1792 – an der Südostküste Englands: Kapitän Richard Bolitho hat den Oberbefehl über drei schnelle Marinekutter erhalten, die den Schmuggel vom Kontinent unterbinden sollen. Doch ihm fehlen gute Leute. Statt im Dienst des Königs für schmalen Sold Leben und Gesundheit zu riskieren, heuern die Matrosen lieber bei der reichen Bande der Schattenbrüder an. Zu ihnen hat sich auch Bolithos engster Vertrauter Allday abgesetzt. Geschmuggelt werden nicht nur Waren, sondern auch Menschen, die der Französischen Revolution entfliehen wollen und dann auf See oft spurlos verschwinden ...
Kapitän Bolitho und die Schattenbrüder
Roman
Aus dem Englischen
von Klaus D. Kurtz
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Neuausgabe bei Refinery
Refinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juli 2018 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
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© der deutschen Ausgabe: Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin.
© 1988 by Highseas Authors Ltd.
Titel der englischen Originalausgabe: With All Dispatch
Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin
ISBN 978-3-96048-111-9
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Für meine Dormouse, in Liebe
Deshalb mit kühnem Mut, ihr Brüder, laßt’s uns wagen.
Faßt euch ein Herz, so treu wie Gold, wir tragen
als freie Männer uns ins Buch der Flotte ein. Zurück
bleibt Frau und Freund – uns winken Sieg und Glück!
Anon
Konteradmiral Sir Marcus Drew stand am Fenster und beobachtete gedankenverloren das Gewimmel der Fußgänger und Kutschen draußen vor dem Admiralitätsgebäude. Die Fenster seines geräumigen Dienstzimmers waren so hoch und breit, daß er mit Leichtigkeit im Strom der Passanten die regelmäßigen Besucher erkennen konnte, die täglich – manche sogar stündlich – in die Korridore der Admiralität zurückkehrten, immer in der Hoffnung auf Wiedereinstellung: junge und ältere Kapitäne, deren Wagemut einst dem kriegsgeschüttelten England Stolz und Hoffnung zurückgegeben hatte. Der Konteradmiral verbrachte den größten Teil seiner Dienstzeit damit, wenigstens die hartnäckigsten Bewerber anzuhören; die Mehrzahl ließ er ohnehin von seinen Untergebenen abwimmeln. Blicklos starrte er die Pfützen an, die ein heftiger Regenschauer auf dem Kopfsteinpflaster hinterlassen hatte. Jetzt glänzten sie wieder wie blaßblaue Seide und spiegelten den Aprilhimmel über London. Die Regenwolken waren abgezogen.
Frühjahr 1792 – und wieder ein Jahr der Unsicherheit und drohenden Gefahr, ausgehend von jenseits des Ärmelkanals. Man hätte es nicht für möglich gehalten, wenn man die feinen Ladies in ihren koketten Roben da unten sah, begleitet von sorglosen, angeberischen Stutzern.
Vor zwei Jahren, als die Nachricht von den blutigen Exzessen der französischen Revolution London wie eine Breitseite erschütterte, hatten viele gefürchtet, daß der Horror der Guillotine, die Mordgier des Mobs die Straße von Dover überspringen könnte. Andere, und das war vielleicht nur natürlich, sahen schadenfroh zu, wie sich der alte Feind selbst zerfleischte. Vielleicht wäre es klüger gewesen, wenn England endlich einmal die Regeln der Kriegsführung außer acht gelassen und Frankreich angegriffen hätte, solange es sich in seinem eigenen Blut wälzte. Aber dieser Schritt war nicht einmal erwogen worden.
Drew wandte sich ab; der Rest des Tages und die Freude auf das Dinner in St. James, wo er später mit Freunden Whist spielen wollte, waren ihm verdorben. Ihre Lordschaften waren wundergläubig, falls sie wirklich annahmen, daß die Flotte, die sie in den zehn Jahren seit der amerikanischen Revolution in den Häfen und auf den Reeden hatten verrotten lassen, jetzt plötzlich wieder auf die alte Stärke gebracht werden konnte. Matrosen und Seesoldaten waren zu tausenden in die Wüste geschickt worden, weil ihr Land, für das so viele im Dienst des Königs Leben oder Gesundheit hingegeben hatten, sie plötzlich nicht mehr brauchte. Auch den Offizieren erging es nicht anders. Die glücklicheren darbten mit Halbsold an Land oder bettelten um Posten bei der Handelsmarine, nur um auf die See zurückkehren zu können, die ihr Lebensinhalt war.
Mit seinem eigenen Los war Konteradmiral Drew allerdings recht zufrieden. Er konnte sogar hoffen, seine Mätresse jetzt auf Dauer irgendwo zu etablieren, seit er ihrem Ehemann, einem jungen Kapitän, eine Versetzung nach Indien verschafft hatte.
Er betrachtete das riesige Schlachtengemälde an der gegenüberliegenden Wand. Es zeigte Admiral Vernons Siebzig-Kanonen-Flaggschiff Burford unter wehenden Kriegsflaggen, wie es aus nächster Nähe eine spanische Festung mit seiner Breitseite beschoß. So stellte sich das nach Romantik gierende Publikum gern den Seekrieg vor: den Pomp und Heldenmut der Schlacht, aber nicht die Ströme von Blut und das schmutzige Skalpell des Chirurgen.
