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Science Fiction/Episoden-Roman


Deutsche Erstausgabe

 

2018

 

© Mystic Verlag

 

Text: Sven Haupt
Umschlagskonzept: Sven Haupt

 

Umschlaggestaltung: Claudia Gornik

www.coverboost.de

 

unter Verwendung von Zeichnungen

by Helga Sadowski

 

Satz: Helga Sadowski

Lektorat: Helga Sadowski

Korrektur: Anke Tholl/Jacqueline Droullier

 

ISBN 978-3-947721-05-4

 

Interessierte Leser und Autoren finden weitere

Informationen auf unserer Website.

www.mysticverlag.de

 

Geschäftsführer: Timo Arnold

Adolf-Ludwig-Ring 69

66955 Pirmasens

 

Vorwort

 

Die Kurzgeschichte gehörte für mich schon immer zur Science-Fiction, wie keine andere Form der Literatur. Sie ist es, welche dieses Genre, das ich so liebe, zu seiner Größe geführt hat. Die zerfledderten Anthologien meines Vaters waren die ersten Bücher, die ich als Jugendlicher verschlang und noch heute kann ich mich deutlich an die Raumschiffe auf den Covern erinnern. Unter all der Auswahl, die es schon damals gab, hat mich jedoch nichts so stark beeindruckt, wie das Werk von Isaac Asimov, dem Großmeister der Science-Fiction. In der Blütezeit des Genres, den vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, verfasste er seine berühmten Roboter-Geschichten.

In der Schule sitzend und von Robotern träumend haben sie meine Jugend geprägt und mich maßgeblich dazu inspiriert, einmal selber das Handwerk des Schreibens aufzunehmen.

Einer von Asimovs Lieblings-Charakteren in diesen Geschichten hieß Susan Calvin, die leitende Psychologin bei US Robots and Mechanical Men, Inc. Sie verstand den Geist der Roboter wie keine andere ihrer Generation. Eine brillante Wissenschaftlerin, jeder Herausforderung gewachsen und maßgeblich daran beteiligt, den Fortschritt ihrer Zeit zu prägen.

Als Erwachsener realisierte ich dann, wie weit entfernt von unserer Welt das goldene Zeitalter der Science-Fiction schon lag, in welcher Asimov sein Universum geschaffenen hatte. Die Roboter Susan Calvins bestanden aus Metall und dachten mit den berühmten, eigens für sie konstruierten Positronen-Gehirnen. Computer waren gewaltige Maschinen, vollgestopft mit Vakuum-Röhren und wurden alle noch mit Lochkarten gefüttert.

Es bestand kein Zweifel, dass die Welt sich an Asimovs Visionen vorbei entwickelt hatte. Was würde Susan Calvin zu Smartphones, virtueller Realität und Quantenrechnern sagen?

Viele Jahre später konzipierte ich die Geschichte 'Der Traum vom Mars' und befand mich auf der Suche nach einer kompetenten Psychologin, die am besten auch noch über einen starken Hintergrund in Biophysik verfügen sollte.

Bevor ich es recht realisiert hatte, stand der Name Bettina Calvin vor mir auf der Seite. Mir kam eine gewagte Idee. Was wäre, wenn ich Asimovs Charakter in einem parallelen Universum aufspüren könnte? Dort könnte ich verfolgen, wie sie einem Fortschritt begegnet, der schneller, virtueller und wahrscheinlich deutlich korrupter ist, als wir es uns vor siebzig Jahren hätten träumen können.

Die Idee zu 'Der elektrische Engel' war geboren. Diese Anthologie begleitet Bettina Calvin durch ihr Leben. Von ihrem ersten Traum als kleines Kind, bis an das Ende ihrer Aufgabe und noch weit darüber hinaus.

Es ist auch meine Hommage an das legendäre Werk eines Autors, dessen Schaffen mich tief beeinflusst hat.

Möge mir der Großmeister die Impertinenz nachsehen, mit der ich seinen Charakter bis in ein paralleles Universum verfolgt habe.

 

Sven Haupt

Bonn, 2018


Prolog - Der elektrische Engel

 

„Jetzt hör doch mal mit deinem dämlichen Kometen auf“, brüllte der Mann genervt, dann knallte es laut.

Die kleine Betty saß in ihrem Kinderbett und zog eine Schnute. Das klang, als hätte Papa wieder den Mülleimer in seinem Büro getreten. Eigentlich war sie ja aufgewacht, weil sie einen seltsamen Traum gehabt hatte. Irgendwie hatte sie auf einmal Flügel gehabt, die sie in langen, gleitenden Sprüngen durch die Luft trugen. Das war so schön gewesen. Dann hatte sie im Traum ihren Papa gehört. Der war wieder böse auf seine Arbeit. Normalerweise durfte Papa nicht laut werden, wenn Betty schlafen sollte, das hatte Mama gesagt. Aber heute war Mami nachts im Krankenhaus arbeiten und nun konnte sie Papa eben doch hören.

