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Table of Contents

Innentitel

Die Story

Die Autorin

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Epilog

Jede Menge Dankeschöns

edition tingeltangel

Impressum

 

 

ALEXANDRA KOLB

RINDVIEH-

DÄMMERUNG

 

Heimatthriller

 

 

Die Story

 

 

 

Heimatthriller mit »Akte X«- und »Twin Peaks«-Touch – ein unheimlicher Fall zwischen Weide, Wald & Wahn

 

Kathi Mühlbauer jobbt als Kellnerin in einem oberbayerischen Landgasthof. Aufgewachsen in einer Sektenkommune, hat sie immer noch mit psychischen Problemen zu kämpfen. Als die Gattin des millionenschweren »Brezen-Barons« unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt, gerät Kathi ins Visier der Ermittler. Ihr Freund Joshi verändert sich beängstigend. Das Jagdhaus von Großmutter Lore wirkt zunehmend düster. Und sogar die Kühe auf der Weide scheinen Kathi warnen zu wollen ...

Ein Roman-Debüt mit starken Charakteren, mit Witz, Verstand und jeder Menge Spannung!

Wer schräge, gruselige und packende Romane liebt, der wird bei »Rindviehdämmerung« voll auf seine Kosten kommen! Das macht Lust auf mehr – ich hoffe, von Alexandra Kolb wird man noch ganz viel lesen.

(Katja Brandis, Autorin der Bestseller-Reihe »Woodwalkers« und anderer Erfolgstitel)

Die Autorin

 

 

 

Alexandra Kolb übt seit 20 Jahren mehrere Kampfsportarten aus. In Taekwondo trägt sie den Schwarzgurt. Für die Mittelalter-Schaukampftruppe, die sie vor einigen Jahren gegründet hat, hält sie eine beachtliche Waffensammlung parat. Die größte Herausforderung freilich ist ihr Job: Tagesmutter.

Im Bücherregal steht der gesammelte Stephen King, doch literarisch wirkt auch ihre Jugend nach, die durch Ferien auf dem Bauernhof und bei der Verwandtschaft zwischen Staffelsee, Kochelsee und Walchensee geprägt war.

1

 

Das monotone Rauschen der Reifen auf dem Straßenbelag hatte eine einlullende Wirkung auf Ursula. Der Klassikkanal im Radio tat sein Übriges dazu. Der Abend war lang geworden, aber für einen guten Zweck gewesen. Dem Spendenaufruf des Brezenbarons hatte sich kaum ein geladener Gast aus der Lokalpolitik und Wirtschaft entziehen können. Trotzdem war die Summe der Spendeneinnahmen in Anbetracht des Durchschnittsverdienstes der Gäste überschaubar geblieben. Aber Ursula verstand nichts von diesen Dingen und hielt sich weitestgehend aus Geldangelegenheiten heraus. Das überließ sie ihrem Mann. Sie lebte im Luxus und genoss ihn in vollen Zügen. Für Garderobe, Haare, Shiatsu und andere Aufwendungen zückte sie ihre Karte oder ließ sich die Rechnung schicken. Auf die Zahlen achtete sie nicht.

Ganz bewusst sog Ursula den Duft des Wageninneren in sich auf. Sie hatte die Augen dabei geschlossen und versuchte, sich zu entspannen. Der Geruch war angenehm: Es roch nach dem Leder und dem Pflegemittel für die Armatur, dazu mischten sich Bertrams dezentes Rasierwasser und die Lotion, die sie für ihre Hände verwendete.

Meinem Gesicht sieht man das Alter nicht an, aber meinen Händen schon! Sie sind faltig, fleckig und knöchern.

»Schläfst du?«, unterbrach Bertram ihre Gedanken.

Ursula spürte die Versuchung, sich tatsächlich schlafend zu stellen. Doch sie blinzelte, atmete tief durch und begann, mit den Fingerspitzen ihre Schläfen zu massieren.

»Nein, Schatz«, antwortete sie. Dabei versuchte sie, ihrer Stimme einen beschwingten Klang zu geben. »Möchtest du zu Hause noch eine Kleinigkeit essen?«

Ursula rang sich ein Lächeln ab, während sich ihr Blick irgendwo in der Dunkelheit hinter den Lichtkegeln der Scheinwerfer verlor.

Diese Kopfschmerzen bringen mich noch um!

Noch war es keine Migräneattacke – in diesem Fall hätte sie zu stärkeren Tabletten als Aspirin gegriffen. Eher ein kaum merkliches Ziehen, das sie allerdings seit Tagen quälte und sich in ein hinterhältiges Stechen wandeln konnte.

»Mach dich doch schon mal frisch, wenn wir da sind. Ich hole uns noch einen guten Wein aus dem Keller«, beschloss Bertram, wobei er sachte ihr Knie tätschelte. Es war nicht zu überhören, dass diese Abendveranstaltungen ihn mindestens genauso anstrengten wie sie.

Immerhin arbeitet er den ganzen Tag – im Gegensatz zu mir. Mir bleiben ein bisschen Hausarbeit und der Garten. Aber das meiste erledigen sowieso unsere Angestellten.

Ein Gärtner und eine Putzhilfe kamen jeden Montag, Mittwoch und Freitag und nahmen ihr die meiste Arbeit ab. Allerdings war das Anwesen recht groß.

Ich habe ein gutes Leben. Vielleicht sollte ich mir wieder etwas suchen? Eine Charité-Aktion für das Tierheim? Oder für das neue Flüchtlings… Nein. Besser nicht. Das würden viele Leute nicht gut finden. Aber das Tierheim, das ist gut. Alle mögen Hunde und Katzen. Die armen Tiere.

 

Der schwere, silberfarbene Mercedes bog in eine Auffahrt ab, die einen leichten Hang hinaufführte. Nebel hing über dem taunassen Rasen und wie von Geisterhand schwang das gusseiserne Tor zur Einfahrt des Anwesens auf und schloss sich sofort wieder, als es der Wagen passiert hatte. Die Lichtkegel der Scheinwerfer erhellten den Kiesweg und schließlich die Stufen zum Haupteingang. Spontan fühlte sich Ursula an Theaterscheinwerfer erinnert, die eine neue Szene ausleuchteten: eine unheilvolle Wendung, die der Regisseur mit grellem Licht in finsterer Umgebung einleitete. Nur traf es hier keine staubigen Bühnenbretter, sondern die blitzblanken Marmorstufen, die in ihr Zuhause führten.

Ursula straffte ihre Schultern, strich ihren Rock glatt und wartete, bis Bertram den Wagen angehalten hatte. Er stieg aus, ging um das Fahrzeug herum und öffnete ihr die Tür.

Ein Kavalier der alten Schule. Immer noch.

Für einen Moment waren die Kopfschmerzen vergessen.

»Bis gleich«, sagte sie und ging nach drinnen, wobei ihre bleistiftdünnen Absätze den Marmor der Treppenstufen rhythmisch zum Klingen brachten. Das Geräusch war ihr eigentlich vertraut, doch heute Nacht schien irgendetwas anders zu sein. Kurz vor dem Eintreten hielt sie für einen Moment inne, dann schüttelte sie den Kopf. Nebenan hörte sie ihren Mann den Wagen in eine der Garagen einparken.

