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Die zwei Gesichter
der Mona Lisa

Christian Rupprecht

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Rupprecht, Christian: Die zwei Gesichter der Mona Lisa

Erste Auflage 2018

© 2018 Louisoder Verlagsgesellschaft mbH, München

Textredaktion: Gerdt Fehrle

Lektorat: Johanna von Koppenfels

Korrektorat: Ilona Buth

Umschlaggestaltung: Regina Berg-Esmyol

Umschlagmotiv: © chuwy, Getty Images

Satz: Fotosatz Amann, Memmingen

Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Printed in Germany

ISBN: 978-3-944153-48-3
eISBN: 978-3-944153-49-0

www.louisoder-verlag.de

Inhalt

Prolog

Santa Maria della Pace, Rom

Galeria Borghese, Rom

Rom, Altstadt

Die große weite Welt

Metropolitan Museum, Fifth Avenue, New York

Paris, Place du Carrousel, Rue de Rivoli

Rue de Rivoli

Gewaltakt Nummer eins

Meetpack, Manhattan, New York

Amor

Gewaltakt Nummer zwei

Hudson Hotel, West 58th Street, Manhattan

Avenue Gustave-Eiffel, Paris

Gansevoort Street, Manhattan

Immer noch Gansevoort Street, Manhattan

Rue du Champ, Neuilly-sur-Seine, Frankreich, vormittags

Eine Hochzeit und schlagende Argumente

Beim Chef des Louvre

Midtown, Manhattan

Central Park, später Nachmittag

Brooklyn – falscher Ort, falsche Zeit?

Blutrot de Sade, Drogen oder grüner Salat?

Tiefer Schlaf

Via Francesco Crispi, Rom

Metropolitan Museum, Manhattan

Im Mehanata, Lower East Side, und ein Anruf aus Rom

Morgens um elf in der Hölle der Triebe

Flughafen Fiumicino, Rom

Gin Lane, Southampton, New York

Drama im Met

Die Putzfrau und der Tod

Emma, Via Cetara, Positano

Maria, Rückkehr nach Rom

Maria, Via Cetara, Positano

Lo Zio di Positanos Haus am Meer

Piazza del Popolo, Rom

Caffè Greco, Via dei Condotti, Rom

Taxifahrt durch Rom

Im Palazzo Garibaldi, Rom

Das hässlichste Grinsen der Welt

Die Polizei von Paris

Der Louvre, Paris

Familienbande

Im Keller

Zwei Franzosen in Rom

Auf Beobachtungsposten

Ausflug mit Hindernis

Geld oder Leben

Über die Mauer

Die Sphäre der Macht

Der Lauf der Dinge

Stelldichein

Viel Verkehr auf der Via Francesco Crispi, Rom

In den Straßen von Rom

Turbulenzen auf dem Flughafen in Rom

Flug von Rom nach New York

Epilog

Prolog

Still saß sie auf ihrem Schemel. Vor ihr stand die Staffelei, darauf das Gemälde. Ihre Augen wanderten über das weltberühmte Motiv.

„Was für ein tragischer Augenblick!“, flüsterte sie dann. Millionen von Menschen waren für immer berührt von diesem unnachahmlichen Lächeln, wenn sie dieses Kunstwerk sahen. Gefangen, verzaubert, ja besessen. Sie aber spürte nichts, schon gar keine freudvolle Ergriffenheit, obgleich sie diesen Moment herbeigesehnt hatte wie kaum einen anderen. Mona Lisa war jetzt bei ihr.

Sie sah das Bild an, ruhig und unumwunden. Schließlich streckte sie den Arm aus. Berührte. Lästerte Gott, indem sie das ihr Allerheiligste berührte. Vorsichtig ertastete sie mit dem schlanken Zeigefinger den Holzrahmen, ließ ihn wandern, spüren. Die Zartheit, mit der sie das tat, entsprang einer fast mütterlichen Zuneigung für das einzig wahre Kunstwerk, das die Menschheit je erschaffen hatte. Oder lag in ihren beherrschten Zügen etwa eine Begehrlichkeit, eine Geste schmachtenden Verlangens? Sie räusperte sich und schüttelte missbilligend den Kopf. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie genoss sie.

„Warum nur?“ So verstrichen Sekunden, Minuten, eine Ewigkeit. Immer wieder streichelte ihr Finger das wertvolle Rahmenholz, wanderte ihr Blick über das Kunstwerk, als wäre es der geöffnete Mund einer Geliebten.

„Ob du spüren wirst, was gleich geschieht?“, fragte sie das ewige Lächeln der Menschheit.

„Oder ist es dir egal?“ Die Geliebte blieb stumm und freundlich. Aus dem Rahmen heraus erwiderte sie ihren Blick mit dem immer gleichen weltberühmten Lächeln, das sie wie eine Hure jedem schenkte, der dafür bezahlte.

Schließlich brach sie das Tabu, schaudernd und elektrisiert zugleich. Ganz behutsam gestattete sie ihren suchenden, findenden Fingern, die ganze Wahrheit, die feinen Unebenheiten im Antlitz der schönen uralten und ewig jungen Frau, ihr Geheimnis ans Licht zu bringen. Hart fühlte sie sich an, diese Wahrheit aus Ritzen, Rillen, jahrhundertealten Pinselstrichen. Farbe, Firnis und Zeit. Sie versuchte unwillkürlich, das Lächeln der berühmten Frau zu imitieren, Echo, Spiegelbild von … ja, wovon eigentlich?

„La Gioconda!“, flüsterte sie. „Du Wunderschöne!“ Sie spürte die Anziehungskraft. Die Stärke. Den Reiz dieser stillen, demütigen Kraft, den wollüstigen Schmerz, in dieses vollkommene Antlitz eindringen zu können. Wenn sie nur wollte. Die Zeit verging ungezählt. Ein stummes Gespräch unter Frauen. Eine oben. Eine unten. Die eine aktiv. Die andere erduldend. Wehrlos. Schön. Es war ein ungleiches Ringen. Dann war sie reif. Sie griff neben sich, suchte, fand, griff sachte, um sich an der scharfen Klinge des Skalpells nicht zu verletzen.