Sir Marcus gestattete sich ein bitteres Lächeln. Vernons Seegefecht lag schon ein halbes Jahrhundert zurück, aber die Schiffe hatten sich seither kaum verändert. Nein, sagte er sich, sein Dienst in der Admiralität war dem Posten auf irgendeinem Achterdeck bei weitem vorzuziehen. Immerhin konnte er sich hier seiner Mätresse und seiner eleganten Londoner Stadtwohnung erfreuen. Natürlich mußte er sich sonntags neben seiner Frau im Kirchengestühl auf dem Familiengut in Hampshire sehen lassen, doch das war nicht zuviel verlangt.
Er kehrte zu seinem pompösen Schreibtisch zurück und ließ sich seufzend daran nieder. Sein Sekretär hatte ihm die Personalakten hübsch der Reihe nach gestapelt. Dessen Aufgabe war es auch, die Wiedereinstellungsgespräche nach einer vereinbarten Zeitspanne mit dem Hinweis auf einen wichtigen Termin zu unterbrechen. Ein Ende war sonst nicht abzusehen.
Bald mußte Frankreich England den Krieg erklären, und wie immer würden sie völlig unvorbereitet sein. Zu wenig Schiffe, zu wenig Männer. Immer das gleiche.
Drews Blick fiel auf die zuoberst liegende Personalakte: Richard Bolitho, Esquire. Sie sah abgenutzt aus und ließ Sir Marcus wünschen, ein anderer säße jetzt auf seinem Stuhl. Denn auch Richard Bolitho, der sich im Kampf gegen die amerikanischen Rebellen so sehr ausgezeichnet hatte, war jetzt nicht besser dran als andere. Dabei hatte er seither zwei höchst erfolgreiche Einsätze bewältigt, den letzten als Kommandant der Fregatte Tempest im südlichen Pazifik. Sein damaliges Gefecht mit der französischen Fregatte Narval und deren Geleit genoß schon legendären Ruhm. Die Meuterei auf der Bounty und die gräßlichen Ereignisse in Paris hatten einem berüchtigten Piratenfürsten auf den kaum verteidigten Südseeinseln freie Hand gelassen. Nur Bolithos Schiff hatte damals zwischen ihm und der Kontrolle über die britischen Handelswege zum reichen Indien gestanden.
Und nun wartete Bolitho da draußen, hatte seit Wochen täglich auf der Admiralität vorgesprochen. Wie die meisten seiner Kollegen wußte Drew eine Menge über Bolitho. Dessen Familie in Cornwall rühmte sich einer alten Marinetradition und hatte lange unter der Schande gelitten, die auch Richard Bolitho noch schwer zu schaffen machte: Sein älterer Bruder Hugh war nach dem Duell mit einem anderen Offizier aus der Navy desertiert und in die aufständischen amerikanischen Kolonien geflohen. Dort war er dann Leutnant und – noch schlimmer – Kommandant einer von den Rebellen erbeuteten englischen Fregatte geworden.
Auch nicht die größte Tapferkeit, nicht die makelloseste Führung konnten diesen Schandfleck auf der Familienehre der Bolithos tilgen. Immerhin hatte Richard die Schuld überreich zurückgezahlt, dachte Drew beim Durchblättern seiner Akte. Erst eine lebensgefährliche Verwundung und dann, nach dem Sieg über den Südseepiraten, ein hartnäckiges Tropenfieber. Zwei Jahre lang hatte es ihn niedergestreckt, und wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was bis zu Drew gedrungen war, dann war Bolitho in dieser Zeit dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen.
Ihre Lordschaften hatten also genug Anlaß, ihm endlich wieder eine Chance zu geben. Aber falls man es recht bedachte, wäre es vielleicht besser für ihn, wenn er die ihm jetzt zugedachte Aufgabe ablehnte und sich nicht um die Konsequenzen scherte.
Drews Augen wurden schmal, als ihm einfiel, daß Bolitho eine Affäre mit der schönen Frau eines Regierungsbeamten gehabt hatte. Aber sie war nach wochenlanger Irrfahrt im offenen Rettungsboot an Fieber und Durst gestorben. Erledigt. Drew klappte die Personalakte zu. Immerhin – eine verbotene Liebe. Wenigstens eine Abwechslung nach all der spießigen Buchstabentreue und vollmundigen Pflichterfüllung, die ihm täglich von Bewerbern vorgespiegelt wurde.
Ungeduldig griff er nach einer kleinen Messingglocke und läutete. Bringen wir’s hinter uns, dachte er. Falls es wieder Krieg mit Frankreich gab – einen Krieg, in dem der französische Erzfeind diesmal nicht von monarchistischer Ethik gezügelt würde –, mochte kein Platz mehr für die Helden von gestern sein. Englische Agenten berichteten aus Paris, daß ganze Adelsfamilien durch die Straßen geschleift und unter dem Jubel des Pöbels guillotiniert wurden. Nicht einmal Kinder wurden verschont.
Drew dachte an seine große Familie in Hampshire und mußte einen Schauder unterdrücken. Das konnte, das durfte in England nicht geschehen.
Sein Sekretär öffnete die Tür und meldete wie ein routinierter Schauspieler mit gesenktem Blick: »Kapitän Richard Bolitho, Sir Marcus!«
Drew deutete scheinbar zerstreut auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Schon als Kapitän hatte er gelernt, sich keine Gefühlsregung anmerken zu lassen und trotzdem scharf zu beobachten.