Du bist müde! Vielleicht bekommst du eine Grippe oder so was. Das würde die Kopfschmerzen erklären. Alles ist in Ordnung! Es wird noch eine halbe Stunde dauern, bis Bertram den Wein ausgesucht hat. Er genießt es doch so, seine Schätze zu bewundern. Auf alle Fälle kann ich mich in Ruhe duschen, umziehen und für die Nacht herrichten.

 

Ein Badezimmer, das komfortabelste von allen vier, befand sich direkt neben dem Schlafzimmer im ersten Stock. Ursula hatte geduscht, sich abgetrocknet und ihren Körper mit verschiedenen Lotionen eingecremt. Jetzt stand sie in ihrem glänzenden Seidennachthemd vor einem fast zwei Meter hohen, schmalen Spiegel, der eingefasst war von romantischen Jugendstilornamenten. Da Bertram nicht bei ihr war, brauchte sie ihre Zweifel nicht zu verstecken. Sorgenfalten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab und wurden von Ursula entrüstet beäugt.

Das darf nicht wahr sein! Vor vier, nein fünf Wochen wurde ich das letzte Mal behandelt! Die Spritzen müssten länger halten! Oder war das irgendein ausländisches, gepantschtes Zeug, das er mir gegeben hat?

Eine Sache beunruhigte sie allerdings noch mehr. Zaghaft öffnete sie ihr Nachthemd und hob prüfend mit beiden Händen ihre Brüste an. Bertram hatte sie ihr vor drei Jahren zum 60. Geburtstag geschenkt und nun wurden sie wieder schlaffer!

Gleich morgen früh werde ich nach München zu Dr. Birkhoff fahren! Er muss das sehen! Und er sollte mir einen Rabatt auf die nächste Botox-Behandlung geben! Das ist das Mindeste, was er tun muss! Einen neuen OP-Termin brauche ich auch. Das muss gerichtet werden!

Sie sollte einen prallen Busen haben – immerhin hatte sie sogar auf eigene Kinder verzichtet. Nicht auszudenken, was mit den Brüsten einer Frau passierte, die in ihrem Leben mehrere Kinder gestillt hatte! Sie trat näher an den Spiegel, beugte sich weit vor, sodass ihr Atem daran kondensierte.

»… das kann er auch machen … und das auch …«, hauchte sie, während sie zuerst an einer dünnen Falte oberhalb der Augenbrauen zog und dann ihre Lider mit den Spitzen ihrer Zeigefinger anhob.

Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt und ihre Hände zitterten vor Ärger. Es war so ungerecht! Sie trieb Sport, hatte eigens einen Fitnessraum eingerichtet, ernährte sich fast nur von Fisch und Gemüse, sodass sie immer noch Konfektionsgröße 36 tragen konnte, und trotzdem … Mit einem ärgerlichen Schnauben schloss Ursula ihr Negligé.

Ein kaum hörbares Wimmern ließ sie plötzlich irritiert aufhorchen. Im ersten Moment erinnerte es an … ein Baby? Ein Schauder jagte ihr über den Rücken, aber wo sollte hier ein Kind herkommen?

»Bertram?«, hauchte sie und wusste gleichzeitig, dass ihr Mann noch nie so einen Ton von sich gegeben hatte. Ursula hielt den Atem an. Ein Kratzen oder Scharren, ganz leise und vorsichtig, ertönte aus dem unteren Bereich des deckenhohen Einbauschranks, der einen Teil ihrer Garderobe beherbergte. Sie hielt inne, fixierte die Stelle an der Schranktür gut drei Meter vor ihr. Dann wartete sie einen Moment ab, wobei sie fröstelnd ihre Arme um sich schlang.

Ich muss mich getäuscht haben! Vielleicht halluziniere ich wegen dieser dummen Kopfschmerzen.

Im Haus gab es mit Gewissheit weder ein Baby noch irgendein Tier, das diesen Laut hätte von sich geben können und schon gar nicht im Wandschrank!

Sie harrte weiter aus, spürte, wie ihr Herz von innen gegen ihren Brustkorb drückte und viel zu schnell schlug.

Vielleicht hatte auch nur eine Tür irgendwo gequietscht?

Das Wimmern war beim zweiten Mal deutlich lauter und klarer. Ein einziger, langgezogener Klagelaut. Ursula gab ein Keuchen von sich und wich zurück.

Da ist etwas im Schrank! Da ist … Stell dich nicht so an! Du bist eine erwachsene Frau!

Sie fasste sich ein Herz, griff zum Knauf und riss kurzentschlossen die Tür auf. Gleich danach tat sie einen großen Schritt zurück, um einen Blick darauf zu werfen, was sich im Inneren befand und rechnete mit dem Schlimmsten.

Was, wenn das eine Ratte ist, die dich angreift? Oder …

Als keine Attacke erfolgte und auch kein Angreifer zu erkennen war, beugte sich Ursula vorsichtig nach unten, um einen besseren Blick ins Innere zu bekommen und die Quelle des Geräuschs zu entdecken. An der Kleiderstange hingen Winterjacketts und Damenblazer, der Boden war frei bis auf …

Was ist das?

Dort kauerte, fest in die Ecke des Schranks gedrückt, eine kleine Kreatur.

Rosig und nass wie ein Baby … Nein, du Dummerchen! Ein Baby – lächerlich! Siehst du nicht, das Näschen, die Haare …

»Och, was bist denn du?«

Unbewusst hatte Ursula die Stimme angehoben und das Säuseln begonnen. Sie näherte sich der geöffneten Schranktür, ging in die Hocke und streckte zögernd die Hand nach dem schmutzig-nassen Knäuel aus.

»Was bist denn du? Duziduziduuu …«

Eine Handvoll Tier, sehr dreckig und ein Baby. Es fiepte und winselte, gleichzeitig zuckten seine winzigen Füße. Ursula fühlte sich an etwas erinnert, was lange zurück lag, ihr aber nicht wirklich ins Gedächtnis kommen wollte.

»Bist du ein Babywaschbär? Oder, oh, hoffentlich kein Babymarder?«, rätselte sie, dann war es auf einmal völlig klar: »Ein Kätzchen! Wo kommst du denn her?«

Sie streckte die Hand weiter aus, um das kleine Ding heraus zu holen, doch noch in der Bewegung hielt sie inne.

Ja, gut. Ein Kätzchen. Aber wie ist es herein gekommen? Wir haben keine Katzen und ich glaube auch nicht, dass ein Fenster offen gestanden hatte, so dass eine der Nachbarskatzen … nein.

Eine andere Erklärung gab es jedoch nicht.

Das Kätzchen riss auf einmal sein Mäulchen auf und stieß ein lautes Fiepen aus. Aus irgendeinem Grund ließ dieser Ton Ursula erneut frösteln und verursachte gleichzeitig in ihr eine diffuse Übelkeit. Mit ungelenken Bewegungen auf krummen Beinchen setzte sich das Kätzchen in Bewegung und näherte sich ihr.

»Warte kurz, kleines Miezilein. Mama macht sich fertig und dann kümmre ich mich um dich«, versprach Ursula.

Hoffentlich macht es derweil keinen Dreck oder etwas kaputt.

Das Kätzchen maunzte. Es klang plötzlich sehr nah.

Überrascht sah Ursula in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war und dann zum Einbauschrank zurück. Dort kletterte das Kätzchen gerade heraus. Genauer gesagt, schob es sich mit seinen kleinen Beinchen bis zur Tür und plumpste dort schwer zu Boden.

Ist das normal, dass bei neugeborenen Kätzchen der Bauch so dick ist?