„Du weißt, was jetzt kommt.“ Sie atmete schwer, obwohl ihr mit einem Mal wunderbar leicht zumute war. Sie konnte es tun, war Herrin der Lage, ihr Meister. Nicht da Vinci, nein, sie würde der Meister sein, der Herrscher über eine der schönsten Frauen, die die Menschheit je gesehen hatte. Nicht ihr Schöpfer, nein. Ihr Zerstörer.

„Verzeih mir, schöne Lady, aber es muss sein.“

Santa Maria della Pace, Rom

Maria Felicella stieg von ihrem Gerüst in der Santa Maria della Pace, auf dem sie eine Armlänge unterhalb des Gewölbes die letzten Stunden auf dem Rücken gelegen hatte. Der Atem der Ewigen Stadt, die Ausdünstungen ihrer jahrhundertelangen Geschichte, der Ruß vieler Kohlefeuer, Brandschatzungen und Verbrennungsmotoren hatten das Deckengemälde der Kirche so stark verschmutzt, dass es dringend renoviert werden musste. Wie so vieles in Rom. Am Fuß des Gerüsts angekommen streckte sie sich und klopfte genüsslich den Staub von ihrem Arbeits-Overall. Dann suchte sie nach ihrem Telefon. Es hatte zuvor mehrfach geklingelt und sie schließlich aus der für ihre Arbeit so dringend nötigen Konzentration gerissen.

„Maria, können Sie bitte sofort herkommen? Es ist wichtig.“ Die Mailbox.

„Bitte, es ist dringend.“ Wieder die Mailbox.

„Es ist dringend.“ Zum Dritten.

Maria streifte noch immer gut gelaunt das Haarband von ihrem Zopf, schüttelte das Haar und band es wieder fest zusammen. Jetzt war sie zwar nicht alarmiert, zumindest aber neugierig geworden, was Signor Fabrizio Rocca quälte. Nun, gleich würde sie es erfahren. Es läutete kaum einmal, und Signor Rocca war dran.

„Herr Kollege …?“

„Bewegen Sie Ihren hübschen Hintern hierher, Signora, und zwar sofort. Ich muss dringend mit Ihnen reden.“ Maria zog missbilligend ihre rechte Augenbraue hoch. Wie redete er eigentlich mit ihr? Sie wartete.

„Bitte!“, kauzte Rocca und legte auf.

„Puh.“ Maria merkte plötzlich, wie ihr vom langen Liegen unter der malerischen Decke von Santa Maria della Pace der Rücken schmerzte. Für einen Augenblick starrte sie auf das dunkel werdende Display ihres Mobiltelefons. Was ist da wohl passiert, dachte sie schließlich. Sie wählte eine Nummer, die sie auswendig kannte. Didididi didi, sang das Telefon unter ihren flinken Fingern.

„Bist du’s?“ Das war vor gefühlt siebenundzwanzig Sekunden. Sie hatte in Steno gesprochen, war im Zeitraffer auf das Ausgangsportal von Santa Maria zugeeilt und flitzte jetzt mit Lichtgeschwindigkeit, drei quietschenden Reifen, zwei fuchtelnden Armen und einem dauerfluchenden, rot geschminkten Mund auf ihrer Ape durch die ewigen Blechlawinen der Ewigen Stadt. Dabei überfuhr sie selbstverständlich sämtliche roten Ampeln. Aber das war ja normal. Auch die lustige Jagd auf rechthaberische Teutonen, die von ihrem aus der Heimat gewohnten Recht auf gefahrlose Benutzung des Zebrastreifens Gebrauch machten, war normal. Fairerweise nutzte sie ihre kleine Hupe, um Schlimmeres zu verhindern. Nicht normal war der Mittelfinger, den sie einem sie staatstragend mit der Pfeife antrillernden Carabiniere zeigte. Im Augenwinkel sah sie bei Vollgas noch das selige Grinsen, die mannhafte Männergeste, mit der der Ordnungshüter, Hand am Schritt, zu parieren wusste. Ach Rom, was für ein herrliches Leben hier. Es war eben nicht immer von Nachteil, eine schöne Frau zu sein. Zumindest nicht hier in dieser schönen Stadt. Sie drückte sich noch dreister zwischen all den Wagen, Motorrädern und Vespas ans ersehnte Ziel. Es hatte einen Namen: Emma.

Maria sah Emma schon von weitem. Aber Emma sah sie nicht. Sondern strich sich, als befände sie sich in einem Dauer-Flirt-Wettbewerb um einen unsichtbaren Superlover, eine Haarsträhne aus der Stirn und starrte dabei Löcher in die Gegend.

Die träumt doch vom …, dachte Maria vage und eierte mit ihrer Ape an den, na ja, Bürgersteig konnte man das ehemalige Trottoir mit seinen über Jahrzehnte runtergejuckelten Bordsteinen eigentlich nicht mehr nennen. Nun, auch das war Rom, die Ewige Stadt, ihre ewige Stadt, und dafür liebte sie die Urbs. Und seit sich Rom zum Heiligen Jahr Zweitausend so kräftig wie unredlich aufgehübscht hatte, waren Gott sei Dank ja auch schon wieder fast zwei Jahrzehnte vergangen.

Maria stoppte ihr geliebtes Dreirad und legte den Daumen an die Hupe.

Die träumt wirklich vom …, dachte sie nochmals und konnte sich ein kleines, fieses und neidisches Grinsen nicht verkneifen. Sie drückte auf den Knopf.

Möööp!

Die Freundin sah zu ihr herüber und winkte.

„Jetzt hast du mich aber erschreckt“, sagte Emma lässig, „vielleicht solltest du dein Signalhorn mal ölen lassen … und manches andere an dir auch, Schätzchen. Du schaust ja wie, wie … wie soll ich sagen … so ungef…“

„Sehr witzig. Und du weißt ja: Ich liebe deine Fürsorge. Vor allem, wenn sie sich um mein Liebesleben dreht …“

„… um dein nicht vorhandenes, wohlgemerkt …“

Maria zog eine Grimasse. „Spiel du ruhig den Vamp, aber lass’ mich damit in Ruhe. Ich hab genug von Männern!“ Wenig elegant entstieg Maria ihrem Dreirad.

„Ächz, also zumindest meine Hüften, die gehören wirklich mal wieder geölt …“

„Aber so richtig, Schätzchen, so richtig …“ Lachend umarmten sich die beiden Freundinnen, Bussi eins, Bussi zwei, Bussi drei.

