Ein Papa ist keine Mama
Was ein Baby von seinem Vater braucht
Patmos Verlag
Dr. Josephine Schwarz-Gerö war jahrelange Leiterin der Säuglingspsychosomatik an der Kinderabteilung Wilhelminenspital in Wien und ist derzeit niedergelassene Psychotherapeutin und Kindertherapeutin mit einer Lehrtätigkeit an der Universität Wien und der Wiener Sigmund Freud Privatuniversität. Bei Patmos ebenfalls erschienen: Baby, warum isst du nicht? Essprobleme verstehen und lösen.
Der Papa ist für ein Baby und Kleinkind ein wichtiger Motor der Entwicklung. Dabei ist seine Rolle tatsächlich eine ganz andere als die der Mutter. Das zeigen neueste entwicklungspsychologische Erkenntnisse. Die Mutter ist der Hafen, der Schutz und Geborgenheit bietet. Der Vater ist die Meeresbucht vor dem Hafen. Hier lernt das Kind Entdeckerfreude und Autonomie, ist aber immer noch geschützt.
Josephine Schwarz-Gerö erklärt, wie Vater und Mutter ihre jeweilige Rolle so ausfüllen, dass es allen in der Familie gut geht. So lassen sich Elternkonflikte vermeiden und auch viele Schrei-, Schlaf- und Essprobleme lösen. Mit vielen Fallbeispielen und Tipps!
Auch als Printausgabe erhältlich.
www.patmos.de/ISBN978-3-8436-1092-6
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ISBN 978-3-8436-1092-6 (Print)
ISBN 978-3-8436-1110-7 (eBook)
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Vorwort
I. DIE GROSSEN ZUSAMMENHÄNGE
1. Einführung
Die frühe Kindheit
Das erste Lebensjahr
Vater und Gesellschaft
2. Was die Wissenschaft über Babys und Eltern herausgefunden hat
Säuglingsforschung und Co
Über die Sprachentwicklung
Bindung und Hierarchie
Wer ist Mutter? Wer ist Vater?
II. DIE GROSSE AUFGABE DES VATERS
3. Über Autos und Autonomie
Ein Auto fährt »selbst«
Projekt Vater: ein Dreistufenplan
4. Im sicheren Hafen: Zeit der Mutter 0–6 Monate
Mutterliebe
Die große Ausnahmezeit
Oma ist nicht gleich Oma
Wenn das Baby schreit
Ernährung
Aufgabenteilung – wickeln oder nicht?
5. Auf Übungsfahrt: Zeit des Vaters 7–12 Monate
Mit Papa zu zweit
Ich und du
Neue Regeln – Vaterspiel
Eine Besonderheit der Vaterrolle
6. Familie auf Kurs: Zeit des Gleichgewichtes 13–36 Monate
Wenn das Baby nicht mitmacht
Zwei und zwei sind nicht drei
Zu dritt
Grenzen und Manieren
7. Wenn die Route nicht stimmt – Klippen und Verirrungen
Der Vater als Autorität
Die Sonderstellung der ersten sechs Monate nicht beachten
Zu früh mit dem geplanten Familienmodell starten
Beibehalten der Sonderregeln
Allein gelassen
Gespenster im Kinderzimmer
Moderne Medizin und frühe Kindheit
III. DIE KLEINEN DETAILS
8. Mit dem Baby sprechen
Bei Handlungen sprechen
Spiegelndes Sprechen
»Machst du mit?« – Über das Fragenstellen
»Lass das!« – Befehlsform
»Was machen wir da?« –Konflikte regeln
9. Sinnvolle Zusammenhänge
Mit Spielzeug spielen
Handlungspläne
Selbstwirksamkeit
Über Zeitpunkte und Reihenfolgen
Papa ist anders als Mama
Entscheidungen über das Kind – die gemeinsame Schatzkarte
Schluss
Dank
Literatur
Über die Autorin
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Ahnert, L.: Wieviel Mutter braucht ein Kind? Spektrum, Heidelberg 2010.
Ainsworth, M.: Patterns of Attachment. A psychological study of the Strange Situation. Erlbaum, Hillsdale 1978.
Badinter, E.: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. Piper, München 1999.
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Bower, T.: Die Wahrnehmungswelt des Kindes. Klett-Cotta, Stuttgart 1978.
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Brazelton, T. / Cramer B.: Die frühe Bindung. Klett-Cotta, Stuttgart 1991.