Da bemerkte sie ein zweites Kätzchen, das sich direkt vor ihr befand! Vor Schreck entfuhr ihr ein Keuchen, doch gleich ermahnte sie sich zur Ruhe und atmete tief durch.

Nur Kätzchen, Ursula! Kein Einbrecher, nur irgendwelche … woher kommen die beiden?

»Oh! Noch ein kleines Miezilein?«, begrüßte sie das zweite Tier. Sie wunderte sich selbst über den Klang ihrer Stimme. Sie hörte sich erfreut an, aber in Wahrheit hatten diese nassen, kleinen Körper irgendwie etwas … Ekliges an sich.

Aber es sind doch nur Babykätzchen!

»Mama kümmert sich um euch!«, wiederholte sie ihr Versprechen.

Was wird Bertram dazu sagen? Bestimmt sind sie nicht nur dreckig, sondern auch krank und unterernährt. Gibt es eine Notrufnummer für Katzen, die man im Schrank findet?

Beinahe hätte Ursula losgelacht, so skurril klang diese Frage. Allerdings hatte sie noch nie ein Haustier besessen. Lediglich in ihrer Jugend, als sie für ein paar Monate als Bikermädchen ihre wilde Seite ausgelebt hatte, da hatte sie sich um die Fische im Clubhaus gekümmert. Besser gesagt: Sie hatte das Aquarium geputzt und alle paar Wochen neue Fische gekauft. Aber Katzen? Noch dazu Babykatzen? Im Ort gab es einen Tierarzt. Aber behandelte der auch Kleintiere?

Hier auf dem Land brauchten die so einen doch nur für kranke Kühe und Schweine!

Und ob der in der Nacht Dienst hatte? Zum nächsten Tierheim musste man eine Dreiviertelstunde fahren. Das hatte sie mal bei einem Gespräch der Fahrer aufgeschnappt. Sie hatten vor einigen Wochen mehrere Kisten Brezen und Semmeln für die Bewirtung der Gäste des Tierheimflohmarkts gespendet.

Um diese Uhrzeit hat der zu! Und Bertram wird auch nicht mehr den Wagen aus der Garage holen! Nicht wegen so was.

Winselnd hockten mittlerweile beide Kätzchen zu ihren Füßen. Erst jetzt erkannte Ursula, dass ihre klebrigen Augen noch geschlossen waren, und an ihren aufgeblähten, nassen Bäuchlein hing jeweils ein blaugraues dünnes Ding. Die Nabelschnur? Die kleinen Tiere krochen, unbeholfen und zielgerichtet zugleich, zu Ursula, wobei ihre schmutzigen Pfötchen auf dem Weg zu ihr eine schleimige Spur hinterließen.

Mit einem unterdrückten Ächzen wandte sich Ursula von ihnen ab und verzog das Gesicht.

»Die sind nicht süß! Die sind eklig! Besser, ich hol eine Kiste, setze sie hinein und bringe sie weg, bevor Bertram kommt!«

Mit wenigen Schritten war Ursula im Bad und griff nach einem der großen, gefalteten Duschtücher im Regal. Anfassen wollte sie diese komischen, kleinen Körper auf keinen Fall! Sie nahm eines der extra-weichen und dicken Tücher, die in diesem Bad alle apricotfarben waren, und erwartete den flauschigen Stoff, aber ihre Finger ertasteten einen kalten, feuchten … Körper? Ursula riss die Hand zurück, stieß einen spitzen Schrei aus und wich nach hinten aus.

»WAS? … noch eins? Noch eins!«

Ein drittes Kätzchen kletterte ungeschickt zwischen den Frotteetüchern hervor. Sein Köpfchen reckte es in Ursulas Richtung und stieß – wie die anderen zuvor – ein hilfesuchendes Fiepen aus. Doch nach wenigen wackeligen Schritten fiel es über den Rand des Regals, aus gut eineinhalb Metern Höhe, und landete mit einem Knacken auf dem silbergrau gesprenkelten Marmorboden. Ursula hielt sich schockiert die Hand vor den Mund.

Sie wollte zurück in den Ankleideraum, aber dort saßen bereits die beiden anderen Babykatzen – hässlich und blind auf ihren Stummelbeinen – und maunzten schrill im Chor.

Das darf nicht wahr sein! Igitt! Jemand muss die wegtun!

»BERTRAM! KOMM SCHNELL! HILF MIR!«, rief sie aus vollem Hals.

Jetzt war es ihr egal, was er denken würde. Sollte er die Dinger doch irgendwo aussetzen, Hauptsache, sie waren weg! Bertram antwortete nicht.

Er ist noch im Weinkeller. Er hört mich nicht …

Sie warf einen Blick in den Spiegel. Eine alternde, hagere Frau mit eingefallenen Wangen und viel zu viel Schminke um die Augen glotzte ihr panisch entgegen.

Hässlich! Oh, Gott! Ich bin so hässlich!

Kajal und Wimperntusche waren vollkommen verschmiert, ihr Gesicht hatte einen fettigen Teint und war gerötet.

»Das musst du selbst schaffen! Es sind Babykatzen! Eklig, aber nichts Gefährliches!«

Die Kätzchen maunzten weiter, waren bei ihr angekommen und rieben sich an Ursulas Knöcheln. Es fühlte sich an wie schmierige, kalte Waschlappen, die gegen die Haut klatschten. Dabei glotzten die widerlichen Winzlinge sie aus geschlossenen Augen an.

Neugeborene Babys gucken auch so! Sie sind blaurot und kreischen und … drei Kätzchen?

Das eine, von dem sie angenommen hatte, dass es sich beim Sturz den Schädel oder das Genick gebrochen hatte, war auch dabei! War das Köpfchen eingedrückt?

Die Kätzchen maunzten und fiepten aus Leibeskräften. Ein forderndes Geräusch! Es ging Ursula durch Mark und Bein. Mit einer Mischung aus Furcht und Widerwillen schob Ursula die drei Körper mit dem Fuß beiseite.

Sie wollen mich! Sie wollen mich!

Sie wusste selber nicht, was sie damit meinte.

Ich dreh durch!

Inzwischen perlte ihr Schweiß an der Stirn, das Herz schlug wie von Sinnen und die Härchen im Nacken und auf den Unterarmen hatten sich aufgestellt. Ursula zitterte am ganzen Körper.

»BERTRAM! HILF MIR! TU SIE WEG!«, kreischte Ursula, dann wurde ihr schwindelig und sie ging zitternd in die Knie.

Beinahe hätte sie sich auf den Boden gesetzt, aber die drei Kätzchen erwarteten sie doch dort! Anklagend rissen sie ihre Mäulchen auf und kamen mit ihren grotesk geblähten, dreckigen Leibern erneut auf sie zu gewankt. Sie stanken! Selbst hier oben konnte Ursula die Dämpfe riechen.

»Weg ihr Biester! Weg! Weg mit euch …« Ihre Stimme hatte sich in ein kehliges Krächzen gewandelt.

Auf schwankenden Beinen kam sie zum Stehen, lauschte, aber von Bertram war immer noch nichts zu hören.

Reiß dich zusammen!