„Hier, Süße, deine Sachen. Höschen, frischer BH, leider nicht passend. Einen zum Höschen passenden habe ich nicht …“

„Hörst du schon auf, du … du … kleines Miststück?“ Spielerisch holte Maria aus und schlug die Freundin.

„Aua! Das tut weh!“ Etwas schockiert rieb sich Emma den rechten Oberarm, nicht ohne dabei kokett ihre Brust auf und ab zu schieben.

„Sollte es auch. Du nervst. Ich habe ein mittelgroßes Problem staatstragender Bedeutung, und du denkst nur an das eine.“ Strahlend blickten sich die Freundinnen an. Emma war für Marias Geschmack zwar etwas sexversessen. Aber der beste Kumpel auf der Welt.

„Emma, Schatz, magst du mich vielleicht fahren?“

„Gern!“

„Gut. Dann kann ich mich unterwegs umziehen.“

„Ah, ein Strip quer durch Rom, das gefällt mir. Wird auch den Carabinieri gefallen, die hier in der Innenstadt ja ganz selten unterwegs sind …“

„Ruhe und los jetzt!“ Maria schnappte sich die Klamotten, die natürlich nicht aus Höschen und BH, sondern aus einer hübschen fliederfarbenen Bluse und einer Jeans bestanden, und kletterte auf den Beifahrersitz.

„Jetzt fahr schon, wir haben keine Zeit!“

„Ich weiß, die Uhr tickt schon längst bei uns beiden, aber die Trottel vom anderen Geschlecht haben ja nicht mal den geringsten Dunst, was sie an uns und unserem Nachwuchs verpassen.“ Sie waren jetzt beide siebenunddreißig. Doch während Emma sich scheinbar spielerisch durchs Leben treiben, sich mal hier, mal da pflücken ließ und dabei ihren Spaß hatte, herrschten in Marias Leben Regeln und Moralvorstellungen, die von ihrer kalabresischen Großmutter hätten stammen können. Und in ihrem Leben somit die Vergnügungs-Dauer-Ebbe.

„Ich weiß halt, was ich will“, behauptete sich Maria gegen die verführerischen Einflüsterungen der Freundin. Und glaubte sogar selbst daran.

„Pizza? Gern! Aber nur bei Da Poeta. Unschlagbar dort. Und Trastevere ist und bleibt der römischste Teil Roms. Panettone? Von Gustini. Macht fett um die Hüften und glücklich. No-Gos: Johannisbeeren und alle anderen roten Früchte. Pullover diesseits von Kaschmir. Pelzmäntel. Sugardaddys. Ferrarifahrer. Berlusconi. Die Mafia.“

„Niemand anderen als Paolo, giusto?“ Inzwischen hatte Emma dank eines konsequenten Bleifußes mit Marias Ape Kamikaze gespielt. Während die Freundin sich bei ihrem Freiluft-Strip doch erstaunlich gelenkig gezeigt hatte, waren beide von Emma alles andere als sicher zum Ziel kutschiert worden: der Villa Borghese mit ihrer Galeria im gleichnamigen Park. Eine wenn auch nicht gerade gestylte, so doch umgezogene Maria schälte sich aus dem Gefährt, knallte die Seitentür zu und lief wort- wie grußlos über den schotterbestreuten Platz vor dem Palazzo auf die doppelseitigen Treppen des Eingangs zu.

„Danke, dass du mich gerade jetzt an meinen wunderbaren Ex erinnerst.“

„Na hör mal, Schätzchen. Das ist dreizehn Jahre her …“ Was nicht stimmte. Es waren nur zehn. Aber das konnte Maria nicht mehr richtigstellen. Entschlossenen Schrittes hatte sie bereits die Freitreppe hinauf zum Piano nobile genommen, in Gedanken ausnahmsweise nicht bei ihrem vergötterten Ex, sondern bei der berühmtesten Frau der Welt.

Galeria Borghese, Rom

„Was soll das heißen, die Mona Lisa kommt nicht?“, platzte Maria heraus, als sie die Tür zum Büro von Fabrizio Rocca aufstieß und so impulsiv, wie sie nun einmal war, zur Sache kam. Drei Augenpaare starrten auf den mit Neugier, Leidenschaft und Ungeduld aufgeladenen Wirbelwind.

„Ah, Maria, da sind Sie ja endlich!“ Fabrizio Rocca, der über gute Verbindungen zur politischen Landschaft Roms verfügende Direktor der Villa Borghese, saß seines Zeichens wie ein Häufchen Elend hinter seinem Schreibtisch und schaute sie aus großen Augen an. Ein ziemlich gut aussehendes Häufchen Elend, musste Maria wider Willen und einmal mehr zugeben. Hinter dem schönen Direktor die Signora Garibaldi und Silvio Bariello. Auch sie starrten Maria mit großen Augen an. Dann starre ich doch einfach mal mit großen Augen zurück, entschloss sich Maria, starrte und sagte erst einmal nichts.

„Nun, meine Liebe. Sie wird nicht kommen. Ganz einfach, hihi. Verzeihung. Ich werde ja hysterisch, hihi. Ja. Nun. Die verdammten Frö… ich meine unsere hochverehrten französischen Nachbarn und EU-Partner und NATO-Verbündeten und was weiß ich noch alles … Scheiße! Sie kommt nicht!“

„Die Mona Lisa kommt nicht?“

„Nein! Diese verf… Franzosen wollen uns partout sabotieren. Diese … diese … Verbündeten!“ Jetzt schrie sich der schöne Fabrizio richtig in Rage. Auch das stand ihm gut.

„Es ist, wie es ist. Mona Lisa wird nicht nach Rom kommen. Die Franzosen wollen es einfach nicht. Es ist eine Katastrophe. Alle Plakate sind gedruckt, die Einladungen sind fertig. Und nun das!“ Erläuterte Antonia Garibaldi. Ja, richtig: „Die“ Garibaldi, Kunstkoryphäe und direkte Nachfahrin des Helden zweier Welten und Italien-Einigers Guiseppe Garibaldi.