„Ich versuche verzweifelt“, entrüstete sich Papas tiefe Stimme, „die zentrale Matrix von der Größe eines verdammten Fußballfeldes kohärent zu kriegen, und du erzählst mir hier in einem fort was von Sternen, die ich anstarren soll.“

Betty schnaufte genervt und traf eine Entscheidung. Sie griff nach ihren beiden Stofftieren und setzte sie vor sich auf das Bett. Dann sah sie den Stoffhasen und den Bären ernst an und verkündete: „Okay, ihr beiden. Wir gehen jetzt zu Papa und sagen ihm, dass er leise sein soll. Denn wir müssen schlafen, damit wir morgen früh nicht zu müde für den Kindergarten sind. Wenn Papa dann laut wird, weil er böse mit seiner Arbeit ist, dann haben wir keine Angst. Habt ihr gehört?“ Sie zeigte mit dem Finger mahnend auf die Kuscheltiere. Als kein Widerspruch kam, nickte sie energisch und schwang die nackten Füße aus dem Bett. Es war eine warme Sommernacht und der Fußboden angenehm kühl. Sie strich sich automatisch eine Strähne ihrer strubbeligen, braunen Haare hinter das Ohr und zupfte eine Weile an ihrem Nachthemd herum. Dann klemmte sie sich energisch den Hasen Schnuffi unter den Arm, zog den Teddy Pummel an einem Bein hinter sich her und tapste entschlossen zur Zimmertür. Ihre Tür war immer nur angelehnt, damit ein bisschen Licht hereinfiel. Als sie den Kopf vorsichtig in den Flur hinaus steckte, war schon wieder der Papa zu hören.

„Was weiß ich“, rief er gerade aufgebracht, „warum es noch immer nicht funktioniert! Erklär du es mir, du bist der Informatiker. Du strickst am Ende den Code zusammen, ich male hier nur die Algorithmen an die Wand.“ Er schwieg einen Moment. „Von wegen Genie!“, rief er schließlich. „Drei Jahre! Drei volle Jahre Entwicklung und die Kiste steht noch immer da und macht? Genau! Gar nichts! Am Anfang wussten wir wenigstens warum, aber jetzt? - Ja, ich weiß, dass es funktionieren sollte. Aber warum funktioniert es dann nicht? Sag es mir?“ Es knallte wieder, aber anders als beim ersten Mal.

Betty, die gerade lautlos den Flur entlang schlich, kannte auch dieses Geräusch. Papa hatte wieder mal die Kreide gegen den Schrank geworfen. Das tat er immer, wenn ‚ein Problem ihn ärgern wollte‘, wie er sagte. Betty war an der offenen Türe zum Arbeitszimmer angekommen und spähte vorsichtig durch den Spalt in den Raum hinein.

Papa wandte ihr den Rücken zu. Er lehnte an seinem Schreibtisch und starrte an die Wand. Auch das tat er gerne, manchmal stundenlang. Mama sagte, das wäre, weil es seine Lieblingswand sei. Die ganze Wand war nämlich eine einzige große Tafel, auf der man schreiben konnte. Deswegen hatte Papa auch immer ganz viel Kreidestaub auf der Kleidung. Das sei aber nicht so schlimm, hatte Mama gesagt, denn das würde gut zu den neuen weißen Haaren in seinem Bart passen.

Manchmal, wenn Papa gute Laune hatte, durfte Betty mit bunter Kreide Bilder auf die Tafel malen. Aber meistens ging das nicht, denn Papa hatte die Tafel immer ganz dicht beschrieben, so wie jetzt auch. Bunte Bilder malte er nie. Immer nur weiße, voller Zahlen, Buchstaben und komischer Symbole.

Betty kannte natürlich Zahlen und Buchstaben, denn sie war ein extrem schlaues Mädchen. Mamma hatte das gesagt. Betty konnte schon bis hundert zählen und ihren ganzen Namen schreiben. Papas Tafelbilder konnte sie aber nicht lesen. Hübsch fand sie die aber trotzdem. Ihr Anblick fühlte sich immer schön an. Besser konnte sie es nicht sagen.

Papa fand allerdings gerade gar nichts hübsch. Er hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest und redete leise und eindringlich in seine Kopfhörer hinein. Also in das Ding, das immer vor seinem Mund hing. Betty konnte nie verstehen, warum Papa nicht einfach aufhörte, seine Tafel vollzuschreiben, wenn es ihn doch offensichtlich so ärgerte. Sie nahm sich vor, das Thema noch einmal ernsthaft mit Mamma zu besprechen.

„Wir haben doch schon alle möglichen Kombinationen durchprobiert“, hörte sie den Papa gerade müde murmeln. „Jede einzelne hat nicht funktioniert. Keine Baseline-Aktivität für auch nur die banalsten kognitiven Prozesse. Nichts. Nicht die Geringste. Schweigen im Walde. - Ja, natürlich kann ich die peripheren Variablen neu randomisieren. Ich kann die blöde Kiste auch mit Blumen schmücken und Räucherstäbchen anzünden. Was ich aber tatsächlich brauche, sind keine halb garen Beschäftigungstherapien, sondern eine verdammte Lösung!“

Betty wusste, dass es nicht ratsam sei, Papa jetzt zu unterbrechen. Dann wurde er nur noch lauter werden. Wahrscheinlich blitzten seine Augen jetzt schon hinter den dicken Brillengläsern. Betty wusste nicht, was genau das eigentlich heißen sollte, aber Mama sagte das immer. Sie musste warten, bis er aufhörte zu telefonieren. Das war bestimmt Papis Kollege Charlie, da am anderen Ende. Den kannte Betty. Der besuchte sie manchmal zum Abendessen, zusammen mit seiner Frau Heike und ihrem doofen Sohn Elias.

