Josh. »Ich schreib dir die Adresse.«
»Prima«, antworte ich. »Ich muss vorher nur noch kurz eine kleine Sache zu Ende bringen. Aber dann komme ich zu euch.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Bald. Kein großes Ding.«
»Lass dir Zeit. Wir sind hier.«
Ich stecke mein Handy in die Tasche, zahle die Rechnung und will mich auf den Weg zu Olivia machen, um ihr klipp und klar zu sagen, dass es aus ist zwischen uns. Aber dann sehe ich zwei Frauen, und mir bleibt die Luft weg. In der Eingangstür stehen zwei Flugbegleiterinnen – eine kurvige Brünette und eine kleine Rothaarige, und die Brünette ist wirklich der absolute Wahnsinn. Dunkles Haar. Olivfarbene Haut. Kurven, die einen Mann in die Knie gehen und Gott dafür danken lassen, dass er dieses Geschöpf erschaffen hat.
Einen Augenblick lang stehe ich wie versteinert da und starre die brünette Granate in der Tür an. Mein Penis zuckt, meine Brust zieht sich zusammen, und vor meinem inneren Auge erscheint plötzlich das Bild, wie ich diese Frau von hinten nehme, während ich mit einer Hand ihr Haar und mit der anderen ihre Brust packe … Langsam trete ich einen Schritt zurück und lasse mich wieder auf meinen Barhocker fallen.
Die scharfe Brünette sieht sich nicht im Raum um, aber ihre Freundin tut es sehr wohl. O ja, die kleine Rothaarige ist definitiv der Scout in diesem Duo. Sie checkt die Bar und jeden Mann darin ab wie eine hungrige Löwin ihre Beute. Ihr Blick wandert von einem zum anderen, sie überlegt, sie ist auf der Jagd. Und dann … bam. Die Augen der Löwin bleiben an mir hängen. Sie wirft mir ein strahlendes Lächeln zu, und ich lächle ganz leicht zurück.
Die Rothaarige packt den Arm ihrer heißen Freundin, als würde sie einem Verbrecher Handschellen anlegen, und flüstert ihr etwas ins Ohr. Die scharfe Brünette flüstert etwas zurück, hat ihren Kopf aber von mir abgewandt. Jetzt flüstert ihr die Rothaarige wieder irgendwas ins Ohr.
So geht es zwischen den beiden hin und her, und ich rutsche ungeduldig auf meinem Hocker herum. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass die zwei Frauen über mich reden. Zumindest hoffe ich das sehr.
Endlich verstummen sie, und die scharfe Brünette beginnt sich ebenfalls im Raum umzuschauen. Sie betrachtet alles und jeden außer mich. Dieses gerahmte Bild an der Wand von der Skyline von Seattle ist aber auch faszinierend. Okay, sie sieht absichtlich nicht zu mir – sie tut so, als ob ich ihren Blick nicht wie einen Magneten auf mich ziehen würde. Ist schon gut, Süße, spiel ruhig dein Spielchen. Ich kann warten.
Jetzt wandert ihr Blick doch ganz langsam zur Bar und in meine Richtung.
Immer näher.
Gleich sieht sie mich.
Moment. Was soll das denn? Sie hat bereits den kompletten Tresen abgecheckt, ohne dass ihr Blick an mir hängen geblieben wäre. Sie hat so schnell weggeschaut, dass ich ihr nicht einmal ein kleines Lächeln zuwerfen konnte.
Ich schaue nach links. Direkt neben mir sitzen ein Mann und eine Frau, die zwei Barhocker auf ihrer anderen Seite sind noch frei. »Entschuldigung, könntet ihr vielleicht zwei Plätze weiterrutschen?«, frage ich den Mann. »Ich bräuchte zwei freie Hocker neben mir.« Ich deute auf die beiden Frauen am Eingang, und der Mann grinst mich breit an.
»Na klar«, sagt er und steht auf. »Viel Glück.«
Eine deutlichere Einladung braucht die Rothaarige nicht. Ohne zu zögern, packt sie ihre Freundin wie ein ungezogenes Kleinkind am Arm und zieht sie zu den zwei freien Barhockern.
Komm zu Papa, Baby.
Die scharfe Brünette hält ihren Kopf gesenkt, während sie näher kommt. Das gibt mir die Möglichkeit, sie ungehindert zu betrachten. Als sie nur noch wenige Schritte von mir entfernt ist, blickt sie plötzlich auf und schaut mir direkt in die Augen. Verdammt. Sie sieht mich lange genug an, dass ich weiß, dass es um mich geschehen ist.
Ich lächle sie an, und das Herz schlägt mir bis zum Hals.
Die scharfe Brünette erwidert mein Lächeln und blickt dann schnell wieder weg. Ihre Wangen glühen. Ich habe in ihren Augen meine Zukunft so deutlich gesehen wie in einer Kristallkugel: Ich bin Captain Ahab, und diese wundervolle Frau ist mein Wal. Und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann, verdammt.