Richard Bolitho war fünfunddreißig, sah aber jünger aus. An der hochgewachsenen, schlanken Gestalt schlotterte der Rock des Vollkapitäns mit seinen weißen Kragenaufschlägen und Goldlitzen. Als Bolitho sich niederließ, spürte Drew dessen Anspannung, obwohl der Mann sich Mühe gab, sie zu verbergen. Die Aprilsonne fiel auf sein schwarzes Haar, aus dem eine Strähne schräg über die tiefe Stirnnarbe fiel; da war er als blutjunger Leutnant auf irgendeiner südlichen Insel verwundet worden, als sein Trupp Wasser für das Schiff bunkern wollte. Drew sah, daß die Augen, die ihm gefaßt entgegenblickten, so grau waren wie der Atlantik im Winter.
Der Konteradmiral kam gleich zur Sache. »Freut mich, daß wir uns endlich kennenlernen, Bolitho. Sie sind nicht nur einer von Englands Helden, sondern auch ein beliebtes Gesprächsthema.« Aber die grauen Augen senkten sich nicht, und Drew fühlte sich irritiert. Plötzlich befand er sich diesem Mann gegenüber in der Defensive. Dabei war Bolitho hier der Bittsteller und bewarb sich um ein Schiff, irgendein Schiff.
Drew begann noch einmal. »Sind Sie der Ansicht, daß Ihre Gesundheit wieder ganz hergestellt ist?«
»Mit Sicherheit, Sir Marcus.«
Drew entspannte sich. Er hatte wieder die Oberhand, denn ihm war die plötzliche Besorgnis in Bolithos Augen nicht entgangen. »Sie kennen ja die alte Crux, Bolitho«, fuhr er fort. »Zu viele Kapitäne und nicht genug Schiffe, die wir ihnen anvertrauen könnten. Natürlich gibt es Truppentransporter und Versorgungstender, aber …«
Bolithos Augen blitzten auf. »Ich bin Fregattenkapitän, Sir Marcus!«
Der Konteradmiral hob die von Spitzen halbverhüllte Rechte. »Sie waren Fregattenkapitän, Bolitho«, korrigierte er und sah Schmerz über das Gesicht seines Gegenübers zucken. Die Falten vertieften sich und ließen die Wangenknochen noch stärker hervortreten. Vielleicht hatte er das Tropenfieber doch noch nicht überstanden? »Und ein ausgezeichneter dazu«, schloß er glattzüngig.
Bolitho beugte sich vor, eine Hand so fest um den Knauf seines alten Familiendegens gekrampft, daß die Knöchel weiß schimmerten. »Ich bin wieder völlig gesund, Sir Marcus. Bei Gott, als ich zu Ihnen vorgelassen wurde, dachte ich …«
Drew erhob sich und trat wieder ans Fenster. Die Genugtuung über seinen rhetorischen Sieg wollte sich nicht einstellen; fast fühlte er sich beschämt.
»Wir brauchen dringend Leute, Bolitho«, sagte er. »Seeleute, die man ans Ruder stellen und in den Mast schicken kann und die im Ernstfall auch zu kämpfen wissen.« Schnell wandte er sich um und sah, daß Bolithos Blick auf dem alten Degen ruhte. Der hätte so manches erzählen können, dachte er. Ein Familienerbstück seit Generationen, war er ursprünglich Bolithos älterem Bruder zugedacht gewesen. Dessen Schande und Verrat hatten den alten Bolitho ins Grab gebracht.
»Sie werden in der Nore[1] stationiert, als Befehlshaber einer Flottille kleinerer Fahrzeuge.« Der Konteradmiral wedelte mit der Hand. »Wir hatten viele Deserteure in der Nore – Schmuggel bringt dort mehr ein als der Kriegsdienst. Manche Matrosen sind sogar zur Ehrenwerten Ostindischen Handelskompanie übergelaufen, obwohl ich …«
Bolitho unterbrach ihn kühl: »Die Ostindienkompanie steht ja auch in dem Ruf, ihre Leute gut zu behandeln, Sir Marcus. Ganz im Gegensatz zur Kriegsmarine.«
Drew fuhr herum und sagte scharf: »Wie dem auch sei, etwas anderes habe ich Ihnen nicht zu bieten. Ihren Lordschaften scheinen Sie der geeignete Mann dafür zu sein. Falls Sie jedoch …«
Bolitho erhob sich, den Degen fest an die Hüfte gepreßt. »Verzeihen Sie, Sir Marcus. Meine Kritik galt nicht Ihnen persönlich.«
Drew schluckte trocken. »Ich verstehe vielleicht besser als Sie glauben.« Er wechselte das Thema. »Natürlich können Sie mit keinem Mann von Ihrer alten Tempest rechnen. Sie kehrte lange vor Ihnen heim und wurde der Kanalflotte zugeteilt. Ihre Fregatte hieß doch Tempest, nicht wahr? Und davor war es die Unicorn, wenn ich nicht irre.«
Bolithos Enttäuschung wuchs, obwohl der Konteradmiral wirklich guten Willens war. »Sie hieß Undine, Sir«, antwortete er bedrückt.
»Na, jedenfalls …« Die Audienz war so gut wie beendet.
Leise setzte Bolitho hinzu: »Immerhin habe ich noch meinen Bootssteurer. Das genügt.«
Drew bemerkte, daß sich die vergoldete Türklinke bewegte; der Sekretär hielt sich genau an den Zeitplan.