Am Boden saßen die drei Kreaturen und maunzten. Eine Erinnerung kämpfte sich ins Bewusstsein: … mal in der Nacht, dann am Morgen. Verzweiflung und Angst … Erde …

Ein kleiner Schmerz in ihrem linken großen Zeh ließ sie nach unten sehen. Obwohl sie versucht hatte, ihnen immer wieder auszuweichen, befanden sich erneut alle drei Kätzchen zu ihren Füßen. Ungelenke, schleimbesudelte Leiber. Eines hatte sie mit seinen kleinen Zähnchen in den Zeh gebissen!

Ein Beweis der Zuneigung, kam ihr groteskerweise in den Sinn.

»Verschwindet, ihr Teufelsdinger!«, heulte sie, trat tränenblind nach den Kätzchen, doch traf sie kaum.

Dennoch wurde das ewige Maunzen plötzlich leiser.

»Weg! Ich muss weg!«

Sie wollte einen großen Schritt über die Kreaturen machen. Doch eine erwischte sie mit seinen Zähnchen – diesmal an der Achillessehne. Dann das gleiche Zwicken im Nacken! Ursula jaulte auf, torkelte aus dem Bad ins Ankleidezimmer, während sie gleichzeitig nach dem Ding in ihrem Nacken griff und voller Grauen erkannte, dass sich dort ein viertes Kätzchen befand! Es hatte sich in ihren Haaren verheddert. Ursula packte es, um es herauszureißen und davonzuschleudern. Gleichzeitig wollte sie fortlaufen, blieb aber unglücklich im Flokati hängen. Sie stolperte, immer noch eine Hand im Haar, in dem das Tier steckte und sich nicht entfernen ließ! Wie eine monströse Klette hatte es sich darin festgesetzt. Ursula verlor das Gleichgewicht, stürzte und schlug mit der Schläfe seitlich gegen ein Schränkchen. Instinktiv streckte sie einen Arm aus, um den Sturz abzufangen, während sie mit der anderen an dem lebenden Klumpen in ihren Haaren zog.

 

Dreckiger Nebel hüllte ihre Sinne ein. Es roch erdig, als sie erwachte. Beigemischt war ein Geruch, der sie beinahe erbrechen ließ. Ursula wollte die Augen öffnen und schaffte es kaum.

SCHULD! SCHULD!, dröhnte es in ihrem Kopf.

»Bertram hilf mir …«

Ihre Stimme war nicht mehr als ein mickriges Winseln. Sie sah ihren linken Unterarm, an dem die Hand in einem seltsam verdrehten Winkel hing, als ob sie nicht dazu gehören mochte. In der rechten Faust hielt sie ein großes Fellbüschel.

Schuld! …

Maunzen und Winseln aus vielen Kehlen ertönten rechts und links von ihrem Kopf. Ursula wollte unbedingt aufstehen, aber in den Beinen hatte sie kein Gefühl mehr, ihr gesamter Körper schien schwer und träge. Wie … begraben. Zu keiner Regung mehr fähig.

Fünf Kätzchen kletterten auf sie!

Fünf …

Sie rollten sich schnurrend auf Ursula zusammen, rieben sich an ihrem Kinn und bissen ihr in die Ohrläppchen. Ihre aufgeblähten Leiber drückten sich an sie, aus den klebrigen Mäulern troff Schlamm.

Fünf …

Plötzlich wusste Ursula, wieso die Wesen hier waren. Das Entsetzen darüber war so gewaltig, dass sie sich noch im Sterben aufbäumte, in eine schreckliche Erkenntnis starrend.

2

 

»Oh, nein! NEIN! Diese verdammte Karre! Oh, shit!«

Kathi schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad ein, was die Warnleuchte allerdings nicht zum Erlöschen brachte. Plötzlich begann das Fahrzeug zu stottern und der Motor ging aus. Fluchend lenkte sie es an den Fahrbahnrand und brachte den alten Opel Corsa zum Stehen.

Okay, okay. Ruhig bleiben. Alles gut, er … SPRINGT NICHT MEHR AN! VERDAMMT!

»Komm, mach schon! Du kannst das! Komm!«, beschwor sie ihren Wagen, drehte immer wieder den Schlüssel, was das Fahrzeug mit einem Krächzen quittierte.

Wenn Autos sprechen könnten … ich glaube, er hat gerade »Fuck you!« gesagt!, dachte sie grimmig.

Nieselregen hatte eingesetzt, und die Sicht nach draußen beschränkte sich auf das, was man im Lichtkegel der Scheinwerfer erkennen konnte: eine regennasse Straße, deren Asphalt an ein schlampig zusammengesetztes Puzzle erinnerte und von matschigem Wiesengrün flankiert wurde.

Ich will endlich heim, noch eine Schoki und dann ins Bett.

Eine schwarz gelockte Strähne fiel ihr ins Gesicht, Kathi strich sie mit einer fahrigen Bewegung zur Seite und schloss für einen Moment die Augen. Das war ein Fehler. Sie spürte nicht nur von einem Moment auf den anderen ihre schmerzenden Füße überdeutlich, sondern auch die Müdigkeit, die sich wie ein schwerer Mantel über sie stülpte. Mit einem genervten Schnaufen öffnete sie ihre Augen und versuchte ein weiteres Mal ihr Glück.

»Komm schon! Nur noch … ach, shit! Komm! Nur noch drei, vier Kilometer! Bittebitte!«

Nichts half. Kathi widerstand dem Drang, ihre Verzweiflung weiter am Lenkrad auszulassen. Sie ließ ihren Blick die Straße hinauf und hinunter wandern in der Hoffnung, es würde jemand auftauchen, der ihr Starthilfe geben konnte.

Bestimmt die Batterie! Oder doch ein Motorschaden?

Sie kaute auf der Unterlippe herum und gestand sich ein, wie wenig pfleglich sie mit ihrem Auto umging. Nicht nur, dass sie die Warnleuchte seit Tagen ignorierte und sich auf dem Boden der Beifahrerseite Bonbon-Papierchen mit müffelndem McDonalds-Müll mischten. Gerade diese Strecke wurde von ihr als »Schlagloch-Rennpiste« bezeichnet und sie heizte hier stets in einem Affenzahn hinunter, die Risse und Löcher im Asphalt stoisch ignorierend. Nur bei den fiesesten legte sie ein Ausweichmanöver hin.

 

Wäre es Tag und nicht irgendwann mitten in der tiefsten Nacht gewesen, hätte sie die Ackerflächen und Weiden zu beiden Seiten erkennen können, die Wälder und das Bergpanorama dahinter. Eigentlich war es – bei Sonnenschein – eine idyllische Gegend, die jedes Jahr von neuem die Städter lockte, damit sie sich auf ausgedehnten Wanderungen ihren wohlverdienten Sonnenbrand und Blasen an den Füßen holen konnten. Für dieses Jahr war die Saison freilich gelaufen. Aber nur für kurze Zeit. Denn sobald der erste Schnee fiel und der Stadtmensch seine Wanderstiefel in den Keller gepackt hatte, kam die hippe Jugend auf Snowboards und die Freizeitsportler auf Skiern, bis sie dann per Helikopter in die Krankenhäuser nach München oder Garmisch abtransportiert wurde … Sport war bestimmt toll!

Darum bin ich Autofahrerin aus Überzeugung!

Missmutig starrte sie auf die Anzeigentafel vor sich, drehte erneut den Schlüssel, was der Wagen mit einem akustischen Mittelfinger in Form eines müden Pfeifens beantwortete.