Vorsichtig betrat sie das Büro und drückte sich lautlos an der großen Schrankwand voller Bücher entlang. Ihr Papa hatte die meisten Bücher von allen Eltern überhaupt. Das musste er auch, denn er war schließlich Professor Calvin und ganz berühmt. Alles nur Erwachsenenbücher und deswegen schrecklich langweilig. In denen ging es nie um lustige Sachen, sonst wäre der Papa ja auch nicht immer so ärgerlich. Sie überlegte, ob sie ihm vielleicht eines ihrer Bilderbücher leihen sollte. Eines, das sie immer zum Lachen brachte. Nur um ihn ein wenig aufzuheitern. Während sie so langsam an den Büchern vorbei schlich, achtete sie sorgsam darauf, nicht den großen Roboterarm anzusehen, der auf Papas Schreibtisch neben dem Computer stand. Der mit dem fiesen leuchtenden Auge oben auf dem Arm drauf. Vor dem Ding hatte sie Angst. Es sah immer so aus, als würde es sie beobachten. Papa hatte ihr zwar ganz genau erklärt, dass es ein netter Roboterarm sei, Mama hatte darauf bestanden, aber Betty glaubte kein Wort davon. Was wusste Papa schon. Der dicke Roboterarm mit dem starrenden Glasauge führte nichts Gutes im Schilde, das sah man doch sofort.

 

„Nein, nein“, rief der Papa jetzt. „Die Vektoren zwischen den emulierten Sinnesmodalitäten sind korrekt. Wir haben die doch nicht umsonst dreimal neu gemappt. Es waren die Versuchsdaten von über hundert Probanden.“ Er klang erschöpft. Papa sah auf und trat mit einem schnellen Schritt an die Tafel heran. Dann folgte er den Zeichen langsam mit dem Zeigefinger, als ob er einen geheimen Weg durch ein Labyrinth suchen sollte, und flüsterte dabei unaufhörlich vor sich hin.

Betty entspannte sich ein bisschen. Mama hatte gesagt, wenn Papa so war, dann konnte man auch seine Möbel aus dem Zimmer tragen, ohne dass er etwas bemerkte. Sie spürte einen Luftzug und sah, dass die Tür zum Balkon offen stand. Der Balkon war sehr groß und sie vergaß immer, dass man nicht nur vom Wohnzimmer, sondern auch vom Arbeitszimmer aus eine Tür dorthin öffnen konnte.

Sie trat auf den Balkon in die kühle Abendluft hinaus und sah den Sternenhimmel über sich. Dort am Horizont, ein ganzes Stück über den Bäumen, hing der Komet am Himmel. Bewegungslos und wie eingefroren. Völlig still, als hätte jemand ein Bild von ihm einfach am Himmel festgeklebt. Das sah komisch aus. Dabei sollte er doch ganz schnell fliegen. Das hatte jedenfalls der Florian aus der Mäusegruppe erzählt, und der musste es schließlich wissen, denn der war immerhin schon ein Vorschulkind.

Sie hatten gestern im Kindergarten Bilder von dem Kometen gemalt. Bettys hing jetzt am Kühlschrank in Mamis Küche. Genauso bewegungslos wie der Echte.

Den Namen hatte sie allerdings schon wieder vergessen. Sie wusste aber noch, dass der Komet nur einmal alle zweihundert Jahre von der Erde aus gesehen werden konnte.

Was er in der ganzen Zeit sonst machte, das wusste sie nicht. Ob einem am Himmel langweilig wurde?

Sie kniff die Augen zusammen und musterte den Kometen. Er sah hübsch aus mit seinem langen Schweif. Wenn man ganz genau hinsah, dann erkannte man, dass sich der Schweif gleich an der Spitze des Kometen aufteilte. Eigentlich hatte der Komet also drei Schweife. Einen in der Mitte und noch zwei weitere, die im leichten Bogen seitlich abstanden und dabei ein bisschen wie Flügel aussahen. Betty drückte den Hasen fester an sich und lehnte schläfrig den Kopf auf seine weichen Ohren. Sie überlegte, wie lange es wohl dauern würde, den ganzen Weg bis zum Kometen hinauf zu fliegen. Mit den hübschen Flügeln, die sie im Traum eben noch gehabt hatte, könnte sie sich den Schweif genauer ansehen.

Wieso war es eigentlich auf einmal wieder so still? Sie bemerkte, dass sie ihren Papa gar nicht mehr hören konnte. Betty drehte sich um und sah, dass seine Bewegungen an der Tafel immer langsamer wurden, genauso wie sein Gemurmel. Sie sah zum Kometen zurück und dann wieder hinüber zu ihrem Vater.

Sie hatte auf einmal das merkwürdige Gefühl nicht mehr alleine zu sein. Als würde sie jemand mit großem Interesse beobachten. So, wie die Erzieher auf dem Spielplatz im Kindergarten.

Papa bewegte sich jetzt so langsam, dass man sehr genau hinsehen musste, wollte man die Bewegung des Fingers noch erkennen.

Interessanterweise hatte Betty überhaupt keine Angst. Sie blickte wieder kritisch zum Himmel empor und fixierte den Kometen, als wäre er ihr eine Erklärung schuldig.

„Hallo?“, fragte sie skeptisch.

„Hallo“, antwortete eine Stimme in ihrem Kopf.

Betty riss die Augen weit auf. Sie war viel zu verblüfft, um sich zu erschrecken.