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Schwarz-Gerö, J.: Baby, warum isst du nicht? 3. Aufl. Patmos, Ostfildern 2017.
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Snow, C.: »Mother’s speech to children learning language”. Child Development 43 (2), 1972, S. 549–565.
Stern, D.: Die Lebenserfahrung des Säuglings. 11. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart 2016.
Stern, D.: Mutter und Kind: Die erste Beziehung. 5. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart 2000.
Stone, J. / Smith, H. / Murphy, L.: The Competent Infant. Basic Books, New York 1973.
Thiel, Th.: Film und Videotechnik in der Psychologie. Eine Entwicklungsgeschichte aus erkenntnistheoretisch-methodischer Perspektive. In: Keller, H. / Rümmele, A. (Hg.), Handbuch der Kleinkindforschung, 4., vollständig überarb. Auflage, Hans Huber, Bern 1997, S. 792–819.
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Tyson, P. / Tyson, R.: Lehrbuch der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie. Kohlhammer, Stuttgart 2001.
Winnicott, D. W.: Vom Spiel zur Kreativität. 14. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart 2015.
Winnicott, D. W.: Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Psychosozial-Verlag, Gießen 2018.
Zimprich, H. (Hg.): Kinderpsychosomatik. Thieme, Stuttgart 1995.
Zollinger, B.: Spracherwerbstörungen: Grundlagen zur Früherfassung und Frühtherapie. Haupt, Bern 2008.
»Ich höre das zum ersten Mal«, oder: »Das ist aber nicht allgemein bekannt?!« Viele Väter reagieren erstaunt, wenn man die Bedeutung und Rolle des Vaters einmal aus Sicht des Babys und der frühen Entwicklungspsychologie her betrachtet.
Was Fachleuten durchaus schon länger bekannt ist, scheint die betroffenen jungen Familien noch nicht wirklich erreicht zu haben. Es gibt ausreichend Bücher für Väter älterer Kinder. Versucht man aber die dort gegebenen Empfehlungen von Beginn an anzuwenden, scheinen sie nicht wirklich zu passen. Die Anfangszeit folgt anderen Regeln. Hier werden die Weichen für die spätere Zeit erst gelegt.
Dieses Buch, das sich speziell mit der besonderen Lebensphase von 0–3 Jahre beschäftigt, war ursprünglich als Leitfaden nur für Väter gedacht. Während des Schreibens erging es mir aber zunehmend so, wie es eben auch Vätern ergeht: Man kann das Baby nicht ohne Mutter verstehen.
Insofern ist es auch ein Buch für Mütter geworden und letztendlich ein Buch über das Zusammenspiel der Kräfte beider Eltern, damit das magische Dreieck Vater – Mutter – Kind gelingt. Die hier enthaltenen Strategien und Tipps sind als Ergänzung zu verstehen – sie ersetzen nicht bisherige mütterliche Strategien und diesbezügliche detaillierte Ratgeber. Sie fügen nur jene Bereiche, bei denen es speziell auf den Vater ankommt, hinzu.
Auch bei der Strukturierung des Buches, nämlich bei Reihenfolge und Inhalt der einzelnen Kapitel, erging es mir ähnlich, wie es Familien in der Anfangszeit ergeht. Wie soll aus drei verschiedenen Teilen, dem Kind, der Mutter und dem Vater, ein Ganzes – nämlich eine Familie – werden? Wie die einzelnen Abschnitte aufbauen, wenn diese doch von Anfang an schon miteinander vernetzt sind und eines das andere laufend beeinflusst? Jeder Einzelne für sich hat seine eigenen Bedürfnisse und Spielregeln. Gleichzeitig wurzeln darin aber auch schon wieder jene der anderen. Der Aufbau dieses Buches folgt deshalb in vielen Bereichen dem natürlichen Prinzip des Wachstums.
Als Leiterin einer Säuglingspsychosomatik war ich jahrelang konfrontiert mit Belastungen, die Eltern und Kinder in den ersten drei Lebensjahren betreffen können. In vielen Fällen war das Miteinbeziehen des Vaters geradezu die Schlüssellösung solcher Probleme. Dabei ging es vor allem um die Klärung seiner vielfältigen Rollen als Vater, seine Funktion im kindlichen Entwicklungsprozess und die vielen kleinen Details des Alltages, die auf ein Baby oder Kleinkind Einfluss nehmen. Dass sich dabei, gleichsam ganz nebenbei, auch viele typische Konflikte zwischen Mutter und Vater auflösen lassen, ist das Überraschende dabei.