„Dieser Nemours vom Louvre, ein solcher Idiot, hat doch tatsächlich am Telefon gesagt, dass er uns seine, ja, er sagte seine Mona Lisa auf gar keinen Fall ausleihen wird. Am Telefon! Stillos. Entwürdigend. Demütigend!“

So hab ich den schönen Fabrizio noch nie erlebt, dachte Maria fasziniert. Für einen Augenblick schien alles andere vergessen. Da war nur noch dieser attraktive Mann, der völlig außer sich geriet. Und der offensichtlich ihre Hilfe benötigte. Wie süß. Und dann fiel ihr, warum auch immer, Paolo ein. Der war auch immer so süß, wenn er wütend … Nein. Stopp. War er nicht. Paolo war ein Scheißkerl, wenn er wütend war. Maria schüttelte den Kopf und gelangte so wieder in die Gegenwart. Die Mona Lisa. Richtig.

„Und jetzt?“

„Keine Ahnung. Diese Franzosen sind doch so was von arrogant.“

„Und der dumme Enrico ganz besonders.“

„Enrico?“ Maria zeigte sich wieder einmal von ihrer begriffsstutzigen Seite.

„Er heißt Henry. Henry Nemours. Er würde sich schwarzärgern, wenn er wüsste, dass Fabrizio ihn Enrico nennt. Mein Fabrizio.“ Geruhte die Garibaldi zu erläutern. Man lachte herzlich.

„Kindergarten“, entfuhr es Maria. Niemand protestierte.

„Wir können ihn uns vorknöpfen“, gab Maria sich kämpferisch. Schiefe Lächeln, dreimal, Kopfschütteln, auch dreimal. Kein Lachen.

„Nun, die großartige Grand Nation hat ein kleines bisschen Angst um das schönste Lächeln der Welt. Schließlich gehört es ja uns.“

„Und das lukrativste“, kam es von Maria.

„Wie meinen Sie das? Die Mona Lisa ist unbezahlbar“, rief die Garibaldi empört.

„Quatsch. Die ist bares Geld wert. Was wäre der Louvre denn ohne sie?“, erwiderte Maria aufmüpfig.

„Also, das ist doch …“, echauffierte sich die Garibaldi, inzwischen ganz rot im Gesicht.

„Aber meine Damen!“, ging der schöne Fabrizio erschöpft dazwischen.

„Signor Rocca sagte doch gerade, dass Henry Nemours höchstpersönlich angerufen hat“, versuchte nun Silvio Bariello die eskalierende Lage mit etwas Sachlichkeit zu beruhigen.

„Er ist der Diktator … äh … Verzeihung … Direktor vom Louvre. Sozusagen der Halbgott unter der Pyramide … der Herr der Untendrunterwelt …“

„Werden Sie nicht poetisch, Bariello, das steht Ihnen nicht“, frotzelte der schöne Fabrizio.

„Wie Sie meinen, Cappo“, erwiderte Bariello spitz, „wie Sie meinen. Auf jeden Fall hat Nemours nur noch den Minister über sich. Wenn Sie mich fragen, Herrschaften, dann ist das ein abgekartetes Spiel. Die haben Angst, dass die Grand Nation mit der Ausleihe den ersten Schritt macht auf dem Weg, die Mona Lisa abgeben zu müssen. Weil wir sie zurückhaben wollen.“

„Es fragt Sie aber niemand, Bariello, das ist ja das Gute.“

„Wie Sie meinen, Cappo.“

„Und nennen Sie mich nicht immer Cappo, Bariello!“

„Sehr wohl, Cappo.“

Kindergarten. Dachte Maria.

„Weiß Nemours, dass ich die Lady untersuchen möchte?“

„Aber selbstverständlich. Maria. Ich bitte Sie. Das geht doch gar nicht anders. Warum fragen Sie, Maria?“

Erstaunt sah Maria ihren Auftraggeber an. War Rocca so blöde oder tat er nur so?

„Weil das erklären würde, warum sie sie nicht hergeben. Bisher ist die Mona Lisa noch nie von jemandem untersucht worden, der unbefangen ist. Damit meine ich: von keinem, der nicht Franzose war. Meine Studien sollten …“ Maria stockte.

„Ja, bitte sprechen Sie, Maria.“

„Es muss einen Weg geben, das Bild hierherzubekommen.“

Schweigen.

Schließlich räusperte sich Fabrizio Rocca, kratzte sich am Kinn und ruckelte einmal, zweimal, dreimal mit selbigem, wie das seine Art war, bevor er etwas Unangenehmes oder Schönes sagte.

„Signora Garibaldi, Sie haben sich doch maßgeblich dafür eingesetzt, dass die Mona Lisa zu uns kommt“, nuschelte er träge, „was eine gute Idee war. Haben Sie jetzt nicht vielleicht zufällig wieder eine gute Idee? Eine, wie es weitergehen könnte?“

Antonia Garibaldi blickte angewidert aus dem Fenster. In Rom saßen immer die falschen auf den entscheidenden Stühlen. Wie der da, dieser Rocca. Was für eine grandiose Fehlbesetzung dieser Mann als Museumsdirektor doch war. Schlapp. Willenlos. Ohne Gespür für ihre Belange. Ihre Karrierevorstellungen. Die Krönung ihrer Laufbahn: Die Mona Lisa in Rom. Ihr Vorfahre, der Held zweier Welten, hätte ihn, dachte sie wollüstig, auf der Stelle mit blankem Oberkörper auspeitschen und im Anschluss füsilieren lassen.

„Wir werden das nicht hinnehmen“, sagte sie würdig, ohne ihren Blick den anderen Anwesenden wieder zuzuwenden. Ihre Stimme klang entschlossen, hart und eine Spur alt.

„Ja“, entfuhr es Maria, „wir finden uns damit nicht ab.“ Maria stützte sich auf den Schreibtisch vor Rocca und beugte sich ihrem Chef entgegen, bis sie sah, wohin dessen Blick wanderte. Innerlich schmunzelnd richtete sie sich wieder auf.

„Wir unternehmen etwas. Wenn die Franzmänner spielen wollen, bitte. Spielen wir! Immerhin ist das Mona Lisa-Gutachten die Aufgabe meines Jahres. Ach, was sage ich, meines Lebens! Verabredungen wurden deshalb abgesagt. Flüge gebucht. Hotelzimmer reserviert. Alles nur, um die Vorskizzen von Leonardo in Augenschein zu nehmen. Und dann natürlich die Grande Dame höchstpersönlich!“ Maria war schüchtern und zurückhaltend. Eine vorsichtig lebende, vorsichtig liebende, umsichtig arbeitende Person. Nur wenn in ihrer Arbeit etwas nicht so lief, wie sie sich das dachte, wenn sie im Job auf Ungerechtigkeiten oder Inkompetenzen stieß, wurde sie laut, ja zur Furie. Ihre Kollegen kannten das. Einmal in Rage, unterbrach nicht einmal mehr die Garibaldi das Schauspiel, das Maria bot.