Doch Bolitho war noch nicht fertig. »Inzwischen mag es schon Geschichte oder überhaupt vergessen sein. Aber ein Schiff, mein Schiff, war alles, was Seine Majestät damals im ganzen Pazifik zur Verfügung hatte, um die Piraten zu stellen und zu vernichten.« Bolithos Blick hing an dem großen Schlachtengemälde. »An jenem Tag wurde ich verwundet. Und das Fieber lähmte mich.« Er wandte sich wieder Drew zu und lächelte, aber das Lächeln reichte nicht bis zu den grauen Augen. »Es war mein Bootssteurer, der den Piratenfürst tötete. Deshalb könnte man sagen, daß er ganz allein die Inseln gerettet hat – nicht wahr, Sir Marcus?«
Drew streckte ihm die Rechte entgegen. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Bolitho. Mein Sekretär wird Ihre Befehle ausfertigen. Haben Sie Geduld – England wird bald alle seine Söhne dringend brauchen.« Er runzelte die Stirn. »Amüsiert Sie das etwa?»
Bolitho nahm seinen Hut aus der Hand des wartenden Sekretärs entgegen. »Nein. Ich dachte nur gerade an meinen verstorbenen Vater, Captain James, wie ihn alle nannten. Er sagte einst fast die gleichen Worte zu mir.«
»Oh – und wann war das?«
Bolitho ging zur Tür, in Gedanken schon ganz bei seiner neuen Aufgabe. »Bevor wir Amerika verloren, Sir«, sagte er zerstreut.
Wütend starrte Drew die Tür an, die sich hinter Bolitho schloß. Aber dann mußte er unwillkürlich grinsen. Es stimmte also. Dieser Mann wurde seinem Ruf wirklich gerecht.
Ruckartig fuhr Bolitho in die Höhe und öffnete die Augen. Es überraschte ihn, daß er trotz des Gerüttels eingeschlafen war, während die Kutsche über die holprigen Straßen Kents rollte.
Er blickte durchs Seitenfenster. Büsche und Bäume in den verschiedensten Grüntönen huschten vorbei, das glänzende Laub schwer vom letzten Regenschauer. Frühling im Garten Englands, dachte er. Aber noch ließ die Sonne auf sich warten.
Bolithos Reisegefährte schlief in unbequemer Haltung auf dem Sitz gegenüber: sein ehemaliger Steward Bryan Ferguson, der nun Haus und Hof in Falmouth in Bolithos Abwesenheit gut verwaltete. In der Schlacht bei den Saintes hatte er einen Arm verloren. Wie Bolithos Bootssteurer Allday war auch er ein Gepreßter, aber das gemeinsam Durchgestandene hatte sie zusammengeschmiedet. Bolitho lächelte trübe. Nur sehr aufmerksame Beobachter merkten, daß Ferguson einarmig war, denn er verbarg seine Behinderung sehr geschickt unter einem weiten grünen Mantel. Neben Fergusons ausgestrecktem Bein sah Bolitho etwas blinken und erriet, daß der Verwalter seine Lieblingspistole mitgebracht hatte, nur für alle Fälle. Denn Kents Landstraßen führten bei Gott durch wilde, einsame Gegenden.
Bolitho streckte die schmerzenden Glieder. Die Furcht, daß das Fieber trotz aller tröstenden Versicherungen der Ärzte überraschend wieder ausbrechen könnte, verließ ihn niemals ganz. Er erinnerte sich wieder an die zwei Jahre, in denen er mit dem Tod gerungen hatte. Mittlerweile besaß er wieder die Kraft, diese Zeit zu rekapitulieren. Verschwommen tauchten besorgte Gesichter vor ihm auf: das seiner Schwester Nancy und ihres pompösen Mannes, der Richter war und wegen seines unermeßlichen Landbesitzes der »König von Cornwall« genannt wurde. Und das Gesicht von Fergusons Frau, der Haushälterin im großen grauen Steinhaus unterhalb von Pendennis Castle. So viele Bolithos hatten hier das Licht der Welt erblickt und waren später ausgezogen, dem Ruf der See zu folgen. Manche waren nie zurückgekehrt. Doch am lebhaftesten erinnerte sich Bolitho an seinen Bootssteurer Allday. Damals schien er nie zu schlafen und war ständig in der Nähe gewesen, um Bolitho im Kampf gegen das Fieber zu helfen und seine Wutausbrüche abzuwettern.
Allday stand so fest wie eine Eiche. In den zehn Jahren, seit ihn die Preßgang an Bord gebracht hatte, waren ihre Bindungen immer enger geworden. Alldays instinktives Verständnis für alles Seemännische, aber auch seine gelegentlichen Unverfrorenheiten stabilisierten Bolitho wie ein Anker. War er ein Freund? Nein, viel mehr als das.
Jetzt konnte er ihn draußen auf dem Kutschbock mit dem alten Matthew Corker reden hören. Gelegentlich mischte sich die helle Stimme des jungen Matthew von hinten ein. Der Junge war erst vierzehn und des alten Kutschers Enkel und Augapfel. Kein Wunder, hatte er ihn doch großgezogen, seit sein Vater mit einem der berühmten Paketschiffe aus Falmouth untergegangen war. Der alte Matthew hoffte, der Junge würde einmal in seine Fußstapfen treten und Kutscher werden, denn er begann allmählich die Jahre zu spüren. Bolitho war es nicht entgangen, daß er öfter mal die falsche Straße eingeschlagen hatte auf dieser langen Reise von Falmouth, die schon vor Wochen begonnen hatte. Der Alte war nur die Häfen und Fischerdörfer rund um Falmouth gewöhnt; die anstrengende Strecke nach London mit ihren häufigen Poststationen und Pferdewechseln hatte ihm zu schaffen gemacht.