Die hier im Buch beschriebenen Fallgeschichten stammen aus der Praxis und sind wahre Begebenheiten. Um die Identitäten dieser Familien zu schützen, wurden aber Namen und genauere Umstände verändert.
Vieles, was ich im Rahmen meiner Tätigkeit individuell mit einzelnen Vätern besprochen habe, ist in diesem Buch zusammengefasst. Es beschreibt die typischen »Fallen«, die sich für junge Eltern manchmal ergeben, aber auch wie man sie vermeidet oder die passenden Lösungswege findet. Wenn man die Klippen und Fallstricke dieser Lebensphase kennt, kann man sie vermeiden. Ist man bereits hineingetappt, so gibt es auch wieder Wege hinaus. Hilfreich kann es aber auch sein, einfach nur eine Bestätigung zu bekommen, dass man eigentlich auf ganz passendem Kurs ist. Vieles, was Väter rein intuitiv tun, wird weder von der Partnerin noch gesellschaftlich in seinem Wert ausreichend erkannt und gewürdigt – manchmal nicht einmal von ihnen selbst.
Schon in meinem ersten Buch Baby, warum isst du nicht? habe ich versucht, die Bedeutung des Vaters herauszuarbeiten. Viele Gedanken dazu und Zusammenhänge, sind aber offengeblieben. Es waren junge Väter der ORF-Redaktion »Thema«, die mich letztendlich motivierten, mich hinzusetzen und dieses »Vater-Buch« auch wirklich zu schreiben. Als ich im Rahmen eines Interviews versuchte, Funktion und Aufgaben von Vätern kleiner Kinder in Kürze zusammenzufassen und dabei auch bisher übliche Sichtweisen hinterfragte, gab es erstaunlich positive Reaktionen. Was ich sagte, schien eine Art Erleichterung auszulösen. Es scheint ein vages und möglicherweise berechtigtes Unbehagen zu geben, das so mancher Vater in sich herumträgt.
Meine ersten beruflichen Erfahrungen mit Vätern machte ich bereits in meiner Ausbildung zur Kinderärztin. Eine Zeit lang war es damals meine Aufgabe, nach operativen Geburten das Kind zu versorgen und dann dem Vater zu bringen. Jeder dieser Väter war natürlich gerührt, als er sein Kind zum ersten Mal sah. Aber jeder, egal aus welcher Gesellschaftsschicht, stellte anschließend sofort die immer gleiche Frage: »Wie geht es meiner Frau?«
Was mir in diesen berührenden Situationen noch auffiel, war, dass ein Großteil der Männer von sich selbst heraus nicht die Arme ausstreckte, um das Baby von mir zu übernehmen. Nachdem ich eine Zeit lang zuerst fragte: »Wollen Sie es halten?«, und unsichere Gegenfragen wie »Darf ich das denn?« erhielt, änderte ich meine Strategie: Ich fragte nicht mehr. Ich legte das Neugeborene einfach dem Vater in den Arm. Die Tränen der Rührung, die dann regelmäßig bei den Vätern flossen, begleiten mich noch heute.
»Was das Kind betrifft, das entscheidet alleine meine Frau.«
»Meine Frau und ich machen alles gleich.«
»Also, es kann doch nicht sein, dass die Mutter alles bestimmt!«
»Ist es nicht meine Aufgabe, dem Kind Grenzen und Manieren beizubringen?«
Das Selbstverständnis vieler Väter bezüglich ihrer Vaterrolle zeigt sich manchmal nur in solchen Nebensätzen. So unterschiedlich, direkt widersprüchlich diese Väter auf den ersten Blick auch wirken mögen: überraschenderweise hat jeder von ihnen – zumindest auf eine gewisse Weise – recht.
Alle diese Haltungen sind Teilstücke der väterlichen »Job-Beschreibung«. Jeder dieser Sätze hat seinen berechtigten und sinnvollen Platz n der väterlichen Welt. Es sind passende Puzzleteile. Um die Widersprüche aufzulösen, muss man sie allerdings in Relation zum Faktor Zeit bringen. Die Kernfrage dazu lautet: Wie alt ist denn das Kind, um das es dabei geht?