»Wehe dir, wenn du … Bittebitte! Ach, SHIT!«

Schicksalsergeben lehnte sie sich zurück und versuchte, sich an ihre Fahrstunden zu erinnern oder zumindest daran, wo und ob sie überhaupt eine Gebrauchsanweisung für den Wagen aufbewahrte. Der Gedanke, in ein Handbuch für den Corsa zu schauen oder die Symptome auf dem Smartphone zu googeln, um sich daraufhin selbst auf wundersame Weise in eine Mechaniker-Superheldin zu verwandeln, war so skurril, dass sie kurz auflachte. Das letzte Mal hatte sie so viel Öl nachgegossen, dass sich der Wagen kurz darauf in ein qualmendes Ungetüm verwandelt hatte. Ihr Mechaniker, der günstig gegen Bargeld und ohne Rechnung in solchen Fällen erste Hilfe leistete, hätte bestimmt schon ein ganzes Buch über ihre mangelnden Fertigkeiten schreiben können. Tat er aber nicht. Dafür sah sie ihn regelmäßig beim Bewirten der Schafkopf-Runde und wurde mit ihren automobilen Katastrophen aufgezogen, was dann zur Erheiterung des gesamten Stammtischs beitrug.

 

Hoffnungsvoll wagte Kathi nach einer Weile den nächsten Versuch. Sie drehte den Schlüssel. Es krächzte nicht einmal mehr etwas!

Unter Fluchen kramte sie ihr Smartphone aus der Umhängetasche.

Okay. Du hast gewonnen! Ich gebe auf!

Ihr war vollkommen klar, dass nur Menschen, die sehr dumm, sehr unerfahren oder sehr verzweifelt waren, hoffen konnten, hier! – mitten im Nirgendwo! – Empfang zu haben. Neue Handymasten hin oder her, wenn man am meisten einen Balken brauchte, erschien für gewöhnlich das »Pech-gehabt«-Zeichen – der durchgestrichene Kreis.

»Es wird klappen, es wird klappen …«, murmelte sie wie ein Mantra vor sich hin, während sie Joshis Kontakt heraussuchte.

Ein Balken! Ich habe einen Balken!

Kathis Herzschlag beschleunigte sich, sie tippte aufgeregt auf Joshis Kontakt – vielleicht konnte er einen Nachbarn um Hilfe bitten und ihn zu ihr schicken – und ließ das Smartphone wählen … kein Balken mehr. Kein Empfang. Sie widerstand erneut dem Verlangen, auf das Lenkrad einzuschlagen und vorher noch das Handy aus dem Fenster zu werfen. Mit Mühe schluckte sie den Wutausbruch hinunter.

Nein. Ich … finde eine Lösung! Ich werde NICHT hier in der verdammten Karre übernachten und ich werde nicht zu Fuß durch den Scheißregen nach Hause laufen! Nein!

Zehn Minuten verstrichen, in denen weder ein Auto Kathi passierte noch der Empfang sich besserte.

Ich werde auch NICHT aussteigen und wie blöd das Ding in die Luft halten, um irgendwo irgendeinen verdammten Balken zu bekommen!

Sie atmete schwer durch. »Okay. Nachdenken«, ermahnte sich Kathi, während die Autofenster innen immer mehr beschlugen.

Es blieben nur zwei Möglichkeiten: im Corsa übernachten und gleichzeitig auf Hilfe warten oder zu Fuß, im Regen, in Sneakers …

Das dauert mindestens 30 Minuten, wenn ich laufe. Aber hier bleiben? Ich will ins Bett. Und eine Schokolade!

»Okay! Du hast gewonnen!«, säuselte sie und tätschelte die Armatur des Wagens.

Es war die gleiche Art von Nettigkeit, die sie für gewöhnlich Gästen zuteilwerden ließ, die ihr nach zwei Stunden aufmerksamer Bewirtung 20 Cent Trinkgeld gaben und auch noch ein »Dankeschön« erwarteten.

Du hast gewonnen. Aber … ich werde im Lotto gewinnen und als erstes dich ausschlachten lassen UND DABEI ZUSEHEN!

Kathi schaltete die Scheinwerfer aus, zog den Schlüssel ab, nahm ihre Tasche und schwang sich aus den Wagen. Heftiger als nötig schlug sie die Fahrertür zu und bemerkte im gleichen Moment, dass sich der feine Nieselregen in einen eisigen Regenschauer verwandelt hatte.

Na, toll!

Schwere Tropfen klatschten ihr ins Haar, auf den Rücken und die Schultern. Fröstelnd zog Kathi den Kragen ihrer Softshelljacke nach oben und stapfte los.

Warum ist an dem Scheißding keine Kapuze? Und warum passiert immer mir so ein Mist?

Zehn Stunden lang hatte sie im Küchlein zuerst Omas und Tantchen mit Kaffee und Kuchen versorgt und dabei brav ihr »Dankeschön« gesäuselt. Sie hatte die Tische gedeckt und wieder abgedeckt, gesäubert und hergerichtet, kreischenden Kindern mit stoischer Freundlichkeit Lollis überreicht und die anzüglichen Witze angetrunkener Bauarbeiter ertragen.

Wenigstens verlangt Gundi nicht von mir, dass ich ein Dirndl tragen muss! Furchtbare Dinger! Man bekommt keine Luft und der Busen quillt über …

Schaudernd setzte Kathi ihren Weg fort. Jeans und Trachtenbluse waren der Kompromiss, auf den sich die Inhaberin der Gaststätte eingelassen hatte. Nach einem langen Tag hatte sich erst am Abend das Küchlein mit besser zahlenden Pärchen und Familien gefüllt, doch ab 23 Uhr waren nur noch die obligatorischen Dauergäste übrig geblieben, von denen der besoffene Rest von Gundi pünktlich zu Mitternacht auf die Straße gesetzt wurde. Das war der übliche Arbeitsalltag.

Und jetzt will ich heim! Ins Bett!

Kathi erhöhte ihr Marschtempo und warf zwischendurch immer wieder einen Blick auf ihr Handy. 0.45 Uhr.

»Scheiße! Und morgen Frühdienst!«, fluchte sie. Vor lauter Aufregung hatte sie das vollkommen verdrängt.

6 Uhr aufstehen, um 6.45 Uhr im Küchlein ankommen und das Frühstücksbuffet für die Übernachtungs-Gäste herrichten … wie soll ich da jetzt hinkommen?

»Taxi«, antwortete sie sich selbst.

Schade, dass Joshi kein Auto hat.

Inzwischen joggte sie beinahe. Die Schuhe waren längst durchweicht und selbst die Softshelljacke – angeblich wind- und wasserdicht, ein richtiger Tausendsassa für gerade mal 14,99 Euro – … dieses Ding saugte das Nass in sich auf und gab es ungehindert an Kathis Schultern und Rücken weiter.

Sie eilte weiter, fühlte, wie ihr Puls beschleunigte und die Luft in den Lungen umso weniger wurde, je schneller atmete. Sport war nicht ihr Ding. Aber das hätte auch niemand erwartet von einer, die bei einer Größe von 1,60 Metern Konfektionsgröße 44 trug.

Sie sah auf und versuchte, den Regen, der ihr das Gesicht entlang rann, zu ignorieren. In der Ferne waren die ersten Lichter von Häusern zu erkennen. Das war gut. Nicht so toll war es, dass sie trotzdem immer noch fünfzehn Minuten Fußmarsch vor sich hatte, es sei denn … Kathi blieb stehen und nützte die kurze Pause, um sich vornüber gebeugt mit den Händen auf den Knien abzustützen. Gleichzeitig warf sie einen Blick nach links. Sie wusste, was sie gesehen hätte, wenn ihre schulterlangen Haare ihr nicht wie ein triefender Lockenvorhang gerade die Sicht genommen hätten – und wenn es Tag gewesen wäre. Eine Weide. Und dahinter den Hof, auf dem sie zur Miete in einem kleinen Appartement lebte.