Die Kutsche war Bolithos Idee gewesen. Die Vorstellung, daß er unterwegs unter Fremden, vielleicht sogar in einer öffentlichen Postkutsche, einen Fieberanfall erleiden könnte, war zu schrecklich gewesen. Sein eigenes Gefährt war zwar alt – es hatte noch seinem Vater gedient –, aber sehr gut gefedert, und seine Bewegungen fühlten sich an wie die eines Bootes im Seegang. Dunkelgrün lackiert, trug jeder Wagenschlag das Wappen der Bolithos, umrahmt von dem Spruch: Für meines Landes Freiheit.
Während Bolitho zwischen den schier endlosen grünen Mauern der regennassen Hecken dahinrollte, tastete er nach dem Marschbefehl in seiner Tasche: Sie haben sich unverzüglich zur Nore zu begeben … Über den breiten Fluß Medway, durch die kleinen Orte entlang der Landstraße nach Chatham, dann vorbei am Royal Dockyard, der Werft der Kriegsmarine, und schließlich auf die offene See … Befehlshaber wovon? Bisher hatte man ihm nur gesagt, daß er dem Standortkommandeur, einem gewissen Ralph Hoblyn, unterstellt war. Dieser Name war ihm wenigstens ein Begriff, denn Hoblyn hatte auf der mittelamerikanischen Station tapfer gekämpft, bis er bei der Entscheidungsschlacht in der Chesapeake Bay 1781 schwer verwundet worden war. Hatten sie auch ihn abgeschoben?
Ferguson gähnte und richtete sich auf. »Sind wir nicht bald in Rochester, Sir?«
Bolitho zog seine Taschenuhr heraus und wappnete sich gegen die schmerzliche Erinnerung, als er den Deckel aufschnappen ließ. Denn sie hatte ihm diese Uhr geschenkt, als Ersatz für seine im Kampf verlorene: Viola Raymond. Unzählige Male hatte er sie in Gedanken erneut zum Leben erweckt, um wieder ihr Lachen zu hören, das Licht in ihren Augen funkeln zu sehen. Seine geliebte Viola … Manchmal erwachte er nachts schweißgebadet und rief ihren Namen, spürte sie wieder seinen Armen entgleiten wie an jenem furchtbaren Tag im Rettungsboot. Sie vor allen anderen hatte gelitten unter der Hoffnungslosigkeit ihrer Situation, unter der gnadenlosen Sonne, dem verzehrenden Durst und Hunger und schließlich unter dem schleichenden Wahnsinn der Schiffbrüchigen. Aber dennoch hatte sie ihnen allen aus verborgener Quelle Kraft gegeben, hatte die versengten Gesichter, die aufgeplatzten Lippen zum Lächeln gebracht. Des Captains Lady, hatten sie sie genannt.
Dann, am letzten Tag, als Bolitho schon wußte, daß sie Tempest wiedergefunden hatten, war sie von allen unbemerkt gestorben. In den Alpträumen, die Bolitho danach quälten, kehrte ein fürchterliches Bild immer wieder: wie Allday ihren schmalen Körper, an den als Gewicht ein Anker gebunden war, über Bord gleiten ließ. Im dunklen Wasser sank die weiße Gestalt immer tiefer, wurde kleiner und kleiner und verschwand schließlich außer Sicht. Ohne Allday hätte er damals den Verstand verloren. Und noch heute konnte er nur mit schneidendem Schmerz an Viola denken.
Bolitho starrte immer noch die Taschenuhr in seiner Hand an. »Wir sollten bald den Medway sehen«, sagte er schließlich.
In seiner Stimme schwang eine Mutlosigkeit mit, die Ferguson aufblicken ließ. Das dunkle kluge Gesicht, die grauen Augen, die heiter, aber auch mitleidig blicken konnten – sie waren noch die gleichen. Und trotzdem war ihnen irgend etwas verlorengegangen, dachte Ferguson. Vielleicht für immer.
Der alte Matthew rief dem Pferdeknecht etwas zu, und die Kutsche kam auf einer Hügelkuppe langsam zum Stehen. Matthew verabscheute die Dienste von Pferdeknechten, war er doch seit seinem achtzehnten Jahr, als er Kutscher bei den Bolithos geworden war, selber vier-, manchmal sogar sechsspännig gefahren. Aber es war noch weit bis zur letzten Poststation vor Falmouth, wo er endlich seine eigenen Braunen würde vorspannen können; es hieß, daß er sie mehr liebe als seine Frau.
Allday knurrte draußen: »Hier doch nicht, Matthew. Auf seinen Beistand kann ich verzichten.«
Die Kutsche fuhr wieder an, die Pferdehufe kratzten über die steinige Straße, Zaumzeug klimperte wie Schlittenglocken. Bolitho öffnete das Seitenfenster und sah den Anlaß für Alldays Abscheu.
Sie hatten an einem einsamen Kreuzweg gehalten. Ein steinerner Wegweiser mit der Aufschrift London 30 Meilen teilte sich die Hügelkuppe mit einem Galgen, an dem menschliche Überreste gespenstisch im nassen Wind pendelten.
Als sie unten in der Senke hielten, stieg Bolitho aus und stampfte auf den Boden, um die Zirkulation in seinen Beinen wieder anzuregen. Die Luft schmeckte schon nach Salz, und hinter einer Reihe windzerzauster Bäume sah er das breite, gewundene Band des Medway. Von hier aus wirkte es glatt und unbeweglich, eher wie Zinn als wie Wasser, das eilig der See zuströmte.