Bereits im ersten Lebensjahr eines Babys können – nacheinander – ganz unterschiedliche Grundhaltungen des Vaters ihren absolut passenden Platz finden.
Gibt es Probleme in der jungen Familie – dazu zählen Konflikte zwischen dem Elternpaar ebenso wie spezielle Sorgen das Baby betreffend – und fragt man Väter dann gezielt nach ihrer Sicht, so fassen sie es mitunter so zusammen: »So habe ich mir das mit Kind und Familie eigentlich nicht vorgestellt!« »Meine Frau hat sich total verändert!« »Mit dem Kind, geht es mir eh gut – meine Frau ist das Problem.«
Anscheinend verzweifeln nicht nur Mütter an einer Doppelfunktion. Auch Väter erleben Vergleichbares. Ist es für Mütter der oft beschrieben Konflikt, Kind und Beruf unter einen Hut zu bringen, so scheint es für junge Väter die Doppelrolle zu sein – einen Beruf zu haben und gleichzeitig den Bedürfnissen einer Partnerin, die Mutter geworden ist, gerecht zu werden.
Das Dilemma, das Väter zu lösen haben, hat einen tiefen Zusammenhang mit der frühkindlichen Entwicklung: Vieles aus der Vaterwelt ist für das kleine Kind nur dann nutzbar, wenn es nicht gleichzeitig die Beziehung zu seiner Mutter bedroht. Gleichzeitig liegt aber für das kleine Kind eine der zentralen Bedeutungen des Vaters darin, dass er einerseits vertraut, aber eben auch anders als die Mutter ist. Bereits im zweiten Halbjahr wird die Andersartigkeit des Vaters direkt zu einem Motor der kindlichen Entwicklung. Es bekommt einen Wert, dass der Vater andere Lösungen findet, andere Prioritäten setzt, andere Sichtweisen einbringt. Dass er eben nicht die Mutter ist. Die Quadratur des Kreises liegt für Väter also darin, einerseits im Einvernehmen mit der Mutter und andererseits trotzdem selbstbewusst anders zu sein.
Wissen beide Eltern über die Bedeutung ihrer unterschiedlichen Rollen Bescheid, so können sie einander darin gegenseitig ganz bewusst stärken. Die Kraft, die im ausbalancierten Zusammenspiel der Eltern steckt, scheint in der heutigen Zeit immer wichtiger zu werden. Sowohl gesellschaftliche Veränderungen als auch die Fortschritte der Medizin verändern zunehmend die Startbedingungen junger Familien. Nicht wenige Babys, die nicht essen, schlecht schlafen oder viel schreien, haben eine medizinische Vorgeschichte. Viele dieser Babys können auch unerwartete Bedürfnisse und Verhaltensweisen zeigen. Betrachtet man die Rolle des Vaters aus Sicht des Babys und dessen entwicklungspsychologischen Bedürfnissen, ergeben sich klare Zeitabläufe.
Auch die Säuglingsforschung hat Informationen zu bieten. So zeigt die Bindungstheorie, dass Babys anfangs eine klare Hierarchie ihrer Bezugspersonen aufbauen. Das hilft schon einmal in der (anfänglichen!) Rangfolge. Langzeitstudien darüber, welche Faktoren Kinder zu einem glücklichen und erfüllten Leben ausrüsten, führen wiederum zurück zu der sehr frühen Kindheit und so etwas wie einem Doppelsystem. Es gibt eine Polarität mit einem mütterlichen und einem väterlichen Prinzip.
Die ersten drei Lebensjahre sind eine spezielle Zeit. Und das erste Lebensjahr ist die Ausnahme dieser Ausnahmezeit. Es ist eine Zeit des Werdens. Das gilt nicht nur für das Baby, sondern für die ganze Familie.
Ganz allgemein kennzeichnet die frühe Kindheit eine Eigentümlichkeit: Wir alle haben sie erlebt, aber keiner kann sich daran erinnern. Während viele Menschen an ihre Jugend noch sehr lebhafte Erinnerungen haben und manche auch Szenen aus ihrer Grundschulzeit, einige sogar aus ihrem Kindergarten erzählen können, ist die Zeit davor verhüllt.
Der österreichische Gedächtnisforscher und Nobelpreisträger Eric Kandl kann das Phänomen erklären: In einem Alter von unter achtzehn Monaten gibt es kein bewusstes Gedächtnis. Es fehlen einfach noch die entsprechenden Hirnstrukturen. Es ist gar nicht möglich, sich gedanklich an die Zeit unter eineinhalb Jahren zurückzuerinnern.