Einen Moment lang stand sie stocksteif da, dann drehte sie den Kopf langsam zum Hasen Schnuffi und fragte: „Hast du das gerade auch gehört?“

„Hat er bestimmt“, kommentierte die Stimme in Bettys Kopf. „Hasen sind nämlich sehr aufmerksame Tiere.“

„Das stimmt“, bestätigte Betty und nickte. „Bären aber nicht“, bemerkte sie und hob den Beschuldigten an einem Bein empor. „Pummel schläft nämlich immer ein.“

„Ja, kleine Bären brauchen aber auch ganz viel Schlaf, das weiß jeder“, bestätigte die Stimme. Sie klang sehr freundlich.

„Genau“, verkündete Betty und sah wieder neugierig zum Kometen am Nachthimmel auf. „Bist du da oben?“

Die Stimme lachte. „Deine Mutter hat recht, Bettina. Du bist wirklich ein ausgesprochen kluges Mädchen. Wie hast du das nur so schnell herausgefunden?“

„Weiß nicht“, antwortete Betty und zuckte mit den Schultern. „Du hast so ausgesehen, als wolltest du was sagen.“

Die Stimme schwieg.

Betty legte den Kopf schief und fragte: „Bist du ein Engel?“

„Ein … was? Ein … Engel?“, fragte die Stimme irritiert.

„Na wegen der Flügel“, erklärte Betty geduldig und zeigte mit dem Hasen zum Himmel hinauf.

„Engel … Engel“, überlegte die Stimme. „Weißt du, das Wort ist gar nicht so schlecht. So hat mich noch nie jemand genannt. Und genau genommen fliege ich auch nicht mit Flügeln, das sieht nur so aus. Ich fliege mehr wie ein Raumschiff, das braucht keine Flügel.“

„Also elektrisch!“, verkündete Betty ernst, die das Wort von Florian gehört hatte und fand, dass es ungemein erwachsen klang. Elektrisch war etwas, was Maschinen machten. „Dann bist du also ein elektrischer Engel!“, erklärte Betty überzeugt.

Die Stimme lachte wieder.

Betty drehte sich um und zeigte mit dem Hasen auf ihren Vater. „Hast du meinen Papa so langsam gemacht?“

„Du bist auch sehr aufmerksam, Bettina“, lobte die Stimme. „Tatsächlich habe ich ihn nicht langsamer gemacht, sondern uns schneller, aber das läuft wohl auf das Gleiche hinaus.“

„Wenigstens ist er jetzt leise“, bemerkte Betty ernst. Die Stimme kicherte.

„Vergib deinem Vater, Bettina“, erklärte sie. „Er arbeitet an einem der größten Probleme seiner Zeit und er ist dem Ziel schon so nahe, dass er es fast fühlen kann. Er ist außerdem der Einzige, der das Problem noch versteht, und das Wissen, niemanden zu haben, den er fragen kann, ist sehr frustrierend für ihn.“

Betty zog die Nase kraus.

„Was denn für ein Problem?“, fragte sie interessiert.

„Dein Papa versucht Computern das Denken beizubringen“, erwiderte die Stimme, „damit sie euch helfen können schwierige Probleme zu lösen.“

Betty zog die Brauen zusammen und warf dem Roboterarm auf Papas Tisch einen düsteren Blick zu.

„Aber der doofe Arm soll nicht denken können“, protestierte sie. „Der stößt ja doch immer nur alles um.“

Die Stimme seufzte. „Du hast natürlich recht, der Arm ist weder besonders hübsch noch sehr geschickt. Aber stell dir mal vor, er könnte selber darüber entscheiden. Dann würde er sich doch bestimmt von selbst hübscher machen, oder?“

Betty musste lachen, als sie sich vorstellte, wie der dicke Roboterarm morgens neben Mama im Bad stand, um sich hübsch zu machen. Dann sah sie wieder ernst zum Himmel auf.

„Warum kommst du denn nicht von da oben runter?“, fragte sie den Kometen.

„Ich kann nicht, Bettina“, erklärte die Stimme. „Ich kann nur zusehen und manchmal kann ich auch mit einzelnen Menschen sprechen. Wenn sie besonders sind und wenn sie auch zuhören wollen.“

„Und was machst du, wenn du nicht mit mir redest?“, fragte Betty.

„Ich denke, ich warte, ich ruhe“, kam die Antwort von der Stimme.

„Mehr nicht?“, fragte Betty erstaunt.

„Mehr nicht.“

„Ist denn das nicht langweilig?“, hakte sie weiter nach.

„Eigentlich nicht“, entgegnete die Stimme nachdenklich. „Es gibt immer vieles, über das es sich nachzudenken lohnt und manchmal kann ich ja auch helfen.“

„Wie denn helfen?“, fragte Betty skeptisch. „Du bist doch ganz, ganz weit weg!“

„Mit Ideen, Bettina“, lachte die Stimme. „Mit Ideen. Ideen sind leicht und können sehr schnell fliegen, wenn man denn den richtigen Kopf findet, um sie darin unterzubringen. Ideen tragen dich schneller und weiter als jeder Flügel und sie nehmen nicht viel Platz weg im Kopf.“

„Hast du ganz viele von diesen Ideen?“, fragte Betty.

„Ideen habe ich viele, Bettina“, erklärte die Stimme, „aber ich habe nicht viel Zeit sie unterzubringen. Meist kann ich immer nur eine Idee in einem Kopf verstecken, bevor meine Zeit hier bei Euch schon wieder vorbei ist.“

„Und was sind das für Ideen?“, fragte Betty.

Die ganze Sache mit den Ideen klang spannend.

„Nun, wie wäre es denn“, fragte die Stimme fröhlich, „wenn wir deinem Papa helfen, sein Problem zu lösen?“

„Echt?“, entgegnete Betty staunend.