Von Regenschleiern verhangen, lag im Hintergrund die alte Stadt Rochester; am Flußufer verfielen die Ruinen einer alten Festung. Rochester lebte wie viele Orte in diesem Teil Kents von der Marine mit ihrer großen Werft und den vielen Ausrüstungspiers. Aber in Kriegszeiten verriegelten die Einwohner bei Einbruch der Dunkelheit dennoch ihre Türen und Fenster und lauschten dahinter furchtsam auf die verhaßten Preßgangs, wenn sie die Straßen nach Opfern durchkämmten. Zuerst suchten sie in den Kneipen und Logierhäusern nach erfahrenen Seeleuten, aber seit der Bedarf der Flotte immer größer wurde, nahmen sie mit, wen sie finden konnten. Feldarbeiter und Schuljungen, Schneider und Sattler – niemand wurde verschont. Denn die Schiffe des Königs waren unersättlich.
Viele Kommandanten mußten mit einer Besatzung auslaufen, die nur zu einem Drittel aus erfahrenen Matrosen bestand. Der Rest lernte das Nötigste unter Flüchen, Prügeln und dem Klatschen der Peitsche. Bei dieser Tortur wurden viele getötet oder verletzt, lange bevor der Kommandant dem Feind gegenübertreten mußte. Männer stürzten aus der Takelage zu Tode, brachen sich die Knochen, wenn überkommende Seen sie gegen die festgelaschten Kanonen warfen, oder fielen unbemerkt über Bord und ertranken hilflos.
Jetzt, da über den Kanal wieder Kriegsgewölk gen England zog, mußten die Preßgangs ständig unterwegs sein, dachte Bolitho. Das Pressen war in der Bevölkerung verhaßt, aber noch gab es keine andere Methode; England brauchte Schiffe, und die Schiffe brauchten Männer. Diese Logik galt seit hundert Jahren.
Bolitho blickte auf, als wäßriges Sonnenlicht ihn wärmte. Kapitän auf eigenem Schiff. Einst war es ein unerreichbarer Wunschtraum gewesen, der schwierigste Schritt auf dem Weg vom überfüllten Fähnrichslogis zum Luxus der geräumigen Achterkajüte. Aber diesen Lohn schon erkämpft zu haben und wieder entrissen zu bekommen, war am härtesten zu verkraften.
Sein neues Kommando bestand aus drei Toppsegelkuttern, schnellen und wenigen Fahrzeugen, die den Zollschiffen glichen. Eines davon lag noch zum Ausbau in der Werft, doch auf den beiden anderen erwartete man seine Ankunft gewiß schon mit Neugier oder Mißvergnügen. Alle fragten sich wahrscheinlich, warum sich ein Vollkapitän in ihre vertraute kleine Welt drängte.
Bolitho hatte die wenigen verfügbaren Berichte eingehend studiert, in der Hoffnung, auch nur das kleinste Detail zu finden, das ihn mit seiner neuen Aufgabe hätte versöhnen können. Vergeblich. In Südostengland und besonders auf der Insel Thanet schienen sich Katze und Hund das Revier zu teilen. Die Zollkutter jagten Schmuggler, und die Preßgangs jagten widerspenstige Rekruten und Deserteure. Aber die Fraktion der Gesetzlosen – Schmuggler, die oft besser ausgerüstet und bewaffnet waren als ihre Gegner – schien die Oberhand zu haben.
Als Bolitho wieder die Kutsche bestieg, begegnete er Alldays Blick, dessen eisengrauer Nackenzopf keck über den Kragen seiner dunkelblauen Uniformjacke ragte.
»Da sind wir wieder, Käptn«, stellte Allday fest. »Fregatte oder nicht, es ist die See, wo wir hingehören.«
Bolitho lächelte ihn an. »Das werde ich mir merken, alter Freund.«
Allday lehnte sich zurück und sah zu, wie die Pferde antrabten. Es war ihm nicht entgangen, daß Bolithos Wangenmuskeln arbeiteten. Er hatte die Zähne zusammengebissen wie unter Feindbeschuß oder wie damals, als seine Lady viele Faden tief in der See versank. So hatte er auch ausgesehen, als er das große graue Steinhaus fiebergeschwächt zum ersten Spaziergang verlassen hatte, nur ein paar Schritte weit am ersten Tag, aber jeden Tag ein bißchen weiter. Bis er seinen stützenden Arm wütend von sich stieß und zur Klippe wankte, an deren Fuß die Brandung um die Felsen tobte. Dort war er dann zusammengebrochen. »Ihr hätte es hier gefallen, alter Freund«, hatte er gemurmelt.
Gemeinsam hatten sie den Kampf bestanden, den härtesten, an den sich Allday erinnern konnte.
Jetzt war er wieder da, und gnade Gott jedem, der sich gegen ihn erhob. Allday tastete nach dem schweren Entermesser unter seinem Sitz. Der bekommt es erst mal mit mir zu tun, dachte er.
Der Ärger begann, noch ehe sie die ersten Häuser von Rochester erreichten.
In der schnell hügelabwärts rollenden Kutsche las Bolitho seine Befehle vielleicht zum hundertstenmal, als er Allday draußen rufen hörte: »Da vorn auf der Straße – bei Gott, da rottet sich Gesindel zusammen! Dreh um, Matthew!«
Der Kutscher zügelte die Pferde, und Bolitho hörte Allday im Gepäckkasten nach der geladenen Waffe kramen.