Sie richtete sich auf und zog fröstelnd ihre Schultern hoch. Nicht nur die Kälte und die Nässe wurden immer unangenehmer, auch die schwere Dunkelheit um sie herum. Hier gab es keine Straßenlaternen, und die Lichter in den Häusern und in den Gassen waren noch zu weit entfernt. Allerdings kannte sie hier jeden Weg, jeden Hügel und jede blöde Weide von klein auf.

Ich könnte den Weg abkürzen. Wenn ich nicht der Straße folge, sondern hier über die Weide latsche … Shit! Das wird eine Sauerei! Kuhscheiße und November-Matschgras! Aber ich wäre in fünf Minuten daheim.

»Scheiß’ drauf«, keuchte sie, bückte sich und kroch unter dem Elektrozaun hindurch, wobei sie ihre Tasche fest an sich presste. Sie erwartete einen elektrischen Schlag und war angenehm überrascht, als sie auf der Weide stand, ohne eine gewischt bekommen zu haben.

Prüfend sah sie sich um. Entweder hatte der Bauer die Kühe für die Wintermonate schon in den Stall geschafft oder die Tiere schliefen. Kathi ging vorsichtig weiter. Nicht wegen der Tiere, sondern wegen des rutschigen, braun-gefleckten Untergrunds machte sie sich Sorgen. Teilweise schlitterte sie dabei mehr als sie lief, denn durch das ansteigende Gelände und das nasse Gras glich die Weide in ihrer Beschaffenheit eher einer Schwimmbadrutsche als einer Wiese. Inzwischen bibberte Kathi am ganzen Körper und fühlte ihre Zehen nicht mehr, aber sie musste weiter! Als sie die Strecke halb geschafft hatte, hörte sie ein Auto. Missmutig drehte sie sich um und sah zurück zur Flicken-Rennpiste.

Toll! Jetzt, wo ich fast durch bin, kommt jemand vorbeigefahren!

Zornig und ungläubig zugleich konnte sie beobachten, wie in einiger Entfernung – zu weit weg, um zu rufen oder zurückzurennen – derjenige sogar anhielt und offenbar nach dem Rechten schaute. Der Typ ging um das Auto herum und suchte offenbar nach dem Insassen. Dann stieg er wieder ein und fuhr weiter.

»Danke! Du hättest eher kommen müssen! Scheiße nochmal!«, rief Kathi hinaus in den Regen und wandte sich zum Weitergehen.

Ein riesiger Schatten schälte sich unvermittelt aus dem Dunkel vor ihr.

»SHIT!« Kathi sprang erschrocken zurück, rutschte aus und landete der Länge nach am Hang. Sie blickte auf, lachte erleichtert auf und begann sich umständlich aufzurappeln.

»Hast du mich erschreckt.«

Sie wurde von einer Kuh, die direkt vor ihr stand, mit verschlafenem Ausdruck gemustert.

»Hab ich dich geweckt? Sorry«, sagte Kathi leichthin und umrundete das Tier in respektvollem Abstand. Nicht jede Kuh war gleich und auch unter den friedlichsten Wiederkäuern gab es Exemplare, die es bestimmt nicht gut fanden, wenn ihnen jemand mitten in der Nacht einen Besuch abstattete.

»Kein Problem«, kam die Antwort.

Kathi fror in der Bewegung ein, spürte auf einmal, wie der Regen eisiger wurde und ihr die Kälte regelrecht in die Knochen fuhr. Ungläubig strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und für einen Moment war sie zu keiner Regung mehr fähig.

Was? Nein. NEIN!

Eilig wandte sie sich zum Gehen.

Oh Gott, ist das kalt! Scheiße! Mir geht es nicht gut. Ich muss nach Hause. Nein. Alles ist gut. Heim. Trockene Sachen anziehen, die Schokolade – Marzipan, oder? Ja, bestimmt. Schokolade essen. Schlafen gehen. Alles gut. Nicht … nein. Da war nichts. Du bist nur müde!

Im Laufen rutschte Kathi erneut aus, fing diesen Sturz aber mit den Händen auf. Ihre Finger gruben sich in das eisige, faulende Grün. Sie kam zum Stehen und warf dem Tier hinter sich einen entsetzten Blick zu. Es folgte ihr gemächlichen Schrittes und schien genau zu wissen, dass es sie mit Leichtigkeit einholen konnte. Seine Silhouette hob sich dampfend vom Nachthimmel ab, während in den Häusern des Dorfes weit dahinter die letzten Lichter erloschen.

Das Herz schlug Kathi bis zum Hals.

Ich habe mich getäuscht! Es … war ein langer Tag! Aber … Nein! Habe ich … habe ich eine Stimme gehört? Habe ich WIEDER STIMMEN GEHÖRT?

Oben am Hügel angekommen, begann sie zu rennen. Sie konnte das Haus, einen Bau aus der Nachkriegszeit mit ihrem Appartement im ersten Stock, schon sehen.

Zu Hause. Da bin ich daheim. Da bin ich sicher. Da … da sind keine Stimmen mehr. Nicht mehr! Trockene Sachen, Schokolade … sollte ich den Arzt anrufen? Mitten in der Nacht? Nur … er hat gesagt, ich soll mich sofort melden, wenn das mit den Stimmen wieder anfängt. Jederzeit.

»Joshi, Joshi …«, gab sie sich selbst die Antwort. Sie wollte mit Joshi reden – egal wie spät es war! Er würde vorbeikommen und sie in den Arm nehmen und einfach für sie da sein. Wie immer.

 

Kathi drehte sich nicht mehr um, als sie sich unter dem Zaun hindurch duckte und dieses Mal doch einen Elektroschlag bekam. Alles war egal. Sie musste heim. Hinter dem Zaun konnte sie doch nicht dem Drang widerstehen, sich nochmal umzudrehen. Die Kuh war ihr gefolgt.

»Warum fürchtest du dich vor mir?«

Sie hatte eine tiefe, freundliche Stimme. Es war aber egal, ob die Stimme nett oder böse war. Es war falsch, Stimmen zu hören!

3

 

Also: Ich werde mich nicht blamieren! Ich werde professionell und ruhig die Lage sondieren und überlegt handeln. Ich werde – egal was sich mir für ein Szenario eröffnet – mit analytischem Geschick und … hoffentlich muss ich mich nicht übergeben.

»He! Wo willst du hin?«

Eine junge Frau in wadenhohen, eng anliegenden Stiefeln hechtete Andi hinterher.

Irritiert blieb er stehen und wartete, bis sie sich zu ihm heraufgekämpft hatte. Bei jedem Schritt rissen ihre dünnen, langen Absätze aufgeweichte Erde aus dem Boden. Etliche Klumpen blieben aufgespießt wie bei einem Schaschlik hängen.

Sie war groß, hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf im Nacken gebunden und erreichte Andi – trotz ihres halsbrecherischen Sprints über rutschigen Untergrund –, ohne ein einziges Mal auszurutschen. Bei ihm angekommen, packte sie ihn sofort am Ärmel seiner Wachsjacke und zog ihn grob zur Seite.