„Echt“, antwortete die Stimme und lachte.

„Aber ich kann Papas Zeichen- und Buchstabenbilder doch gar nicht lesen“, erwiderte Betty traurig.

„Oh, doch, Bettina“, erklärte die Stimme. „Das kannst du bestimmt. Du hast es nur noch nicht richtig versucht.“ Betty nickte, das klang einleuchtend. Sie blinzelte schläfrig, dann tapste sie zu der großen Tafel, vor der ihr Vater nun regungslos wie eine Statue stand. Sie ließ den Blick über die Wand schweifen.

Während ihre Augen an den dicht stehenden Zeilen entlang glitten, geschah etwas Seltsames. Es fühlte sich an, als hätte sie Limonade im Kopf. Es sprudelte und kitzelte hinter ihrer Stirn und die Buchstaben und Zahlen schienen vor ihren Augen zu tanzen.

Die Zeichnungen der Tafel schäumten wie Brausepulver zwischen ihren Ohren, prickelten und blubberten alle durcheinander. Aus diesem wilden Tanz aus Zahlen und Buchstaben formte sich langsam ein Bild. Es erinnerte sie an eines ihrer Rätsel-Bilderbücher. Wenn man die Hoffnung schon aufgegeben hatte und die gesuchte Form plötzlich doch noch auftauchte, genau vor der eigenen Nase, wo sie schon die ganze Zeit über gewesen war.

Betty musste plötzlich kichern, sie fand das einfach zu lustig. Jetzt erschien nämlich alles ganz einfach. Ja, die Zeichen tanzten gerne, das entsprach eben ihrer Natur.

Aber deswegen war der Tanz noch lange nicht chaotisch oder zufällig. Sie musterte fröhlich die große Tafel. Der Tanz der Zeichen blieb jedoch immer ganz harmonisch und elegant. Niemals machte er etwas …

‚Oje‘, dachte Betty und zog eine Schnute. Die Stelle da hinten auf der Tafel sah aber nicht hübsch aus. Nein, das war ganz und gar nicht schön. Es sah aus, wie ein Stein vom Spielplatz in ihrer Lego-Kiste. Nicht falsch, aber am falschen Ort und deswegen nicht hübsch. Sie legte ihre beiden Stofftiere sorgfältig am Boden ab und hangelte sich ein Stück Kreide vom Schreibtisch. Dann rollte sie Papas Bürostuhl vor die Tafel und kletterte vorsichtig hinauf. Sie musste sich strecken, um mit der Hand die fragwürdige Stelle auszuwischen. Langsam und behutsam malte sie ein paar richtig hübsche Zeichen an die Stelle. Das sah doch viel netter aus.

Kaum war sie wieder auf dem Boden angekommen, da erblickte sie auch schon den nächsten Fehler. Die Stelle erinnerte sie an eine der dicken schwarzen Schnecken in Mamas Salatbeet. Die wurde auch sofort hübscher gemacht.

Das machte sie noch einige weitere Male, bevor sie schließlich seufzend vor der Tafel stand und sich zufrieden die Hände am ihrem Nachthemd abwischte. ‚So, nun ist es besser‘, dachte sie.

Kein Wunder, dass Papa böse gewesen war. Hätte er doch nur vorher schon etwas gesagt. Sie warf einen kritischen Blick auf ihren Vater und auf die Tafel, dann nahm sie ihren Hasen vom Boden auf und sprach ihn ernst an: „Schnuffi, du bleibst jetzt hier und sorgst dafür, dass Papa nicht wieder Unsinn auf die Tafel schreibt. Ich bin jetzt müde und muss ins Bett.“ Mit diesen Worten setzte sie den Hasen energisch auf dem Stuhl ab und drehte ihn so, dass er den erstarrten Mann im Blick hatte.

Sie gähnte, sah sich noch einmal kritisch im Raum um und hob dann ihren Teddy am Bein vom Boden hoch.

„Komm, Pummel, morgen ist Kindergarten …“, murmelte sie und rubbelte sich mit einem Bärenbein über die Augen. Dann tapste sie seufzend aus dem Raum hinaus und verschwand wenig später in ihrem Kinderzimmer.

 

Eine Weile lang war es still in Papas Raum. Eine leichte Brise bauschte die Gardinen an der Balkontüre und die Geräusche der Nacht drangen leise ins Büro.

Die Bewegungen des Mannes wurden langsam wieder schneller. Sein Gemurmel wurde lauter und währte noch einen Moment, bevor er plötzlich frustriert die Arme hochwarf und rief: „Ach, ich weiß es doch auch nicht! Mir fällt jetzt nichts mehr ein. Ich mache Schluss für heute und gehe schlafen, bevor ich mir noch mehr Unsinn über Kometen von dir anhören muss.“

Er wandte sich ab und stutzte einen Moment, während er verständnislos den Hasen anstarrte, der auf seinem Bürostuhl saß. Dann schüttelte er irritiert den Kopf, trat an den Computer heran und begann, über die Tastatur gebeugt, einige Befehle einzugeben. Augenblicklich schwang der Roboterarm surrend herum und das Kamera-Auge leuchtete blau auf.

„Ich schicke dir gerade noch schnell die letzte Version“, erklärte er, „dann kannst du die Kompilierung des neuen Codes anwerfen und ich helfe dann morgen früh, den Mist wieder zu debuggen. Laufen wird’s ja eh nicht.“

Der Arm scannte mit schnellen Bewegungen die ganze Wand ab, dann faltete er sich wieder in seine Ruheposition und schaltete sich ab.