»Halt!« Bolitho schwang sich aus dem Wagenschlag und hielt sich am Handlauf fest. Die Kutsche stand fast quer zur Straße, die Pferde stampften und stiegen, beunruhigt durch das Geschrei vor ihnen. Der Mob wogte hin und her, drohte mit Fäusten und Knüppeln, andere grölten und ließen Flaschen kreisen. Zwei Reiter überragten das Gewimmel.
Allday stützte den dicken Lauf einer kurzen Hakenbüchse aufs Kutschdach und deckte sein Sitzkissen darüber. »Gefällt mir gar nicht, Käptn«, knurrte er. »Das sieht aus wie ein Lynchmob.«
Ferguson überprüfte seine kleine Pistole. »Stimmt, Sir«, sagte er. »Wir sollten umkehren. Es sind an die hundert, die uns da entgegenkommen.« In seiner Stimme schwang keine Furcht mit; Furcht zu überwinden hatte er schon bei den Saintes gelernt. Er war lediglich besorgt.
Bolitho blickte durch sein Fernrohr. In der Mitte des Getümmels konnte er zwei Männer ausmachen, die gefesselt, mit blutigen bloßen Füßen, an Halsstricken vorwärts gezerrt wurden. Einer davon war nackt bis zur Taille, dem anderen hing das Hemd in Fetzen vom Leib.
»Der eine Reiter scheint der Kleidung nach was Besseres zu sein«, bemerkte Ferguson.
Auch Bolitho war er schon aufgefallen: ein vierschrötiger, bärtiger Mann mit elegantem Hut und rot gefüttertem Mantel. Er schien den Mob anzustacheln, auch wenn seine Worte auf die Entfernung nicht zu verstehen waren.
»Vielleicht haben sie zwei Diebe gefangen, Käptn.« Allday warf einen Blick über die Schulter zurück, als erwarte er, den Galgen auf dem Hügel noch sehen zu können.
Knapp befahl Bolitho: »Weiterfahren!« Dann blickte er in Alldays besorgtes Gesicht. »Diese beiden angeblichen Diebe tragen Marineuniform.«
»Aber, Sir«, protestierte Ferguson, »das sagt doch noch nichts!«
Bolitho wandte den Blick nicht vom alten Matthew. »Mach voran, los!«
Die Kutsche fuhr an. Schon übertönte das anschwellende Wutgeschrei des Mobs das Poltern der Hufe und Knirschen der Räder.
»Heda!« Matthews Stimme war heiser vor Zorn. »Bleibt weg von meinen Pferden, ihr Hunde!« Dann hielt die Kutsche wieder.
Bolitho sprang auf die Straße und wurde sich der plötzlichen Stille, die sein Erscheinen bewirkte, überdeutlich bewußt. Schnapsgerötete Gesichter starrten ihn offenen Mundes an, als sei er ein Gespenst direkt aus der Hölle.
Er spürte, daß Ferguson ihn beobachtete, die gezückte Pistole noch außer Sicht. Allday rüstete sich zum Sprung vom Kutschbock, aber bis dahin mochte es schon zu spät sein.
Es war Matthews Enkel, der unabsichtlich die Spannung löste. Er rannte hinter der Kutsche hervor, um die Pferde zu beruhigen. Den Mob schien er überhaupt nicht zu bemerken.
Der bärtige Reiter trieb sein Pferd durch die Umstehenden nach vorn. »Ach, wen haben wir denn da? Einen Marineoffizier – meiner Treu!« Spöttisch deutete er im Sattel eine Verbeugung an. »Bestimmt auf dem Weg nach Chatham, um ein stolzes Kriegsschiff zu übernehmen. Damit will er uns dann vor den Franzosen schützen, nicht wahr?«
Trotziges Gelächter erklang, aber die meisten Männer musterten Bolitho mit stummem Mißtrauen, als erwarteten sie eine Falle.
Bolitho faßte den Reiter ins Auge. »Und was haben Sie vor, Sir?« Er legte die Hand auf den Degengriff. »Aber das frage ich Sie nicht zweimal!«
Der Bärtige starrte über Bolithos Schulter. Suchte er eine Eskorte? Immerhin erwiderte er mit selbstsicherem Grinsen: »Ich bin der stellvertretende Polizeichef von Rochester, Captain.«
»Wenigstens etwas. Jetzt kennt jeder des anderen Rang.«
In diesem Augenblick warf sich einer der Gefangenen stammelnd auf die Knie. Der hervorgewürgte Satz war kaum zu verstehen, weil der Mann an seinem Halsstrick sofort umgerissen wurde. Dennoch hatte Bolitho ein Wort herausgehört: Leutnant. Das reichte.
»Ich schlage vor, daß Sie diese Männer sofort freilassen. Sie sind beide Marineoffiziere in des Königs Diensten.«
Er bemerkte, wie den Umstehenden die Bedeutung seiner Worte dämmerte. Einige drückten sich bereits in den Hintergrund, um sich von dem Vorfall zu distanzieren. Doch der Bärtige brüllte: »Zur Hölle mit ihnen und ihrer verdammten Preßgang!« Wild blickte er sich um, als suche er Unterstützung. Und tatsächlich jubelten ihm einige zu.
Wie bellende Hunde, die das Wild gestellt haben, dachte Bolitho. Doch er blieb fest. »Nehmt ihnen die Stricke ab«, befahl er. Als sich keiner rührte, nickte er dem kleinen Matthew zu. »Mach du’s, mein Junge.« Dann wandte er sich an den bärtigen Reiter. »Und Sie, mein Herr, steigen jetzt vom Pferd. Sofort!«
Der halbnackte Leutnant taumelte in die Höhe; sein Oberkörper war mit Striemen und blauen Flecken bedeckt. »Sie haben uns überfallen, Sir«, stammelte er.