„Na, na“, beschwichtigte der schöne Fabrizio Rocca seine leidenschaftliche Kollegin, „das Leben lassen wir hier mal aus dem Spiel. Ein Menschenleben ist die Mona Lisa nämlich nicht wert. Habe ich recht, Herrschaften?“ Niemand stimmte zu. Und Rocca fuhr fort.

„Dann ziehen Sie diese Studien doch vor. Ihre Arbeit wird ja nicht umsonst sein. Und wer weiß, vielleicht haben wir in Mister … in Mister … wie heißt er doch gleich, dieser Amerikaner …?“

„Shepherd, il mio direttore. Richard Shepherd.“

„Nennen Sie mich nicht il mio direttore, Bariello. Sie wissen, dass ich das nicht ausstehen kann. Wir sind hier nicht bei der Faschistischen Partei. Und auch nicht bei der Müllabfuhr!“

„Wie Sie meinen, il mio …“ Bariello setzte seine stoische Miene auf. Aber innerlich jauchzte etwas in ihm. Wieder einmal war es ihm gelungen, seinen Chef aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wie schön!

„Vielleicht kann sich der Ami ja bei den Franzosen für uns einsetzen. Hat er nicht mit Nemours zusammengearbeitet, bevor er Direktor in New York wurde? Vielleicht legt er ein gutes Wort für uns ein. Wenn Sie recht lieb zu ihm sind, liebe Maria …“ Breites Grinsen. Maria kannte die Kollegen. Sexistisch waren die alle. Mal mehr, mal weniger. Auf Fabrizios doch eher plumpe Leistung in Sachen Unter-der-Gürtellinie hob sie nur müde ihre rechte Augenbraue.

„Ein sehr netter Kollege übrigens“, schwärmte Bariello etwas übertrieben, „geradezu reizend …“

Kunstpause.

„Ich durfte ihn kennenlernen. Ich habe ihm neulich einen Caravaggio verkauft …“

„Sie haben was …?“, kreischten Maria und die Garibaldi unisono.

„Hmm ja, meine Damen. Aber das bleibt bitte unter uns.“

„Sie haben einen Caravaggio verkauft?“, stotterte Antonia Garibaldi entgeistert.

„Welchen?“, rief Maria entsetzt.

„Welches Gemälde haben Sie veräußert?“ Auch die Garibaldi ließ nicht locker.

„Wir mussten uns leider vom Narziss trennen! Uns fehlt das Geld. Die Krise hat uns voll erwischt.“

„DEN Narziss?“ Maria und die Garibaldi – wieder unisono.

Wieso sich die Garibaldi so echauffiert gab, war Maria schleierhaft. Und auch egal. Sie selbst war schlicht entsetzt. Für einen Augenblick vergaß Maria sogar die Tragödie um die Mona Lisa. Silvio Bariello nickte unbeeindruckt. Und lächelte gönnerhaft.

„Aber wenn Sie demnächst ohnehin in Manhattan sind, dann können Sie ihn dort bewundern. Ich denke, Shepherd wird Ihnen Zugang zu dem Werk gewähren, bevor er es der Öffentlichkeit übergibt. Wir haben ohnehin ein zweijähriges Stillhalteabkommen geschlossen, wenn ich das einmal so ausdrücken darf. Ähem …“

„Wieso das denn?“, fragte Maria.

„Das ist doch hanebüchen!“, empörte sich die Garibaldi.

„Und lächerlich. Wir wissen doch, dass sich die Amerikaner nie an eine Vereinbarung halten. Die machen einfach, was sie wollen, mein Bester. Und begründen das gar nicht. Oder so: Wozu haben wir denn unsere schönen Stützpunkte überall auf der Erde? Etwa, um fair zu sein und uns an die Regeln zu halten? NEIN!“

Zum ersten Mal seit sie sich kannten, betrachtete Maria die große Kunst-Diva Garibaldi mit einer gewissen Sympathie. Sollte die alte Schachtel die Amerikaner etwa auch nicht …

„Bitte, meine Dame, bitte, wir wollen hier nicht pseudopolitisieren und schon gar keine Klischees auspacken. Unsere lieben Verbündeten sind manchmal auch recht anständig“, säuselte Bariello. Glaubwürdig.

„Sie denken also, dass die Amerikaner sich daran halten?“, fragte die Garibaldi aufgebracht.

„Natürlich – nicht“, rief Bariello vergnügt aus, klatschte in die Hände und lachte. „Das wollen wir doch auch gar nicht!“

Hä? Maria verstand nur Bahnhof. Die Garibaldi stand genauso auf dem Schlauch. Fabrizio Rocca lächelte verschmitzt. Kurz herrschte Stille. Antonia Garibaldi wirkte jetzt sehr, sehr wütend. Die Lady schätzte es keineswegs, wenn man sie auf den Arm nahm. Sie galt als durchaus humorvoll, so war das nicht. Aber ein Humor, der auf ihre Kosten ging? Das ging zu weit.

„Aber meine Gnädigste. Hat Ihnen Ihre Tochter nichts von unserer zugegeben traurigen Transaktion erzählt? Die arbeitet doch in New York mit Shepherd zusammen. Mit Verlaub, ich hätte niemals gedacht, dass diese Tratschtan… äh – dass Ihre werte Tochter derart diskret sein könnte. Respekt vor der jungen Dame, Respekt, Respekt …“

„Hören Sie schon auf, sich über mich lustig zu machen, Sie Gimpel“, fauchte die Garibaldi.

Maria hörte zu. Blickte von der einen zum anderen und biss sich auf die Unterlippe.