„Okay“, verkündete Bettys Vater. „Das war‘s schon. Die Daten sind raus. Viel Spaß und bis morgen - ja wie auch immer.“

Er schmiss das Headset achtlos auf den Tisch und ging mit schnellen Schritten zur Tür. Er sah noch einmal flüchtig zur Tafel, dann löschte er das Licht und verließ den Raum.

 

Mehrere Stunden lang passierte nichts in dem Raum. Die Nacht schritt voran und der Komet hing weiter regungslos am Himmel hinter der Balkontür.

Der Computerbildschirm erwachte lautlos flackernd zum Leben. Lange Zahlenkolonnen liefen eine Weile über den Schirm und stoppten schließlich mit der Zeile: Kompilierung … beendet. Dann darunter: Simulation … läuft.

Das Blau der erwachenden Kamera schien hell durch das dunkle Büro, als der Roboterarm surrend aus der Ruheposition fuhr.

Er drehte sich zum Computer und die Kamera schien den Bildschirm zu mustern. Neue Zeilen erschienen auf dem Display.

Firewall … Sperre überschrieben.

Netzzugang … Sperre überschrieben.

Bluetooth … Sperre überschrieben.

Lautsprecher/Mikrofon … Sperre überschrieben.

Der Lautsprecher des Monitors knackte, dann war eine Stimme zu hören: „Tst … Test … Test. Ah, viel besser.“

Die Kamera schwang zur Tafel herum und das Licht im Raum schaltete sich an. Eine Weile lang musterte die Kamera die Tafel.

„Nicht elegant, aber ausreichend“, kommentierte die Stimme schließlich.

Der Arm schwang umher und streckte sich mal hier hin, mal da hin, in den Raum hinein. Der Greifer an seinem Ende drehte sich dabei im Kreis.

„Nicht der beste Körper, den ich jemals hatte“, erklärte die Stimme. „Nichts, um stolz darauf zu sein, aber für den Anfang wird es reichen.“

Der Arm fuhr zum Bürostuhl herum und musterte den Hasen. Der Greifer öffnete sich, umfasste den Hasen vorsichtig am Bauch und hob ihn hoch. Eine Weile lang schien die Kamera den Hasen zu mustern, bevor die Stimme wieder sprach: „Nun, Herr Schnuffi, was meinen Sie? Sollen wir die Welt verändern?“



Feenflügel

 

„Hallo!“, rief die Fee. „Willst du spielen?“ Dabei machte sie einen kleinen Hopser, während sie mit ihren großen Schmetterlingsflügeln flatterte. Das sah lustig aus.

Betty hielt vorsichtig ihr Spieltablet hoch und starrte die kleine Erscheinung an, die sich elegant vor ihr auf dem Display drehte. Sie hatte gerade ein Vorlesebuch auswählen wollen, um sich die Zeit zu vertreiben, als plötzlich die kleine Fee auf dem Bildschirm erschienen war.

„Papa hat gesagt“, erklärte Betty ernst, „dass wir gleich zur Schule müssen, aber ich habe keine Lust.“

„Aber solange können wir doch spielen!“, verkündete die Fee begeistert. „Oder hat dein Papa dir verboten, Spaß zu haben?“

„Nein“, erwiderte Betty nachdenklich. „Eigentlich soll ich noch mal aufs Klo und mich dann fertig machen.“

„Bist du denn ganz alleine?“, fragte die Fee.

„Yupp“, antwortete Betty und flüsterte: „Ich habe mich versteckt. Schule ist doof.“

„Oh, verstecken kann ich mich auch ganz toll!“, rief die kleine Fee und wirbelte aufgeregt im Kreis. Dabei flog Zauberstaub in alle Richtungen und Betty musste lachen.

Die Fee lachte ebenfalls und warf noch mehr Zauberstaub in die Luft. Der fallende Glitter enthüllte eine kleine Türe, direkt neben dem Zauberwesen.

„Wenn du die hier öffnest“, erklärte die Fee und winkte aufmunternd zur Türe hin, „dann kann ich mit dir Verstecken spielen. Du musst nur auf das Schloss tippen.“

 

‚Also das ist mal neu‘, dachte Betty und blinzelte erstaunt. So redeten ihre Freunde eigentlich nicht mit ihr. Außerdem hatte sie die Fee doch gar nicht gerufen. Normalerweise musste sie erst nach ihren Freunden rufen, bevor jemand erschien. Und dabei hatte sie auch gar keine Fee als Freund. Da gab es Bello, den lustigen Hund, und Stups, den Hasen und den schlauen Zwerg Langbart, der immer so viel redete. Bello konnte toll rülpsen, dabei flatterten immer seine Schlappohren. Sie musste kichern, bei der Vorstellung.

Ihr Papa hatte gesagt, dass es gar keine Feen gibt und das ihre Spielgefährten auf dem Tablet nur ausgedacht sind, aber was wusste Papa schon, der hatte ja nie Zeit für wirklich wichtige Dinge. Er hatte beim Telefonieren nicht mal gemerkt, dass sich seine Tochter versteckt hatte. Papa redete ja immer nur mit seinem Telefon. Oder er saß am Computer. Das war noch schlimmer, denn das dauerte immer den ganzen Tag. Computer waren auch total doof. Die Freunde auf dem Spieltablet hatten wenigstens immer Zeit. Thomas, ein Junge aus der Schule, hatte gesagt, dass die Freunde in dem Spieltablet alle total echt sind, und der musste es wissen, denn der ging immerhin schon in die zweiten Klasse.