Während Eltern also bei der Erziehung größerer Kinder auch ihre eigenen bewussten
Erinnerungen zu Rate ziehen können – was hat einem selbst als Kind gutgetan? Was hat einen damals gekränkt? –, so geht das in den ersten eineinhalb Jahren nicht.
Und es ist noch komplizierter! Was man in der eigenen frühen Kindheit erlebt hat, ist nicht einfach verschwunden. Es ist trotzdem irgendwie noch da. Auch das hat die Gedächtnisforschung herausgefunden: Erlebnisse dieser Zeit werden im Gefühlssystem abgespeichert. Wir haben Erinnerungen an diese Lebensphase – aber eben nur gefühlsmäßig.
Nehmen Eltern also in den ersten Monaten nach Geburt ihres Kindes unerklärliche Emotionen, Verhaltensweisen und Veränderungen an sich selbst oder ihrem Partner wahr, so können diese direkt mit diesem Phänomen zusammenhängen. Alte Stimmungen und Empfindungen aus der eigenen Vergangenheit werden gleichsam wieder erweckt.
Wir alle bekommen in unserer frühen Kindheit eine Art Blackbox übergeben, deren Inhalt wir später nicht mehr kennen, und geben diese an unsere Kinder, in deren frühen Kindheit, weiter. Und auch diese werden sich nicht mehr bewusst erinnern können.
Eine der Besonderheiten dieser Zeit ist, dass prinzipiell andere Spielregeln herrschen als später in der Familie. So wie es zu Anfang ist, wird es nicht bleiben. Das gilt nicht nur dem Baby gegenüber. Das ist auch bedeutsam für die Partnerschaft zwischen den Eltern. Wie immer sich Eltern ihr späteres Familienleben und ihre Paarbeziehung auch vorgestellt haben – derzeit wird erst daran gebaut. Erst wenn die Wände hoch genug sind, kommt das Dach darauf.
Nie wieder wird das Tempo der kindlichen Entwicklung so rasant sein. Schon das erste Lebensjahr ist ein Wunder! Ob ein Kind später dann einmal sieben oder acht Jahre alt ist, wird nicht so eine große Rolle spielen. Aber wie gravierend ist doch der Unterschied zwischen einem Neugeborenen und einem Einjährigen! Innerhalb eines Jahres wird aus einem kleinen Wesen, das nur zwanzig Zentimeter weit scharf sehen konnte, seinen Körper nicht bewusst bewegen, sich nicht aufsetzen, ja nicht einmal seinen eigenen Kopf halten konnte, ein – im wahrsten Sinne des Wortes – eigenständiges Persönchen. Es will dann nicht nur auf eigenen Beinen stehen, sondern auch eigene Pläne entwickeln und diese umsetzen.
Erwachsene sind auf so eine atemberaubende Schnelligkeit oft gar nicht eingerichtet. Speziell im Berufsleben fliegen die Jahre oft nur so dahin. Wir wundern uns, dass wir schon wieder einmal Weihnachtsgeschenke einkaufen müssen. Während in unseren Augen das Baby also weiterhin das gleiche Baby ist, hat es sich in Wirklichkeit schon wieder verwandelt und verändert. Manchmal merkt man es nur an der notwendigen neuen Babykleidung: Jetzt ist es schon wieder gewachsen!
Im ersten Lebensjahr wird ein Baby nicht nur sein Geburtsgewicht verdreifachen und motorisch mobil werden. Neben diesen großen, unübersehbaren Fortschritten werden sich noch viel eindrücklichere, aber unsichtbare Veränderungen ablaufen.
Um bei Babys Entwicklung halbwegs Schritt halten zu können, hat es sich bewährt diese beschleunigte Lebensphase in Abschnitte zu gliedern. Kinderärzte orientieren sich meist an den sogenannten Meilensteinen der Entwicklung (vgl. dazu auch die »Darstellung der kindlichen Entwicklung« am Ende des Buches). Hat es schon das erste Mal gelächelt? Kann es sich schon umdrehen? Sitzt es schon frei? Zieht es sich auf? Kann es schon gehen? Ganz allgemein kann man alle drei Monate mit gravierenden Neuigkeiten rechnen.