Aha, dachte sie leicht benommen bei sich. Das war jetzt also schon die zweite Hiobsbotschaft innerhalb einer knappen halben Stunde. Noch zwei, und sie würde einen Nervenzusammenbruch erleiden. Oder einen Burn-out. Oder beides. Sie wusste nicht, worüber sie mehr entsetzt war. Und genau dieser Umstand versetzte sie in Panik. Bei der ins Stocken geratenen Ausleihe der Mona Lisa hoffte sie, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war. So weit, so gut. Und vielleicht würde sie in New York doch noch etwas ausrichten. Der Verkauf des Narziss machte sie jedoch sprachlos. Und wütend. Und verzweifelt. Und traurig. Denn der Narziss, dieser schöne, unglückliche Junge, der in sich selbst verliebt ist und daran zugrunde geht, dieses Meisterwerk von Caravaggio war für Maria etwas ganz Besonderes. Es war, ja, wie sollte sie das nur in Worte fassen? Eben nicht nur ein Bild. Auch nicht der Schlüssel zur Malerei, obwohl das Meisterwerk zweifellos schuld daran war, dass ihr Leben diese Richtung eingeschlagen hatte: Bilder, Museumsbesuche, Kunst und noch mehr Kunst, und dann der Entschluss, Restauratorin zu werden, mit Haut und Haar. Nein, dieser verschlossene, autistische, verlorene, tödlich in sich selbst verdrehte Jüngling schien Sinnbild, Parabel und Allegorie auf ihr Denken, Fühlen und Handeln zu sein. Auf sie selbst, die hoffnungslos Ausgeschlossene, hoffnungslos Betrachtende, für immer unglücklich Liebende.

„Komm wieder runter“, pflegte Emma die Freundin auf ganz und gar prosaische Art und Weise wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen. „Du bist nicht Echo und Paolo ist nicht der Narziss, den du bis ans Ende des Universums anbeten musst. Auch wenn er sich selbstverständlich genauso idiotisch verhalten hat. Nämlich ichbezogen, hyperegozentrisch und dumm. Und ja, du bist etwas durchgeknallt und brauchst wirklich dringend mal wieder Sex, meine Liebe.“

„Wirst du wohl …“, protestierte Maria dann errötend und mit glänzenden Augen, um gleich darauf in das Kichern der Freundin einzustimmen.

„Der Junge war der Schlüssel zu meiner großen Leidenschaft: den alten Meistern!“ Maria.

„Mehr Schlüssel, die ins Schlüsselloch passen, meine Liebe! Mehr Leidenschaft für junge Stümper, wenn ich bitten darf. Das würde dir guttun …“ Emma.

„Themawechsel!“ Lachen. Kreischen.

Die Liebe zur Kunst hatte Maria aber tatsächlich als kleines Mädchen gefunden. Sie hatte einen seltsam frühreifen Spleen in Bezug auf Kunstwerke entwickelt, der sie in diesem Alter eigentlich noch überforderte. Mit acht oder neun Jahren war sie mit ihrem Onkel zum ersten Mal in einem neapolitanischen Museum gewesen. Und sofort verliebt in Tusche- und Kreideskizzen. In Stillleben mit geöffneten Austern, halb geschälten Zitronen und toten Hasen. Oder lustig verkleidete, irgendwie aber immer seltsam traurig aussehende Frauen. Absolute Highlights waren jedoch die Riesenschinken von Rembrandt. Und ebender Narziss, Caravaggio, die Vorwegnahme ihres so unerfüllten Liebeslebens. Andere Mädchen spielten mit Puppen, sie bewunderte Kunstwerke. Andere Mädchen spielten mit Jungs, sie analysierte Gemälde. Andere Mädchen heirateten und brachten Kinder zur Welt, sie wurde Restauratorin und schuf frischeres Licht, dunklere Schatten, klarere Landschaften, indem sie den Staub, die falsche Patina und den Schmutz von Jahrhunderten von den Meisterwerken kratzte und die ursprüngliche Schönheit der Linien, Striche und Flächen erneut zutage förderte. Und immer wieder war es der Narziss, der sie anzog. Fast sinnlich war das Verhältnis zu dem schönen Jungen. Sinnlich, unheilvoll und kalt. Ohne es sich einzugestehen, wusste sie, dass es sich bei Narziss nicht nur um ihren ersten und besten, sondern, wenn sie nicht aufpasste, auch um ihren letzten Freund handelte.

„Aber seid ihr denn verrückt geworden?“, rief Maria und schüttelte ihren Tagtraum ab. „Meinen Gel… ich meine, so ein Gemälde kann man doch nicht einfach verscherbeln. Das ist ja, als würde man die eigene Großmutter verkaufen … oder sich selbst …!“ Aufgebracht stand Maria da und blickte in die Gesichter ihrer Kollegen. Etwas im Saal hatte sich mit einem Mal verändert. Die Stimmung. Die Atmosphäre. Selbst die strenge Garibaldi lächelte sie wohlwollend an.

„Hab ich, ich meine, habe ich etwas Dummes gesagt? Oh mein Gott! So sagt doch was …!“

„Solange du uns nicht die Daphne gibst“, spöttelte der schöne Fabrizio, und alle außer Maria lächelten weiter.

„Also: Wieso jetzt?“, fauchte Maria.

„Wirtschaftliche Zwänge, meine Liebe. Die Eurokrise. Unsere liebe Europäische Union, weißt du …“

„Ach was“, unterbrach Maria ihren Chef voller Leidenschaft, „kommt mir doch nicht mit solchem Zeug!“ Alle außer Maria lachten.

„Es ist aber so, mein Schätzchen. Der schnöde Mammon, weißt du? Aber Shepherd hat sich äußerst diskret und anständig verhalten. Die Amerikaner verhalten sich doch stets superkorrekt. Man kann sich immer vollkommen auf sie verlassen, nicht wahr, ihr Lieben?“ Heiteres Gelächter.

„Ich bin mir sicher, dass er uns hilft“, fügte Bariello versöhnlich hinzu, und das heitere Gelächter verebbte.

„So oder so: Für meine Studie brauche ich die Mona Lisa! Ohne Original fehlt meiner Arbeit das Herz.“ Maria hatte sich gefangen. Sie kehrte zum eigentlichen Thema zurück, auch, um jeden Gedanken an ihren narzisstischen Exfreund Paolo zu verdrängen. Paolo war doch der Obernarziss gewesen, mit all seinem scheinheiligen Schmelz, seinen kleinen Lügen, mittleren Intrigen und großen Betrügereien. Dieser … dieser … Schuft!