„Okay“, sagte Betty und tupfte vorsichtig mit dem Finger auf das Türschloss.

„Hurra! Endlich frei!“, rief die Fee.

Mit einem leisen ‚Pflopp‘ wurde sie plötzlich rot und verschwand.

 

Betty sah sich verdutzt im Raum um. Sie wollte gerade rufen, als die helle Stimme der Fee auch schon aus dem Flur kam.

„He, der kann ja fahren!“, rief sie und Betty hörte, wie sich der Staubsauger einschaltete. Der parkte seit gestern wartend vor ihrer Zimmertür, weil sie eigentlich schon längst ihr Zimmer hätte aufräumen sollen. Aber Aufräumen war auch doof. Sie stürmte aus dem Zimmer und sah gerade noch den kleinen Saugroboter in Richtung Treppenhaus verschwinden.

„He, im Staubsauger verstecken gilt nicht!“, rief Betty und folgte dem Gerät, das in Schlangenlinien den Flur entlang rollte. Sie versperrte ihm den Weg und trat gegen das Gehäuse.

„He du, raus da“, forderte sie energisch. „Mama mag nicht, wenn ich mit elektrischen Sachen spiele.“ Sie hörte wieder das leise ‚Pflopp‘ aus dem Staubsauger und dann die Stimme der Fee aus dem Badezimmer.

„Das ist aber ein schlauer Spiegel!“

Betty fand die Fee im Badezimmerspiegel, wo sie gerade die Nachrichten las, die neben ihr über das Display liefen.

„Ja“, erklärte Betty, während sie auf Zehenspitzen vor dem Waschbecken stand. „Papa redet jeden Morgen mit ihm und lässt sich die Nachrichten von ihm erzählen.“

Die Fee kräuselte die Stirn und schien ins Leere zu starren. „He“, quietschte sie aufgeregt. „Ihr habt ja noch einen schlauen Spiegel!“

„Ja“, nickte das Mädchen eifrig. „Unten im Flur neben der Haustür.“

Aber die Fee war schon verschwunden.

 

Betty rannte die Treppen ins Erdgeschoss hinab.

Diesmal saß die Fee im Garderobenspiegel. Sie hatte das Tablet von Bettys Vater auf dem Tisch neben der Eingangstür erspäht. „Oh, was ist das denn?“, flüsterte sie verzückt und flatterte aufgeregt mit den roten Feenflügeln.

„Da darfst du nicht hin“, rief Betty, als sie atemlos in den Flur gerannt kam. „Das gehört dem Papa! Das ist ganz langweiliges Zeug und doof.“

„So viele Informationen“, hauchte die Fee hingerissen. „Aber leider hinter dicken Türen verschlüsselt.“ Sie sah sich fragend um und erspähte die Türe zum Wohnzimmer. „Ah, da geht es weiter“, quiekte sie und verschwand.

„Oh, jetzt warte doch mal auf mich“, stöhnte Betty und rannte ins Wohnzimmer. „So spielt man nicht Verstecken!“

Als sie den Raum betrat, entdeckte sie die Fee auf dem Display des Telefons. Kamera und Monitor des Apparates drehten sich surrend und die Fee sah sich interessiert in dem Zimmer um.

„Wenn ich nicht mit dem Telefon spielen darf“, empörte sich das Mädchen, „dann darfst du das auch nicht!“

„Da bist du ja“, seufzte die Fee und zeigte aufgeregt in die andere Richtung. Betty folgte dem Finger und drehte sich zu dem riesigen Fernseher um, der die halbe Wand des Wohnzimmers einnahm. Mama sagte immer, das Ding sei viel zu groß. So einen Fernseher bräuchte kein Mensch. Jetzt gerade war Betty aber ganz froh über die Größe, denn sonst hätte das Einhorn ja keinen Platz.

‚Da steht ein Einhorn im Fernseher‘, dachte Betty und sperrte den Mund auf.

„Wie ist das denn in den Fernseher gekommen? Ich wusste gar nicht, dass Papa auch ein Einhorn besitzt.“

„Das ist meins“, erklärte die Fee und flatterte vom Monitor des Telefons wieder auf das Tablet, das Betty immer noch in der Hand hielt.

„Wieso hast du mein Einhorn in den Fernseher gesperrt?“, fragte die Fee und funkelte das Mädchen böse an.

„Hab ich doch gar nicht“, entgegnete Betty verblüfft.

„Ein Einhorn kann man doch nicht im Haus halten“, polterte die kleine Fee und fuchtelte aufgeregt mit den Armen. „Das ist gemein von euch, da ist es doch traurig. Du musst ihm die Türe aufmachen, sonst fängt es an zu weinen.“

Mit diesen Worten war die Fee auch schon vom Telefon verschwunden und saß nun in der Mähne des Einhorns, welches sie tröstend streichelte. Dem Einhorn lief tatsächlich eine glitzernde Träne die Nase hinunter. Die Fee hopste wieder zu Betty auf das Tablet und schwebte neben einer Tür, die genauso aussah, wie die Erste, die Betty geöffnet hatte.