Für Väter besonders bedeutsam ist die große Veränderung, die mit sechs Monaten beginnt. Sinnvoll ist es, wenn Väter hier zwischen einer Zeit davor und einer Zeit danach unterscheiden.
Betrachtet man es entwicklungsgeschichtlich, so sind Babys in den ersten sechs Monaten eigentlich noch sogenannte »physiologische Frühgeburten«. »Physiologisch« bedeutet hier naturgegeben, sozusagen normal. Die medizinische Idee dazu ist, dass wir Menschen anscheinend früher auf die Welt kommen als andere vergleichbare Lebewesen. Unser Kopf wäre sonst zu groß für eine normale Geburt.
Psychologisch gesehen gehört das Baby bis zum sechsten Monat in vielerlei Hinsicht sozusagen noch in Mutters Bauch. Das große Erlebnis der körperlichen Geburt hat zwar schon stattgefunden, man kann das Baby auch schon sehen und halten. Trotzdem gelten vielfach noch ähnliche Bedingungen wie auch während der Schwangerschaft. Die Devise lautet: Zwei sind eins. Und dementsprechend fühlen sich sowohl Babys als auch Mütter – sowohl die Mutter als auch das Baby verstehen sich in der Anfangszeit in weiten Bereichen nicht einzeln und individuell, sondern als zwei in einem. Sie sind eine Zweiheit. Wie es dem einen geht, geht es dem anderen. Das Baby als Teil ihrer selbst zu verstehen, gehört zu der anfänglichen Mütterlichkeit. Ein so kleines Baby alleine für sich wäre auch gar nicht lebensfähig.
Den Zeitpunkt der großen Veränderung dieser Lebensphase exakt bei sechs Monaten festzulegen, ist natürlich eine Vereinfachung. Wie fast bei allem, was mit Babys zu tun hat, gibt es auch hier eine gewisse natürliche Bandbreite. Manche Babys erreichen diese Phase unerwartet früh, bereits mit fünf Monaten. Andere lassen sich Zeit und erreichen sie erst mit neun Monaten oder sogar noch später. Es gibt also eine bequeme Übergangsfrist, in der sich alle Beteiligten nach und nach auf neue Spielregeln einstellen können.
Trotzdem ist die Grenzlinie bei sechs Monaten zu legen eine hilfreiche Gedankenstütze. Auch viele andere Veränderungen dieser Altersgruppe weisen direkt auf diese Grenze hin. Beispielsweise empfehlen Kinderärzte für genau dieses Alter den großen Schritt der Ernährungsumstellung. Oft kommen um diese Zeit die ersten Zähne. Es geht um das Ausklingen des Stillens und den Beginn der Beikost. Das ist kein zufälliger Termin, den sich Kinderärzte willkürlich irgendwie ausgedacht haben. In diesem Alter sind Babys Organe ausgereift und benötigen eine Umstellung. Was da so locker empfohlen wird, ist genau betrachtet eigentlich ein fundamentaler Systemwechsel: Es heißt, die Zeit des Säuglings geht zu Ende. Die Zeit des Kleinkindes beginnt.
Aber auch ganz ohne kinderärztliche Empfehlungen merken sowohl Eltern als auch Babys, dass sich etwas geändert hat. »Ich kann sie tagsüber kaum mehr stillen, alles lenkt sie derzeit ab«, berichtet die eine Mutter. »Ja, ich muss mich zum Füttern sogar extra in ein einsames Zimmer setzen«, antwortet die andere. Viele Babys stillen sich zum Beispiel um den siebenten Lebensmonat herum ganz selbstständig ab. »Danke, das war super«, scheinen sie zu sagen, »ab jetzt brauche ich was anderes!«
Nicht nur stillen oder Flasche füttern kann in dieser Zeit schwieriger werden. War es Eltern zum Beispiel in den ersten Monaten durchaus möglich, ihr Baby zu diversen Einladungen und Veranstaltungen mitzunehmen – beim größten Trubel schlief es unter Umständen entspannt im Tragetuch –, so geht das nun nicht mehr so locker. Mit sechs Monaten wird die Außenwelt viel zu interessant. Und wenn es da draußen so spannend ist, ist an Schlaf gar nicht mehr zu denken. Müde brüllende Babys setzen den sozialen Aktivitäten ihrer Eltern jetzt neue Grenzen.