»Du wirst dich da nicht reinschleichen, Freundchen, sondern genauso brav warten wie wir!«, keuchte sie atemlos und deutete auf die gut zwei Dutzend Fahrzeuge, die vor dem Zaun geparkt hatten. Ihre Augen blitzten zornig.

Andis Blick folgte ihrer Geste und er erkannte noch mehr Wagen, die sich dem Anwesen der Bachingers näherten. Vom Erscheinungsbild her konnte man sich die junge Dame gut in irgendeiner noblen Münchner Diskothek vorstellen – allerdings ohne Schlamm-Stiefel. Dass sie ihn so rüde anging, erinnerte Andi allerdings mehr an den Türsteher davor, der sich genötigt fühlte, einen uneinsichtigen Gast zurecht zu weisen, wenn nicht gar an einen Ultra-Fußballfan, der die offene Auseinandersetzung mit ihm suchte.

»Ähm, entschuldigen Sie, aber …«, begann er und verstummte gleich wieder, als ein Mann hinter einem der Vans vortrat.

»Janina, gibt’s ein Problem?«, rief er der Hochhackigen zu.

Vermutlich einer der Kabelträger oder Packer, mutmaßte Andi. Auf alle Fälle jemand fürs Hinlangen – groß und breit gebaut. Kein Schnösel von der Regie oder einer, der vor der Kamera steht.

»Nein, ich denke nicht. Danke«, antwortete die junge Frau – Janina –, ließ von seinem Ärmel ab, bedachte Andi aber mit einem vernichtenden Blick. Dabei musste sie trotz der Absätze nach oben blicken, was dazu führte, dass der Regen ihre Schminke abzuwaschen begann.

»Scheiße! Wegen dir muss ich nochmal in die Maske! Kommst du jetzt bitteschön weg da? Später ist die Pressekonferenz und da kannst du deine Fotos machen! Wer bist du überhaupt? Ich hab dich hier noch nie gesehen! Und komm mir bloß nicht mit irgend so einem Scheiß wie ›Der-Schwager-meines-Nachbarn-war-mit-denen-befreundet‹. Du bleibst draußen wie wir anderen auch! Egal, für welches Bauernblatt du arbeitest oder ob du ein neuer YouTube-Star werden willst!«

Andi beeindruckten der Redeschwall und die Autorität, mit der sie sprach, gleichermaßen. Zudem war sie ziemlich attraktiv, obwohl ihr Make-up tatsächlich gelitten hatte. Von den Stiefeln ganz zu schweigen. Entweder hatte sie noch ein Ersatzpaar dabei oder ihr Kameramann würde sie nicht im Ganzen zeigen. Oder erst recht, denn die Stiefel zeugten eindeutig von ihrem engagierten Einsatz?

Er riss sich vom Anblick der zornigen Reporterin los und warf einen flüchtigen Blick auf sein Smartphone.

»Mist!«, entfuhr es ihm.

Der Anruf hatte ihn kurz nach zwei Uhr erreicht. Inzwischen war es fast Vier! Trotzdem hatte er sich die Zeit genommen, den Auflauf an Menschen, Fahrzeugen, Lichtern und Geräuschen unterhalb der Anhöhe auf sich wirken zu lassen, bevor er Teil des Ganzen werden wollte. Gut möglich, dass das auf seine Kollegen wirken würde, als ob er Zeit vertrödelte. Aber vielleicht fiel ihm schon hier etwas auf, das wichtig war.

»Kommst du endlich oder soll dich einer meiner Jungs abholen?«, drohte die Reporterin. Gleichzeitig begann sie mit einem Taschentuch ihr Gesicht abzutupfen, was angesichts des Regens ein unsinniges Unterfangen war.

Andi ignorierte sie und beobachtete wieder das Gewusel am Fuß des Hangs. Der unstillbare Hunger der Medien war ihm nicht neu, aber in dieser Größenordnung hatte er ihn noch nie erlebt!

Naja. Immerhin sind die Bachingers … wie sagt man? Kann man sie schon als C-Promis bezeichnen? Hat es nicht sogar schon einmal eine Reportage über sie gegeben? Jedenfalls sind sie in Südbayern sehr populär.

Die Antennen und Satellitenschüsseln auf den Dächern der Übertragungswagen hoben sich vor dem Nachthimmel deutlich ab. Sie bekrönten mediale Schlachtschiffe, vollgestopft mit modernster Technik und gerade so geparkt, dass genügend Raum zum gusseisernen Zaun blieb, vor dem die Sendeanstalten ihre Live-Reporter positionieren konnten. Im Hintergrund thronte das hell erleuchtete Anwesen der Bachingers. Die Zuschauer würden später das Chaos der Wagen nicht sehen, die Transporter der Technikcrew, die teuren Schlitten verschiedener Mediensternchen und die unzähligen kleinen Fahrzeuge der Kameraleute, Tontechniker, Fotografen und Zeitungsreporter. Dazwischen waren mittlerweile auch die ersten gewöhnlichen Gaffer eingetroffen. Die Szenerie bot ein Wirrwarr an Stimmen und Lichtern. Fehlten nur noch Imbissbuden, Musik und eine heitere Grundstimmung. Dann hätte man sich wie auf einem Festival gefühlt. Es lag ein Knistern in der Luft und eine kaum auszuhaltende Spannung und Vorfreude – die Jagd war eröffnet: Der Brezenbaron hatte seine Gattin tot im Badezimmer aufgefunden!

»Okay. Wenn du dich quer stellst, dann hol ich eben den Josef hoch und der …«

»Also, ich muss jetzt weiter. Viel Glück noch«, sagte Andi und ließ die verdutzte Reporterin hinter sich.

Janina. Der Name kommt mir bekannt vor. Irgendwo habe ich sie schon einmal gesehen. Nicht bei einem der großen Sender, vielleicht auf einem Regionalkanal? Egal. Ich muss mich beeilen. Und: Ich werde ruhig und professionell …

Nachdenklich setzte er seinen Weg fort, verfolgt von der wütenden Reporterin und einem ihrer Mitarbeiter, der hinterhergejapst kam. Der Regen fiel wie in dicken Schnüren, doch Andi hatte endlich die breite Kiesstraße erreicht, auf der er wesentlich besser voran kam als auf der aufgeweichten Wiese. Kurz darauf stand er bei den vier Polizeibeamten, die vor dem Tor die Stellung hielten.

»Guten Abend oder guten Morgen. Ich …«, begann Andi und wurde wieder unterbrochen. Diesmal vom Gefolgsmann der Reporterin.

»Freundchen! Stopp! Für dich gelten die gleichen Regeln wie für uns!«, rief er barsch.

»Haben die beiden Herren ein Problem?«, ging einer der Polizisten am Tor dazwischen. Er wirkte übermüdet und genervt. »Die Presse hat keinen Zutritt!«, fügte er hinzu und beobachtete aufmerksam, wie Andi seinen Ausweis aus der Innentasche seiner Jacke zog.

»Ich werde erwartet«, sagte Andi knapp, während der Uniformierte ihn mit einem abschätzenden Blick von oben bis unten musterte. Er nahm den Ausweis, warf einen Blick darauf und zückte mit mitleidigem Seufzen sein Funkgerät.