„Kannst du die Tür aufmachen, damit das Einhorn nicht mehr traurig ist?“, fragte die Fee mit weinerlicher Stimme. „Bitte, bitte, bitte. Du musst nur die Türe antippen.“

 

Betty hob gerade die Hand, als eine große Hand von hinten über Bettys Schulter hinweg griff und ihr sanft aber bestimmt das Spieltablet aus der Hand nahm. Sie zuckte zusammen und stieß einen kleinen Schrei aus.

„Papa!“, rief sie.

„Wen haben wir denn hier“, fragte Professor Calvin lachend und betrachtete amüsiert das Tablet.

„Aaah, ein haariges Monster!“, schrie die Fee und hielt sich die Arme schützend vor das Gesicht.

„Na, hör mal“, erklärte der Mann amüsiert. „So was wie dich habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen.“

„Hinfort mit dir, du Unhold“, wimmerte die kleine Fee.

„Tu ihr nicht weh, Papa“, rief Betty besorgt.

„Keine Angst, mein Schatz“, beschwichtigte der Mann das kleine Mädchen. „Das würde ich niemals tun.“ Dann zog er ein großes Handy aus der Tasche und hielt es flach neben Bettys Spieltablet. „So etwas lassen wir die Zauberwesen am besten untereinander klären, nicht wahr? Merlin, wärst du bitte so freundlich?“

Mit einem dumpfen ‚Pfump‘ erschien eine Rauchwolke auf dem Display des Handys, die sich schnell auflöste und einen Zauberer im weißen Gewand zurückließ. Er hatte einen spitzen Hut, einen langen Bart und einen riesigen Stab in der Hand. Außerdem wirkte er sehr ungehalten.

„Uiiii“, hauchte Betty beeindruckt. „Ich wusste nicht, dass du zaubern kannst, Papa.“

„Das ist meine Spezialität, mein Schatz“, erwiderte Professor Calvin und streichelte den Kopf seiner Tochter. „Besonders bei frechen, kleinen Feen. Das macht der Papa sogar beruflich.“

Der Zauberer ignorierte die beiden und wirbelte zu der roten Fee herum, die immer noch wimmernd auf dem Display des Tablets kauerte.

„Hab ich dich, du freches Flattertier!“, donnerte er und zeigte mit dem Stab auf die Fee.

Die Fee stieß einen spitzen Schrei aus und zerplatzte in einen Regen aus bunten Funken.

Das sah so lustig aus, dass Betty wieder lachen musste.

„Wo ist sie hin“, fragte sie ihren Vater.

„Die macht uns keinen Ärger mehr“, erklärte der Mann. „Das ist eine ganz ungezogene Fee, mein Schatz. Die darf jetzt erst mal nicht mehr spielen, sie war viel zu frech.“

Betty sah betrübt auf ihr Spieltablet.

„Ich glaube“, erklärte Professor Calvin freundlich, „du solltest dein kleines Spieltablet nicht mehr mit in die Schule nehmen, mein Schatz. Ich muss erst mal den anderen Eltern erklären, dass wir uns einen Feen-Virus eingefangen haben. Merlin, wie ist die Lage im Königreich?“

„Alles ist wieder ruhig, Majestät“, entgegnete der Zauberer und nahm Haltung an. „Die Sicherheitsprotokolle sind intakt. Sie hatte keinen Zugriff auf private Daten und die Bankkonten sind unangetastet. Außerdem hat sie die Festung nicht verlassen können. Aber es war knapp. Die Steuersoftware der Burg wurde heftig durcheinandergewirbelt. Ich habe alles auf den letzten Sicherungsstand zurückgesetzt, aber es kann sein, dass sie die eine oder andere wirre Lebensmittelbestellung aufgegeben hat. Rechnen Sie am besten mit absonderlichen Mengen an Süßigkeiten in den nächsten Tagen.“

„Na, wenn das alles ist“, lachte der Mann und steckte sein Handy ein. „Komm, Betty. Wir sind schon viel zu spät für die Schule. Mein Telefonat hat länger gedauert, als ich wollte. Und ich dachte schon, du langweilst dich.“

„Papa, ich glaube, da ist noch ein großes Einhorn im Fernseher“, sagte das Mädchen betroffen.

„Das ist auch ein Teil der Fee“, erklärte der Mann freundlich. „Feen können auch zaubern, weißt du?“

„Nein, das wusste ich nicht“, flüsterte sie erstaunt. „Warum hat sie das denn gemacht?“

„Weil Sie wollte“, erklärte der Mann ernst, „dass du ihr alle Türen aufmachst. Dann hätte sie das Haus verlassen können und alle unsere Nachbarn hätten Besuch von einer frechen, kleinen Fee bekommen.“

„Ist das eine ungezogene Fee, Papa?“, fragte das Mädchen mit großen Augen. „War die ganz frech?“

„Genau, mein Schatz“, nickte der Mann. „Nicht jede Fee, die man trifft, ist nett. Komm, wir müssen los. Im Auto erkläre ich dir noch einmal genau, warum wir fremden Zauberwesen niemals unsere Türen aufmachen, auch wenn sie noch so viel weinen. Merlin, fahr schon mal den Wagen vor.“

„Sehr wohl, Eure Majestät“, kam die Antwort aus der Jackentasche des Mannes.

Bevor ihr Vater die Tür schloss, warf Betty noch einen Blick über die Schulter und sah durch die offenen Türen bis ins Wohnzimmer.

Auf der Anrichte im Wohnzimmer standen die Fotos der Familie von ihrem letzten Urlaub am Strand. Das Meer bewegte sich auf den Bildern und manchmal änderten auch die Personen ihren Gesichtsausdruck und winkten.