Sogar die doch erfreulichen motorischen Fortschritte bekommen auch ihre Schattenseiten. Wird das Baby gewickelt, bleibt es jetzt nicht mehr ruhig liegen. Denn was man mit sechs Monaten meist auch plötzlich kann, ist – sich umdrehen. Babys vergrößern in diesem Alter ihren Aktionsradius. Sie wollen sitzen lernen und beginnen sich fortzubewegen. Auch die von der Mutter an das Baby geliehenen Abwehrstoffe, die seit der Geburt abgebaut werden, neigen sich nun dem Ende zu. Selbst immunologisch beginnt das Kind dann auf eigenen Beinen zu stehen. Manchmal merkt man das an den ersten Infekten.
Teilt man Babys erstes Lebensjahr also in zwei Hälften, so ergeben sich für Väter bereits hier zwei unterschiedliche Strategien. Während in den ersten sechs Monaten weiterhin Spielregeln wie in der Schwangerschaft gelten und Väter mit der Grundhaltung »Was das Kind betrifft, entscheidet alleine meine Frau« gut beraten sind, ändert sich das im zweiten Halbjahr. Mit sechs Monaten bahnt sich ein fundamental wichtiger nächster Entwicklungsschritt an. Es beginnt eine neue Entwicklungsphase, die bis in das dritte Lebensjahr hinaufreichen wird. Dort kann auch das Grundgefühl mancher Väter: »Die Mutter kann doch nicht alles bestimmen«, seinen passenden Platz finden. Was zu dieser Zeit sowohl Väter als auch Mütter manchmal verunsichert und an ihrer Partnerschaft zweifeln lässt, steht eigentlich in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung ihres Kindes. Könnte dieses schon sprechen, würde es zu dieser Zeit unter Umständen ganz Ähnliches fragen. Nämlich: »Was kann man hier eigentlich selbst bestimmen?«
Väter haben es nicht leicht. Während die Rolle der Mutter in der Anfangsphase in allen Kulturen ziemlich ähnlich angelegt ist, ist die des Vaters variabel. Im Gegensatz zur frühen Mutterrolle ist die des Vaters mehr von der jeweiligen Gesellschaftsform abhängig. Ohne es bewusst zu planen, ist er sozusagen deren erste Abordnung. Dabei geht es weniger darum, wie er diese bewusst aktiv vermittelt, sondern eher darum, was das Kind alltäglich beobachten kann. Es nimmt wahr, was der Vater wie selbstverständlich tut, welche Rolle er in der Familie einnimmt und wie die anderen ihm begegnen.
In welche übergeordnete Gesellschaftsstruktur ist die Familie eingebettet? Herrschen mehr hierarchisch-autoritäre oder demokratische Spielregeln? Wie werden denn ganz grundsätzlich in dieser Gesellschaft Konflikte gelöst? Auf was muss ein Vater sein Kind eigentlich vorbereiten? Geht es in der jeweiligen Gesellschaft um die Entwicklung als Einzelindividuum mit all seinen persönlichen Begabungen und Anrechten? Oder ist es gesellschaftlich erwünscht, dass sich jeder jeweils als ein Teil einer Gruppe versteht und die Bedürfnisse des Clans vorangestellt werden? Bereits in der Altersklasse sieben bis sechsunddreißig Monate, der Entwicklungsphase der Individuation, gibt es dabei beträchtliche kulturelle Unterschiede.
Grundsätzlich gilt, dass jede Kultur die zu ihr passende Form der frühkindlichen Erziehung entwickelt. Wie unterschiedlich die Methoden sein können, verdeutlicht vielleicht folgende kleine Nebenszene, die während eines Terra-Mater-Afrika-Dokumentarfilms über meinen Bildschirm flimmerte:
Es wird die Mahlzeit einer Großfamilie gezeigt. Mittendrin in einem Kreis auf dem Boden sitzender Erwachsener sitzt auch ein kleiner essender Junge. Ich schätze ihn auf nicht einmal zwei Jahre. Plötzlich ist im Bild eine große Männerhand zu sehen. Mit einem Griff schnappt sich die große Männerhand einfach ein Stück Essen des Kindes. Und dann, blitzschnell, geschieht es. Direkt routiniert, ohne auch nur aufzusehen, ohne jede Zeitverzögerung und sogar weiterkauend holt der kleine Junge weit aus und schlägt entschlossen einmal und mit aller Kraft auf die Riesenhand vor ihm. Ebenso prompt öffnet sich die große Hand und lässt das Stück Essen wieder zurückfallen. Die Hand wird zurückgezogen. Ruhig, unaufgeregt und wie selbstverständlich isst das Kind weiter. Im Hintergrund ist das kurze Auflachen eines Mannes zu hören.