Sein Kamerad war viel jünger, wahrscheinlich erst Midshipman[2]. Jetzt brauchte es nur das geringste Anzeichen von Furcht, und die Rebellen würden sich auf sie stürzen. Dieser Übermacht waren Bolithos Leute nicht gewachsen.
Doch dann sah er, daß der Bärtige vom Pferd stieg. »Wo sind ihre Uniformen?« fuhr er ihn an.
Verblüfft starrte der Mann zurück, dann brach er in Gelächter aus. »Ein eiskalter Hund, wie? Ich muß schon sagen …« Er wurde ernst. »Die beiden hier haben Leute gepreßt, ohne den Bürgermeister vorher um Erlaubnis zu bitten. Da haben wir ihnen eine Lektion erteilt.« Er versuchte, Bolithos Blick standzuhalten. »Eine, die sie hoffentlich nie vergessen werden!«
»Ihre Uniformen!« Bolitho wartete.
Der Bärtige sah zu dem zweiten Reiter auf. »Sag’s ihm, Jack.«
Der andere rutschte unbehaglich im Sattel herum. »Die haben wir in einen Schweinekoben geschmissen.« Niemand lachte oder jubelte.
Bolitho nahm seinen Hut ab und warf ihn in die Kutsche. »Sie sind Offiziere des Königs, Sir.«
»Das wissen wir, verdammt noch mal. Wir wollten sie nur …«
»Also haben Sie den König beleidigt.«
»Was?« Dem Bärtigen quollen fast die Augen aus dem Kopf.
»Sie können wählen. Ziehen Sie Ihren schönen Degen, den Sie da so stolz an der Seite tragen.« Bolitho berührte seine eigene uralte Waffe. »Dann können wir die Sache gleich hier abmachen.« Sein Ton wurde schärfer. »Oder Sie entschuldigen sich. Na, wird’s bald? Haben Sie Ihrem tapferen Gefolge etwa nichts mehr zu sagen?«
Vor seinen Augen lag es wie Nebel, und er befürchtete einen Moment, sein Fieber könnte wieder ausgebrochen sein. Aber dann begriff er: Es war die gleiche verzweifelte Entschlossenheit, die ihn stets überkam, wenn er sich einem aussichtslosen Kampf stellte.
Ursprünglich hatte er diesen arroganten Dorftyrannen nur bluffen wollen. Jetzt aber wünschte er nichts sehnlicher, als daß dieser die Herausforderung akzeptierte, damit er ihn umbringen konnte. Die Wochen der Verzweiflung und Verbitterung, die demütigende Bettelei bei der Admiralität hatten seine Aggressionen geschürt; er lechzte nach Genugtuung.
»Ich – ich entschuldige mich, Kapitän.« Es war nicht viel mehr als ein Flüstern.
Bolitho musterte den Mann voll Verachtung. »Feigheit entschuldige ich nicht.« Dann sah er die beiden verängstigten Offiziere an, die offenbar schon mit dem Tod durch den Strick gerechnet hatten. »Steigen Sie ein, meine Herren.«
Ein letztes Mal wandte er sich an den Bärtigen. »Ihren Degen!« Er nahm die Waffe entgegen. Der Mann wog etwa doppelt soviel wie Bolitho, und dennoch zitterte seine Hand wie im Schüttelfrost.
Selbst jetzt konnte der Mob noch aufsässig werden. Aber irgend etwas hatte die Leute ernüchtert – der Anblick von Bolithos Uniform, das eigene Schuldgefühl? Er wußte es nicht, und es war ihm auch egal. Er schob den eleganten Degen halb unter den Gepäckkasten, dann drückte er ihn mit seiner ganzen Kraft hinunter, bis er brach wie ein trockener Zweig. Die Bruchstücke warf er dem Bärtigen vor die Füße.
»Feiglinge haben keine Verwendung für blanken Stahl, Sir. Und jetzt verschwinden Sie.«
Die Meute teilte sich und schien in den Feldern zu beiden Seiten der Straße förmlich zu versickern.
Bolitho setzte einen Fuß auf den Tritt und sah zum Bock auf. »Einen tapferen Enkel haben Sie da, Matthew.«
Der Kutscher wischte sich die schweißnasse Stirn. »Bei Gott, Käptn, eben haben Sie mir ganz schön Angst eingejagt.«
Vorsichtig entspannte Allday seine Hakenbüchse. »Da haben Sie sich einen gefährlichen Feind gemacht, Käptn. Denken Sie an meine Worte.«
Bolitho stieg in die Kutsche. »Hat er auch – in mir!«
Er merkte erst jetzt, daß er alle Muskeln angespannt hatte, um ihr Zittern zu unterdrücken. Das war gerade noch mal gut gegangen. Trotzdem konnte er den Verdacht nicht unterdrücken, daß dieser Aufruhr auf leerer Landstraße sorgsam inszeniert worden war – um ihn zu beeindrucken.
Er grinste sein Spiegelbild im Seitenfenster an. Aber mit dieser Reaktion hatte keiner gerechnet, nicht mal er selbst.
Bolithos Lächeln war Ferguson nicht entgangen. Vorhin hatte er befürchtet, daß schon hier alles zu Ende sein würde. Nun begriff er: Für Bolitho hatte es gerade erst angefangen.