»Servus, Gustl. Hier Franz am Eingang. Erwarten wir einen Doldinger, Andreas, Kripo Darmstadt?«, gab er durch. An Andi gewandt wiederholte er ungläubig: »Darmstadt?«

»Ich bin erst gestern angekommen. Der neue Ausweis ist noch nicht da.«

»Wurde auch Zeit! Zefix!«, kam die knarrende Antwort aus dem Funkgerät.

»Das heißt wohl ›Ja‹«, bemerkte der Polizist trocken und winkte Andi durch. »Viel Spaß! Und ihr schleichts euch wieder!«, wandte er sich an die junge Reporterin mit ihrem Kollegen.

Andi spürte die verblüfften Blicke im Rücken, allerdings war ihm das mehr als egal. Er wusste selbst nur allzu gut, dass er nicht wie einer von der Kripo wirkte, geschweige denn wie jemand von der Mordkommission. Vor allen Dingen aber schätzten ihn die meisten Leute wegen seiner dunkelblonden Locken und seiner glatten Haut deutlich jünger als er war.

Vielleicht sollte ich mir doch einen Bart wachsen lassen? Aber … Ich muss mich konzentrieren! Ich werde ruhig und professionell …

Er atmete tief die kühle Luft ein und schritt zielstrebig zum Eingang der Villa. Dort waren mehrere Streifenfahrzeuge geparkt, zwei Krankenwagen und etliche Autos der Ermittler. Das des Gerichtsmediziners musste auch darunter sein.

Und ich hab brav unten geparkt. Peinlich. Beim nächsten Mal werde ich einfach durchfahren, meinen Ausweis vorzeigen und wie alle anderen vor dem Eingang halten.

Er passierte einen älteren Beamten neben einem dunklen Zivilfahrzeug und wollte ihm freundlich zunicken. Doch im gleichen Moment beugte der sich ruckartig vor, stützte sich auf der Kühlerhaube ab und erbrach sich. Andi wurde es flau im Magen.

Nein! Ich werde mich nicht erbrechen! Ich werde ruhig … Oh Gott, was ist da drinnen nur vorgefallen?

Mindestens zwei weitere Polizisten vor dem Haus schienen ähnliche Probleme zu haben. Sie lehnten an der Mauer und wirkten benommen. Andi schluckte schwer.

Es ist nur eine Leiche. Ein verstorbener Mensch. Ich werde mir das Umfeld und die Tote ansehen und mit analytischem Geschick …

Frau Ursula Bachinger war Andis vierte Leiche. Die erste war ein alter Hausmeister, der seinen Dienst plötzlich nicht mehr verrichtet hatte und nach drei Monaten tot in seiner Wohnung aufgefunden worden war. Der Anblick war furchtbar gewesen. Der Geruch und die Insekten noch schlimmer. Die zweite Tote war eine Hausfrau, die beim Fensterputzen aus dem achten Stock gefallen war. Das hatte weniger schrecklich als befürchtet ausgesehen. Wie hatte einer der Sanitäter das formuliert? »Äußerlich top in Schuss, aber innen Brei.«

Andi trat durch die doppelflügelige Tür ins Anwesen. Nur die dritte Leiche war ein Mordopfer gewesen, allerdings gab es da nicht viel zu ermitteln, denn der Täter stellte sich gleich nach der Tat der Polizei und gestand ganz offen ein, dass es seine »Pflicht« gewesen sei, »im Namen der Familienehre« seine jüngere Schwester zu erdrosseln.

Mit Mühe gelang es Andi, seine Gedanken wieder auf den aktuellen Fall zu fokussieren. Am wichtigsten war, dass er sich erst einen Gesamteindruck verschaffte. Er musste sich die Verstorbene ansehen – genauer untersucht wurde sie später vom Gerichtsmediziner – und das Umfeld der Toten musste nach Hinweisen abgesucht werden. Es kam immer wieder vor, dass die Spurensicherung etwas übersah. Dabei dachte Andi nicht an Gewebespuren oder Haare, sondern eher an ein verrutschtes Bild, hinter dem sich ein Wandtresor verbarg, aus dem offenkundig in Eile der Inhalt entfernt worden war. Solche Sachen eben.

Und ich muss mich dem zuständigen Dienststellenleiter vorstellen und den anderen Kommissaren. Dabei werde ich versuchen … nein: Ich werde ruhig und kompetent wirken, auch wenn ich erst 28 bin.

 

Im Inneren der Villa hatte jemand alle Lichter angeschaltet. Sie leuchteten jeden Winkel der Eingangshalle aus, die in ein geräumiges Wohnzimmer führte. Allein dieser Raum war schon größer als Andis ehemalige Zwei-Zimmer-Wohnung in Darmstadt. Der Marmorboden hatte sichtlich gelitten. Die Schlammspuren zahlreicher Schuhe zogen sich quer hindurch, da seit rund zwei Stunden Polizisten, Sanitäter und andere Leute ein und aus gingen. Andi folgte der Fährte aus Fußabdrücken, die durch das Wohnzimmer zu einer Treppe führten.

Wenn hier ein Mörder herumgeschlichen ist, dann wird es schwierig werden, Spuren zu finden, dachte er bitter.

Er blieb stehen, sah sich um und seufzte leise. So lebte man als Reicher also. Vitrinen und Schränkchen in warmen Holzfarben mit Schnörkeln, viel ausgestelltes Porzellan, Wände und Sofa in hellem Beige, Stuck an der Decke. Hin und wieder blitzten Goldelemente hervor. Das Firmenemblem – zwei vergoldete Brezen, die zu einem doppelten B verschlungen waren – hing mittig über einem Sofaelement der Wohnlandschaft. Eine alte Uhr, die auf einem Kamin platziert war, funkelte keck und erzählte jedem, der sie genauer betrachtete, dass man für den Preis eines Kleinwagens auch eine kleine Standuhr erwerben konnte. Mehrere Leselampen, die Knäufe der Kommoden und Bilderrahmen, alles war exklusiv. Die Gemälde an den Wänden bestanden aus nichtssagenden Quadraten und Linien in kräftigen, dunklen Farbtönen. Neben dem Kamin hingen Dutzende von Fotos, darunter viele Schwarz-Weiß-Bilder, kitschig gerahmt. Andi trat näher und achtete darauf, auf keinen der Teppiche zu treten, die locker im Raum verteilt lagen.

»Doldinger? Wenn Sie da unten sind, dann beeilen Sie sich, hier rauf zu kommen!«, donnerte eine Stimme von oberhalb der Treppe.

»Einen Moment noch, bitte«, gab er zurück und bekam ein paar gemurmelte Flüche zur Antwort.

Die Seele dieses Raums konnte Andi nur schwer greifen. Das war kein Begriff aus der Kriminalistik und er achtete auch peinlich genau darauf, ihn nicht im Beisein eines anderen zu benutzen, aber eine bessere Beschreibung war ihm noch nicht eingefallen. Mit »Seele« meinte er dieses diffuse Gefühl, das man bekam, wenn man eine unbekannte Räumlichkeit betrat. Eine Mischung aus der Energie und dem Geruch darin. War da Schweiß zu riechen? Hing der ungreifbare Dunst eines Ehestreits in der Luft? War das ein Raum, in dem es friedlich zuging und der Wohlbefinden in den Bewohnern auslöste?

Hier sind so viele Leute durchgelaufen … Hektik und Kühle. Es ist kalt hier drin. Aber das liegt an der offenen Eingangstür. Oder ist es etwas anderes? Einsamkeit? Traurigkeit?