„Wie auch immer“, lenkte Maria die Unterhaltung im Allgemeinen und ihre Gedanken im Speziellen auf dieses andere, auch nicht eben nebensächliche Thema: „Ich muss die Mona Lisa untersuchen. Und ich werde sie untersuchen. Punkt.“ Trotzig verschränkte sie die Arme unter der Brust, die sich dadurch in einen Balkon verwandelte und die Blicke der Männer auf sich zog. Und die der Garibaldi. Nie im Leben würde die Garibaldi zugeben, dass sie Maria insgeheim beneidete. Und zwar genau um diesen Balkon.

„Also Maria, Kind, Ihr beruflicher Egoismus in allen Ehren, wir wollten schließlich alle mal vorankommen. Aber wirklich, wir stehen hier vor einem viel größeren, ja im eigentlichen Sinne nationalen Problem: Die Ausstellung wird nicht stattfinden. Denken Sie mal an die öffentliche Wirkung! Und an unseren Ruf! Wir werden doch zum Gespött der Massen! … Was für ein Desaster! So eine Schande!“ Mit theatralischer Geste riss die Garibaldi ihren Blick von Marias Busen los, warf den Kopf in den Nacken und einen leidenden Blick knapp über Rocca hinweg an die freskenverzierte Decke. Es war ganz offensichtlich: Die Dame litt unsäglich.

„Ach was“, ereiferte sich Maria, löste ihre Arme und damit ein klitzekleines Beben an ihrem attraktiven Körper aus.

„Ich gebe jedenfalls nicht so leicht auf. Nicht hier und nicht jetzt. Ihr werdet schon sehen. Mir fällt noch was ein. Wir kriegen das Prachtstück nach Rom. So wahr ich Maria heiße!“

„Sie haben ja so recht, Schätzchen“, stimmte Antonia Garibaldi ihr zu. „Wir sollten unter keinen Umständen zulassen, dass unser geliebtes Italien Schaden nimmt …“

„… oder unsere Karrieren …“, kam es von Rocca.

„… und das nur wegen des liederlichen Verhaltens dieser Froschfresser!“ Jetzt sahen alle auf die Garibaldi.

„Jawohl, Herrschaften, ich wiederhole es nur zu gerne: Frosch-fres-ser! So!“ Im triumphalen Vollgefühl ihrer Vulgarität trotzte sie den Blicken ihrer Kollegen. Und genoss die ihr entgegengebrachte Zustimmung.

„Richtig so, machen wir Druck. So wie die Amerikaner das auch immer machen.“

„Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schafften!“ Zum Spaß ballte sie die Linke und streckte sie gegen die Fresken an der Decke.

„Avanti popolo …“, begann sie mit dünnem Stimmchen zu singen. Die beiden Männer lachten gutmütig.

„Also jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, meine Liebe!“, gab die Garibaldi den Spielverderber. Nun ja. Der Name verpflichtete natürlich auch. Links, behauptete die Garibaldi gerne, war er nun wirklich nicht gewesen, der große Vorfahr. Das Krisentreffen endete mit dem Beschluss, dass Maria erst einmal nach New York fahren würde. Danach könne man ja immer noch über geeignete Maßnahmen contra Louvre nachdenken. Und vielleicht war Shepherd ja tatsächlich ein möglicher Verbündeter.

Rom, Altstadt

Was für ein großartiger Weg nach Hause, dachte Maria wieder einmal. Einfach aus der Villa Borghese ins Freie treten, vorbei an dem stets von benutzten Kondomen und gebrauchten Spritzen verseuchten Parkplatz, die paar hundert Meter Richtung Piazza Popolo. Von dort aus per Bus, Metro oder mit der Ape in Richtung ihres heißgeliebten Viertels Trastevere. Gut. Trastevere war enorm touristisch geworden. Die besten Lofts und Gartenhäuschen gehörten inzwischen längst Amerikanern, Österreichern oder Russen. In den urigsten Bars sah man ohne weiteres Leute um elf, zwölf Uhr oder gar nach dem Mittagessen Cappuccino trinken, eigentlich zu jeder Tages- und Nachtzeit. Was für ein Frevel an der italienischen Küche. Ausländer, klar, allesamt Ausländer. Und natürlich hörte man an manchen Tagen mehr Englisch als Italienisch in den Gassen des Viertels. Aber was sollte es? Leben und leben lassen … war das nicht das heimliche Motto aller Italienerinnen und Italiener? Leben und leben lassen. Selbst die Touristen? Ja natürlich, fand Maria. Und außerdem hatte Rom den finanziellen Zufluss durch die vielen Fremden auch bitter nötig.

Hatte sie etwas Zeit, verzichtete sie auf ihre geliebte Ape, spazierte hinüber zur Kirche Santa Trinità dei Monti und die ebenfalls immer von Touristen aus aller Welt belagerte Spanische Treppe hinab. Ihre Wohnung lag von dort aus ein gutes halbes Stündchen zu Fuß entfernt. Vorausgesetzt, sie war mit flachen Schuhen unterwegs. In High Heels brauchte sie über eine Stunde. Aber, und da unterschied sich Maria ganz grundsätzlich von all ihren Freundinnen, wann war die pragmatische, von den Männern im Allgemeinen und von Paolo im Speziellen so enttäuschte und deshalb jeglichem Styling abholde Restauratorin denn schon mal in High Heels unterwegs? Richtig: Nie! Also.

Der Weg nach Hause, ja. Wunderbar. Aber ihre Wohnung erst! Gleich hinter der Santa Cecilia in der überaus malerischen, überaus engen Vicolo dei Tabacchi gelegen. Abgeschieden, getrennt vom stinkenden, lärmenden Rest der Stadt und versteckt hinter einer hohen Mauer, über der eine ausladende, sicher mehrere hundert Jahre alte Zeder ihre Äste ausbreitete und turmhohe Pinien den kühlenden Vorgarten erahnen ließen. Das grüne, doppelflügelige Portal mit seinen messing-goldenen Türklopfern gewährte nur erwünschten Besuchern Einlass. Was niemand von der Straße aus sehen konnte: Es gab einen kleinen Rasen, der selbst im August stets beschattet und von den Hausbesitzern Signora und Signor Monti regelmäßig gegossen immer saftig grün blieb. Es gab einen kleinen Handbrunnen, aus dem das ganze Jahr über köstliches, eiskaltes Wasser sprudelte. Es gab uralte Rosensträucher, eine von Trauben überrankte Pergola und einen alten Holztisch, der den Sacco di Roma von 1527 nahezu unbeschadet überstanden hatte und jetzt seit Generationen in der Pergola zum Verweilen einlud. Denn das Thermometer stieg an diesem paradiesischen Fleckchen nie über 29 Grad, nicht einmal während der Hundstage. Allerdings gab es auch Signora und Signor Monti. Nette Leute, keine Frage. Nett und fürsorglich. Vielleicht sogar ein bisschen zu nett und fürsorglich – vor allem, was Marias nicht stattfindendes Liebesleben betraf.