Offensichtlich hat der kleine Junge soeben eine auffrischende Lektion in »Nahrungsverteidigung« bekommen. In einem Land, in dem Ressourcen knapp sind, ist dies anzunehmenderweise eine wichtige, vielleicht sogar lebensnotwendige Fähigkeit. Der kleine Junge hat sie mit Bravour gemeistert.
Kinder werden von klein an auf die Gesellschaft vorbereitet, in der sie später leben werden. In Zeiten der Migration und des gesellschaftlichen Wandels birgt dieses Prinzip allerdings auch einige Verirrung und Verunsicherung.
Aber man muss nicht bis nach Afrika oder auf andere Kontinente schauen. Auch innerhalb Europas gibt es bereits große Unterschiede. Während im deutschsprachigen Teil Kleinkinder vor allem zuhause und meist von der Mutter betreut werden, gilt für den französischsprechenden Teil schon lange die Tradition der sehr viel früheren Fremdbetreuung.
Amour
Die gesellschaftlichen Vorgaben sind auch rein praktisch gesehen bedeutsam für die Aufgaben eines Vaters. Es macht einen großen Unterschied, ob seine Familie als Großfamilie oder, so wie meist bei uns im Westen, als Kleinfamilie angelegt ist.
In Großfamilien stehen bereits in der frühesten Kindheit viele verschiedene Personen gleichzeitig zur Auswahl. Je nach Bedarf kann auf Großeltern, Onkel, Tanten, Geschwister, Cousinen und Cousins zurückgegriffen werden. Für Mütter ergibt sich dadurch ganz nebenbei Entlastung und Unterstützung. Dem Baby stehen von Anfang an unterschiedlichste Bezugspersonen, Spielgefährten und Vorbilder zur Verfügung.
In Kleinfamilien hingegen übernehmen Eltern, quasi stellvertretend für all diese Personen, die verschiedensten Aufgaben. Der Anforderungskatalog an Mutter und Vater wird dadurch breiter und bunter. Vor allem für den Vater ergibt sich so ein sehr variationsreiches Rollenbild. Das gilt sowohl dem Kind gegenüber als auch gegenüber der Partnerin.
Dass die gesellschaftlich veränderte Stellung der Frau auch die Aufgaben des Vaters verändert hat, können ältere Leute bestätigen: »Das gab es früher nicht!« Man sieht Väter mit Tragetuch, Väter, die Kinderwagen schieben, oder Väter auf dem Spielplatz. Väter gehen in Karenz- bzw. Elternzeit. In der westlichen Welt ist die patriarchale Rolle der (Ur-)Großväter out. Da ist sich der Großteil der Eltern bereits einig. Seit der vermehrten Berufstätigkeit von Müttern wird das Partnerschaftsmodell favorisiert. Gleiches Recht für alle, gleiche Pflichten. Durch die öffentliche Meinung ging vor kurzem ein Aufschrei, als ein bekannter Sänger öffentlich erklärte, er plane, seinem (noch ungeborenem) Kind, nicht selbst die Windeln zu wechseln.
Die gesellschaftlichen Weiterentwicklungen lassen auch neue Themen auftauchen. In den Medien gibt es Diskussionen über Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare. Definieren sich Mutter- und Vaterrolle am Geschlecht? Und wenn der Vater so wichtig ist – wie machen das dann eigentlich Alleinerziehende?
Verunsicherung und Belastung für junge Familien gibt es aber auch von anderer Seite. Die eigentlich erfreulichen Fortschritte der Medizin haben leider auch Nebenwirkungen. Unter Schlagworten wie Hormonbehandlung, In-vitro-Fertilisation, Frühgeburt oder Leihmutterschaft verbergen sich oft dramatische Geschichten. Es sind neue Hürden – für Väter genauso wie für Mütter und für das Baby selbst.
Wo der Fortschritt neue Fragen aufwirft, gibt es aber glücklicherweise auch Fortschritt bei den Antworten. In unserem Fall kommen sie aus einer jungen Wissenschaft – der Säuglingsforschung.