„Es ist doch nicht gesund, wenn eine so schöne junge Dame wie Sie, Signorina Maria, ständig alleine lebt! Wir leben doch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert.“ Emma als Echo.

Doch Maria dachte an Paolo, der ihr so übel mitgespielt hatte.

Und deshalb blieb sie allein in ihrem gusseisernen Ehebett, das sie beim Trödler erstanden hatte. Oft starrte sie an die Balkendecke ihres mit Kunst und Kitsch garnierten Schlafzimmers oder wandelte rastlos durch ihre Wohnung, um sich einen Schluck Wasser oder ein Glas Rotwein zu holen.

„Paolo ist mir doch längst völlig egal“, redete sie sich ein, was natürlich nicht stimmte. Das unterstrich allein schon die Tatsache, dass es seit der unguten Trennung von ihrem Prinzen noch kein einziges männliches Wesen über die Schwelle ihrer schicken Wohnung, geschweige denn auf die Matratze ihrer gusseisernen Antiquität im Schlafzimmer geschafft hatte. Von Kater Franziskus, einem wilden und kämpferischen Streuner aus der Nachbarschaft, einmal abgesehen.

„Du bist doch mein Allerliebster“, schmuste Maria, wenn Franziskus sie wieder einmal beehrte, um sich eine warme Milch und eine Runde Streicheleinheiten abzuholen. Und natürlich machte es sich Maria zwischen Arbeitsaufträgen, Kunst und dem Kitsch, den sie leidenschaftlich gerne auf Floh- und Trödelmärkten dieser Welt aufstöberte, feilschend erwarb und dann in ihren vier Wänden neben Originalen befreundeter Künstler gekonnt in Szene setzte, gemütlich. Kurz, ihr feines, verstecktes Refugium, ihr kleines geschmackvoll eingerichtetes Reich in der Vicolo dei Tabacchi bot Maria stets den nötigen Rückzugsraum vor der bösen Welt und den eigenen unerfüllten Sehnsüchten. Doch heute klappte es mit dem Rückzug nicht. Zu groß war ihre Angst vor Amerika, der lange Flug, die plötzliche Veränderung, zu laut die Stimmen in ihrem Kopf … und dann war da auch noch Emma:

„Sieh es doch mal positiv.“ Ewig diese Ewige Stadt, also bitte. Ja. Millionen Menschen zahlen eine Menge Geld, nur um sie zu sehen, die Sehenswürdigkeiten hier, das Forum Romanum, das Kolosseum, den Petersdom. Na und? Als echte Römerin langweilt dich das ganze antike Zeug doch sowieso nur! Jetzt hast du endlich die Gelegenheit, mal herauszukommen. Big Apple. Auf Staatskosten. Bestimmt fliegst du business. Die Politiker fliegen doch immer business …“

„Ich weiß nicht …“, erwiderte Maria zögerlich.

„Maouuu“, beschwerte sich Franziskus. Maria hatte für einen Augenblick aufgehört, den anspruchsvoll auf ihrem Schoß flätzenden Herrn Kater weiter zu streicheln.

„Ein paar Tage New York sind doch nicht falsch.“

„Aber der Plan war anders.“ Ärgerlich warf Maria den verdutzten Kater auf den Boden und erhob sich.

„Schätzchen, das Gute an der Sixtinischen Kapelle ist doch, dass sie dir nicht davonlaufen kann. Sie steht da schon ein paar hundert Jahre. Und wenn alles auch nur einigermaßen läuft wie geplant, steht sie dort auch noch ein paar weitere Jahrhunderte. Du hast jedenfalls genug gearbeitet. Und jetzt schenkt dir das Leben eine Abwechslung. Vielleicht wär’s endlich auch mal an der Zeit, einen Mann kennenzulernen. Wie lange bist du schon Single?“

Maria betrachtete ihren neuesten Fund, einen kleinen Buddha aus Messing, der seinen Weg wie auch immer in die katholischste aller Städte und dann zu ihr gefunden hatte und den sie von Belone, ihrem Lieblingsrahmenbauer, in ein kleines schwarzes Kästchen hatte setzen lassen. Seltsam, aber irgendwie erinnerte sie dieser fernöstliche Nippes an Paolo. Im Grunde war er es, Paolo, der sie an Rom kettete und verhinderte, dass sie sich jemals weiter von der Stadt entfernte als Orvieto im Norden oder Frascati im Osten. Und viel zu selten Positano. Man konnte schließlich nie wissen: Paolo könnte ja zum Beispiel verunglücken und sie aus dem Krankenhaus heraus um Hilfe bitten. Oder im Lotto gewinnen und feststellen, dass ihm für die jetzt anstehende Weltreise die passende Reisebegleitung fehlte. Oder, oder, oder …

„Gut, dann sage ich es dir: viel zu lange! Dass Paolo dich damals von jetzt auf gleich hat sitzenlassen, ist Geschichte. Hast du gehört: Ge-schich-te! Ich sage es nur ungern, aber: Es ist aus. Aus und vorbei. Und zwar seit mehr als zehn Jahren. Willst du, dass er der Einzige bleibt?“, fragte Emma.

„Ist er ja nicht“, gab Maria zurück.

„Enzo zählt nicht. Oder höchstens halb. Es kam ja nicht einmal zum Vollzug!“, erwiderte Emma.

„Klar kam es zum Vollzug …“, rief Maria empört.

„Aber doch nur halb“, setzte Emma nach.

„Stimmt“, gab ihr Maria kichernd recht.

„Na siehst du. Paolo war also zumindest der Einzige, bei dem du es ernst gemeint hast.“

Maria erwiderte nichts.

„Es nützt nichts, wenn du immer nur grübelst, ob du etwas falsch gemacht hast.“

„Was weißt du denn schon?“

„Emma weiß alles.“ Sie strahlte Maria an. „Und jetzt gehen wir erst mal einen netten Prosecco trinken, du und ich. Wirf den Kater raus und los geht’s.“

Die große weite Welt